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Dr. Christiane Hartnack
Geschichte der höheren Bildung und Wissenschaftskultur(en) in Indien
Stichworte zum Vortrag Seminar „Regionalkompetenz Indien“ Internationale DAAD-Akademie, Bonn, 26. 6. 2012
Dr. Christiane Hartnack1
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Indiens Vielfalt
Ausgeprägte ökonomische Ungleichheiten undsoziale Hierarchien
Große regionale Unterschiede und sprachliche Vielfalt
Zahlreiche Religionen bzw. Glaubensvorstellungen
Häufig deutlich unterschiedliche Lebenswelten von Männern und Frauen
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Der unmittelbare Umgang mit der Natur gehört traditionellerweise zur Lebens- und Erfahrungswelt von Shudras, Dalits und Adivasis
Fähigkeiten von Brahmanen, Kshatriyas und Vaishyas (die 10-15% der indischen Bevölkerung ausmachen) liegen schwerpunktmäßig im beobachtenden, gedanklichen und verbalen Bereich
Varna/Jati (Kastenwesen)
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Externe Einflüsse auf indische Wissenschaftsentwicklungen
Islamische (ca. 710-1750)Britische (ca. 1830 – 1947) Sowjetische, US-amerikanische und westeuropäische (1947 – 1991)Globale (ab 1991)
Aus den jeweils neuen Einflüssen resultierten parallele bzw. multiple indische Wissenschaftstraditionen sowie Zusammenflüsse verschiedener wissenschaftlicher Denkweisen
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Beispiel für die Ko-Existenz verschiedener Denkweisen: Nuklearphysiker, der Entscheidungen auf der Grundlage von Horoskopen trifft
Beispiel einer kreativen Verbindung verschiedener Wissenschaftstraditionen: Zahlentheorie von Srinivas Aiyangar Ramanujan als Amalgam von
• Kenntnissen der Forschungen des indischen Mathematikers Bhaskara aus dem 12. Jahrhundert
• mathematischen Denkansätzen seiner Großmutter• Intuitionen durch Beachtung von Trauminhalten • an den Universität Madras und Cambridge erlerntem europäischen
mathematischem Wissen
Überlagerungen und Verbindungen
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Schwerpunkte indigener Erkenntnisse
Bewässerungskunde Metallurgie Mathematik Astronomie Ayurveda Psychologie
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Vorkoloniale Ausbildungseinrichtungen
Universitäten in Taxila und Nalanda
Colleges und Seminare (u.a. für Sanskritstudien, Hinduistisches Recht, Ayurveda)
Bildungsstätten an Tempeln und Moscheen
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Schwerpunkte islamischer Einfüsse
Astronomie Mathematik Architektur Medizin (Unani Tibb)
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Schwerpunkte britischer Einfüsse
Kartographie Geographie Geologie Botanik, Forstwissenschaft Recht und Verwaltung Medizin (Allopathie) Technik (Eisenbahnbau)
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Britische Aktivitäten im Hochschulbereich
ab ca.1822: Unterrichtung Einheimischer in Bereichen, die für die Kolonialverwaltung relevant waren
Gründungen britischer Universitäten und Colleges
1857: Kalkutta, Bombay und Madras
1882: Lahore
1887: Allahabad.
Gründungen zahlreicher Colleges (u.a. Presidency College in Calcutta und Imperial Forest College in Dehra Dun)
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Bedeutung der britischen Wissenschaftspolitik in Indien
Im späten 19. Jh. finanzierte die britische Regierung in Indien die damals weltweit größten Wissenschafts- und Technologieprojekte
Zu Beginn des 20. Jh. gehörte die Universität Kalkutta zu den größten der Erde
Damit Universitäten nicht Ausbildungsstätten für indische Nationalisten oder gar Unabhängigkeitskämpfer wurden, kümmerte sich der Vizekönig Lord Curzon selbst um die Zensur von Lehrinhalten
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Indische Aktivitäten zur Aneignung europäischer Wissenschaften
1876: Gründung der Association for the Cultivation of Science (durch Mahendra Lal Sircar)
1902: Dawn Society (Zielsetzung: „Promotion of national education“)
1914: Indian Science Congress Association
1916: Gründung des Indian Institute of Science (IISc) in Bangalore (finanziert von J.N. Tata)
ab ca. 1922: Streben indischer Wissenschaftler nach gesellschaftspolitisch relevanter angewandter Forschung
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Spitzenforschung an der Universität Kalkutta
Unter der Leitung von Sir Asutosh Mukherjee, dem sog. „Tiger von Bengalen“, entwickelte sich die Universität Kalkutta zu einer bedeutenden Forschungsuniversität
Vor allem Forschungsergebnisse in Biologie, Chemie, Psychologie und Physik erlangten in den 1920er Jahren internationale Anerkennung
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Jagadish Chandra Bose (1858-1937)
Versuchte als Biologe und Physiker die von Hindus postulierte Verbindung zwischen Materie, Pflanzen und Tieren zu beweisen (Rig Veda: „The real is one“)Zeigte auf, dass tierisches und pflanzliches Gewebe auf Reize ähnlich reagiert Tagore: „My mind was overcome with joy at the idea of the unity of the heartbeats of the universe, and I felt that throb in my veins“
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Archarya Prafulla Chandra Ray (1861-1944)
Erforschte als erster die Geschichte der vorkolonialen chemischen Forschung in Indien
Forschte selbst über Quecksilber und initiierte die erfolgreiche Entwicklung der chemischen und pharmazeutischen Industrie in Indien
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C.V. Raman (1888-1970)
Gründete 1917 das Indian Journal of Physics
Erhielt 1930 für den nach ihm benannten „Raman Effekt“ den Nobelpreis in Physik
Nachdem Tagore 1913 als erster Asiate und Nicht-Weißer den Nobelpreis in Literatur erhielt, war er der erste Asiate und Nicht-Weiße, der den Preis in Naturwissenschaften erhielt
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Psychologische Forschung und Lehre
1915 etablierte Narendra Nath Sengupta an der Universität Kalkutta das in Indien erste Department of Psychology
Universitäten in Dacca, Patna, Lucknow, Mysore, Delhi und Lahore eröffneten bald darauf eigene Departments of Psychology
1925 wurde Sengupta der erste Präsident der neu gegründeten Indian Psychological Association
1926 erschien die erste Ausgabe des Indian Journal of Psychology
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Girindrasekhar Bose (1889-1953)
Entwickelte als westlich ausgebildeter Arzt und Psychologe an bengalisch-hinduistischen Traditionen anknüpfende psychoanalytische Theorien und Behandlungsmethoden
Erlernte von Pandits Methoden der Introspektion
Unterrichtete von 1917 an Psychoanalyse an der Universität Kalkutta
Korrespondierte zwischen 1921 und 1937 mit Sigmund Freud
Gründete 1923 die Indian Psychoanalytical Association
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Bemühungen um „Indigenisierung“
Sir Asutosh Mukherjee gelang auch die Institutionalisierung von Lehre und Forschung in klassischen und modernen südasiatischen Sprachen und in indischer Geschichte, Philosophie und Archäologie
Eine weitere Ambition Mukherjees, Bengali als Unterrichtssprache einzuführen wurde jedoch erst in den 1930iger Jahren realisiert. Tagore war der erste, der an der Universität Kalkutta einen Vortrag auf bengalisch hielt
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Charakterista indischer Wissenschafts-kulturen im frühen 20. Jahrhundert
Im Allgemeinen versuchten indische Wissenschaftler die neu erlernten westlichen Fragestellungen und Methoden mit indigenen zu verbinden
Bezeichnenderweise gaben sie hren Instrumenten häufig Sanskritnamen
J.C. Bose fügte seinem Labor einen Meditationsraum hinzu
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Science and Culture
Unter dem Motto: „to apply science to Indian problems“. gründete eine Gruppe Wissenschaftler die dem Indian National Congress und vor allem Nehru nahestanden, in 1935 die Zeitschrift Science and Culture
. Darin wurden auch Forschungen aus Kontinentaleuropa, den U.S.A. und der Sowjetunion publiziert
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Politische Einflüsse auf Wissenschafts-entwicklungen im unabhängigen Indien
- Nehru (1947 – 1962)- Kalter Krieg (1962-1990)- Bharatiya Janata Party (BJP) (1998 -2004)- Globalisierung (seit 2004)
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Nehrus wissenschaftlich-technologische Vision"
“Big Science" und "Science in a Big Way" als Ausdruck seines marxistisch geprägten Verständnisses von “Wissenschaft als Produktivkraft”
1951 Gründung des ersten Indian Instituts of Technology (IIT) in Kharagpur (in einem ehemaligen Strafgefangenlager für indische Freiheitskämpfer )
Zitat von Nehru (1956):„Here in the place of that Hijli Detention Camp stands that fine monument of India, representing India‘s urges, India‘s future in the making ...“
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Indian Institutes of Technology (IITs)
Nach der Gründung des ersten IITs in Kharagpur nutzte Nehru geschickt die Situation des Kalten Krieges zur Gründung weiterer IITs. Finanzielle Unterstützung erhielten das
IIT Bombay (Mumbai) durch die Sowjetunion (1957)IIT Madras (Chennai) durch Deutschland (1959)IIT Kanpur durch die USA (1962)IIT Delhi durch England (1968)
Neuerdings gibt es in Bhubaneswar, Gandhinagar, Guwahati,Hyderabad, Indore, Jodhpur, Mandi, Patna, Ropar and Roorkee weitere IITs, die ohne ausländische Sponsoren errichtet wurden
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Jawaharlal Nehru University (JNU)
Gründungsideale dieser seit 1969 bestehenden Eliteuniversität:• Nationale Integration • Soziale Gerechtigkeit • Säkularismus• Demokratie• Internationalität• Wissenschaftliche Bearbeitung gesellschaftlicher Herausforderungen
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Charakteristika indischer Eliteinstitutionen
An allen indischen wissenschaftlichen Eliteinstitutionen wird Englisch gesprochen. Vorteile haben dadurch Absolvent/innen einer englischsprachigen Privatschule
Beim Entrance Examination und für die IITs für die JNU liegt die Erfolgsquote bei unter 5%
Die meisten der Zugelassenen haben ein oft mehrjähriges privates Coaching für die Aufnahmeprüfung hinter sich
Ohne die Reservierung von Studienplätzen für weniger Privilegierte und deren aktive Förderung durch Tutorials wäre an diesen Institutionen keine soziale Durchmischung erreichbar
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Didaktische Charakteristika
Am Guru-Chela -Verhältnis orientierter Frontalunterricht
Auswendiglernen mit klaren Vorgaben für die Reproduktion des Erlernten bei Prüfungen und Hausarbeiten
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Nehrus Traum war es, Inder/innen auszubilden, die sich voller Idealismus für den wissenschaftlichen und technologischen Aufbau ihres Landes einsetzen
Der Traum der meisten Absolvent/innen indischer Universitäten, insbesondere der Eliteinstitutionen, war es, nach Studienabschluß in England und vor allem in Nordamerika zu arbeiten
Das Silicon-Valley (Microsoft, INTEL, eBay oder Hewlett Packard) wäre ohne das Know-how dort arbeitender Inder/innen nicht denkbar
Die auch nach der Emigration weiterhin vorhandenen engen familiären Bindungen ermöglichten beachtliche Wissenschafts-transfers vom Ausland nach Indien
Brain Drain versus Brain Gain
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Wissenschaftsverständnis der Bharatiya Janata Party (BJP)
„Revitalisierungen“ hinduistischer Wissenschaftstraditionen während der Regierungszeit der BJP:
• Vastushastra (Verbindungen von Raum, Energie und Material) wurde in der Architektur öffentlicher Gebäude eingefordert
• „Vedische“ Physik wurde ansatzweise in Lehrpläne aufgenommen
• Astrologie sollte als "predictive science" u.a. im militärischen Bereich zur Anwendung kommen
Motto der BJP: „Damit das 21. Jahrhundert ein ‚Hinduistisches Jahrhundert‘ wird, ist eine weitere Entkolonialisierung bzw. Entwestlichung der Wissenschaft notwendig“
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An der Delhi University wurde 2011 ein Text von A.K. Ramanujan wegen darin enthaltener pluralistischer Interpretationen des Ramayana Epos vom Lehrplan entfernt
Forderung der BJP im Wissenschaftsektor, dass an Universitäten in Zukunft ausschließlich Hindus über Aspekte des Hinduismus lehren sollen. (Über den Islam kann hingegen auch weiterhin von Hindus gelehrt werden)
Hindutva in der Gegenwart
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Bereiche aktueller indischer Spitzenforschungen
Atomforschung
Weltraumforschung
Informationstechnologie
Medizin
Biotechnologie
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Aktuelle gesellschaftspolitische Herausforderungen
Verbesserung der Lebensbedingungen von über 50 % der indischen Bevölkerung (insbesondere Beseitigung der Unterernährung von ca. 300 Millionen Inder/innen)
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Leitlinie für die Entwicklung Indiens zu einer wissenschaftlich-technologischen Supermacht
Technology Vision 2020
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Schlussfolgerung
Am Beispiel Indiens wird deutlich, dass die Entwicklung von Wissenschaften und entsprechender Bildungseinrichtungen entscheidend von den jeweiligen sozialen, religiösen und politischen Kontexten geprägt wurden und werden
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Literaturhinweise
Baber, Zaheer (1998): The Science of Empire: Scientific Knowledge, Civilisation, and Colonial Rule in India. Oxford University Press
Chakrabarti, Pratik, (2004) Western Science in Modern India. Metropolitan Methods, Colonial Practices, Permanent Black
Hartnack, Christiane (2001): Psychoanalysis in Colonial India. Oxford University PressKumar, Deepak (1995): Science and the Raj 1857-1905. Oxford University PressNandy, Ashis (1980): Alternative Sciences: Creativity and Authenticity in Two Indian
Scientists. Allied PublishersPrakash, Gyan (1999): Another Reason: Science and the Imagination of Modern India.
Princeton University PressRaina, Dhruv (2003) Images And Contexts. The Historiography of Science and Modernity
in India. Oxford University PressRaj, Kapil (2007) Relocating Modern Science. Circulation and the Construction of
Knowledge in South Asia and Europe, 1650-1900. Palgrave MacmillanSur, Abha (2011) Dispersed Radiance: Caste, Gender and Modern Science. Navayana
Publishing