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Chemiewirtschaft Reifende Biotechindustrie Holger Bengs Steigender Umsatz, wachsende Unternehmenszahlen, wieder Gründungen, frisches Eigenkapital, mehr Mitarbeiter: Die Biotechbranche wuchs im Jahr 2010 und hat dennoch ein Problem. Nach der Durststrecke aufgrund der Finanzkrise vom Jahr 2008 ist die Stimmung der Biotechindustrie nun wieder auf Vorkrisenniveau 1) und wichtige Kennzahlen steigen (Tabelle). 2,3) Mit 422 Mio. Euro erreichte die Einwerbung von Eigenkapital wie- der einen guten Wert, bestehend aus 279 Mio. Euro Venture Capital und 143 Mio. Euro aus Kapital- erhöhungen an der Börse. 2) Die Unternehmenszahl stieg um 7 auf 538 Unternehmen, der Um- satz um 8,7 % auf 2,37 Mrd. Euro. 3) Verteilt auf die 15 480 Mitarbeiter der Biotechbranche ergaben sich 153 000 Euro Umsatz pro Mitarbei- ter. Das ist noch ausbaufähig und nicht das, was man von einer reifen Branche erwarten kann. In der che- mischen Industrie brachte es ein Mitarbeiter im Jahr 2010 durch- schnittlich auf 413 000 Euro. 4) Geduld und Ausdauer sind ange- sagt: In Deutschland ist die kommer- zielle Verwertung biotechnischer La- borergebnisse nur 20 Jahre alt und die Hälfte der deutschen Biotech- unternehmen hat maximal zehn Mitarbeiter. Biotechwertschöpfung in Anwenderbranchen Die Biotechnologie hat als inno- vative Basistechnologie ihre Da- seinsberechtigung. Die Wertschöp- fung allerdings findet häufig in den Anwenderindustrien statt (siehe Kasten). Das hilft der Branche nicht in ihrer Sichtbarkeit, ist aber volks- wirtschaftlich in Ordnung. Denn die langen Konjunkturwellen dauern mindestens 40, eher 60 Jahre, und die Biotechnik könnte einen solchen Kondratieff-Zyklus lostreten. 5) Die dazu notwendigen Innovationen nehmen zwar häufig in flexiblen Schnellbooten, den jungen Biotech- unternehmen, ihren Anfang, setzen sich aber erst in den scheinbar trä- gen Dampfern der Großindustrie durch: Produktion, Markteinfüh- rung und Vertrieb sind am Ende wichtige Ergänzungen für den Er- folg. Die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) jährlich unter biotechnologie.de ver- öffentlichte Statistik 3) bestätigt: In- zwischen nutzen 125 Großunter- nehmen aus den Branchen Chemie, Pharma, Nahrungsmittel und Saat- gut bio- und gentechnische Metho- den. 17 000 Arbeitsplätze und damit mehr als in den über 500 Biotech- unternehmen zählen hier zur Bio- technik. Kooperieren mit dem Mittelstand Energieriesen und Autohersteller sind auf den Kongressen zur indus- triellen Biotechnologie bereits unter den Vortragenden. Nachwachsende Rohstoffe und Biotechnik bieten in- zwischen Alternativen im Fahrzeug- bau, wie der Cluster industrielle Bio- technologie in Stuttgart beweist. Cluster sind ohnehin im Kom- men: Nachdem sich die Finanz- industrie in der letzten Dekade bei weitem als nicht so produktiv für die Biotechbranche herausgestellt hat, wie erwartet, sind einige Unterneh- mer kreativ geworden. So stehen die oft in Clustern initiierten Koope- rationen hoch im Kurs [Nachr. Chem. 2011, 59, 538]. Darunter ist inzwischen auch der Pharmamittel- stand: Das Pharmaunternehmen Engelhardt Arzneimittel aus Nieder- dorffelden bei Frankfurt kooperiert mit dem Marburger Biotech-Start-up Sterna Biologics bei DNAzymen. Das sind neuartige Arzneiwirkstoffe ge- gen entzündliche Erkrankungen wie Formen von Asthma, Dermatitis und Arthritis. Bei einem Blasenmedi- kament kooperiert in Dresden das pharmazeutische Unternehmen Apogepha nicht nur mit dem Bio- techunternehmen Urotec, sondern beteiligt sich auch daran. Kennzahlen der Biotechindustrie der Jahre 2009 und 2010. Kennzahl Jahr 2009 Jahr 2010 Änderung [%] Anzahl Biotechunternehmen 531 538 + 1,3 Anzahl Mitarbeiter 14950 15840 + 3,5 Umsatz [Mrd. Euro] 2,19 2,37 + 8,7 F+E-Aufwendungen [Mrd. Euro] 1,05 1,02 – 2,9 genutzte Fördermittel [Mio. Euro] 51 45 – 11,8 638 Nachrichten aus der Chemie | 59 | Juni 2011 | www.gdch.de/nachrichten

Dr. Holger Bengs

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Page 1: Dr. Holger Bengs

�Chemiewirtschaft�

Reifende Biotechindustrie

Holger Bengs

Steigender Umsatz, wachsende Unternehmenszahlen, wieder Gründungen, frisches Eigenkapital, mehr

Mitarbeiter: Die Biotechbranche wuchs im Jahr 2010 und hat dennoch ein Problem.

� Nach der Durststrecke aufgrund der Finanzkrise vom Jahr 2008 ist die Stimmung der Biotechindustrie nun wieder auf Vorkrisenniveau1) und wichtige Kennzahlen steigen (Tabelle).2,3)

Mit 422 Mio. Euro erreichte die Einwerbung von Eigenkapital wie-der einen guten Wert, bestehend aus 279 Mio. Euro Venture Capital und 143 Mio. Euro aus Kapital-erhöhungen an der Börse.2)

Die Unternehmenszahl stieg um 7 auf 538 Unternehmen, der Um-satz um 8,7 % auf 2,37 Mrd. Euro.3)

Verteilt auf die 15 480 Mitarbeiter der Biotechbranche ergaben sich 153 000 Euro Umsatz pro Mitarbei-ter. Das ist noch ausbaufähig und nicht das, was man von einer reifen Branche erwarten kann. In der che-mischen Industrie brachte es ein Mitarbeiter im Jahr 2010 durch-schnittlich auf 413 000 Euro.4)

Geduld und Ausdauer sind ange-sagt: In Deutschland ist die kommer-zielle Verwertung biotechnischer La-borergebnisse nur 20 Jahre alt und die Hälfte der deutschen Biotech-unternehmen hat maximal zehn Mitarbeiter.

Biotechwertschöpfung in Anwenderbranchen

� Die Biotechnologie hat als inno-vative Basistechnologie ihre Da-seinsberechtigung. Die Wertschöp-fung allerdings findet häufig in den Anwenderindustrien statt (siehe Kasten). Das hilft der Branche nicht in ihrer Sichtbarkeit, ist aber volks-wirtschaftlich in Ordnung. Denn die langen Konjunkturwellen dauern mindestens 40, eher 60 Jahre, und die Biotechnik könnte einen solchen Kondratieff-Zyklus lostreten.5) Die dazu notwendigen Innovationen nehmen zwar häufig in flexiblen Schnellbooten, den jungen Biotech-unternehmen, ihren Anfang, setzen sich aber erst in den scheinbar trä-gen Dampfern der Großindustrie durch: Produktion, Markteinfüh-rung und Vertrieb sind am Ende wichtige Ergänzungen für den Er-folg.

Die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) jährlich unter biotechnologie.de ver-öffentlichte Statistik3) bestätigt: In-zwischen nutzen 125 Großunter-nehmen aus den Branchen Chemie, Pharma, Nahrungsmittel und Saat-

gut bio- und gentechnische Metho-den. 17 000 Arbeitsplätze und damit mehr als in den über 500 Biotech-unternehmen zählen hier zur Bio-technik.

Kooperieren mit dem Mittelstand

� Energieriesen und Autohersteller sind auf den Kongressen zur indus-triellen Biotechnologie bereits unter den Vortragenden. Nachwachsende Rohstoffe und Biotechnik bieten in-zwischen Alternativen im Fahrzeug-bau, wie der Cluster industrielle Bio-technologie in Stuttgart beweist.

Cluster sind ohnehin im Kom-men: Nachdem sich die Finanz-industrie in der letzten Dekade bei weitem als nicht so produktiv für die Biotechbranche herausgestellt hat, wie erwartet, sind einige Unterneh-mer kreativ geworden. So stehen die oft in Clustern initiierten Koope-rationen hoch im Kurs [Nachr. Chem. 2011, 59, 538]. Darunter ist inzwischen auch der Pharmamittel-stand: Das Pharmaunternehmen Engelhardt Arzneimittel aus Nieder-dorffelden bei Frankfurt kooperiert mit dem Marburger Biotech-Start-up Sterna Biologics bei DNAzymen. Das sind neuartige Arzneiwirkstoffe ge-gen entzündliche Erkrankungen wie Formen von Asthma, Dermatitis und Arthritis. Bei einem Blasenmedi -kament kooperiert in Dresden das pharmazeutische Unternehmen Apogepha nicht nur mit dem Bio-techunternehmen Urotec, sondern beteiligt sich auch daran. Kennzahlen der Biotechindustrie der Jahre 2009 und 2010.

Kennzahl Jahr 2009 Jahr 2010 Änderung [%]

Anzahl Biotechunternehmen 531 538 + 1,3 Anzahl Mitarbeiter 14950 15840 + 3,5 Umsatz [Mrd. Euro] 2,19 2,37 + 8,7 F+E-Aufwendungen [Mrd. Euro] 1,05 1,02 – 2,9 genutzte Fördermittel [Mio. Euro] 51 45 – 11,8

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Nachrichten aus der Chemie | 59 | Juni 2011 | www.gdch.de/nachrichten

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Mittelständische Chemieunter-nehmen zögern noch, doch mancher Ausgangs- oder Zusatzstoff für Farb-, Kleb- und Kunststoffe wird zukünftig wohl der Biotechnik ent-springen und so mancher Produkt-lebenszyklus wird sich durch Inno-vationen aus Enzymen und Mikro-ben verlängern. Waschmittelenzyme sind dafür der beste Beweis.

Doch auch das Fachwissen der Mittelständler könnte schon bald im Kurs steigen. Deutsche Biotech-unternehmen verantworten bereits 344 vorklinische und klinische Pro-gramme.2) Wenn die Industrie weiter reift, benötigt sie bald umfassend Expertenwissen in der Arzneimittel-herstellung oder beim Abfüllen von Biopharmazeutika wie monoklona-len Antikörpern in neuartigen Ap-plikationsformen. Die richtige Ver-packung und Logistik dürfte schließlich auch eine Frage für in Deutschland gut vertretene Diagnos-tikneuheiten in Form von DNS-, Peptid- und Protein-Chips sein.

So ginge es: Ein Land, eine Statistik, eine Leitfigur

� Was der Branche auf jeden Fall noch mehr Durchschlagskraft verlei-hen würde, wäre erstens eine ein-heitliche Statistik statt der zwei jähr-lichen Erhebungen zum einen von Ernst & Young2) und zum anderen vom BMBF3). Zweitens wäre mehr

bundesweite Einheitlichkeit für mehr internationale Sichtbarkeit wünschenswert. Hier könnte, drit-tens, eine allseits anerkannte natio-nale Leitfigur helfen. Die vielen Bio-tech-Fürstentümer – also zu viele Verbände für die gleiche gute Sache – nutzen da wenig.

Wer global zu den Trendsettern gehören will, darf sich nicht im Kleinklein der Verbände, Bundeslän-der und Bioregionen verlieren. Deutschland hat beste Chancen auf neue Produkte. Noch sind China und Indien reine Absatzmärkte, aber wie lange noch? Da könnte es hilf-reich sein, wenn der Biotech-Föde-ralismus ad acta gelegt würde. „Die Weichen stellen“, meint der Report von Ernst & Young, könnte sonst am Ende „am Scheideweg stehen“ be-deuten.

Holger Bengs ist promovierter Chemiker, Kauf-

mann und Geschäftsführer von BCNP Consul-

tants, ehemals Dr. Holger Bengs Biotech Con-

sulting, in Frankfurt am Main.

[email protected]

Quellen:

1) BIO Deutschland, Pressemitteilung

18.1.2011.

2) Ernst & Young, Deutscher Biotechnolo-

gie-Report 2011.

3) Biotechnologie.de, Die Deutsche Biotech-

nologie-Branche 2011.

4) Verband der chemischen Industrie, Pres-

semitteilung 1.3.2011.

5) L. A. Nefiodow, Der sechste Kondratieff,

Rhein-Sieg-Verlag, 2007, 6. Aufl.

� Biotechnik als Kerndisziplin

„Die Biotechnologie ist weitaus

mehr als eine Branche. Sie ist eine

entscheidende Kerndisziplin mit

bereits erheblicher und dabei

immer stärker wachsender Bedeu-

tung für angrenzende Bereiche wie

Pharmaindustrie, Gesundheits-

wesen, Lebensmittelindustrie,

Materialwissenschaften, Energie-

wirtschaft, Umwelt und Elektronik.

Demzufolge sind auch die in die-

sen Branchen durch biotechnische

Verfahren und biotechnisches

Know-how entstandenen Arbeits-

plätze hinzuzurechnen.“

Roland Göhde, Geschäftsführer des Zyto-

metriespezialisten Partec in Görlitz und

Vorstandsvorsitzender des Vereins für die

Biotechnologie und angrenzende Bereiche

von Materialwissenschaft bis Medizintech-

nik in Sachsen Biosaxony. (Foto: Partec)

Kurz notiert

Reichere Länder verursachen mehr Kohlendioxid in ärmeren Ländern

� Industrieländer bewirken in anderen Ländern fünf mal größere CO2-Emissionen als sie in ihren eigenen Grenzen sparen. Während in Industrieländern der CO2-Aus-stoß seit dem Jahr 1990 immer weniger stark stieg, nahm er weltweit um 39 % zu. Dies fand ein internationales Wissenschaft-lerteam heraus, zu dem Jan Christoph Minx gehört. Der Ökonom des Klimawandels der Technischen Universität Berlin erklärt: „Wer ein Radio oder eine Hose in Deutschland kauft, verursacht CO2-Emissionen im Her-stellungsland, etwa in China oder Bangla-desch.“ www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/

pnas.1006388108

Evonik kauft Hanse Chemie

� Evonik Industries erwirbt die Hanse-Che-mie-Gruppe für Spezialanwendungen der Si-likonchemie in Geesthaacht bei Hamburg. Zur Gruppe gehören Hanse Chemie (Sili-konwerkstoffe) und Nanoresins (Nanomate-rialien) mit zusammen 80 Beschäftigten.

BASF veräußert Anteile an K+S

� BASF verkaufte circa 19,7 Mio. Aktien des Salz- und Düngemittelkonzerns K + S (etwa 10 % des Aktienkapitals) trennte sich damit komplett von der früheren Tochter. Mit dem Gewinn vor Steuern von etwa 900 Mio. Euro reduzieren die Ludwigshafe-ner ihre Schulden, die Ende letzten Jahres bei 13,5 Mrd. Euro lagen.

Bayer: Lackrohstoffe in Schanghai

� Bayer Material Science will für 65 Mio. Euro eine Anlage für den Lackrohstoff Iso-phorondiisocyanat in Schanghai, China, bau-en. Im Jahr 2015 soll die Produktion starten.

Biotechnica wieder zweijährlich

� Die Biotechnica, Messe für Biotechnolo-gie und Life Sciences in Hannover, findet wieder im Zwei-Jahres-Turnus statt. Nach der diesjährigen Veranstaltung vom 11. bis 13. Oktober wird die Veranstaltung im Herbst 2013 erneut ausgerichtet.

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