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dRAMATURg .. AUSLANDISCHE THEATERLEUTE IN DEUTSCHLAND USERSETZERSYMPOSIUM LATEINAMERIKA .. ' .. IIWENN USERSETZEN ZUR BEGEGNUNG FUHRTII KRITISCHE ANMERKUNGEN ZUM THEATERTREFFEN 1992 (FiT) INFORMATIONEN Nachrichten der Dramaturgischen Gesellschaft Nr. 2/1992

dRAMATURg - dg.websyntax.de · Berlin im Juni 1992 Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, in der gegenwärtigen Zeit erleben wir wachsende Ausländerfeindlichkeit und Radikalismus

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dRAMATURg

.. AUSLANDISCHE THEATERLEUTE IN

DEUTSCHLAND

USERSETZERSYMPOSIUM LATEINAMERIKA .. ' .. IIWENN USERSETZEN ZUR BEGEGNUNG FUHRTII

KRITISCHE ANMERKUNGEN ZUM THEATERTREFFEN 1992 (FiT)

INFORMATIONEN

Nachrichten der Dramaturgischen Gesellschaft Nr. 2/1992

Inhaltsverzeichnis

Gespräche mit ausländischen Theaterleuten:

Kazuko Watanabe

Emine Sevgi Özdamar

Henryk Baranowski

Carlos Medina

Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika e.V.

Übersetzer-Symposium: "WENN ÜBERSETZEN ZUR BEGEGNUNG FÜHRT'

Das Theater Lateinamerikas von uns aus betrachtet

Hedda Kage

Kritische Anmerkungen zum Theatertreffen 1992 (FiT)

Sabine Brandes, Birgit Mosis, Barbara Scheel

eurocultur ost e.V.

Ausstellung und Seminar zum tschechischen Theater:

Vom Prager Frühling zur sanften Revolution

ASSITEJ: Erstes Arbeitstreffen Freier Kindertheater

SPOTI Berlin e.V.: Kindertheater nur noch für Reiche?

Kinder- und Jugendtheater

Angebot zur Gründung einer Arbeitsgruppe in der dg

INFORMATIONEN

Für ein neues THEATER DER ZEIT

Interessengemeinschaft Theater der Zeit e.V. Berlin (i.G.l

Eigenständigkeit für "henschel SCHAUSPIEL"

Ein neuer Theaterverlag in Wien

Mitglieder: Neue und ausgeschiedene Mitglieder 1991

Redaktionsschluß des Nachrichtenbriefes 2!1992: 30. Juni 1992

Redaktion: Birgid Gysi/Karin Uecker

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Berlin im Juni 1992

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

in der gegenwärtigen Zeit erleben wir wachsende Ausländerfeindlichkeit und Radikalismus. Machen sie vor dem

Theater halt?

Dieser Frage wollen wir in einer Gesprächsreihe mit ausländischen Theaterleuten, die in Deutschland leben und

arbeiten, nachspüren. Wir beginnen mit Kazuko Watanabe, Emine Sevgi Özdamar, Henryk Baranowski, Carlos

Medina und bitten Sie, zu dieser Reihe durch ähnliche Gesprächsangebote aus Ihrem Erfahrungsbereich

beizutragen.

Die Redaktion

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Gespräch mit Kazuko Watanabe, Bühnen- und Kostümbildnerin, Regisseurin

Karin Uecker:

Kazuko, Du lebst jetzt schon seit über 20 Jahren als Japanerin in Deutschland. Angefangen hast Du als

Kostümbildnerin und arbeitest jetzt als Regisseurin, wobei Du auch immer für Deine eigenen Produktionen für

Bühne und Kostüm verantwortlich zeichnest. Das ist ein sehr ungewöhnlicher Weg, vor allem für eine Frau. Kannst

Du uns schildern, wie es dazu gekommen ist?

Kazuko Watanabe:

Mein ganzes Leben ist eine Aneinanderreihung von Zufällen. Meinen Mann, einen japanischen Kunst- und

Theaterstudenten, lernte ich durch Zufall auf einer Weltreise in Wien kennen. Nach drei Tagen fragte er mich, ob

ich ihn heiraten wolle. Ich war darüber zu der Zeit eigentlich nur entsetzt, war ich doch von meiner Familie schon

einem jungen Mann in Japan versprochen, der eine diplomatische Laufbahn einschlagen sollte. ln Japan heißt das,

so gut wie verlobt und verheiratet zu sein. Nach meiner Rückkehr von der Europa bzw. Weltreise warteten schon

3 Briefe zu Hause auf mich von dem jungen Japaner aus Wien. Meine Familie war sehr erschüttert, weil sie

dachte, ich hätte mich gegen die japanischen Sitten verhalten und etwas Ungehöriges getan. Aber dann trafen

sich die beiden Familien und im gegenseitigen Einvernehmen der Familien wurden wir am selben Abend noch

verlobt und waren drei Wochen später verheiratet.

Wir fuhren dann zusammen nach Wien, weil mein Mann dort sein Studium beenden wollte. Nach unserer

Ankunft gingen wir in ein Restaurant und waren zum ersten Mal in der ganzen Zeit allein. Erst dann entdeckte ich,

daß mein Mann Linkshänder war. So wenig wußten wir voneinander zur Zeit unserer Hochzeit. ln Japan habe ich

Literatur und Soziologie studiert und einen Abschluß in Soziologie erhalten. Ich war 24 Jahre, als ich nach Wien

kam, und wie es sich für eine japanische Ehefrau gehörte, war ich im Hause und nicht berufstätig. Ich konnte kein

Wort deutsch. Ich war sechs Jahre lang zu Hause bis mein Mann sagte, er wolle eine Frau, die auch außerhalb

des Hauses einer Beschäftigung nachgeht. Früher, in meiner Kindheit, habe ich gerne mit meiner Freundin

zusammen gezeichnet und war ein paar mal zu Modezeichnungssitzungen. So wurde für mich eine Modeschule in

Wien ausgesucht, aber mein Mann machte dann doch den Vorschlag, ich solle Kostümbild studieren. Das tat ich

dann auch. ln jedem Jahr wurde aus der Kostümklasse ein Student zu den Salzburger Festspielen geschickt, um

dort die Praxis kennenzulernen. Ich arbeitete immer bis spät in die Nacht hinein, da nach Stunden bezahlt wurde.

Auf den Festspielen lernte ich durch Zufall Meideie Bickel von der Schaubühne in West-Berlin kennen. Sie

fragte mich, ob ich nicht nach Berlin kommen und für ein Taschengeld mit ihr arbeiten wolle. Ich könne bei ihr

wohnen und essen und hätte sonst kaum Ausgaben. Das war ganz günstig, denn mein Mann ging zur selben Zeit

nach Ost-Berlin an die Volksbühne zu Benne Besson als Regieassistent. Nach ca. 2 Monaten war die Produktion

beendet und wieder durch Zufall traf ich einen israelischen Regisseur, David Mouchtar-Samorai, der mir erzählte,

daß am Schillertheater eine Kostümassistentin gesucht wird. Ich solle gleich am nächsten Morgen hingehen und

mich vorstellen, er hätte mich schon angekündigt. Ich wollte den Job nicht. Eigentlich wollte ich nach Wien zurück,

um mein Studium zu beenden. Aus Höflichkeit der guten Fürsprache gegenüber bin ich dann doch ins

Schillertheater gegangen, und eigentlich nur um abzusagen. Ich wurde freundlich begrüßt und gleich auf die

Bühne geführt, es war Bauprobe. Und wie Du weißt, muß man auf der Bauprobe ja immer ewig warten, bis alles

so montiert ist, so kam ich zunächst gar nicht dazu, nein zu sagen. Ein netter älterer Mann, der Bühnenbildner

dieser Produktion, kam auf mich zu und sprach mit mir. Ich verstand kein Wort, da ich immer noch fast kein

deutsch konnte. Nur aus Höflichkeit und da ich keinen Mut hatte nachzufragen, sagte ich immer nur ja zu ihm, da

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konnte ich nichts falsch machen. Wieder kam ich nicht dazu, nein zu sagen. Erst später bemerkte ich, daß in dem

Raum noch andere Mitbewerber saßen. Plötzlich schlug meine Stimmung um und auf einmal wollte ich die Stelle.

Es ist wohl die Konkurrenz, die meine Entscheidung veränderte. Immer wenn Konkurrenz eintritt, dann bin ich

nicht mehr so entspannt, dann möchte ich gewinnen. Ich mußte eine Woche auf die Antwort warten. Es war die

schlimmste Woche für mich; ich war so nervös und konnte nicht schlafen. Sie haben mich dann genommen, und

das war der Beginn meiner Theaterlaufbahn.

ln den ersten Jahren hatte ich das Glück, mit den bedeutendsten Bühnenbildner(i)n in Deutschland,

angefangen bei Moidele Bickel, Karl Ernst Herrmann, Klier und Wi~ried Minks zu arbeiten. Ich muß dazu sagen,

daß ich damals so naiv war, daß ich überhaupt nicht wußte, für wen ich da eigentlich arbeite, noch die Bedeutung

dieser Bühnenbildner(in) für das Theater erfassen konnte. Meine ersten eigenen Kostüme entwarf ich für eine

Produktion, in der Wilfried Minks Regie führte. Wieder war die Zusammenarbeit mit Wilfried Minks durch einen

Zufall zustande gekommen. Als er mich fragte, ob ich mir nicht vorstellen könnte, für eine seiner nächsten Produktionen die Kostüme zu entwerfen, wollte ich nicht, da ich mich noch nicht ausgebildet genug fühlte. Wir

unterhielten uns lange und kamen schließlich überein, daß ich mit jemandem zusammen arbeiten würde. Darauf

konnte ich mich einlassen. Als ich den Vertrag unterschreiben sollte, stieg die zweite Person wieder aus, und ich

stand alleine da. Aber wieder konnte ich nicht absagen, denn Minks war zu der Zeit in Afrika und kam erst zu

Probenbeginn zurück. So kam es zu meiner ersten eigenen Kostümgestaltung.

Die nächste Etappe war Essen. Man fragte mich dort, ob ich nicht für eine Produktion die Kostüme machen

wolle. Ich sagte zu, aber bei den Verhandlungen stellte sich heraus, daß meine Gagenforderung für das Budget zu

hoch wäre, so schlug man mir vor, Bühne und Kostüme zu machen. Ich wollte zuerst nicht, da ich überhaupt keine

technischen Zeichnungen erstellen konnte. Das war dann aber kein Problem. Ich baute ein Modell, und der

Technische Leiter machte nach dem Modell die Zeichnungen für die Werkstätten.

Von da ab arbeitete ich kontinuierlich als Kostüm- und Bühnenbildnerin, später dann auch als Regisseurin.

Wie gesagt, mein künstlerischer Werdegang ist von reinen Zufällen bestimmt. Heute erkenne ich, daß ein

Sinn darin lag, denn hätte ich gewußt, mit wem ich arbeite oder hätte mich sehr durchkämpfen müssen, um

überhaupt am Theater Fuß zu fassen, dann hätte ich viel mehr Angst gehabt und wäre wahrscheinlich überhaupt

nicht fähig gewesen, meine künstlerischen Vorstellungen umzusetzen.

Karin Uecker:

Du bist in Japan geboren, hast Deine ganze Jugend dort verbracht und bist erst mit 24 Jahren als

verheiratete Frau nach Europa gekommen. Hast Du Dich hier sehr fremd gefühlt, und vor allem hat Deine

Nationalität Dir viele Schwierigkeiten eingebracht?

Kazuko Watanabe:

Mit der Ausländerproblematik habe ich erstmal nicht so viel zu tun. Natürlich fällt mir auf, daß ich früher

mein Auto in der Tiefgarage des Theaters abstellte, wo immer Platz war und es abends nach der Abendprobe

einfach abholte. Aber heute parke ich es vor der Abendprobe ganz nah am Ausgang, so daß ich nur noch rein und

raushuschen muß. Auch mit dem s-Bahn fahren habe ich zunehmend Schwierigkeiten. Wenn ich spät nach der

Probe nach Bochum in die S-Bahn steige, dann habe ich heute schon ein mulmiges Gefühl dabei. Früher war ich

wohl naiver, jedenfalls hatte ich überhaupt keine Angst. Einmal saß ich nachts in einemS-Bahn Wagen, als eine Gruppe Skin Heads einstieg. Plötzlich verstummten alle Fahrgäste, und es war eine ganz angespannte

Atmosphäre. Das betraf aber genauso die deutschen Fahrgäste. Auch fahre ich nicht mehr nach Ost-Berlin. Im

Gegensatz zu früher, da bin ich doch sehr oft zu Langhoff gefahren. Heute denke ich, daß dort der

Rechtsradikalismus besonders stark ist, jedenfalls bekomme ich den Eindruck aus den Medien.

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Natürlich gibt es auch witzige Geschichten. Immer wenn ich neu an ein Theater komme, mich in die Kantine

setze, dann werde ich als erstes gefragt, ob ich an dem Haus hospitiere. Oder wenn ich mir eine Wohnung

besorge für die Dauer der Proben in einer Stadt, dann kommt auch heute noch die Frage von dem Vermieter, ob

ich ein Praktikum am Theater mache. Vielleicht sehe ich so natürlich aus, daß mir niemand den Beruf ansieht,

oder es hat doch etwas mit der anderen Nationalität zu tun.

Die meisten Schwierigkeiten habe ich nicht, weil ich Ausländerin, sondern weil ich eine Frau bin. Das gilt

besonders für die Arbeit am Theater. Ich war 34 Jahre, als ich mein Kind bekam. Das war vor 17 Jahren.

Ich war in Harnburg in einer sehr aufwendigen Produktion beschäftigt. Meine Periode blieb aus, aber meine

Vertraute in der Produktion sagte, das sei ganz normal, nichts Beunruhigendes bei so viel Arbeitsstress. Nach der

Premiere besuchte ich einen Frauenarzt und war schon Ende des 3. Monats schwanger. Mein Mann wollte das

Kind nicht und alle männlichen Kollegen am Theater rieten mir auch zu einer Abtreibung. Ein bekannter

Bühnenbildner sagte, eine Frau, die schwanger ist, verliert all ihr künstlerisches Potential. Ich wurde versorgt mit

einer Adresse in London, wo ich den Eingriff vornehmen lassen konnte. Natürlich rief ich meine Eltern an und

erzählte, was passiert war. Sie waren so entsetzt, daß ich das Kind abtreiben lassen wollte. So wütend habe ich

meinen Vater noch nie erlebt. Mich hat das alles sehr verunsichert und die Zeit verstrich, ohne daß ich mich

entscheiden konnte, und so war es letztendlich zu spät für eine Abtreibung. Während meiner Schwangerschaft

holte mich Peymann nach Bochum trotz der allgemeinen Meinung, daß eine Frau in dieser Verfassung sehr

reduziert ist, schöpferisch künstlerisch zu arbeiten. Aber so ist es, wenn sie einen brauchen, dann ist alles

Gesagte über Frauen und deren künstlerische Arbeit graue Theorie, dann zählt nur noch die Arbeitskraft und das

Endprodukt

Nachdem ich das Kind hatte, wollte mein Mann, daß ich aufhöre zu arbeiten. Ich war einfach zu weit

gekommen. Als ich damals in Wien anfing mit der Kostümbildnerei, konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, daß

diese Ausbildung jemals für mich in einen Beruf münden würde. Die Arbeit macht mir aber sehr viel Spaß und

selbst mein Vater riet mir, wenn ich mich schon zwischen dem Beruf und der Ehe entscheiden müßte, den Beruf

zu wählen, denn ich könnte wieder heiraten, aber ich würde für mich nicht mehr einen so erfüllenden Beruf finden

wie am Theater. So kam es zum Bruch in der Ehe und zur Scheidung.

Die allermeisten Probleme habe ich mit der Aufenthaltserlaubnis. Solange ich verheiratet war, war das kein

Problem, denn mein Mann hatte ein festes Engagement. Als geschiedene Frau anderer Nationalität ist es aber in

Deutschland extrem schwierig. Ich mußte mich alle drei Monate auf der Ausländerbehörde melden und bekam

immer nur die Arbeitserlaubnis für den jeweiligen Vertrag, unter dem ich gerade arbeitete. ln Harnburg hatte sich

einmal eine Verzögerung ergeben, so daß zwischen dem alten und dem neuen Vertrag zwei Wochen lagen. Sofort

hat sich die Ausländerbehörde eingeschaltet, ich mußte vor Gericht und eine hohe Strafe zahlen. Ich habe jetzt 8

Jahre durchgearbeitet, ohne Urlaub, immer die Verträge so abgestimmt, daß sie genau aufeinanderfolgen, ohne

einen Fehltag dazwischen. Jetzt nach 8 Jahren Arbeit habe ich mir hier eine ständige Aufenthaltserlaubnis

erworben.

Je länger ich in diesem Beruf arbeite, desto deutlicher merke ich, daß es für Frauen am Theater schwieriger ist als für Männer. Es gibt Ungerechtigkeiten, was die Gagen und Terminpläne anbelangt. Besonders

aufgefallen ist mir diese Struktur seit ich auch als Regisseurin arbeite. Die Idee, auch Regie zu führen, kam von

meinen männlichen Regiekollegen, mit denen ich schon sehr oft und intensiv als Bühnen- und Kostümbildnerin

zusammengearbeitet hatte. Sie sagten immer zu mir, meine Bühnenbilder wären so angelegt, daß sie in die Regie

eingreifen, ich sollte doch selber den Schritt zur Regie wagen. Als ich dann den ersten Versuch unternahm, eine

Regie zu bekommen, wandten sich plötzlich alle früheren Unterstützer von mir ab. Es tut sehr weh, diese

Erfahrung zu machen, da es doch auch meine Freunde waren. Heute weiß ich, daß bei ihnen die Angst da war,

wenn ich erst einmal Regie führe, dann werde ich nicht mehr mit ihnen als Bühnenbildnerin arbeiten. Dennoch, am

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Theater müssen Frauen immer noch besser sein als Männer, um sich durchzusetzen und härter kämpfen, um ihre

Vorstellungen von Besetzung und Probenzeit realisieren zu können.

Karin Uecker: Du hast einiges aus Deinem Alltag erzählt, fließen diese Erfahrungen auch in Deine künstlerische Arbeit ein?

Kazuko Watanabe:

Die Alltagserfahrungen verarbeite ich nicht, bzw. nicht bewußt in meinen Inszenierungen. Anders verhält es

sich mit der japanischen Kunsttradition. Mein Gefühl ist, daß ich in Japan sehr intensiv wie ein Schwamm die Kunst

und Kultur in mich aufgesogen habe und diese Eindrücke hier in Europa in der anderen Kultur für meine Arbeit

nutzen kann. Theater, die mich engagieren, wollen immer etwas Besonderes, was das Bühnenbild und die

Kostüme betrifft. Ich glaube, in meinen Arbeiten sieht man immer die japanische Tradition. Als ich anfing, war ich

am mutigsten. Damals - etwa 1977 -war es noch ganz und gar fremd, z.B. Materialien entgegen der Konvention

zu behandeln. Bei meinen ersten eigenen Kostümen wurden die Kleider und Anzüge aus edler Seide hergestellt.

Danach bin ich dann hingegangen und habe die Kostüme in kaltes Wasser getaucht und zerknittert. Alle waren

entsetzt, denn Seide mußte nach der Konvention glatt sein. ln meinen Bühnenbildern habe ich sehr früh

angefangen, nach dem Prinzip des Minimalismus zu arbeiten, als hier in Deutschland noch alle in den Mustern von

großen und aufwendigen Dekorationen dachten. Aber auch bei historischen Kostümen sieht man meine

Handschrift. Einmal habe ich Kostüme für "Die drei Musketiere" entworfen, selbst diese sahen etwas japanisch

aus. Ich denke, es liegt sehr viel an der Farbgestaltung.

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Gespräch mit Emine Sevgi Özdamar, Schauspielerin und Schriftstellerin, lngeborg-Bachmann-Preisträgerin 1991

Birgid Gysi:

Emine, Du bist 1946 in der Türkei geboren und lebst seit 1965 in Deutschland. Aus welchen Gründen hast

Du Deine Heimat verlassen, mit welchen Hoffnungen bist Du nach Deutschland gekommen?

Emine Sevgi Özdamar:

Ich war 18 Jahre alt, als ich nach West-Deutschland ging. Ich kam als Arbeiterin. Das hatte nur den Grund,

daß man sich in diesem Alter mit der Mutter nicht so richtig versteht. Dann ist es gut, daß so ein Weg zum

Weggehen offen ist. Ich habe ein Jahr in der Fabrik gearbeitet, bin dann zum Goethe-lnstitut gegangen und habe

deutsch gelernt. ln diesen zwei Jahren in Deutschland habe ich mich abgenabelt. Ich habe im Frauenwohnheim

gewohnt und hier türkische Frauen kennengelernt die ich in der Türkei vielleicht nie hätte treffen können.

Weil ich seit meinem zehnten Lebensjahr Schauspielerin werden wollte, besuchte ich ein Semester die

Schauspielschule in Berlin. Dann kam 1967- Benno Ohnesorg wurde getötet. Ich war an dem Tag in Berlin und

habe mitdemonstriert ln diesen Zusammenhängen kam auch jemand aus der Türkei und hat uns politisiert. Ich

ging zurück nach lstanbul, besuchte die Schauspielschule bis 1970 und arbeitete zugleich in der Partei der

Arbeiter, die jetzt geöffnet wurde. Meine ersten professionellen Rollen nach dem Studium waren die Charlotte

Corday im "Marat-de Sade" von Peter Weiss und die Witwe Begbick in "Mann ist Mann" von Bertolt Brecht. Ich

arbeitete mit einem Türken zusammen, der Brecht inszenierte und auch wie Brecht schrieb. Dieser Mann lebt

nicht mehr. Er war 1965 in dem Frauenwohnheim Heimleiter und hat mich damals immer zu den Aufführungen des

Berliner Ensembles mitgenommen. Ich habe so als junges Mädchen Helene Weigel auf der Bühne gesehen,

"Arturo Ui" u.a. und habe dadurch auch den Ost-Teil der Stadt lieben gelernt.

Als dann der Militärputsch in der Türkei kam, die Partei verboten, dieser Regisseur und Schriftsteller ins

Gefängnis geworfen und das Theater geschlossen wurde, entstand für mich ein großes Loch: Es war so ein

Moment, wo die Karriere urid die Liebe kaputt gingen ... aber geblieben war mein Traum, mit einem Brecht­

Schüler zu arbeiten. Es gab kaum Literatur über Brecht in der Türkei, das Wenige las ich tausend Male ... ich

wurde richtig krank: Es gab so viele Fragen, z.B. was ist der Verfremdungseffekt? Schweizer Freunde schickten

mir ein Buch über Benno Besson, und ich hab von Benno Besson geträumt. Der Schweizer Buchhändler Theo

Pinkus half mir dann mit einem Empfehlungsbrief, zu Benno Besson zu gelangen. Das war 1976. Ich wohnte in

Westberlin und arbeitete bei Besson an der Volksbühne in Ostberlin. Ich hospitierte zuerst, dann machte ich

Regieassistenz bei Fritz Marquardt, Manfred Karge/Matthias Langhoff und Benno Besson. Ich war überglücklich.

Als Schauspielschülerin in lnstanbul war ich zum ersten Mal sehr glücklich: Ich war die beste Schülerin, war in der

Partei, machte Reportagen, fuhr perAutostop durchs ganze Land bis zur persischen Grenze, ich hatte eine gute

Liebe - alles stimmte. Die zweite Phase in meinem Leben, wo ich so glücklich war, waren diese zwei Jahre (1976

bis 1978) an der Ostberliner Volksbühne. Ich wäre auch dort geblieben, wenn Besson noch geblieben wäre. Die

Arbeit dort hat mich künstlerisch geprägt.

Birgid Gysi:

Hat die Tatsache, daß Du Ausländerin bist, Dir in der künstlerischen Arbeit und im Alltag Schwierigkeiten

gemacht, warst Du auf Grund Deiner Nationalität fremd und Angriffen ausgesetzt?

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Emine Sevgi Özdamar:

Eine Ausländerproblematik gab es damals für mich nicht. Keine Sekunde habe ich so etwas erlebt, im

Gegenteil: Sie haben mir so schöne Namen geschenkt wie "Frau von lstanbul", "Perle des Orients" oder "Jeanne

d'Arc des Theaters". ln der Türkei haben die Leute vieles an mir naiv gefunden. Ich habe dann erlebt, daß dieses

Wort "Naivität" von Besson oder von Langhoff ganz anders benutzt wurde, daß sie in dieser Naivität eine große

Qualität sahen. Das gab mir Kraft, bis heute; denn diese Naivität hatten höchstens mein Vater und meine

Großmutter an mir geliebt. Leute von bürgerlichem Stand, z.B. Männer in der Türkei, die mit mir nicht klar kamen,

k r i t i s i e r t e n , daß ich zu n a i v sei. Von Langhoff dagegen habe ich das als Kompliment gehört: Sie ist

sehr subjektiv. Das ist für die Kunst sehr wichtig. Insofern fühlte ich mich dort am Theater in Ostberlin nicht

fremd, sondern glücklich.

1978 bin ich mit Besson nach Paris gegangen und habe an der Inszenierung von Brechts "Kaukasischem

Kreidekreis" mitgearbeitet. Ich lernte durch die Arbeit an Brechts Stück französisch: Ich hatte ein deutsches

Textbuch und die Schauspieler probten in französischer Sprache.

Ich hatte keine Aufenthaltserlaubnis- in der DDR erhielt ich immer wieder Visa- und da bot sich die

Möglichkeit, mich an der Pariser Universität einzuschreiben: Ich bekam die Chance, eine Doktorarbeit über die

Volksbühnenbewegung von Piscator bis Brecht zu schreiben. Ich blieb aber nur ein Jahr, war dann in der

Schaubühne Berlin im Türken-Projekt und erhielt von 1979 bis 1984 ein Engagement als Schauspielerin am

Bochumer Schauspielhaus unter der Intendanz von Peymann.

Birgid Gysi:

Kannst Du etwas über Deine Erfahrungen als ausländische Künstlerin im Alltag und am Theater in

Westdeutschland sagen - eigentlich hast Du ja dort wieder mit den gleichen Regisseuren wie vorher in

Ostdeutschland gearbeitet.

Emine Sevgi Özdamar:

ln der DDR konnte ich die Türken-Realität ja nicht sehen. ln Westdeutschland gab es diese Realität auf der

Straße, das war für mich die Konfrontation mit einer anderen sozialen Realität. Und so habe ich damals am

Bochumer Schauspielhaus in einem Stück von Thomas Brasch die Rolle einer Putzfrau gespielt, eine Rolle, die ich

selber in das Stück hineingeschmuggelt hatte. Die Kritiker schrieben daraufhin: Durch das gesamte Stück laufe

auch eine emsige türkische Putzfrau. Daraufhin regten sich alle im Theater sehr auf, daß prinzipiell hier

angenommen wurde, alle Türken seien Putzfrauen. Normalerweise würde man doch schreiben: Die Rolle einer

Putzfrau spielte die türkische Schauspielerin Emine Sevgi Özdamar .... Die Theaterleute haben einen Brief an die

Zeitung geschickt, aber die Redaktion hat gar nicht darauf reagiert.

Von da an habe ich immer wieder versucht, die Rolle einer "türkischen Putzfrau" in ein Stück

hineinzuschmuggeln, auch in Opern- u.a. eine Strawinsky-Oper. ln Frankfurt am Main habe ich z.B. mit der

Bohnermaschine (lautlos) den Bühnenboden gebohnert, während der Teufel noch um das Leben des Jungen

Karten spielt. Ich glaube, die "Putzfrau-Rolle" kommt aus der westdeutschen Realität, in der DDR wäre ich nie auf

die Idee gekommen, die Rolle einer türkischen Putzfrau in ein Stück hineinzuschmuggeln. Auf diesem Boden

entstand dann mein Monolog "Karriere einer Putzfrau, Erinnerungen an Deutschland". Eines Tages durfte ich in

einem englischen Stück einmallaut mit der Bohnermaschine die Bühne bohnern, da habe ich gesagt: Ah, ich habe

Karriere gemacht als Putzfrau -von Lappen und Eimer zur Bohnermaschine! Die Kollegen haben sich sehr darüber

amüsiert. Bald darauf habe ich diesen Monolog geschrieben.

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Birgid Gysi:

Sind Ausländerprobleme für Dich ein ständiges künstlerisches Thema geworden?

Emine Sevgi Özdamar:

Mein erstes Theaterstück war "Karagöz in Alamania" (1982). Ich habe es geschrieben, weil mich ein Brief

eines türkischen Gastarbeiters sehr berührt hat. Übrigens fragen mich die Türken immer, wenn ich "Gastarbeiter"

sage: Glauben Sie wirklich, daß die Türken immer noch Gastarbeiter sind? Ich sage dann: Ich halte an diesem

Wort fest, ich liebe dieses Wort. Da sehe ich zwei Personen, einer sitzt als Gast und der andere arbeitet. Dann lachen sie immer.

Also dieser Brief war mit der Schreibmaschine geschrieben. Schon das hat mich sehr berührt, weil ich

weiß, wie schwer es ist, mit der Schreibmaschine zu schreiben. Dieser Gastarbeiter schrieb das Papier ganz dicht

voll, er kannte die Schriftgrenzen nicht, man merkte, daß er nicht gewöhnt war, Schreibmaschine zu schreiben.

Und er hat das Papier von vorn und von hinten benutzt. Das zweite, was mir auffiel und mich berührte, war, daß

er nie schlecht über Deutschland sprach. Er sagte: Ein Arbeiter hat keine Heimat; ich arbeite in Deutschland, also

ist Deutschland meine Heimat. Da merkte ich, daß sein Problem in der Türkei liegt, daß es ein Problem mit seiner

Frau war, die es weder in der Türkei noch in Deutschland aushalten konnte, immer hin und her ging und jedesmal

schwanger war.

Die Frau erzählte ihm eines Tages, daß sie mit seinem Onkel vom gleichen Baum Kirschen gegessen hat­

das wurde zu seinem Problem. Er fuhr in die Türkei, 3000 Kilometer weit, ließ seine Frau in Deutschland allein,

nur um zu fragen, wer zuerst unter dem Baum gestanden hat, seine Frau oder der Onkel. Er hat den Onkel nicht

direkt gefragt, sondern die Nachbarn und die Frauen -die Sache wucherte und wucherte, es war das Problem der

3000 Kilometer. Wenn er auch in der Türkei im Dorf gewesen wäre, als seine Frau mit dem Onkel unter dem

Baum stand, wäre er normalerweise zu ihnen gegangen und hätte auch von den Kirschen gegessen. Aber weil er

das fern in Deutschland nur als Nachricht hörte, wurde es zu einem großen Drama. Hinzu kam, daß er von

türkischen Faschisten geschlagen worden war und sein halbes Gesicht gelähmt blieb. All das hat er in dem Brief

geschrieben. Das war der Anlaß für mein Stück "Karagöz in Alamania", natürlich ein ganz anderes Stück: Ein

Bauer macht sich mit seinem sprechenden Esel auf den Weg, sie machen Stationen und kommen bis Deutschland

... Deutschland ist eine Tür. Indem man durch diese Tür hineingeht und herauskommt, ändert man sich allmählich,

die Sprache ändert sich, die Ästhetik.

Birgid Gysi:

Du konntest also im fremden Land künstlerisch produktiv werden und mußtest Dich und Deine Herkunft

nicht verdrängen?

Emine Sevgi Özdamar:

Nein, das mußte ich nicht. Ich wußte zunächst nicht, was das Wort "Integration" bedeutet. Dann merkte

ich, daß ich es nicht mochte, wenn die Türken unheimlich gut deutsch sprachen oder sich Mühe gaben, alle

Formen, die man im Rundfunk oder im Fernsehen hört, zu benutzen.

Es war so eine Erfahrung: Erst kommst du für ein Jahr, dann wird daraus das zweite Jahr, das dritte und

das vierte ... keiner winkt dich zurück und du entdeckst, daß du für dort gestorben bist. Du kannst natürlich

zurückgehen, aber nach dem fünften Jahr ist es schon sehr schwer, ganz zurückzugehen. Und auf einmal merkte

ich: Ich bin jetzt der M e n s c h v o m W e g geworden, auch das ist eine Heimat. Ich mag den Satz von

Godard: Man müsse das Vaterland verraten, damit man gleichzeitig an zwei Orten sein kann. Und das ist passiert.

Nach fünf Jahren spürte ich, daß die Sprache weggeht, die türkische Sprache kriegte Füße und die deutsche

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Sprache war noch nicht da. Ich kriegte plötzlich Angst vor den Wörtern. Du härst so Wörter, die du wiederholst,

mit Betonungen, und du weißt nicht, von wem die stammen, weil du diese Menschen nicht als Kind gekannt hast

und plötzlich zweifelst du ... das ist dann anders, wenn Freunde die Wörter mit bestimmten Betonungen zu dir

sagen. Früher waren ja alle Deutschen für mich gleich -das passiert euch ja mit den Türken genauso. Erst später

fing ich an zu unterscheiden: Das kann ein Berliner sein, das ein Bayer, das ist ein Kölner ... das dauert. ln der

Türkei kannte ich ja schon als Kind die Dialekte. Da kam dann eben so ein Moment der Angst. Auf einmal mischten

sich die Sprachen ineinander, und das war dann ein schöner Moment.

Ich habe die deutsche Sprache natürlich immer von Kleist- oder übersetzten Shakespeare- Texten

gelernt, deshalb habe ich die deutsche Sprache von Anfang an geliebt. Auch als ich 1967 wieder in der Türkei

war, habe ich jeden Tag Ernst Busch oder Lotte Lenya gehört. Meine Liebe zur deutschen Sprache kommt durch

Busch, Lenya, Kleist, Shakespeare - über die Kunst. Aber Straßen- und Eckkneipendeutsch mag ich auch, nur

nicht das "Fernseher-Deutsch". Ich schreibe jetzt deutsch.

Bei der "Mutterzunge" (Erzählband 1990) wollte ich unbedingt, daß die Fehler drinbleiben. Sie sollten nicht

korrigiert werden, weil das für mich eine Ebene war, die erzählt, was mit einem passiert. Außerdem: Fehler sind

meine einzige Identität. Ich muß auf ihnen bestehen. Das gefällt auch vielen Menschen, die zu meinen Lesungen

kommen. Manche genieren sich allerdings auch und fragen: Warum haben Sie nicht erst türkisch geschrieben und

dann richtig übersetzt, wir lernen doch hier besser deutsch, warum haben Sie nicht ein besseres Deutsch

geschrieben. Ich sage: Das ist eine neue Sprache, sie wird von fünf Millionen so gesprochen -von Jugoslawen,

Griechen, Türken ... Wenn die zusammen in einem Zug gen Süden fahren, haben sie als gemeinsame Sprache

deutsch. Sie haben ihre eigenen Bilder, und die drücken sie in der deutschen Sprache aus, tagelang auf so einer

Fahrt ... das ist faszinierend, da entsteht fast ein Oratorium, sie singen auch so. Durch die andere Lebensrealität

ist auch·eine Kunstebene entstanden.

Birgid Gysi:

Haben die politischen Veränderungen in Deutschland für Dich Änderungen in Deinem Alltagsleben und in

Deiner künstlerischen Arbeit gebracht?

Emine Sevgi Özdamar:

Nein, überhaupt nicht. Ich hatte die Mauer ja schon vorher normalisiert - ich konnte ja immer hin- und

hergehen. Die ersten Tage der Maueröffnung fand ich sehr schön: ln den Zügen- ich fahre sehr viel mit dem Zug­

fingen die Menschen zum ersten Mal an, laut miteinander zu reden, auch die Leute aus dem Westen

untereinander. Es entstanden so Gespräche, fast "figurenmäßig", wie Auftritte. Es war plötzlich eine Spannung da,

das ganze Deutschland war eine Bühne, wo man nicht wußte, welches Stück gespielt wird, aber jeder wollte darin

eine Rolle mitspielen. Daher waren die ersten Wochen für mich fast wie Theater.

Mit Ausländerfeindlichkeit direkt hatte ich noch nichts zu tun. Eigentlich finde ich schon dieses Wort

"Ausländerfeindlichkeit" falsch. Es ist eine Halbnarkose, die man den Deutschen gibt. Aber diejenigen, die diese

Narkose geben, sind n i c h t die Faschisten, sondern Menschen, die sich als intellektuell und liberal verstehen.

Das Wort stammt von denen. Es beschreibt nicht das eigentliche Problem. Das Wort deckt zu und nicht auf. Was

eigentlich ein soziales Problem ist, wird umgelenkt auf Ausländer. Diese jungen Skin Heads, Faschisten aus

Ostdeutschland, hat man sehr schnell hier im Fernsehen als Affen gezeigt. Die gleiche schnelle Mühe hatte man

sich nicht gegeben, die westdeutschen Faschisten so zu zeigen.

Manchmal denke ich, so ein Skin-Head-Junge ist in Deutschland viel weniger zu Hause als ich. Wie kann ich denn

glauben, daß die ganze "Ausländerfeindlichkeit" allein in den Händen solcher Jugendlichen ist?! Der deutsche Staat

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hätte in den vergangenen 36 Jahren längst die Ausländerfragen regeln können, er hätte das von Anfang an tun

müssen, z.B. wie es die Amerikaner machen: vielleicht sofort Pässe geben, vielleicht nach fünf Jahren, vielleicht

nach zehn Jahren, Wahlrecht geben u.s.w .. Die Politiker haben diese Politik getrieben, nicht von Anfang an

Regelungen getroffen, und jetzt werden nun diese jungen -vielleicht auch arbeitslosen - Leute als Affen und

Schuldige im Film gezeigt. Natürlich schlagen die zu- aber wer schlägt denn hier eigentlich?!

ln meiner künstlerischen Arbeit mit den Kollegen habe ich diese Probleme nicht. Ich bin ja hergekommen

als Künstlerin. Ich glaube übrigens auch nicht, daß die ausländischen Arbeiter konkret in den Betrieben von ihren

Arbeiter-Kollegen, mit denen sie zusammenarbeiten, schlecht angesehen oder schlecht behandelt werden. Das

spielt sich wohl mehr zwischen Straße und Politikern ab. Man sollte sich lieber die Frage stellen, warum man in

Deutschland, wo man schon einmal Lager gebaut hat, wieder Lager gebaut hat- Aufnahmelager, Asylantenheime

... da ist die Adresse so offen.

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Gespräch mit Henryk Baranowski

Renate Wolf:

Wann und warum bist Du nach Deutschland gekommen?

Henryk Baranowski:

Ich habe 1980 zum zweiten Mal ein Arbeitsverbot in Polen bekommen; ich wollte keine weiteren Jahre

verlieren. Ich hatte einen Paß, aber kein Visum und so war Berlin damals die einzige Möglichkeit. Ich habe etwas

Deutsch und Englisch gesprochen. Ich habe Workshops gemacht, aus denen sich eine Gruppe gebildet hat, mit

der ich 1981 "Die Zofen" in Berlin inszeniert habe.

Renate Wolf:

ln der Hasenheide?

Henryk Baranowski:

Nein. Das war in der Glogauer Straße, die Hasenheide war die nächste Etappe: viel Arbeit, viel Energie,

aber wir haben es nicht geschafft, wir mußten die Hasenheide vor vier Jahren aufgeben, nach sieben Jahren

kontinuierlicher Arbeit.

Renate Wolf:

ln der Hasenheide gab es auch eine Schule, hast Du sie gegründet, geleitet?

Henryk Baranowski:

Ich habe angefangen, meine Schauspieler haben sich angeschlossen. Hinzu kamen Regieseminare mit dem

Künstlerhaus Bethanien ... das alles zu halten war eine Geldfrage ...

Renate Wolf:

Wie war die Unterstützung des Senats?

Henryk Baranowski:

Projektweise, leider nicht kontinuierlich. Und das ist das große Hindernis. Man kann sich ohne feste

Unterstützung zwar ein paar Jahre über Wasser halten, will man aber Fortschritt, dann muß man die Schauspieler

länger als für eine Inszenierung halten, sonst zerfällt alles.

Renate Wolf:

An Deiner Arbeitsweise fällt auf, daß Du selten zu Stücken greifst, sondern oft Prosa für das Theater

adaptierst. Was reizt Dich daran?

Henryk Baranowski:

Es gibt mehrere Gründe. Erstens: Eine Freie Gruppe sollte nicht das machen, was die "Normalen" Theater

machen. Zweitens: Wenn ich nicht auf Stücke, Dramatik, zurückgreife, entfallen die damit verbundenen

Theaterkonventionen, ich muß neue Formen entwickeln.

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Renate Wolf:

Das heißt, Du mußt eine adäquate Theatersprache finden.

Henryk Baranowski:

Ja, zusammen mit dem Ensemble. Diese Situation ist für alle Beteiligten kreativer; es erfordert mehr

Untersuchungen, mehr Kontakt, es ist einfach interessanter.

Drittens: Ich stelle fest, daß viele Leute kaum noch lesen, nicht allein aus eigener Schuld, sie haben einfach

keine Zeit, Kino, Liebe, Geld verdienen, Geld ausgeben ... Konsum, und für Literatur bleibt eigentlich nichts. Ich

versuche ihnen ein Stück Literatur auf dem Theater zu geben, denn für diese 1 1/2 Stunden ist das möglich, sie

kommen. So bleiben sie in einer Kulturkontinuität, die ohne Literatur nicht möglich ist.

Renate Wolf:

Du hast in der letzten Zeit weniger in Deutschland gearbeitet, aber dafür mehr in der UdSSR, in den USA,

und jetzt arbeitest du in Polen. Du bereitest einen neuen Kafka vor für das von Tabori geleitete Festival in Cividale.

Gibt es besondere Gründe für diese Wanderschaft, die ja auffällig mit der deutschen Vereinigung zusammenfäl~?

Henryk Baranowski:

Ich habe hier in die Arbeit sehr viel Kraft, Energie und Liebe gesteckt. Diese Arbeit wird aber nicht genug

geschätzt. Das bedeutet, ich bin in der gleichen finanziellen Situation mit dem Theater wie vor 6-7 Jahren, und ich

sage mir, die wollen dich, deine Arbeit nicht. Daraufhin habe ich mich nach anderen Möglichkeiten umgesehen und

bin gereist.

Ich sehe mich auch einer Feindseligkeit gegenüber, die meine Motivation schwächt, hier zu bleiben; ich bin

als Ausländer nicht sehr willkommen.

Renate Wolf:

Ist das schlimmer geworden?

Henryk Baranowski:

Ja, und ich habe keine andere Möglichkeit, dies auszudrücken als durch Theater, das ist meine Form der

Rechtfertigung in dieser Gesellschaft. Und wenn das nicht geht, muß ich gehen. Aber es fällt mir nach zehn

Jahren sehr schwer, ich habe es immer noch nicht ganz aufgegeben, vielleicht gibt es noch eine Chance.

Renate Wolf:

Du hast jetzt kein Arbeitsverbot mehr in Polen, die Arbeitsbedingungen allerdings unterscheiden sich.

Henryk Baranowski:

Eigentlich ist es egal, wo ich arbeite. Es ist in Polen sehr schwierig, Theater zu machen, weil es kein Geld

gibt. Wichtig ist, daß die Arbeit Sinn hat und ob Publikum kommt oder nicht. ln Polen kommt es und hier kam,

kommt es auch. Aber das reicht leider nicht. um das Theater am Leben zu erhalten.

Renate Wolf:

Es ist paradox, andere kämpfen um Zuschauer, und Du hast dein Publikum und trotzdem reicht es nicht.

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Henryk Baranowski:

Das ist die eine Seite, die andere sind die Schauspieler. Ich habe es geschafft, überall, wo ich gearbeitet

habe, Schauspieler an mich zu ziehen. Ich "schleppe" sie mit, gute Schauspieler, schöne Menschen.

Renate Wolf:

Eine "Mischpoke" aus vielen Nationen, die sich um Dich versammelt hat: Polen, Russen, Deutsche,

Amerikaner ... und die Sprache, in welcher Sprache wird gespielt?

Henryk Baranowski:

Es ist eine "Ländermischung" und damit ein Sprachengemisch. Das hatte ich immer, aber bei der letzten

Arbeit, bei Joyce, war es extrem. Wir haben in allen Sprachen gespielt.

Renate Wolf:

Ich habe den Joyce nicht gesehen und kann mir nicht recht vorstellen, wie das bei einem solchen Werk,

das so von der Sprache lebt, funktionieren soll? Jeder hat wirklich seine eigene Sprache gesprochen?

Henryk Baranowski:

Ja, aber nicht nur das. Je nach Vermögen wechselten die Schauspieler in andere Sprachen. Ich finde diese

Form legitim, ja normal, und das Publikum hat sich nicht daran gestört. Es hat trotzdem verstanden, so mein

Eindruck.

Joyce lebt für mich von vielen Sprachen. Wenn z.B. Texte nicht oder nur unzureichend übersetzt waren,

sind wir beim Original geblieben, ansonsten lag die Entscheidung der Sprache meist beim Schauspieler, er muß

sich im Spiel mit der Sprache "wohlfühlen". So ist ein eigenartiges Sprachgewebe entstanden, das gespeist

wurde aus einer wachsenden Sprachkompetenz der Schauspieler. Das "Gemisch", in dem wir leben, hat viel zu

tun mit diesem Vorgang: Wir reden nicht mehr nur in einer Sprache, es ist ganz normal, daß man 2-3 Sprachen

miteinander spricht. Das spiegelt sich in einer solchen Arbeit.

Renate Wolf:

Ich möchte den Punkt des Ausländerseins und der Ausländerfeindlichkeit nochmals aufheben.

Henryk Baranowski:

Ausländerfeindlichkeit gab es immer, das gibt es in jedem Land: ein ganz normales Phänomen, das man in

Kauf nehmen muß, wenn man irgendwohin emigriert. Vielleicht ist es in Amerika etwas anders, dafür haben sie

rassistische Probleme. Hier jedenfalls ist die Aggressivität größer geworden, das weiß jeder. Ich kann damit

umgehen, weil es mich nicht direkt betrifft. Die Menschen, mit denen ich zusammen bin, sind anders; aber ich

erlebe es trotzdem und möchte dem Ausdruck geben, eben auch in meiner Arbeit. Das ist wichtig für mich.

Renate Wolf:

Gibt es für Dich Verbindungen zwischen der Geldvergabe von Projekten und dem Ausländersein?

Henryk Baranowski:

Es wäre schlimm, wenn das so wäre. Vielleicht aber wird die Arbeit, die man leistet und geleistet hat, nicht

so wahrgenommen -das ist ein Gedanke, den ich nicht ausschließen kann. Denn merkwürdig ist doch, daß die

Gruppe, die ich so lange geführt habe, im letzten Jahr kein Geld bekommen hat, trotz guter Kritiken und gutem

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Publikumszuspruch. Damit werden ja auch Initiativen, wie die Regieseminare, die ich mit ins Leben gerufen habe,

kulturelle Arbeit in dieser Stadt, die ich geleistet habe, "belohnt''. Die sehr lebendigen Reaktionen auf mein

Theater sind nicht beachtet worden mit diesem Votum, und eigentlich sollte doch die Publikumsresonanz ein

Wörtchen mitzureden haben, zumal wenn es sich nicht um populäres Theater handelt.

Renate Wolf:

Zur Publikumsresonanz fällt mir ein: Vor zwei Jahren, als "Der Prozess" in der Theatermanufaktur gespielt

wurde, stellte ich mit Entsetzen fest, daß an einigen Spieltagen Fußball-Europameisterschaften ausgetragen

wurden; ich befürchtete, kaum einer würde sich ins Theater verirren. Ich wurde eines Besseren belehrt. Selbst an

einem Tag, an dem Deutschland ein wichtiges Spiel hatte, kamen noch 200 Zuschauer zum "Prozess".

Henryk Baranowski:

Da kommen einem manchmal schon komische Gedanken. Aber es ist, wie es ist. Ich weiß auch nicht,

woran es liegt. Wenn solche Symptome bleiben, muß man sich in meinem Alter woanders Arbeit suchen, auch

wenn man es sehr bedauert, weggehen zu müssen.

Renate Wolf:

Was wären für Dich ideale Bedingungen, Theater zu machen, wie sähen Deine Wunschvorstellungen aus;

denn Dich als Theatermann im Stadt- oder Staatstheater kann ich mir kaum vorstellen. Das würde Dich zu sehr

einengen.

Henryk Baranowski:

Nein, das will ich auch nicht, obwohl es von Zeit zu Zeit eine gute Erfahrung ist, die mir Kraft gibt, oder

nimmt, oder wo ich etwas befruchten kann.

Das Ideal: 8-9 Schauspieler und Schauspielerinnen, die ich durchs ganze Jahr bezahlen kann. Ich mache

zwei Projekte pro Jahr, dann reisen wir mit diesen Inszenierungen. Wir proben, wo es für das jeweilige Projekt am

besten ist und spielen jede Inszenierung zwei Monate in Berlin in einem befreundeten Haus. Ich will selbst

möglichst kein festes Haus führen, denn ich scheue den administrativen Aufwand. Ich könnte mir allerdings

vorstellen, mit zwei oder drei anderen Gruppen ein Haus zu betreiben. Ein Haus wie die Theatermanufaktur wäre

ideal, weil interessant, flexibel und in einer guten Lage. Aber eigentlich will ich kein Haus führen, das ist nicht mein

Wunsch. Wenn es sein müßte, würde ich es für einen Übergang von

1-2 Jahren machen. Ich kenne so viele Schauspieler in den verschiedenen Ecken der Weit, die ich unter einen Hut

bringen möchte, daß sich dafür auch ein Aufwand lohnt, den ich sonst scheue.

Renate Wolf:

Standort Berlin oder Warschau?

Henryk Baranowski: Berlin. Berlin ist eine gute Stadt dafür, obwohl das nicht für alle Probenprozesse gilt. Proben

würde ich gern teilweise woanders, Berlin frißt zuviel Energie und Zeit.

Renate Wolf:

Du hast im letzten Herbst Joyce in Portugal geprobt.

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Henryk Baranowski:

Ja, in so kurzer Probenzeit hätte ich diese Inszenierung in Berlin nicht geschafft. Die Ablenkung vom

Probenprozeß durch Organisatorisches ist hier, wenn man keinen funktionierenden Apparat zur Verfügung hat, zu

groß. Früher habe ich das in Kauf genommen, heute suche ich nach produktiven Alternativen.

Renate Wolf:

Du hast in sehr verschiedenen Ländern und Städten in den Ietzen Jahren gearbeitet. Diese Orte, die

unterschiedlichen Erfahrungen haben deine Arbeit verändert, der Zugriff ist, so wie ich es beobachte, ein anderer geworden.

Henryk Baranowski:

Die verschiedenen Kulturen haben eine immense Auswirkung auf mich. Ich versuche, diese Erfahrungen in

eine Balance zu bringen. Dazu gehört eine grundsätzlich veränderte Einstellung, eine neue Position, an der ich

gearbeitet habe, und die besagt: Ich muß nicht u n b e d i n g t Theater machen. Ich kann schreiben, ich kann im

Wald arbeiten, das habe ich übrigens auch vor, denn oft habe ich die Schnauze voll von dem Drumherum von

Theater. Eigenartig ist, daß oft, wenn ich an einem solchen Punkt bin, interessante Leute kommen, die in mir Lust

wecken weiterzumachen. Aber wenn das nicht passiert, dann mache ich mir keine Sorgen.

Renate Wolf:

Diese Haltung ist neu an Dir.

Henryk Baranowski:

Sie hat sich in den letzten zwei bis drei Jahren entwickelt. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß der

Ehrgeiz- der ja alle Künstler irgendwie bestimmt- nicht in jedem Fall, ja nur höchst selten, produktiv ist und damit

nicht gut für mich. Ich habe mir gesagt, daß ich bestimmte Ambitionen nicht haben darf. Ich muß ehrlich sein mit

mir und den Menschen, mit denen ich arbeite. Wenn nichts zustande kommt, muß ich eben weggehen. Diese

Einstellung hat mir sehr viel Ruhe und Kraft gegeben. Ich habe jezt keine Ängste mehr, daß ich die Arbeit verliere,

daß ich kein Geld habe.

Renate Wolf:

Ist der Prozeß, den Du beschreibst, eine Folge der Wechselbäder zwischen dem armen Polen und dem

reichen Deutschland? Ermöglichen diese Grenzgänge eine Distanz, durch die sich Werte verschieben bzw.

verschoben haben?

Henryk Baranowski:

Die Werte haben sich vielleicht verschoben, ich meine aber eher, daß sich die w i r k I i c h e n Werte

offenbart haben: eine sehr intime Weise des Arbeitens, nicht viel Betrieb. Nicht der Effekt ist wichtig, nicht der

Erfolg einer Inszenierung, sondern wichtig ist das, was während der Proben geschieht, das Gespräch, der Dialog,

der Kommunikationsprozeß, der Versuch, sich gemeinsam zu definieren gegen den anderen. Es geht darum, mit

und in der Arbeit ein ehrliches Verhältnis zur Realität zu finden, sich ehrlich zu befinden und mit Würde. Man muß

dafür nicht Theater machen, d.h. nicht um jeden Preis. Wenn ich eine Chance habe, werde ich mit Freude Theater

machen, wenn nicht, versuche ich diesen Werten auf andere Weise, in anderen Arbeitsprozessen gerecht zu

werden. So einfach.

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Renate Wolf:

Das heißt doch, Du läßt dich von außen, von Marktstrukturen nicht mehr tyrannisieren.

Henryk Baranowski:

Genau, das ist wichtig.

Renate Wolf:

Wenn Du die Arbeitsbedingungen in Deutschland, Polen, Rußland, USA vergleichst. ..

Henryk Baranowski:

ln den USA hast du wunderbare Schauspieler, aber das Theater ist in der Gesellschaft nicht sehr geachtet.

Und wenn es beachtet wird, dann sind die Erwartungen meist sehr traditionell. Natürlich gibt es Zuschauer, die

etwas anderes sehen wollen, aber im allgemeinen hat das Theater nicht den Rang und Stellenwert wie in Europa.

in Deutschland ... na ja,diese Stadt- und Staatstheatergeschichten, dieser große Theatermarkt hat sich

verselbstständigt. Ich verstehe diesen Markt nicht, er funktioniert sehr weit weg von der Realität, er besteht fast

nur noch in Kunst für Kunst und sonst nichts mehr. Es gibt sehr gute Schauspieler, sehr gute Inszenierungen,

sehr gute Theatertechnologie, aber alles ist an das Moment Konsum gebunden, an materielle Werte. ln Rußland

ist das Theater- so wie ich es erlebt habe- das Wichtigste. Es ist der Ort, wo die Seele sich offenbart, wo man

fundamentale Fragen stellt und nach fundamentalen Antworten sucht. Es ist für die Menschen wichtig,

Vorstellungen zu besuchen, zu diskutieren: Theater hat ein gesellschaftliches Gewicht als Erlebnis- und

Erfahrungsraum.

Renate Wolf:

Diese Beschreibung klingt wie ein Traum.

Henryk Baranowski:

Ja, das ist unvergleichbar. So etwas habe ich in keinem anderen Land erfahren. ln Polen gab es in den

sechzig er Jahren eine ähnliche Situation. Jetzt versinkt in Polen alles im Chaos. Es ist richtig, was ist, und doch ist

vielleicht der Weg nicht richtig, weil wertvolle Sachen dabei vernichtet werden; es ist sehr unvorsichtig. Aber ich

denke, das wird sich ändern, und es wird ein neues Theater entstehen. Es gab ein Theater in Polen, das

unerträglich war, pathetisch, national, sehr narzistisch, das hat sich geändert und wird sich ändern.

Renate Wolf:

Auffällig an Deinen Inszenierungen ist Deine Bildsprache, deren Wurzeln ich in Polen sehe.

Henryk Baranowski:

Ja, das ist klar, weil ich diese Sprache im Diskurs mit Regisseuren, denen ich mich verwandt sehe und die

im Ausland als polnische Künstler bekannt sind, entwickelt habe. Wajda, vielleicht auch Kantor ... usw. doch

meistens ist Theater in Polen Sprechtheater, mit Bildsprache hat das wenig zu tun.

Renate Wolf:

Ich kenne polnisches Theater nur über jene Regisseure, die hier ihre Aufführungen gezeigt haben, bzw.

hier gearbeitet haben; wie und wo würdest du deinen Landsmann Woron einordnen.

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Henryk Baranowski:

Es ist schwer zu sagen. Kantor, Wischnewski, Woron sind Phänomene, die sehr nahe liegen, ein Theater,

das sich mit sehr einfachen Mitteln formuliert, die Schauspielmittel sind reduziert- ich will das nicht bewerten -ich

mache ein anderes Theater, diese Reduktion ist mir eher fremd.

Die Leute rennen in diese Aufführungen wie die Kinder ins Puppentheater; es ist etwas, was man sehr

schnell begreift, was einen aber persönlich nicht betrifft. Die Aufführungen bleiben in einer solchen Distanz, daß

sie dich nicht verletzen. Das ist der Erfolg dieses Theaters. Das Panoptikum wäre ein Vergleich, du guckst auf

eigenartige Bilder, du kannst dich wundern und freuen, aber das war's dann auch: nicht engagiert.

Im Zirkus- eine ähnliche Situation- du bist auch nicht beteiligt, die Geschichte kommt nicht aus deinem Leben. Ich

bin aber mit dem, was ich mache, sehr stark ans Leben gebunden. Ich merke, daß ich dadurch die Leute oft

verletze, daß ich an die Psyche gehe, an die Intimität. Das mag nicht jeder.

Renate Wolf:

Du arbeitest mit psychologischen Strukturen, dringst auch mit den Bildern in die Psyche, aber das Spiel in

Deinen Aufführungen ist alles andere als psychologisch.

Henryk Baranowski:

Ja, ja, ... ich bin aus Polen, ich profitiere davon, ich leide daran, das bleibt. Was ich jetzt nicht will, ist meine

Arbeitsweise weiter aufschlüsseln. Ich kenne meine Wurzeln, aber wo ist mein Zuhause. Ich wandere und habe

Angst vor dem Moment, wo ich sage: Hier ist meine Wohnung, das will ich nicht. Ich spüre, daß ist kein leichter

Weg, aber für meinen Organismus, mein Temperament, meine psychische Konstitution, ist es der beste Weg:

wandern, aber nicht allein. Ich will diese Wanderung mit anderen erleben.

19

Gespräch mit Carlos Medina, Schauspieler und Regisseur

Birgid Gysi:

Sie sind aus Chile nach Deutschland gekommen. Warum? Haben Sie damals in Ihrer Heimat bereits

künstlerisch gearbeitet?

Garlos Medina:

Ich war in meiner Heimat als Schauspieler tätig, und dann habe ich mrt Freunden eine Freie Gruppe

gegründet. Ich bin aus künstlerischen und politischen Gründen -man kann das schwer trennen -aus Chile

weggegangen. Unsere Gruppe war sehr aktiv im Land. Es war eine kleine Gruppe, aber wir haben ziemlich viel

gespielt, auf dem Lande, in Betrieben, auf offenen Plätzen: Agitproptheater, wie man sagt. Wir wollten uns mit

den Mitteln des Theaters an dem Prozeß der Erneuerung beteiligen, insofern kann man politische und

künstlerische Gründe schwer voneinander trennen. Wir hatten versucht, nach dem Putsch in Chile so

weiterzuarbeiten, aber es war unmöglich. Einige von uns sind ins Konzentrationslager gekommen, und ein

anderer Teil der Gruppe, darunter auch ich, entschloß sich ein Jahr nach dem Putsch, in die DDR zu gehen. Die

Wahl dieses Landes hatte auch künstlerische und politische Gründe. Bei uns war eine starke Motivation

vorhanden, das Theater Brechts kennenzulernen und zugleich den "real existierenden Sozialismus".

Birgid Gysi:

Hatten Sie auf Grund Ihrer anderen Nationalität Schwierigkeiten, im Osten Deutschlands künstlerisch Fuß

zu fassen?

Garlos Medina:

Wir haben in der DDR große Unterstützung bekommen und sind zunächst einzeln als Künstler am

Volkstheater Rostock engagiert worden. Dort haben wir dann das Teatro Lautaro gegründet. Einige von uns

wollten weiterstudieren, und ich wollte eine Ausbildung als Regisseur machen. So bin ich 1976 ans Regieinstitut in

Berlin gegangen. Bis dahin haben wir eigene Produktionen gemacht. Das war nicht so einfach, denn wir

beherrschten die Sprache nicht. Die Sprache war eine starke Barriere. Ich erinnere mich, daß wir z.B. eine Sache

von Pablo Neruda simultan in spanisch und deutsch gemacht haben, mit sehr starker Bildorientierung.

Am Regieinstitut habe ich die normale Ausbildung gemacht, 4 Jahre, und dann meine Diplom-Inszenierung

am Berliner Ensemble: Brechts "Die Ausnahme und die Regel". Am Berliner Ensemble blieb ich dann fünf Jahre

lang. Als ich in die DDR kam, interessierte ich mich sehr für das Berliner Ensemble. Ich habe dort "Coriolan" von

Brecht gesehen und Shakespeares "Richard 111." am Deutschen Theater, beides Inszenierungen von Manfred

Wekwerth. Ich habe aber auch "Der gute Mensch von Sezuan" in der Inszenierung von Benno Besson mit dem

Bühnenbild von Ezio Toffolutti gesehen. Das war ein schönes Erlebnis. Die Zert am Regieinstitut war überhaupt

eine schöne Zeit für mich, weil es eine sehr produktive Zeit war. Ich konnte meine Erfahrungen einbringen, ich

habe mich nicht wegen meiner anderen Nationalität bedrückt gefühlt. Ich hatte die Möglichkeit weiterzukommen,

nicht nur persönlich, auch meine Familie. Ich konnte studieren, das wollte ich. Überall bei den Menschen, mit denen ich zusammenarbeitete, hatte ich das Gefühl, daß ich gebraucht

werde. Für mich war jede Inszenierung die Chance, nicht nur Gefühle, sondern auch meine Gedanken, eine

Meinung auszudrücken. Ich habe- so gut ich konnte- diese Chance genutzt, mich mit den Problemen der Zeit, in

der ich lebte, auseinanderzusetzen.

20

Birgid Gysi:

War das, was Sie vorhin "realer Sozialismus" nannten, für Sie eine echte Alternative, oder sind Ihnen schon

sehr früh durch die direkte Berührung damit und entsprechende Erfahrungen Fragen gekommen?

Garlos Medina:

Sie müssen verstehen, daß ich einer von vielen bin, die mit hohen Erwartungen hierhergekommen sind,

nicht nur, was die Gesellschaft betrifft: Wir wollten in Chile auch den Sozialismus aufbauen. Am Anfang stand die

eigene Naivität, die Illusion, der Glaube, daß der Sozialismus hier schon weiterentwickelt ist. Ziemlich schnell bin

ich mit Fragen konfrontiert worden, zu denen ich dann auch eine eigene kritische Meinung hatte. Ich habe mich

bemüht, mich mit kritischen Augen mit den Problemen auseinanderzusetzen. Aber das hat die Alternative des

Sozialismus für mich nicht in Frage gestellt. Man hat an etwas geglaubt und hat versucht, etwas zu verändern -

gerade das hat auch Kraft gegeben.

Ich bin 1980 an das Berliner Ensemble gegangen, als Manfred Wekwerth das Theater wieder übernahm.

Damals wollte er mit den Leuten, die er gewonnen hatte, einen Neuanfang machen. Ich habe als fester Regisseur

dort gearbeitet und bin bis 1985 geblieben. Ich habe das sehr ernst genommen und habe diesen Neuanfang mit

versucht. Ich hatte nie die Absicht, mich anzupassen. ln meinen Arbeiten habe ich mich mit den Problemen

auseinandergesetzt Die Chancen, das zu tun und Inszenierungen zu machen, hatte ich natürlich nicht in solcher

Kontinuität für eine Entwicklung, wie ich sie mir nach meiner Ausbildung gewünscht hätte. Aber das war ein

generelles Problem hier in Berlin für alle Regisseure, ich war da keine Ausnahme. Ich habe zwar als fester

Regisseur am Berliner Ensemble gearbeitet, aber ich hatte auch das Glück, daß ich im Ausland inszenieren konnte

-in Belgien, Italien, Österreich, Jugowslawien ... Das war dort eine ähnlich Arbeit wie zu Hause, woher ich kam.

Birgid Gysi:

Wurden Sie als Chilene im Alltag mit Ausländerfeindlichkeit konfrontiert?

Garlos Medina:

Nein. Der Untergang der DDR wird jetzt immer an Hand der letzten Jahre anqlysiert. Ich will nichts

rechtfertigen oder idealisieren, aber das ist undifferenziert und ungerecht. Als ich 1974 hierher in den Osten

Deutschlands kam, waren ich und viele Chilenen von der großen Solidarität im Land uns gegenüber überrascht.

Wir haben Wohnungen bekommen, Arbeitsplätze, unsere Kinder konnten in die Schule gehen. Das war die

offizielle Seite.

Und im Alltag, wo wir lebten, da gab es von den anderen Sympathie für die Chilenen. Das war von Anfang

an so. Da haben uns die Leute auf der Straße angesprochen und gesagt, wie sie mit diesem Versuch der Unidad

Popular und mit Salvador Allende sympathisieren. Diese Sympathie hatte auch einen politischen Aspekt. ln all den

Jahren haben wir, meine Familie und ich, nie Angst gehabt, auf die Straße zu gehen, oder spät nach Hause zu

kommen. Das war für mich kein Problem. Das war es aber auch nicht in Belgien oder Österreich. Man arbeitete

am Theater, und Theater war immer international. Ich habe ganz selten, nur in Ausnahmefällen, so etwas wie

Ausländerhaß erlebt. ln den Theatern habe ich nie so etwas gespürt. Natürlich gab es die normalen

Konkurrenzprobleme. Aber die Konkurrenzprobleme gibt es ja jetzt auch mit den Leuten, die aus dem Westen

kommen.

Birgid Gysi:

Warum sind Sie 1985 vom Berliner Ensemble weggegangen?

21

Garlos Medina:

1985 bin ich mit meiner Familie nach Chile zurückgegangen. Nach einer Amnestie durften wir das Land

wieder betreten. Wir arbeiteten da zwei Jahre lang, aber es war sehr schwierig. Wir hatten politische und

ökonomische Probleme. Dann erhielt ich das Angebot, in Österreich eine Inszenierung zu machen. So bin ich

wieder rausgekommen und dann mit meiner Familie zurück nach Berlin gegangen. Wir hatten unsere Wohnung

hier behalten: Meine Frau war 1985 als erste der Familie nach Chile zurückgegangen, und da sich schon sehr

bald Schwierigkeiten abzeichneten und es abzusehen war, daß es mehr werden würden, behielten wir die

Wohnung und konnten so 1988 dahin zurück, als ich eine Gastinszenierung am Deutschen Theater in Berlin

bekam. 1989 wurde ich am Deutschen Theater fest engagiert· bis 1991. Seitdem versuche ich, hier in Berlin die

kleine Freie Theatergruppe IKARON aufzubauen.

Der Anfang war 1991 "Kay West" von Kaltes im TACHELES in der Oranienburger Straße (einem alternativen

Kulturzentrum). Für 1992 hatten wir uns das Thema "Fünfhundert Jahre Entdeckung Amerikas" vorgenommen.

Jetzt haben wir in Kooperation mit dem Kleist-Theater FrankfurVOder das erste Projekt zu diesem Thema

erarbeitet: Shakespeares "Sturm" in einer Kirche ohne Dach. Ab August machen wir ein neues Projekt hier in

Berlin. Als Freie Gruppe hat man natürlich Probleme. Ich wollte gern im Kolumbusjahr das neue Stück von Dario Fo

"Johann Padan a Ia Descoverta de le Americhe" (Hans vom Po entdeckt Amerika) machen, aber ich habe die

Rechte nicht bekommen. Die Uraufführung zu erhalten, gibt es keine Chance, das bedaure ich sehr. "Kay West"

haben wir bekommen, weil die Uraufführung schon stattgefunden hatte.

Um auf die Ausländerfrage zurückzukommen: Nein, das war für mich keine Problematik. Ich konnte in Ruhe

arbeiten, und ich habe intensiv gearbeitet und Unterstützung bekommen. Die vorhin genannten Probleme -

Konkurrenz, Rechte ... -sind Probleme, die deutsche Theatermacher auch haben.

Birgid Gysi:

Empfinden Sie den deutschen Sprachraum als Möglichkeit, ihre künstlerischen Intentionen adäquat zu

verwirklichen oder bringt der Verlust der HeimaVSpache für Sie vor allem Einschränkung und Anpassung?

Garlos Medina:

Das ist eine schwierige Frage. Es gibt einen griechischen Dichter, der lebte sein ganzes Leben lang im Exil.

Er hat in einem Gedicht ("Die Stadt'') sinngemäß geschrieben: Jemand, der seinen Platz in der Heimat verloren

hat, hat seinen Platz auf der ganzen Welt verloren. Als ich das vor Jahren hier im Exil las, konnte ich das nicht

akzeptieren. Ich hatte eine Motivation, solange ich ein Stück inszenierte. ich weiß aber, dieser Dichter hat das

nicht von ungefähr geschrieben. Heute kann ich das nicht mehr so eindeutig ablehnen, ich weiß es heute einfach nicht mehr so genau. Als ich mit meiner Familie zurückkam, habe ich versucht, meinen Platz wiederzufinden. Es

ist aber nicht leicht, Sicher spielt dabei auch die Sprache eine Rolle. Aber ich glaube, man muß a I s K ü n s t I e r

zu Hause sein: Man kann nur über Dinge sprechen, zu denen man sich äußern möchte. Ich lebe hier in diesem

Territorium nun schon beinahe 17 Jahre. Es ist eine Art zweites Zuhause, und ich versuche verzweifelt,

künstlerisch und in jeder Hinsicht durch meine Arbeit eine Heimat zu finden und einen Zugang zur Realtität und zu

den Menschen.

Birgid Gysi:

Haben sich durch die Veränderungen in Deutschland nach der Vereinigung für Sie künstlerische

Existenzmöglichkeiten und der Alltag verändert?

22

Gar/os Medina:

Es hat sich alles sehr verändert. Zunächst einmal im politischen Sinne: Bei aller Kritik war ich für diese

Alternative Sozialismus. Mir ist es wie vielen Millionen Menschen gegangen, die erst später erfahren haben,

welche Entartungen es da gab. Bei aller Kritik, die ich ja geübt habe, habe ich an diese Sache geglaubt, denn es

war für mich eine Alternative zu dem Kapitalismus, unter dem ich groß geworden bin und gelebt hatte. Nun ist

diese eine Alternative, zu der wir auch einen Beitrag geleistet haben, zusammengebrochen.

Birgid Gysi:

Wie wirkt sich der Verlust dieser Alternative in Ihrer Kunst aus, was ist an deren Stelle getreten?

Garlos Medina:

Ich glaube, mein Herz wird immer für die Idee der Linken, die Idee einer gerechteren Weit, schlagen. ln

diesem Stück "Sturm" von Shakespeare, das wir jetzt aufgeführt haben, gibt es einen Gedanken: Wir sind aus

solchem Stoff wie die Träume gemacht worden. Wenn ich also zurückblicke, hätte ich es vielleicht besser gehabt,

wenn ich nicht so naiv und idealistisch gelebt hätte. Andererseits heißt dieser Zusammenbruch nicht, daß es das

Ende ist. Ich glaube nach wie vor an die Berechtigung von Träumen. Ich werde nicht nur weiter an eine bessere,

gerechtere Lebensexistenz glauben, sondern ich werde auch weiter dafür kämpfen. Das ist jetzt mein Platz. Und

da sehe ich nun zu, wo ich mich beteiligen kann- mit dem Theater IKARON. Das sind lauter Idealisten und Träumer

wie ich, die auch ohne Geld an dieser Arbeit interessiert sind und etwas tun.

Birgid Gysi:

Sind Sie der einzige Ausländer in der Gruppe IKARON?

Garlos Medina: Die Gruppe ist eine Mischung von Nationalitäten, und es besteht der Wunsch, das noch zu erweitern durch

andere Leute verschiedener Nationalität und verschiedener Kulturen. Es ist wichtig, daß man zusammenkommt,

indem man hier lebt und versucht, sich mit den Mitteln der Kunst zu äußern und sich mit den Problemen

auseinanderzusetzen.

Heute ist die Ausländerfeindlichkeit ja eine Realität, ob man will oder nicht. Heute habe ich auch

Erfahrungen damit: Ich bin angegriffen worden, meine Familie auch, weil wir einfach anders aussehen. Ich glaube

aber, das ist bedingt durch die existentiellen Probleme. Früher war der Raum, z.B. die Stadt Berlin, geteilt und

man wußte nicht, wer oder was auf der anderen Seite ist, wie groß die Stadt ist. Heute kann man überall

hingehen. Geographisch gesehen, ist die Stadt riesig groß geworden. Aber existentiell gesehen, sind die Ängste

auch riesig groß geworden. Ich gehe eigentlich nur nach Westberlin, wenn ich muß. Ich fühle mich vertraut auf

dieser Seite hier und mache hier auch gern meine Arbeit. Hier in diesem Teil der Stadt möchte ich auch die

Theatergruppe aufbauen.

Die Probleme, die unterschiedlichen Sichtweisen, die durch vierzig Jahre lange unterschiedliche

Entwicklung entstanden sind, haben die Leute geprägt, und das wird sich noch eine ganze Weile auswirken. Ich

verstehe mich leichter mit jemandem aus dem Osten als mit jemandem, der aus dem Westen kommt. Ich will nicht

ungerecht sein, aber ich bezweifle, daß die Leute wirklich alles so schnell begreifen können. Denn mich hat es

Jahre gekostet, manche Probleme in der DDR überhaupt verstehen zu können. Sie dann nachzuempfinden -das

ist noch schwieriger. Und wenn man nicht das richtige Interesse hat, die Leute hier zu verstehen, wird man nicht

begreifen, was hier vorgefallen ist, warum es so war und warum die Leute so sind. Menschen sind keine

Automaten, man kann nicht von einem Tag zum anderen alles wegschmeißen, die ganze Vergangenheit- ein

23

neuer Anfang, das dauert. Diese Verständigungsprobleme sind die gleichen Probleme, die ich hatte, als ich

hierher kam. Im Territorium, hier im Prenzlauer Berg, da fühle ich mich wohl. Das ist eine schöne Gegend.

Birgid Gysi:

Ihre Zukunftspläne sind also an die Gruppe IKARON gebunden?

Garlos Medina:

Wir haben keinen Träger. Wir haben uns soeben als Verein gegründet, wir sind in Gründung, wie man so

sagt. Wir suchen einen Raum, einen Probenraum, wo wir kontinuierlich arbeiten können. Wir suchen solche

Möglichkeiten zur Koproduktion, wie wir sie mit dem Kleist-Theater bei der Produktion von "Sturm" hatten. Dieses

Zusammenkommen von einem Stadttheater und einer Freien Gruppe, die im Aufbau ist, fand ich sehr interessant.

Die Inszenierung ist beim Publikum sehr gut angekommen. Wir spielen noch im August, solange es das Wetter in

dieser offenen Kirche erlaubt.

Unser Thema "Fünfhundert Jahre Entdeckung Amerikas" soll in einer Trilogie realisiert werden, angefangen

mit Shakespeares "Sturm", danach mit einem Stück über Kolumbus und am Schluß mit dem Stück eines

Mexikaners über die Eroberung von Mexiko. Das erste Stück haben wir, wie bereits gesagt, in Kooperation mit

dem Kleist-Theater Frankfurt/Oder realisiert, die anderen machen wir hier in Berlin. Wir haben Unterstützung

gefunden, aber sie ist zu gering. Zum Glück kenne ich, weil ich schon eine Weile hier arbeite, eine Reihe von

Leuten, die auch bereit sind, mal ohne Geld mitzuarbeiten. Wissen Sie, es wird von manchen Leuten kritisiert, daß

die Leute hier nur Geld wollen, aber es wird nicht honoriert, mit welcher Kraft, Engagement und Initiative die Leute

hier nach der Wende versuchen, Projekte auf die Beine zu kriegen. "Kay West" habe ich mit unseren Ersparnissen

aus eigener Tasche finanziert und Schauspieler waren bereit, ohne Geld mitzumachen. Es hat uns keiner Geld

gegeben.

Ich glaube, daß Wichtigste ist, daß man weiß, warum man was tut. An den großen Staats- und

Stadttheatern hat man oft vergessen, warum man den Beruf ausübt. Wir haben z.B. in der Kirche Shakespeares

"Sturm" als ein riesiges Spektakel für 35.000 DM inszeniert, das ist geradezu lächerlich, da fehlt im Grunde

mindestens eine Null, wenn man das mit den Ausgaben anderer Theater vergleicht. Aber ich weiß, warum ich das

tue, und das gibt mir Kraft.

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TI IEATER- UND MEDIENGESELLSCHAFT LATEINAMERIKA e.V. SOCIEDAD DE TEATRO Y MEDIOS DE LATINOAMERICA

CIESCIIÄFISSTH.LE UND ß!BLIOTIJEK I'FI7.EHSTiti\SSF 12 • 7{J(lO STl JTI"<7ART 1 • TELEFON UND FAX 0711/240722

.... Ubersetzer-Symposium

••

WENN USERSETZEN ••

ZUR BEGEGUNG FUHRT

Theater übersetzen aus dem Spanisch-Lateinamerikanischen

ins Deutsche

vera11staltet von der THEATER- UND

MEDIENGESELLSCHAFT LATEINAMERIKA e.V.

vorn 7. bis 9. Oktober 1992 in Stuttgart

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THEATER- UND MEDIENGESELLSCHAFT LATEINAMERIKA e.V. SOCIEDAD DE TEATRO Y MEDIOS DE LATINOAMERICA

Da das Theater des spanisch­und portugiesisch-sprachigen Raums in Deutschland weit­gehend unbekannt ist, gibt es unter den Übersetzern aus diesen Sprachen nur wenige, die mit den vielfältigen Thea­terformen dieser L.änder ver­traut sind, und auch nur weni­ge, die mit dem gegenwärti­gen deutschen Theater unmit­telbaren Kontakt haben.

Der Übersetzer steht zwi­schen zwei Feuern: Der Bühnenautor erwartet von ihm, bis in die letzten Nuan­cen des Dialogs verstanden und entsprechend sinn-nah und wortgetreu ins Deutsche übersetzt zu werden. Regisseure und Schauspieler erwarten vom Übersetzer eine lebendige Bühnensprache, die das Wort in ihrem Mund Ge­stalt und Fleisch werden läßt. Der Übersetzer muß die Brük­ke bauen vom Autorentext des Originals zur lebendigen Bühnensprache für Theater­leute, die das Original nicht lesen können und vom Autor und der Kultur seines Landes nichts wissen.

Das Symposium steht unter dem Motto WENN ÜBERSET­ZEN ZUR BEGEGNUNG FÜHRT und soll den Arbeits­prozeß, der sonst in getrenn­ten, meist voneinander unab­hängigen Schritten erfolgt, in einer demonstrativen Verdich­tung nachvollziehbar machen.

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Beteiligt an diesem kompri­mierten Ablauf sind THEATERAUTOREN aus Mexico • Hector Azar • Victor Hugo Rascon Banda • Sabina Sehrmann • Hugo Hiriart • Vicente Lenero • Garlos Olmos ~. Hugo Salcedo USERSETZER • David Huerta • Fabio Morabito • Sergio Pitol • Esther Seligson • Juan Villoro REGISSEURE, SCHAUSPIE­LER, DRAMATURGEN und ÜBERSETZER aus Deutsch­land und Lateinamerika.

Schwerpunkt Mexico

Mexico steht bei der diesjähri­gen Internationalen Buch­messe in Frankfurt im Mittel­punkt des Interesses. Das Theaterschaffen dieses Landes wird auch Schwer­punkt unseres Symposiums sein.

Teilnehmer

Übersetzer, die persönlich ein­geladen resp. über den Über­setzerverband angesprochen werden. Studierende der Hispanistik, Theaterwissenschaft, der Dolmetscherschulen und Uni­versitäten.

Tagungsablauf

Das Symposium besteht aus geschlossenen Arbeits­sitzungen und einer öffentli­chen Veranstaltung. ln 6 Arbeitsgruppen wird je­weils ein ausgewähltes Stück der anwesenden Autoren be­arbeitet.

Mittwoch, 7.10.1992 20.00 Uhr

• Einführung in das Tagungs­thema durch Dr. Heidrun Adler

• Szenische Lesung "Schnee und Blei" (Contrabando) von Victor Hugo Rascon Ban da

Donnerstag, 8. 10. 1992 10.00 bis 13.00 Uhr Arbeitssitzungen der Übersetzer 15.00 - 18.00 Uhr Arbeitssitzung en der Übersetzer und Autoren

Freitag, 9.10.1992 10.00 bis 13.00 Uhr Arbeitssitzung en der Übersetzer anschließend gemeinsame Auswertung

Die fachliche Leitung der Arbeitssitzungen liegt bei

Dr. Heidrun Adler Theaterwissenschaftlerin, Übersetzerin, u.a. Hrsg. des Handbuchs "Theater in Lateinamerika", Reimer Verlag 1991

Konzeption des Symposiums, Koordination und Organisa­tionsleitung des Projekts:

Hedda Kage, Theater­und Mediengesellschaft Lateinamerika e.V.

Das Theater Lateinamerikas von uns aus betrachtet Hedda Kage

Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika e. V., Juli 1992

Im Jahre 1992, dem sogenannten Kolumbus-Jahr, in dem die Entdeckung Amerikas zum führenden Medienthema

zu werden scheint und zwischen Selbstfeiern und Tribunalen kein Raum und Atem für kritische Analyse und

unvoreingenommene Begegnung bleibt, kommt den Theaterfestivals in Lateinamerika und Europa besondere

Bedeutung zu. Im Gezerre um die angemessene Gesinnung fällt es schwer, nicht in Fraktionszwänge hinein­

gezogen zu werden, Grenzgänger zu bleiben und sich von Gesinnungspolemik freizuhalten.

Ob in Caracas oder Bogota, Montevideo oder Mexiko, Cadiz oder Hamburg, überall begegnet ein Moctezuma einem Cortes, ein Atahalpa einem Pizaaro, verliert ein Kolumbus, verrät eine Malinche, rettet ein

Las Casas das blutbesudelte Gewissen der Kirche, poliert das offizielle Spanien sein Image auf pompösen

Hochglanz und exhibitionieren sich "die offenen Adern Lateinamerikas".

Kulturraum Lateinamerika Ist es mehr als ein nur geographisch verlagertes EUROPA? Empfinden die Lateinamerikaner in 21 Nationen, was

Nobelpreisträger Marquez behauptet: "Für mich ist Lateinamerika ein einziges Land" oder mit den Worten des

Argentiniers Julio Cortazar formuliert: "Unser Ich steht für ein Wir"?

ln einem Interview sagte Eduardo Galeano: "Viele Lateinamerikas zusammen ergeben, was wir Lateinamer~

ka nennen. Ich glaube nicht, daß die lateinamerikanische Identität, wie sie tagtäglich in allen Ländern erfahren und

gelebt wird, davon abhängig ist, ob ein Land unter einer Militärdiktatur leidet oder die freie Luft der Demokratie

atmet. Dieser Begriff geht quer durch alle politischen Regime und ist viel tiefer und dauerhafter als Schwerter und

Stimmzettel. Was mir besonders hervorstechend erscheint, ist das wachsende Bewußtsein von der Notwendig­

keit, uns gemeinsam zu verteidigen. Das rührt aus einer Realität, die weitaus konkreter ist als jegliche metaphysische Spekulation, denn wir sind eine Erde, die sich verteidigt, um nicht verdammt zu sein, ein Schicksal

auf sich zu nehmen, das jene Nutznießer für uns erwählt haben, die auf der internationalen Bühne die Struktur der

Macht beherrschen."

Worin unterscheidet sich das lateinamerikanische vom europäischen Theater, was für eine Bedeutung

könnte es für uns haben? Gibt es Entdeckungen, die für unsere deutsche Theatersituation etwas "bringen"?

So lauten die berechtigten Fragen der Kulturvermittler, der Festivaldirektoren und Verleger, der

Gastspielveranstalter und zögerlichen Sponsoren. Gültige Antworten haben die zahlreichen

Lateinamerikareisenden in Kultur, von denen sich einige in der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika

zusammengeschlossen haben, kaum anzubieten. Ebenso wenig, wie es ein "europäisches Theater" gibt, gibt es

ein "lateinamerikanisches Theater". Die gemeinsame Sprache hebt die fundamentalen Unterschiede zwischen

Buenos Aires und La Paz nicht auf. Was sich auf den Festivals präsentiert, ist zu 95 % Metropolentheater und

außerdem- das gehört zu den Schattenseiten der Festivalinternationalisierung- oft mit Hinblick auf Export produ­

ziert. Wie soll eine einzige Produktion das Theater eines ganzen Landes vertreten? Anders als beim Sport geht es

beim Theater nicht vorrangig um das Repräsentative! Das Nationale definiert sich in anderen Qualitätskategorien

als in den Meßwerten von "höher, schneller, stärker". Was letztlich entscheidet, ist die Überzeugungskraft einer

Aufführung, die sämtliche Barrieren der Unkenntnis von Sprache, Land, Kultur durch ihre sinnliche Lebendigkeit zu

überwinden vermag. Das läßt sich schwer berechnen! Je weniger Fremdberührung eine Gruppe hat, um so

geringer ist die Gefahr der Erfolgsspekulation, denn nicht alle Gruppen sind innerlich konsolidiert genug, um dem

Gastspielvirus zu widerstehen. Schließlich bringt das Renomme einer Festspieleinladung nach der Rückkehr in die

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Heimat endlich den bis dahin verweigerten Zuschuß oder Kredit seitens einer Bank oder eines Sponsors, werden

plötzlich Reise- und Transportkosten vom Kultusministerium getragen, da man zum Aushängeschild avanciert ist.

Ein Erfolg verpflichtet zum Nächsten und schließt das Risiko des Scheiterns aus.

Das arme Theater Lateinamerikas "Ihr habt es gut", seufzen die lateinamerikanischen Theatermacher mit Blick auf das deutsche Subventionstheater.

"Ihr könnt euch einen Flop leisten und habt nicht das Todesurteil auf dem Tisch. Ihr könnt so viel probieren, wie ihr

wollt, müßt nicht tagsüber einer theaterfremden Tätigkeit nachgehen, um anschließend eure eigene Probezeit und

eigenen Probenraum zu subventionieren. Ihr dürft jeden Abend vor den Vorhang, habt eine fundierte Ausbildung

und könnt euch durch die Weltdramatik spielen. Ihr habt feste Verträge und das Konto stimmt. Ihr seid frei für die

Kunst." Lächerlich erscheint das Argument von der konditionierten Freiheit im goldenden Käfig, vom

Produktionsdruck und Platzausnutzungszwang im Stadttheatersystem ... Man schämt sich der eigenen

Systemkritik, vergleicht man die existentiellen Bedingungen des Theatermachens in Lateinamerika mit den

professionellen Bedingungen in Deutschland.

Auf den Festivals aber werden Äpfel mit Birnen verglichen, weil nur das Ergebnis zählt. Wenn das Wunder

geschieht, fragt niemand nach seinem Entstehen, sondern es heißt YUYACHKANI (Peru), RAJATABLA (Venezuela),

LA CANDELARIA (Kolumbien), ICTUS oder GRAN CIRCO (Chile), MACUNAIMA oder ORNITORINCO (Brasilien), EL

GALPON oder TEATRO CIRCULAR (Uruguay), es heißt DENISE STOKLOS, BIA LESSA, LUIS DE TAVIRA, EDUARDO

PAVLOVSKY, LAURA YUSSEM, LA FACUNDINA, ATAHUALPA DE CIOPPO, NISSIM CHARIM, DELFINA GUZMAN,

JUAN CARLOS GENE, OSVALDO DRAGON, CARLOS GIMENEZ, MARIO DELGADO, FLORA LAUTEM, ENRIQUE

BUENAVENTURA, JOSE IGNACIO CABRUJAS, AUGUSTO FERNANDEZ- in dieser bloßen Aufzählung von Gruppen­

Regisseur- und Schauspielernamen blättert sich für Eingeweihte die Vielfalt des lateinamerikanischen Theaters

auf. Eines der ersten Festivals, das diese Palette vorführte, war Gereon Sievernichs "Horizonte"-Festival1982 in

Berlin, das nicht nur die deutschen Theaterleute überraschte. Hier begegnete das lateinamerikanische Theater

sich selbst auf fremden Boden.

Das kämpferische Theater Lateinamerikas Zwei Jahre später überredete der Exilargentinier und Wahlvenezulaner, CARLOS GIMENEZ, Leiter der von ihm und

PEPE TEJERA gegründeten Gruppe RAJATABLA und künstlerischer Direktor des internationalen Caracas­

Theaterfestivals, den argentinischen Staatspräsidenten Raoul Alfonsin, der jungen Demokratie auch kulturell ein

Zeichen zu setzen. Das erste lateinamerikanische Theaterfestival in Cordoba 1984 wurde ein Zeichen für Latein­

amerika und für die Freiheit der Kunst nach Überwindung der Militärdiktatur. Noch herrschten die Militärs im benachbarten Uruguay, stand Pinochet im Zenit seiner Macht und war Paraguay Stroessners "own country". Ein

halber Kontinent- der Cono Sur, so die Bezeichnung für die vier genannten Staaten- unterm Stiefel der Militärs.

Nach Ansicht des blinden Weisen, Kosmopoliten und demokratiefeindlichen Literaten, JORGE LUIS

BORGES, stellen die Militärs die am wenigsten geeignete Berufsgruppe für die Regierung eines Landes dar.

Schon vor dem Malwinendebakel hatte er darüber spekuliert, lieber einmal zur Abwechslung den Zahnärzten diese

Führungsrolle zuzumuten. Den Theaterleuten hätte er eine ernsthafte Rolle wohl schwerlich zugetraut, und doch

ging von ihnen jene Bewegung aus, die wie ein Steppenbrand das ganze Land erfaßte: Das von den Dramatikern

OSVALDO DRAGUN und ROBERTO COSSA 1981 ausgerufene und in einem Manifest formulierte TEATRO ABIERTO.

Es wurde zum Sammelbecken des intellektuellen und künstlerischen Widerstandes, gab es doch der ins schwe~

gende Verdrängen abgetauchten Bevölkerung den Mut, die Sprache und die Würde zurück. Autoren, Regisseure,

Schauspieler, bildende Künstler und Musiker schrieben und inszenierten von jetzt auf gleich einige Dutzend

Stücke, die in Buenos Aires ein riesiges Publikum mobilisierten. Als daraufhin "Unbekannte" die Stätte des Übels

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. anzündeten, fanden die unbehausten Theaterleute Aufnahme in allen Sälen der Stadt. Das Feuer war nicht mehr

auszutreten, das die Militärs- bis dahin nur ignorante Zensoren des Theaters- selbst angezündet hatten. Das

politische Theater Argentiniens war geboren, schlug ganz eigene und andere Töne an, als das "Unsichtbare

Theater", das "Theater der Unterdrückten" des großen Lehrmeisters Augusto Boal in der Epoche der brasiliani­

schen Diktatur. 1986 antworteten die Theaterleute Chiles auf die Mordbriefe der Todesschwadrone gegen 100

Schauspieler, Regisseure, Autoren und Künstler mit dem Mammutfestival "Chile Vive". Zwei Jahre später mobili­

sierten die kolumbianischen Theaterleute und Künstler mit "Colombia Vive" die internationale Öffentlichkeit.

Das ratlose Theater Lateinamerikas

Im August 1991 hielten die Argentinier in einer Feierstunde kritischen Rückblick auf das TEATRO ABIERTO, nicht

ganz ohne nostalgischen Schleier, denn das Stück, das man im krisengeschüttelten, an seiner Demokratie aber

verzweifelt festhaltenden Argentinien seit einigen Jahren spielt, heißt: "Artisten in der Zirkuskuppel ratlos". Was

schreiben die engagierten Autoren des TEATRO ABIERTO mit ihrer an der Internationalität der offenen 60er Jahre

orientierten Dramaturgie heute? Wie reagieren sie auf die verunsichernde, den Mittelstand besonders hart treffen­

de Rigidität des Menemliberalismus mit seinen Privatisierungskampagnen im öffentlichen Sektor?

Das traditionelle Mittelschichtpublikum war und ist ihr Partner. Dieses Publikum verweigert sich jeder

Sinnkrisendiskussion oder Vergangenheitsbewältigung, gibt sein Geld lieber für Unterhaltung und Ablenkung von

den Sorgen des Alltags aus. Also Rückzug ins Private? Zumindest in die kleine Form, denn eine aufwendige

Produktion mit großem Rollenspektrum und Bühnenverwandlungen kann niemand finanzieren. Zwe~ und Drei­

Personenstücke mit einer Durchsteherdekoration als dramaturgisches Rezept erzwingen eine Beschränkung der

szenischen Phantasie. Frustrierte Autoren wandern lieber ab zu lukrativeren Angeboten des Fernsehens, wenn sie

ohnehin unter begrenzten Voraussetzungen schreiben müssen. Theaterschreiben wird zum Luxus, den man sich

sozusagen durch Serienschreiben für das Fernsehen selber subventionieren muß. Der reduzierte, funktionale

Bedienungsdialog im geläufigen Jargon verdirbt die Fähigkeit, einen genuinen Theaterdialog zu erfinden und der

Sprache, als der autonomen Kraft des theatralen Vorgangs, überhaupt noch zu vertrauen. Manche Autoren gehen

ins Ausland, wechseln das Genre, schreiben Prosa. Nur wenigen gelingt es, die konzentrierte kleine Form, das

Schreiben für ganz bestimmte Schauspieler, wiederum als Herausforderung anzunehmen, die Ärmlichkeit der

Bedingungen in eine "Kultur der Armut" zu verwandeln.

Für OSVALDO DRAGUN (in Deutschland vor allem durch seine "Geschichten zum Erzählen" bekannt), ist das

Theaterschreiben nur eine Ausdrucksform unter anderen für sein Theaterschaffen. Vorrangig interessiert ihn der

kreative Prozeß jenseits der sprachlichen Kommunikation, die für ihn nur ein sekundärer Faktor ist. Vor Jahren hat

er seinen Wirkungsschwerpunkt nach Kuba verlagert, wo er die internationale Theaterhochschule in Havanna

leitet. Unzweifelhaft hat Kuba, selbst ein zerrinnender Traum vieler Lateinamerikaner und europäischer Intellektu­

eller, für das kulturelle Lateinamerika mehr geleistet als jedes andere Land. Einrichtungen wie die internationale

Theaterhochschule, die Filmhochschule, Casa de las Americas mit den renommierten Preisen sowie die

Theaterzeitschriften -vor allem CONJUNTO - haben trotz aller Vorbehalte gegen die kubanische Spielart des

"Autoritarismo", ein kulturelles Dach für die literarische und theatralische Kreativtität Lateinamerikas angeboten,

unter das sich viele Künstler stellen konnten, die in ihren eigenen Ländern ignoriert oder verfolgt wurden.

Die Solidaritätsnummern der Theaterzeitschrift CONJUNTO werden zwar in Havanna redigiert aber pro

Auflage jeweils in einem anderen Land gedruckt, was den Papiermangel in Kuba und die Bedeutung der Zeitschrift

für Lateinamerika belegt.

Kubas vorzüglichen Kontakten zum !Tl-Zentrum der ehemaligen DDR und zum Henschelverlag verdanken

wir auch die kontinuierliche Einbringung lateinamerikanischer Dramatik in Verlag und Hörspiel. Nach wie vor

erfolgreichstes kubanisches Stück ist JOSE TRIANAS "Nacht der Mörder". Wer mit dem Kubabild Enzensbergers

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im Kopf den politischen Zerstörungsprozeß des lateinamerikanischen Traumes beobachtet, weiß, daß jenseits

aller Fragwürdigkeit eben dieses Kuba ein Bild vom unabhängigen und selbstbestimmten Kontinent Lateinamerikas

geschaffen hat, das sich gegenüber dem europäischen Bild vom unterentwickelten, in Schulden, Korruption und

Drogenkriminalität versunkenen Absatzmarkt behauptet.

Kulturdialog über das Exil Das Theater Lateinamerikas hat zunächst nicht über Spanien den Weg nach Deutschland gefunden, sondern über

emigrierte Autoren, Künstler und Theaterleute aus dem Cono Sur und aus Brasilien, die in Deutschland, Schwe­

den und Holland das Interesse an Literatur, Musik, bildender Kunst, Film, Hörspiel und auch Theater geweckt

haben.

Aus der politischen Solidaritäts- und Dritte Welt-Bewegung gingen Zeitschriften und Verlage hervor, boten

sich Auftrittsmöglichkeiten für Theatergruppen aus Chile, Kuba, Kolumbien und Nicaragua, die eine bestimmte

Vorstellung vom lateinamerikanischen Theater vermittelten. Auch die in Berlin und Rosteck arbeitenden oder

studierenden lateinamerikanischen Theaterleute bewegten sich auf dieser Schiene des politisch engagierten

Theaters. Ob nun als Parabel oder mit dokumentarischem Realismus, es ging vor allem um die Botschaft. Oft

waren diese Vorstellungen nur ein szenischer Vorwand für das anschließende Gespräch mit dem Publikum, das

sich vorwiegend aus den aktiven Freundeskreisen der in Deutschland lebenden Lateinamerikaner zusammensetz­

te. Das Theater als Forum und Tribunal erfüllte eine sinnvolle Aufgabe, ergänzte und korrigierte die mangelnde

Berichterstattung in den Medien. Der fatale Nebeneffekt Das Bild vom Theater Lateinamerikas blieb ein Kleinfor­

mat, das kaum oder nur begrenzt vom etablierten deutschen Theaterbetrieb wahrgenommen wurde. Allenfalls

Studiobühnen öffneten sich für die wenigen Stücke, die wie ALONSO ALEGRIAS "Überquerung des Niagara" oder

ROBERTO ATHAYIDES "Auftritt Dona Margarita" die Selektion der Theaterverlage erfolgreich passiert hatten. Von

den rund achtzig ins Deutsche übersetzten Stücken wurden die wenigsten weiter nachgespielt. Kein Wunder, daß

die Verlage, wenn sie nicht wie der ehemalige Henschelverlag einen Solidaritätsauftrag und Fachkompetenz

hatten, nur zögerlich einstiegen. Auch heute können in den Theaterverlagen die Stücke nur begrenzt im Original

überprüft werden. Die herangezogenen Lektoren wissen oft nichts über das Theaterland des angebotenen Stückes. Eine Übersetzung auf bloße Empfehlung und eine spannend erzählte Story hin zu vergeben, dieses

Risiko kann sich kein Verlag leisten. Kaum ein Dramaturg hat Spezialkenntnisse in spanischem oder gar

lateinamerikanischem Theater, denn in der deutschen Theaterwissenschaft und Lateinamerikanistik ist das

Theater dieses Kontinents kein Lehrstoff. Die aus Privatinitiative entstandene Theater- und Mediengesellschaft

Lateinamerikas versucht durch Veröffentlichungen und Veranstaltungen in Zusammenarbeit mit Universitäten und

Verlagen das Informationsdefizit abzubauen.

1992 hat Lateinamerika Konjunktur; auch im Theater. Lateinamerikanische Gruppen überschwemmen die

Agenturen mit Gastspielangeboten. Im Hamburger Sommertheaterfestival auf Kampnagel "MOVIMIENTOS 92" und

der Kölner "IBEROAMERICANA" wird das offizielle Theater des Kontinents in spektakulären Aufführungen zu

besichtigen sein, deren Textbasis zum überwiegenden Teil Adaptionen epischer Vorlagen bilden.

Und damit zurück zu den Ausgangsfragen: Überzeugt uns das Fremde und genügt es unseren

Qualitätsmaßstäben, weil es unserem europäischen Modell am nächsten steht? Glücklicherweise nicht, denn sonst

entkämen wir nie unseren eigenen Reproduktionen, vermöchten unsere Sichtweisen nicht in Frage zu stellen und

Vorurteile abzubauen, ließen uns nicht erschüttern.

Ein anderes Theater

Theater überwindet Sprachbarrieren als Erlebnis. Im Zentrum Lateinamerikanischer Aufführungen - das läßt sich

generalisieren - steht nie die literarische Qualität des Stückes. Der Dialog ist nur ein Element unter anderen jenes

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Gesamteindrucks, den man erreichen will. Darin unterscheidet sich das Theaterverständnis des

traditionsbeladenen Europa vom jüngeren Lateinamerika. Oft ist der Ausgangspunkt für eine Theaterproduktion

nicht ein "fertiges", in sich autonomes Stück; selbst dann nicht, wenn auf dem Programmzettel ein Autorenname

vermerkt ist. Ein Regisseur, eine Idee, ein Thema, ein Stoff, eine mögliche Schauspielerkonstellation bestimmen

die Absicht, eine Aufführung herzustellen. "Sechs Personen suchen einen Autor" oder werden zum kollektiven

Autor für ihren aus Recherchen zusammengetragenen und aus Improvisationen entwickelten Annäherungsprozeß

an eine Geschichte, die irgendwann einmal protokollarisch festgehalten wird, inclusive des dazugehörigen Dialogs.

Exponenten dieses Arbeitsprozesses der "CREACION COLECTIVA" finden sich in Kuba (das legendäre Teatro

Escambray und das heutige Teatro Buendial, Kolumbien (La Candelariel, Peru (Yuyachkani I Cuatro Tablas), Chile

(lctusl.

Demgegenüber behauptet der Mexikaner Luis de Tavira die totale Autonomie des Bildes, wenn er

"synchretistisch aus Prinzip" Texte als Steinbrüche für seine szenischen Visionen benutzt, kollagiert und

dekomponiert, von den Monologen der Sor Juana de Ia Cruz bis zu Romanpassagen von Botho Strauß in seiner

jüngsten Bühnenmontage "La septima morada". Adaptionen großer Romanvorlagen, etwa Asturias "EI Senor

Presidente" oder Marquez "Der Oberst hat niemanden, der ihm schreibt", bewegen die szenischen Phantasien des

Rajatabla-Direktors Garlos Gimenez, oder er beauftragt seinen Hausautor Jose Luis Rial, ihm Dialoge für

Spielszenen dramatischer Lebensbilder (Bolivar I Lorcal zu verfassen. Auf der Suche nach einer grundsätzlich

neuen Dramaturgie versetzen die Chilenen Ramön Griffero-Sanchez, Marco Antonio de Ia Parra und Andres Perez

jeweils das Verhältnis von Sprache und Raum in ihren Stücken: "Viva Ia Republica", "Dostojevski en Ia playa" und

"La negra Esther".

Der Schauspieler agiert im Zentrum des Übertragungsprozesses Bühne I Zuschauer. Seine

Körperlandschaft ist der Ort, auf dem die Leidenschaften sich eingraben in unerbittlichen Bloßstellungsritualen bei

dem Argentinier Eduardo Pavlovsky. Die Übersetzung seiner Texte bereitet daher besondere Schwierigkeiten,

dienen sie doch eher dem Verdecken einer unter der zerbrechenden Struktur pulsierenden, explosiven, nur vom

Schauspieler aufzufindenden Gewalttätigkeit und Schmerzkraft.

Wenn die großen Regisseure sich lieber an den bekannten Vorlagen der Weltdramatik abarbeiten -

Shakespeare- Moliere- Calderon- Tschechov- Büchner- Kafka- immer wieder Brecht- Heiner Müller- Botho

Strauß -so unterscheidet sie das wenig von ihren deutschen Kollegen.

Eine der aufregendsten Aufführungen beim diesjährigen Caracas-Festival war Garlos Gimenez Inszenierung

von Wedekinds "Frühlings-Erwachen" mit Schülern und Exschülern seines an Rajatabla angeschlossenen

Schauspielstudios. Wte Gimenez, so haben auch Antunes Filho (Macuanaima), Luis de Tavira, Augusto Fernandez

und Ricardo Bartis ihr eigenes Ausbildungszentrum aufgebaut, respective einen festen Kreis von Schauspielern

und Regiestundenten um sich geschart, die an allen Projekten kreativ beteiligt sind. Ausbildung zum

Theatermenschen, nicht nur zum funktionierenden Schauspielhandwerker ist das Prinzip. Damit wirken diese

Regisseure den von ihnen beklagten lateinamerikanischen "Grundübeln" entgegen: Diskontinuität und

Strukturlosigkeit. Fühlen sie sich nicht verantwortlich für die Förderung der Zeitgenössischen nationalen Dramatik?

Verantwortlich nur der Theaterkunst in ihrem Lande, und die ist nicht vorrangig an aktuelle lateinamerikanische

oder gar nationale Stücke gebunden.

Die Krise der lateinamerikanischen Dramatik ist seit Mitte der 80er Jahre thematischer Dauerbrenner bei

Festivaldiskussionen zwischen Autoren und Regisseuren, was den im ln-und Ausland am meisten gespielten

Dramatiker Venezuelas, RODOLFO SANTANA, ("Die Firma erlaubt einen Augenblick der Schwäche") bewog, an läß­

lich des Caracas-Festivals zu einem internationalen (spanischsprachigen) Dramatikerkongreß einzuladen. Unbe­

stimmtheit auf allen Seiten; die Älteren ratlos, die Jüngeren hilflos; offene Szene wohin, für wen? Das Theater

spiegelt nur die Sinnfragen wider, die sich in der Gesellschaft im Zerfall der ideologischen Bastionen als Unmut,

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Aufkündigung des sozialen Konsens, Aggressivität oder als Faustrecht manifestieren.

Einbezogen in diese Erosion ist die Figur des Künstlers, wie in Marco Antonio de Ia Parras jüngstem Stück "EI

padre muerto". Der Autor fragt, an welche Tradition die Autoren in Chile in dieser Epoche des

"Postpinochetismo", des "Finde siglo" anknüpfen könnten. Einen Sprung einfach hinter den Bruch zurück ist

unsinnig. ln "Dostojevski am Strand" (neu bei Suhrkamp) trifft der Agent beim Aufdecken der Verbrechen nur auf

Opfer, die Mitschuldige waren und an den zunächst geforderten Enthüllungen bald nicht mehr interessiert sind. Zu

Gomez, dem großen Aufkäufer, sagt er am Schluß: 'Weißt du, Gomez, was so verhängnisvoll am Leben auf dieser

Welt ist? Daß jedes Engagement zu Hochmut wird und jeder Traum zum Alptraum. . . . Wir sind verführ- und

korrumpierbar, unsere Probezeit geht nie zu Ende. Die Realität begreifen wir nie ... Du warst schon immer

vernünftiger als ich. Du kannst auch verzichten, du kannst vergessen, du kannst mit den Schultern zucken. Du

bist ein geschmeidiger Charakter, du kannst dich anpassen. Du bist nicht zu ewiger Glücklosigkeit ausersehen ..

Lakonischer und noch mißtrauischer gegenüber allen Parolen als in seiner ideologischen

Schlagabtauschsatire "Solo für Garlos und Sigmund", warnt der Autor seine Theaterkollegen vor dem

"lateinamerikanischen Kitsch", denn dieser- "sei es in seiner lamentierend politischen Version, sei es in seiner

üppig exotischen, - störe mögliche Lesarten eines Theaters als lebendiger Kunst, eines spezifischen Bereichs der

Gesellschaft, wo deren Schmerzen analysiert, deren Wunden geschlossen und die bissigsten Fragen an Macht

und Geschichte gestellt werden." Und er fordert eine neue Dramatik: "Ein theatralisches Wort, das die Poesie

rettet, das Populäre und die Macht der Prophetie. Ein Wort, das die Zerstörung der Leidenschaften am Ende

dieses Jahrhunderts aufdeckt, den ruinösen Zustand der Sprache bloßlegt und die Kommunikation der Menschen miteinander vor dem Verkommen bewahrt."

Wenn Übersetzen zur Begegnung führt

Wie stark muß ein Text sein, um die schmerz- und behinderungsreichen Wiedergeburtsprozesse einer

Fremdsprachenübertragung zu überstehen? Für eine Übersetzung- so das unerreichte Vorbild Gurt Mayer Clason

-genügt es nicht, bloß eine fremde Sprache zu beherrschen. Die sinnliche Wirklichkeit, für die jene andere

Sprache steht, muß dem Übersetzer vertraut sein, denn er überträgt von Kulturkreis zu Kulturkreis. "Die Farbe

der Fremdheit" zu erhalten, den "inneren Rhytmus" nicht aufzugeben, die Worte Schauspielern in den Mund zu

legen, die weder das Original zum Vergleich heranziehen können noch vom kulturellen Hintergrund der Geschichte

und ihrer Figuren etwas wissen, sich auf keinerlei Dokumente einer vertrauten Rezeptionsgeschichte -wie bei

Shakespeare- stützen können; Was mutet man dem Übersetzer zu?! Was verlangt man von einem übersetzten

Text?! Es klingt überzeugend, wenn man sich auf den Standpunkt zurückzieht: "Was gut ist, setzt sich auch durch.

Wir brauchen das lateinamerikanische Theater nicht zur Bereicherung unseres Spielplans. Außerdem kenne ich

keinen lateinamerikanischen Text, der meine Phantasie so anmacht, daß sich die Investition meiner professione~

len Existenz lohnt." (Originalton): "Seien wir ehrlich, auch die russische Literatur hört eigentlich bei Tschechov für

uns auf. So gut muß erst einmal ein Neuer schreiben, dann wird er auch gespielt." Noch überzeugender ist dann

der Standpunkt, bloß aus Gründen politischer Solidarität oder wegen des für Deutschland doch irrelevanten

Datums 1992 plötzlich einen lateinamerikanischen Autor auf den Spielplan zu setzen, sei eigentlich provinziell!"

Sich auf einem Festival deren Stücke in deren Inszenierungen anzusehen, gut; doch warum sollen wir uns dafür

interessieren?

Interesse und Neugier kann man niemandem einreden. Man kann nur Begegnungen initiieren, Leute in

Gespräche verfangen und persönliche Verbindungen anknüpfen -die Chance des Festivals in Harnburg und Köln - .

Man kann auch jene Texte im Deutschen zugänglich machen, denen man die verborgene Kraft zutraut, ein

Inszenierungsabenteuer auszulösen, so wie es Frank Hoffmanns Kasseler Aufführung des venezolanischen

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Stückes "Der Tag, an dem du mich lieben wirst" von Jose lgancio Cabrujas für Schauspieler und Publikum wurde.

Das Übersetzersymposium, das die Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika unter dem Motto

"Wenn Übersetzen zur Begegnung führt" vom 7-9. Oktober 1992 in Stuttgart veranstaltet, thematisiert das

Problem der Theaterübersetzung und materialisiert es zugleich, denn die beteiligten Übersetzer, die drei Tage

lang mit mexikanischen Theaterautoren und deutschen Theaterleuten konkret an Textübertragungen arbeiten,

sollen als Mitarbeiter für die in der Edition dia geplante und ab Herbst 1992 kontinuierlich erscheinende Reihe

"MODERNE DRAMATIK LATEINAMERIKAS" in nationalen Anthologien gewonnen werden. Jede dieser Anthologien

wird von einem Materialienband unter dem Titel "MODERNES THEATER LATEINAMERIKAS" begleitet, den

Theaterwissenschaftler und Lateinamerikanisten gemeinsam erarbeiten. Dieser- auch in der Finanzierung- als Kooperationsmodell angelegte Versuch, Theaterpraxis und Theaterforschung zu verbinden, ergänzt hoffentlich

durch Leseverführung die Bemühungen der Theaterverlage Henschel, Suhrkamp, S. Fischer, Desch, Rowohlt,

Hunzinger und Verlag der Autoren, jenes Interesse zu wecken, das sich nicht voraussetzen, einreden oder

erzwingen läßt. Noch erfahren wir aus Lyrik und Musik, aus Film und aus den Werken der großen Namen des sog.

literarischen Booms, bei Marquez und Fuentes, Octavio Paz und Carpentier, Julio Cortazar und Marie Vargas

Llosa, Guimaraez Rosa, Pablo Neruda, Jorge Amado, Antonio Skarmeta und Helena Poniatowska besser, was

Lateinamerika bedeutet. Manche ihrer Traumbeschreibungen nehmen auf der Bühne faszinierende Gestalt an, wie

auf den Festivals zu beobachten sein wird. Was das Theater Lateinamerikas vom Bewußtsein dieses Kontinents in

seinen Stücken ausweist, wird erst dann für uns erfahrbar, vielleicht sogar wichtig, wenn deutsche Schauspieler

und Regisseure diese Stücke für sich entdecken.

Das deutsche Theater, ganz in seine Gedächtnisarbeit versunken, überläßt es vorerst noch den

Grenzbereichen und Grenzgängern wie Kresnik, Ciulli und Rihm, andere Landschaften zu betreten, sich durch

eigene Einbringung dem Fremden anzunähern. Noch geht das deutsche Kulturbewußtsein davon aus, daß

Theaterförderung der öffentlichen Hand zwar umstritten, jedoch nicht in Frage gestellt ist, somit deutsche

zeitgenössische Dramatik ihr Publikum findet und durch Übersetzungsförderung via "Inter Nationees" und Goethe­

lnstitut, als Exportkultur, auch im Ausland bekannt wird. Das Goethe-lnstitut bereitet erfreulicherweise die Her­

ausgabe einer deutschen Theaterbibliothek in spanischer Übersetzung vor. ln Lateinamerika hingegen hat Kultur

keinen Etat und keine Lobby, ist auf Unterstützung durch den privaten Sektor, Banken, Konzerne und Stiftungen

angewiesen. Lediglich in Venezuela, Mexiko, Argentinien und jetzt wieder in Chile kann man von Theaterförderung

(häufig über Universitäten) sprechen. Die Theaterautoren Lateinamerikas sind immer noch auf Pioniere wie den

unschätzbaren Übersetzer, Vermittler und Theaterwissenschaftler Henry Thorau -der Brasilien als Theaterland

erkundet und Autoren wie Auguste Baal, Nelson Rodriguez und Plinho Marcos in deutschen Verlagen durchgesetzt

hat-, sowie auf Forscher wie Heidrun Adler, der das deutsche Theater seit 1991 das erste Handbuch des

lateinamerikanischen Theaters mit einer umfassenden Stückebibliographie verdankt, angewiesen. Jetzt suchen

die Stücke Übersetzer und Interpreten, die sie auf die deutsche Bühne heben. Sie sind weder Geheimtip noch

Erfolgsrezept, weder Alibi noch Ersatz für eine verlorengegangene politische Perspektive, sondern eine bisher

vielleicht zu wenig wahrgenommene Möglichkeit, die Menschheitsgeschichte theatralisch anders zu erleben.

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Was ist das Theatertreffen denn, wenn die bunten Kugeln

abgehängt werden?

Kritische Anmerkungen zum Theatertreffen 1992

Sabine Brandes. Birgit Mosis. Barbara Scheel

Alle Jahre wieder zur Maienzeit gibt es das Theatertreffen

in Berlin. Alle Jahre wieder gibt es das Genöhle um Sinn

und Unsinn dieser Veranstaltung. Zwar hat sie keine fast

zweitausendjährige Tradition wie Weihnachten, aber auch

neunundzwanzig Jahre reichen, um sich festzufahren. Das

Einzige, worum es geht, ist ein voller Gabentisch mit

prächtigen Geschenken. Gründe und Bedeutung treten hinter

glitzerndes Lametta zurück. Es grenzt ans Lästerliche,

einen Blick hinter die Urnverpackungen werfen zu wollen.

Beim Treffen der Heiligen 9 Könige in der Schlußdiskussion

besteht die Möglichkeit, die Jury zu befragen. Doch prall­

ten die aufgeworfenen Fragen diesmal an einer inhaltlichen

Schweigemauer ab, ob es um Auswahlkriterien, Zusammenset­

zungen oder Politik des Treffens ging. Wenn schwammige

Formulierungen klare Antworten ersetzen, wird auch der Kri­

tik die Möglichkeit genommen, Schwachpunkte zu benennen. So

wird vorgespiegelt, daß doch alles in Ordnung ist. Gleich­

zeitig wird eine Veränderung verhindert. Diese Unfähigkeit

mit Kritik umzugehen, ist für eine aus Berufskritikern zu­

sammengesetzte Jury besonders bedauerlich. Offenlegung ist

nicht nur für die Wirtschaft ein Muß, sie gehört zum demo­

kratischen Grundrecht und ist die Grundlage für konstruk­

tive Auseinandersetzung.

Doch wo liegen die Problerne konkret? Das genannte Auswahl­

kriterium der Jury "bemerkenswert" ist da doch ein bemer­

kenswert weites Feld. Die Jury zieht sich auf die subjek­

tive Position der einzelnen Mitglieder zurück, die in der

Diskussion nicht beschrieben wurden. Nun ist ein Allgemein­

platz, daß es für Kunst keine Checkliste gibt nach der Qua-

lität gemessen werden kann. Dennoch ließen sich Entschei­

dungen begründen, und zwar genauer als mit dem Satz: "Da

hat jedes Jurymitglied seine eigenen Theatererfahrungen ge­

sammelt". Einzige erfreuliche Ausnahme war Erika Stephan

aus Leipzig, die im Gegensatz zu ihren Westkollegen die

Schwierigkeit Kriterien zu bestimmen formulierte, die sich

aus unterschiedlichen Ästhetiken in Ost und West ergeben.

Mit der Frage nach dem Sinn des Theatertreffens fühlte sich

die Jury ebenfalls nicht angesprochen, und verwies auf die

politischen Geldgeber. Die meisten Inszenierungen gehen

ohne Dramaturgie baden, wie soll das Theatertreffen ohne

Konzept auskommen?

Beim Lesen der Liste mit den 71 vorgeschlagenen Inszenie­

rungen, läßt sich schnell ein kleine Statistik zusammen­

stellen. Ungefähr zehn Prozent für die Schweiz, für Öster­

reich, für die neuen Bundesländer, für Regisseurinnen. Bei

der Regie gibt es zwanzig Prozent Mehrfachnennungen, die

Anzahl verschiedener Bühnen schrumpft auf die Hälfte, die

der Städte gar auf ein Drittel. Was kaum auftaucht sind die

kleinen Provinzbühnen. Damit wird auch klar, daß die neuen

Bundesländer, die im Verhältnis mehr kleine Bühnen haben,

unterrepräsentiert werden; genauso wie regieführende

Frauen, die - parallel zur gesamtgesellschaftlichen Situa­

tion - eher an kleinen Bühnen wie Kiel, Esslingen usw. ar­

beiten. Freie Theatergruppen wurden bei der Abschlußdiskus­

sion selbstbetrügerisch als personaltechnisch nicht zu be­

wältigendes Problem abgehandelt, statt offen zuzugeben, daß

das Interesse auf den Inszenierungen der großen Häuser

liegt. Mag sein, daß dies den Podiumsbeitrag "Wenn wir das

Theatertrteffen nicht gut finden würden, säßen wir nicht

hier", überinterpretiert. Aber die Schlußfolgerung liegt

nahe, daß ein Einverständnis mit der Tradition der Lei­

stungschau gegeben ist. Das traut sich die Jury nicht zu

formulieren, sondern schiebt die Schuld dem anspruchsvollen

Berliner Publikum zu, welches für bestimmte Inszenierungen

unzumutbar sei. Sie behaupten beispielsweise, daß zeitbezo­

genen Inszenierungen von kleineren Bühnen der Neuen Bundes­

länder aus Unverständnis verrissen werden würden. Damit

35

36

würden die jungen Ostbühnen entmutigt werden, folglich wer­

den sie nicht eingeladen.

Dabei stellt das Publikum die Ansprüche, die den langjähri­

gen Ankündigungen entsprechen. Die Jury müßte sich mit den

Aufgaben des Theatertreffens entweder selbst auseinander­

setzen oder eine Neuformulierung von den Kulturpolitikern

fordern, nachdem mit der Mauer auch die kulturelle Konfron­

tation mit der DDR als sinnstiftend für das Protzen wegge­

fallen ist. Soll nun mit dem Theatertreffen das Hauptstadt­

flair intensiviert werden, ist weiterhin Glanz und Gloria

bombastischer Aufführungen angesagt. Das die Jurymitglieder

sich mehr vorstellen können, läßt sich an verschiedenen An­

sätzen festmachen, nur fehlt die Bereitschaft zur Konse­

quenz.

- "Inszenierungen, die für kleine Bühnen konzipiert wurden,

wirken in großen Häusern nicht" gilt als eine Binsenweis­

heit. Sie deswegen nicht in eine Stadt mit großer Bühnen­

vielfalt einzuladen, kommt einem Schildbürgerstreich

gleich.

- Der Flut von Freien Gruppen gerecht zu werden, ist ein

organisatorisches Problem. Denkbar wäre zum Beispiel ein

Vorschlagsrecht lokaler Kritiker, auf Berlin bezogen die

Unterstützung durch den Beirat, der um die Senatsgelder zu

verteilen, die Szene der Freien Bühnen kennt.

- Um junge Regisseure ambitioniert vorzustellen, genügt es

nicht, sie mit der alten Riege in eine Arena zu stellen.

Das führt zu einer unfairen Konkurrenz. Warum nicht das

Treffen klar und deutlich zweiteilen; ein Teil für die Prä­

sentation der Großmeister und ein Teil für die Initiation

der Nachfolger.

Eine weitere wichtige Fragestellung ist die nach den Inhal­

ten, insbesondere in einer gesellschaftlichen Umbruchssi­

tuation. Möglichkeiten gibt es viele, auch sich zu verzet­

teln. Deswegen ist es so wichtig, eine Linie zu finden und

sie klar zu formulieren. Das soll beileibe nicht zu Erstar­

rung führen, denn es reicht, die Achse eines Freiraumes zu

definieren, die das Rückgrat für Experimente bildet.

Auch wenn die Jury es nicht schafft, in diesem Artikel soll

Position bezogen werden zu Kriterien, die Inszenierungen

bemerkenswert machen können. Wir wünschen uns über ästhe­

tisch gelungene Arbeiten hinaus ein reflektiertes Abbild

der heutigen Gesellschaftswirklichkeit. Solange es noch

Subjektkonstruktion in Theaterproduktionen gibt, die die

Möglichkeit zur Identifikation bieten, muß die Forderung

nach zeitgemäßen Frauenbildern bestehen bleiben.

Die stolze Gräfin orsina rutscht vor dem Kammerherrn Mari­

nelli auf den Knien über die Bühne - dieses Bild wurde in

der hochgelobten Inszenierung der ''Emilia Galotti" aus Han­

nover präsentiert. Abgesehen von der Tatsache, daß es in

der Stückwirklichkeit undenkbar und falsch ist, wirft es

ein bezeichnendes Licht auf die Präsentation der Frauenfi­

guren des diesjährigen Theatertreffens.

Wieder einmal dominiert die männliche Sichtweise bei den

Iryszenierungen. Handlungen sind um männliche Figuren kon­

struiert, mit der sich der Zuschauer identifizieren kann.

Der Mann hat seinen Stellvertreter auf der Bühne. Der Blick

des Regisseurs, der das Geschehen kontrolliert, ergänzt

sich mit der Perspektive des Zuschauers. Die Zuschauer in

hingegen findet sich in ihrer heutigen Position, ihrem mög­

lichen Handlungsspielraum als Subjekt selten wieder, schon

gar nicht wenn sie auch noch einer Minderheit angehört. Sie

sieht im Rahmen der Inszenierungen ihr Geschlecht meistens

in die Passivität gedrängt. Identifiziert sie sich mit die­

sen Frauendarstellungen findet sie die Position, die sie in

ihrem realen Umfeld einnimmt, nicht wieder. Versucht sie,

sich mit dem Standpunkt des männlichen Protagonisten und

seinen Handlungen auseinanderzusetzen, findet sie keinen

Ansatzpunkt, denn der männliche Diskurs entspricht nicht

ihrer weiblichen Subjektposition. So wird die Zuschauer in

selten in den Rezeptionsvorgaben beachtet. Wie sie sich

auch entscheidet, wird sie zur Komplizin in der Objektbe­

handlung weiblicher Figuren.

Mit dieser kritischen Perspektive sollen nun die Inszenie­

rungen der jungen Regietalente betrachtet werden. Schon die

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38

Jury hatte, mit der Feststellung innovativer Ansätze bei

den dreien diese Arbeiten herausgestellt.

Auch sie inszenieren Figuren und Rollenspiel. Wie gestalten

sie die Frauen in ihren Arbeiten? Ist von ihnen womöglich

eine andere, emanzipatorische Sicht auf die weiblichen Fi­

guren zu erwarten?

Die Regisseure waren alle Männer, ihre Stückauswahl präsen­

tierte männliche Autoren - Lessing, Büchner, Schwab. Zumin­

dest für Lessing und Büchner ist festzuhalten, daß sie

Frauenfiguren entworfen haben, denen emanzipatorische Hal­

tungen und Einstellungen eingeschrieben sind, auch wenn die

Inszenierungstradition immer wieder anderes behauptet.

Diese Stücke fordern geradezu die Frage heraus, wie tra­

diert oder innovativ mit den Frauenfiguren umgegangen wird.

Matthias Hartmann, der gepriesene und umstrittene Newcomer

des Theatertreffens, hat diesbezüglich einen erst einmal

begrüßenswerten Versuch unternommen "Emilia Galotti" umzu­

deuten. Zwei neue Aspekte wollte er mit dem Stück heraus­

stellen, wie er in der Publikumsdiskussion erläuterte. Ne­

ben der Behauptung der allgemeinen Verführbarkeit und

Schuld, ist der zweite für die zuschauerin besonders inter­

essant: Emilia als Subjekt ihrer Handlungen. Sie wolle

nicht Schuld werden an ihrer Verführbarkei t und verführe

den Vater dazu, sie zu erdolchen. Ein inszeniertes Paradox

oder die Darstellung einer Unmöglichkeit?

Hartmanns Versuch, den Text aus seiner Zeit herauszulösen,

reiht sich ein in die zahlreichen Bemühungen Klassiker zu

modernisieren. Leider ein mißlungener Versuch, denn es ge­

nügt nicht, die Abschaffung der Adelsherrschaft als Aufhe­

bung von Machtstrukturen und Klassengesellschaften zu be­

trachten, wie der junge Regisseur erklärte. Zwar wurde

Hartmann im Festspiele Programm von C.Bernd Sucher als

Theaterdilettant annonciert, doch sollte die Kenntnis mo­

derner Philosophen nicht eine gesellschaftskritische Lek­

türe ersetzen.

Eine weitere Diskussionsäußerung des Regisseurs, er wolle

Klischeebilder meiden, läßt sich in der Inszenierung nur

schwer wiederfinden, denn er greift wiederholt auf altbe-

währte, längst bekannte Männer- und Frauenbilder zurück. Da

ist der Graf Appiani ein glatzköpfiger, debiler Aussteiger,

den Emilia unmöglich lieben kann. Stattdessen verfällt sie

-im roten(!) Kleid- ängstlich und widerstandslos den unbe­

holfenen groben Werbungsversuchen des zwar nicht sonderlich

intelligenten, zumindest aber jungen Prinzen.

Ebenso wie Emilias Mutter ist Orsina eine weitere starke

Frauenfigur im Stück, wenn auch nicht in der Inszenierung.

Lessing entwirft eine unabhängige, kluge und leidenschaft­

liche Geliebte des Prinzen. Hartmann besetzte die Rolle zu

Recht mit einer jungen und interessanten Schauspieler in.

Allerdings verspielte er die Chance, eine zeitgemäße Frau­

enfigur zu entwickeln. Johanna Gastdorf spielt die ver­

letzte, wunde zurückgewiesene atemberaubend - doch ganz nah

an der Grenze des Wahnsinns, diese fast schon überschrei­

tend. Weibliche Intelligenz und Leidenschaftlichkeit wird

hier einmal mehr von einem Regisseur in den Bereich ge­

stellt, in dem beides ihm und seinen Geschlechtsgenossen im

Publikum nicht mehr gefährlich werden kann.

Die -im Text sehr wohl enthaltene- kritische Eigenständig­

keit der Frauenfiguren und ihr gleichzeitiges Eingebunden­

sein in eine patriarchale Ordnung wird zugunsten einer ein­

dimensionalen Idee von der Verführbarkeit als Schuld aufge­

hoben, entpolitisiert. Vielleicht ist diese Aufführung des­

halb von der Jury als "bemerkenswert" betrachtet und ein­

geladen worden.

Der zweite junge Regisseur ist Andreas Kriegenburg, der mit

seiner Woyzeck - Inszenierung an der Berliner Volksbühne

eingeladen wurde.

Seine Auseinandersetzung mit dem Textfragment Büchners bot

eine Vielzahl von Bildern und Eindrücken, vielerlei Rei­

bungsflächen für das Publikum. Besonders interessant ist,

daß obwohl er in Bild und Spiel keinerlei realistische Be­

züge zur Gegenwart zieht, seine Interpretation Brüche und

Verletzungen unserer Gesellschaft verdeutlicht. Sein ge­

sellschaftskritischer Zugriff auf den Text beweist einmal

mehr, wie legitim eine solche Vergehensweise ist.

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40

Die Frauenfiguren Büchners sind ja selten Gegenstand einer

genauen Betrachtung, obwohl sie für seine Ästhetik von im­

menser Bedeutung sind. Büchner entwirft sie jenseits der

von ihm oft genutzten historischen Authentizität und

schreibt ihnen seine Utopien ein. Sie sind die Gegenbilder

zu ihren Männern, denn sie erscheinen weniger zerrissen,

sind sebstgewisser und bewahren ihre Menschlichkeit.

In Kriegenburgs Inszenierung wird weibliche Attraktivität

und daraus folgend Eitelkeit und Rivalität gleich im ersten

Bild zwischen den Frauen in den Mittelpunkt gestellt. Dazu

werden Marie und ihre Nachbarin Margret mit bekannten At­

tributen verführerischer Weiblichkeit ausgestattet. Marie

hat einen überlangen Zopf und einen wippenden Rock, während

Margrets Rock kurz ist und sie sich mit einer auffälligen

Haube schmückt.

Später entwickelt der Regisseur ein Bild, voller Eindrucks­

kraft und Intensität. Marie von der Situation überfordert

kommt mit einer E-Gitarre auf die Bühne und versucht, oh­

renbetäubend sich selbst zu vergewissern. Ein schönes Bild

für die Stärke und Ausdruckskraft der Figur.

Schade, daß er diese Seite der Figur nicht weiter verfolgt

hat. Marie hat ein schreckliches Ende. Sie stirbt nicht nur

einen, sondern mehrere Tode. Sie wird erschlagen, erwürgt,

ertränkt, erstochen. Aber sie wehrt sich nicht, sondern

versucht nur zu fliehen und vor ihrem letzten endgültigen

Tod setzt sie sich erschöpft neben Woyzeck, wohl im Glauben

seine Wut habe sich durch die Mißhandlungen erschöpft.

Kriegenburg inszeniert hier zwar den Vertrauensbruch, denn

Woyzeck ersticht Marie heimtückisch von hinten, doch er

vergißt das zuvor festgestellte Selbstbewußtsein Maries und

vergibt damit die Chance eine sich wehrende Frau zu präsen­

tieren. In der Publikumsdiskussion erklärte er, daß Maries

Flucht als Gegenwehr zu sehen sei. Doch drückt der insze­

nierte Fluchtreflex vielmehr die passive Objekthaltung der

Frau aus.

Trotzdem ist festzustellen, daß Kriegenburg eine Vielzahl

interessanter Ideen inszenierte, wenn vielleicht auch noch

etwas ungeordnet und unstimmig. Er gesteht auch den Frauen-

figuren starke Bilder zu und seine offene, interessierte

Art sich den Fragen und der Kritik des Publikums zu stel­

len, weckt Interesse für seine zukünftige Arbeit.

Christian Stückl von den Münchner Kammerspielen präsen-

tierte seine Inzenierung "Volksvernichtung oder Meine Leber

ist sinnlos". Der Autor Werner Schwab erzählt im weitesten

Sinne die Geschichte von fünf Frauen und zwei Männern, den

Bewohnern eines Hauses, die wunsch- und hoffnungslos, sich

gegenseitig so lange auf die Nerven fallen, bis in einem

scheinbar tödlichem Finale alle Vorbehalte aufbrechen. Bei

ihm steht eine Sprache voller origineller Wortverknüpfungen

und Neubildungen im Mittelpunkt. Stückl dagegen richtet

sein Interesse auf die Figuren, ihre soziale Eingebunden­

heit und damit verbunden ihre Abhängigkeiten.

Der Regisseur begrenzt zwar das Spiel auf einen kleinen

Raum innerhalb seines Bühnensarkophages, doch zeichnet er

Frauenfiguren von ungeheuren Ausmaßen. Sie könnten leicht

Schwestern so mancher Zuschauerin sein oder deren Mütter

und Großmütter, gerade wegen oder trotz der auftretenden

Skurilität.

Über die drei besprochenen Inszenierungen hinaus läßt sich

auf dem diesjährigen Theatertreffen eine Tendenz erkennen:

Männer inszenieren Frauen weniger in ihrer Vielfalt, son­

dern eher als Opfer, Gescheiterte und Mißhandelte (Johann

Kresniks "Frida Kahle", Cesare Lievis "Blaubart"). Diese

Unterschlagung deutet auf eine Vermeidungstaktik der Produ­

zenten und ihre mögliche Angst vor dem Begehren der Frauen,

deren Selbstbehauptung, Subversivität und Kreativität.

Weit entfernt von jeder aktuellen Auseinandersetzung um die

neuen gesellschaftlichen Positionen von Frauen - kein Mem­

mingen-Stück, keine Auseinandersetzung um die Verdrängung

der Frau aus Berufstätigkeit und Selbständigkeit - bleiben

Jury und Regie den zuschauerinnen etwas schuldig.

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VEREIN ZUR FÖRDERUNG DES KULTURELLEN AUSTAUSCHES

MIT DEN LÄNDERN OSTEUROPAS e.V.

eurocultur D ost VOM PRAGER FRÜHLING ZUR SANFTEN REVOLUTION

Ausstellung und Seminar zum tschechischen Theater

Veranstalter: Verein eurocultur ost e.V. in Zusammenarbeit mit henschelSCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH und dem Kultur- und Informationszentrum der (SFR in Berlin

Veranstaltungsort: Kultur-und Informationszentrum der ~SFR

Ausstellung:

Eröffnung:

Seminar: 16.09.1992 18.15 Uhr:

17.09.1992 18.00 Uhr:

18.09.1992 18.00 Uhr:

Leipziger Straße 60 0-1080 Berlin

16. - 30. September 1992

16.09.1992, 18.00 Uhr

16. - 18. September 1992

Teil I - TALK-RUNDE

"Theater als Begleiter des Prager Frühlings und Wegbereiter der sanften Revolution"

mit Dr. Helena Albertova, Direktorin des Theaterinstituts Prag und Dr. Josef Balvin, Theaterwissenschaftler und Übersetzer

Teil II - AUTORENPORTRÄT KAREL STEIGERWALD

Szenische Lesung des Stückes "Neapolitanische Krankheit" in der Übersetzung von Melitta Bailleu durch Berliner Schauspieler Leitung: Sewan Latchinian (Deutsches Theater) Moderation: Ingeborg Knauth (henschelSCHAUSPIEL)

Teil III - ROUND TABLE

"Mangel an Mut?" - Zur aktuellen Theatersituation in Prag und Brno

mit: Vlasta Gallerova, Dramaturgin am Theater "Labyrint"; Johanna Kudlackova, Dramaturgin am Nationaltheater: Arno~t Goldflam, Autor, Regisseur und Theaterleiter des

HaDivadlo Brno; Peter Scherhaufer, Regisseur und Leiter des Theaters

"Gans an der Schnur" Brno; Jan Schmid, Regisseur am "Studio Ypsilon"; Ladislav Smo~ek, Autor und Regisseur am "Cinoherni klub"; Karel Steigerwald, Autor und Chefdramaturg am "Theater am

Geländer"; Karel Kral, Theaterkritiker und Chefredakteur und Ondrej Cerny, Theaterkritiker, beide Redaktion der Theater­

zeitschrift "Svih a divadlo" Prag.

Moderation: Dr. Birgid Gysi (Dramaturgische Gesellschaft) Joachim Knauth (freischaffender Autor)

- 2 -

Die Thematik von Ausstellung und Seminar erfaßt das von gravierenden politi­schen Ereignissen und ihren Folgen bestimmte letzte Vierteljahrhundert tschechi­scher Theaterkunst. Mitte der 60er Jahre brachen Theaterkünstler wie Otomar Krejra in seinem "Theater hinterm Tor I" (Divadlo za branou I) mit Inszenierungen von Werken Josef Topols, aber auch neuen Lesarten der klassischen Weltdramatik und Jan Grassman im "Theater am Geländer" (Divadlo Na zabradli) in Experimenten mit westeuropäischen Absurden, mit Kafka und vor allem durch die Förderung des Dramatikers Vaclav Havel zum Dogma erstarrte ästhetische und Denkschemata auf. Theater wurde zum Wegbereiter und Wegbegleiter einer politischen Bewegung zur Veränderung des verkrusteten Gesellschaftssystems und zur Demokratisierung der Verhältnisse in der damaligen ~SSR. Wir lassen Zeitzeugen und Betroffene informieren über die widersprüchliche Entwicklung tschechischen Theaters zwischen Restriktion und Widerstand nach der Niederschlagung des Frager Frühlings 1968, als tschechische Bühnen in die Isolierung von den Strömen des Welttheaters gezwungen, zu Sprachlosigkeit und Schattendasein verdammt waren 1 und dennoch jenseits der Staatstheater in den Nischen der Gesellschaft innovative Theaterexperimente gewagt wurden auf klei­nen und kleinsten Bühnen in Frag und anderswo, die heute Hoffnungsträger und Orientierungsgröße für die Theaterarbeit in der CSFR sind und sich vom 5.v- 15. September zu den 42. Berliner Festwochen mit Gastspielen vorstellen ( Cinoherni klub, Studio Ypsilon, Divadlo Jary Cimrmana, Divadlo Na zabradli).

Karel Steigerwald (Jahrgang 1945) ist gegenwärtig einer besten tschechischen Dramatiker. In einem Autorenporträt stellen wir ihn mit seinem in Deutschland bisher nicht gespielten Stück "Neapolitanische Krankheit'' - geschrieben 1984, uraufgeführt in Frag 1988, ins Deutsche übersetzt bei henschelSCHAUSPIEL -vor. Der assoziationsreiche Theatertext Karel Steigerwalds, der heute Chefdrama­turg am "Theater am Geländer'' in Prag ist, ist ein Menetekel-Stück, das das Sterben an der eigenen Lüge thematisiert. Überlebende eines großen Exodus versuchen, in einer total veränderten Umwelt zu existieren, indem sie die alten Verhaltensmuster, Machtmechanismen und Hierarchien reproduzieren.

Die Ausstellung und das Seminar von eurocultur ost e.V., die Bestandteil des Kulturprojekts "grenzenlos" - Kulturelle Begegnung: Frag - Berlin sind und unmittelbar an die Gastspiele der Frager Bühnen anschließen, sind Dokumentation, kontroverse Selbstdarstellung und differenzierte Aufarbei­tung von Vergangenheit in der Absicht, einem vorurteilsfreien neuen Miteinander den Weg zu bereiten.

Dr. Elke Wiegand Projektleiterin

Kontaktanschrift: eurocultur ost e.V. Klosterstraße 68-70 I PSF 604 0-1020 Berlin Tel. 2403 248

Bankverbindungen: Postgiroamt Berlin BLZ 100 100 10 Konto Deutsche Bank Berlin BLZ 120 70 300 Konto

529 800 108 722 997 400

Der Verein eurocultur ost e.V. ist eingetragen beim Amtgericht Charlottenburg im Vereinsregister 10978 NZ. Die Vereinsziele sind als besonders förderungs­wUrdige gemeinnUtzige Zwecke anerkannt.

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VEREIN ZUR S KULTURELLEN AUSTAUSCHES

MIT DEN LÄNDERN OSTEUROPAS e.V.

eurocultur ost eurocultur ost infor.miert authentisch über aktuelle Kunst- und Kulturentwick­lungen in Ost- und Südosteuropa.

eurocultur ost fördert und vermittelt direkte Kontakte zwischen Künstlern, Wissenschaftlern, Institutionen und Interessenten durch gemeinsame Projekte, durch Ausstellungen, Gastspiele und Studienaufenthalte.

eurocultur ost, das sind deutsche, bulgarische, lettische, litauische, russische, polnische, slowakische, tschechische und ungarische Einzel- und korporative Hitglieder aus der Bundesrepublik Deutschland und dem Ausland.

eurocultur ost vermittelt in einem Almanach durch Textauszüge, Übersetzungen, Protokolle u.a. seine Aktivitäten und gibt einen Überblick über interessante aktuelle Kunstentwicklungen in Ost- und Südosteuropa.

eurocultur ost baut ein umfassendes Informations- und Dokumentationszentrum zu Kunst- und Kulturentwicklungen in den Lä"ndern Ost- und Südosteuropas auf.

Informations- und Dokumentationszentrum - ein Konsultationspunkt bei der Arbeit mit Originaltexten und Quellen.

Informations- und Dokumentationszentrum - das heißt Recherche und Archivie­rung verschiedener Kunstzeitschriften und anderer Publikationen ausgewählter Kunstgebiete wie Theater und bildende Kunst.

Informations- und Dokumentationszentrum - das ist auch eine Sammlung authen­tischer Musikbeispiele aus den Ländern Ost- und Südosteuropas.

eurocultur ost arbeitet mit Kulturzentren ost- und südosteuropäischer Länder, Künstlervereinigungen, Theatern, Galerien und Privatpersonen zusammen.

eurocultur ost wird u.a. von der Stiftung Kulturfonds und der Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten unterstützt.

eurocultur ost freut sich immer über weitere Interessenten, die uns durch ihre Ideen, Erfahrungen und Spenden helfen.

Vorstand: Christine Harbort -·Vorsitzende Dr. Elke Wiegand- 2. Vorsitzende liarbara Marggrat - Schatzmeisterin

Geschäftsführung: Angelika Thiede

Kontaktanschrift: eurocultur ost e.V. Klosterstraße 68-70 I PSF 604 0-1020 Berlin Tel. 2403 248

Bankverbindungen: Postgiroamt Berlin BLZ Deutsche Bank Berlin BLZ

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Konto Konto

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jA.' W--'rp;;:; ifS!i!:;~

A.gsbdati~h internationale du Theätre pour I'Enfance et Ia Jeunesse InternationatAssociation ofTheatre for Children and Young People Mee~yHapo,rrHa.R Accol.{}iall,}1.R TeaTpoa .o.nst .ll:eTeii H lOHowccTaa Internationale Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche

Section R.F.A. de l'ASSITEJ- ASSITEJ e. V. Bundesrepublik Deutschland

ASSITEJ e. V. · Schützenstr. 12 · W-AOOO Frankfurt a. M. I

PRESSEMITTEILUNG + PRESSEMITTEILUNG + PRESSEMITTEILUNG + PRESSEMITTEILUNG

Unter dem Titel SPURENSUCHE veranstaltet die ASSITEJ e.V. Bundesrepublik Deutschland (Internationale Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche) in Zusammenarbeit mit dem Jugendtheater für Harnburg auf Kampnagel (JAK) und Kampnagel - Internationale Kulturfabrik ein Erstes Arbeitstreffen Freier Kindertheater.

Vom 25. bis 31 _ Oktober stellen sechs Freie Kinder- und Jugendtheater aus Deutschland-piccolo Theater (Cottbus), Theater Monteure (Düsseldorf), Theater im Marienbad (Freiburg), AktionsTheater (Kassel), Freies Werk­statt Theater (Köln), Theater Pfütze (Nürnberg) -auf Kampnagel in Harn­burg je eine Inszenierung für Kinder vor und in Gesprächen und Diskussio­nen wird es um Inhalte und Formen, Arbeitsansätze und künstlerische Um­setzung in der Freien (Kinder-)Theaterarbeit gehen.

Außerdem bieten in dieser Woche vier zweitägige Werkstätten, geleitet von bekannten und hochkarätigen Praktikerinnen, zu den Arbeitsbereichen Regie (Liesbeth Coltof), Bühnenbild & Raumkonzeption (Roland Söderberg), Musik (Guus Ponsioen), Schreiben & Dramaturgie (Pauline Mol) sowie ein Seminar mit dänischen und schweizer Kolleginnen zur Frage nach den Qualitätskri­terien in der Freien (Kinder-)Theaterarbeit die Möglichkeit zum Austausch und zur Weiterbildung in Theorie und Praxis.

Eine kulturpolitische Diskussion zur Situation des Kindertheaters in Harn­burg rundet das Rahmenprogramm ab.

Das detaillierte Programm erscheint Anfang September. Anmeldeformulare für die Werkstätten (Anmeldeschluß: 1. September 1992) sind erhältlich bei der ASSITEJ e.V., Schützenstraße 12, W-6000 Frankfurt/Main 1.

Frankfurt, den 22. Juni 1992

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KINDERTHEATER NUR NOCH FÜR REICHE? KINDER UND JUGENDLICHE OPFER BESINNUNGSLOSER SPARPOLITIK?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde!

Berlin ist Hauptstadt und wäre auch gern Kulturstadt Unbestritten ist das Kulturangebot sehr umfangreich und vielfältig.

Man müßte also davon ausgehen, daß dieses Angebot allen Menschen unabhängig von Her­kunft oder Alter zugutekommen soll. Trotzdem unternimmt nunmehr der Berliner Senat einen sol­chen Versuch der Ausgrenzung - und sc~äbigerweise tut er es bei Kindern und Jugendli­chen!

ln den letzten zwanzig Jahren ist Berlin durch ein wegweisendes Angebot im Kinder- und Jugendtheater in Qualität und Umfang hervorgetreten. Statt des einen Weihnachtsmärchens im Dezember können Kinder und Jugendliche heute täglich aus einem umfangreichen Angebot das Theaterstück wählen, das sie gern sehen möchten. Und dieses Angebot wird in wachsendem Maße vom Publikum angenommen.

Theater hat seinen Preis. Eine normale Eintrittskarte an der Deutschen Oper müßte ohne Subventionen des Senats zwischen 200 und 300 Mark kosten - ein Preis, den kein normaler Bürger bezahlen könnte oder wollte.

Auch die Preise im Kinder- und Jugendtheater wären für den Großteil gerade dieses Publikums nicht erschwinglich, gäbe es keine Theatergutscheine, bisher herausgegeben von der Senatsverwaltung für Jugend und Familie, die notdürftig die Lücke zwischen dem, was Kinder und Jugendliche bezahlen können, und dem, was die Theater unbedingt brauchen, füllt.

Theater gerade für junges Publikum hat eine wichtige Ausgleichsfunktion gegen die Überflutung durch die neuen Medien, hilft Kindern und Jugendlichen in ihrer Ausein­andersetzung mit der Umwelt und ist ein wesentlicher Faktor gegen die wachsende Gewalt­bereitschaft, über die besonders unsere Politiker so schnell Krokodilstränen weinen.

Umso heuchlerischer und verantwortungsloser ist es, wenn in dieser Situation der Senat die Ausgabe von Theatergutscheinen reduzieren und in ihrem Wert über ein Drittel herabsetzen will. Diese brutale Kürzung können die Berliner Kinder- und Jugendtheater, deren Eintrittspreise seit Jahren fast gleich geblieben sind, nicht auffangen. Also ist sie ein Schlag inbesondere gegen kinderreiche und/oder sozial benachteiligte Familien.

Wir wenden uns deshalb jetzt an das Berliner Publikum, mit uns gegen diese kurzsichtige Sparpolitik vorzugehen. Unterstützen Sie bitte diesen Aufruf und schließen Sie sich unseren Forderungen mit Ihrer Unterschrift an! Oder schreiben Sie selbst an den zuständigen Senator!

Wir fordern den Senat auf: Seenden Sie diesen Skandal im Interesse der Kinder und Jugendlichen sofort, und heben Sie den Ausgabestop der Gutscheine auf! Stellen Sie ausreichende Mittel für eine Kinder- und Jugendkulturförderung zur Verfügung! Übertragen Sie die Verantwortung für diesen sensiblen Bereich der Kulturverwaltung!

ADD/'S ZAUBÄRBÜHNE- ANDERSENS KOFFERTHEATER - A TZE!MUSIK FÜR KINDER - BERLINER FIGUREN THEATER BERLINER KINDERTHEATER- BRANDUNGSTHEATER- 'die bühne'/LITERARISCHES FIGURENTHEATER- DIE FUllYS

FLIEGENDESTHEATER-HANS WURST NACHFAHREN- JAN OSCH & CÄPT'N NUSS-KOBALTFIGURENTHEATER- MANUELA 'S

PUPPENTHE4TEF!- MUTABOR KINDERTHEATER- NARRENSPIEGEL-NOBEL-POPEL KINDERMUSIKTHEATER- PATÜ PLATYPUS-THEATER- PUPPAR/UM-PUPPENTHEATER BERLIN- PUPPENTHEATER FARAN-DOLL- SPIELWERKSTATT BERLIN

THEATER DER STERNE- THEATERFORUM KREUZBERG - THEATER GAUKELSTUHL - THEATER JARO - THEATER MÄR THEATERPRODUKTION REINER STRAHL- THEATERPRODUKTION LUTZ BUBLITZ- THEATER ROTE GRÜTZE- THEATER

TRANSIT- REGINA WAGNER PUPPENSPIEL

Für Rücktragen stehen wir Ihnen gern zur Verfügung. Den zuständigen Senator, Herrn Krüger, erreichen Sie unter W/2604-2691 bei der Senatsverwaltung für Jugend und Familie, Am Karlsbad 8/10, 1000 Berlin 30.

Verantwortlich: SPOTI Berlin e.V., Planufer 92 D, 1-61 Tel.: 030/691 28 66- 691 50 17

Landeshauptstadt Stut:gart. Kulturamt, Zentrum, Postfach I 0 60 34, 7000 Stuttgart I 0

Herrn THEATER IM Klaus Pierwoß Dramaturgische Gesellschaft Tempelhafer Ufer 22

ZENTRUM HEUSTEIGSTRASSE 39

1000 Berlin 61 Manfred Raymund Richter Intendant

~hr Ze:cher.

hr Schre1ben

nse' Ze1chen S b (0711)216· 2219 ~

Datum 1 2 • 5 • 1 9 9 2

Bet r.: Gründung einer Arbeitsgruppe Kinder- und Jugendtheater

Sehr geehrter Herr Pierwoß,

in Ihrem Brief vom April 1992 berichten Sie über den Vorschlag des Vorstandes der Dramaturgischen Gesellschaft, Arbeitsgruppen zu bilden, die sich eigenständig um bestimmte Problemkreise bemühen sollen. Sie haben vier Themenbereiche genannt, und ich möchte dieser kleinen Liste einen fünften hinzufügen. Der Be­reich des Kinder- und Jugendtheaters bedarf intensiver Förde­rung. Deshalb ist es sinnvoll, eine Arbeitsgruppe Kinder- und Jugendtheater zu gründen. Gerne würde unser Theater die Lei­tungs- bzw. Koordinierungsarbeit übernehmen. Ein erstes Treffen könnte hier in Stuttgart stattfinden. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an meine Mitarbeiterin in der Dramaturgie, Frau Dr. Susanne Berger (Tel. 0711/216-2646).

Sollten Sie meinem Vorschlag zustimmen und sollten sich genü­gend Interessenten finden, bitte ich um baldige Nachricht.

Mit freundlichen Grüßen

~~- 72,._.( 74.A IZ. (Manfred Raymund Richter)

Landeshauptstaat Stuttgart

Kulturamt

TUiiGART ~ 47

Dramaturgische Gesellschaft Tempelhafer Ufer ·22 · D-1000 Berlin 61 ·Telefon 030 I 216 30 43

Berlin, 15. Juni 1992

Für e1n neues THEATER DER ZEIT

Die neuen Bundesländer verfügen immer noch über das

dichteste Theaternetz der Welt. In diesem Zusammenhang hat

die Publikation THEATER DER ZEIT eine nicht hoch genug ein­

zuschätzende Rolle als kritischer Beobachter und analyti­

scher Ch~onist für die künstlerische Arbeit der Theater­

macher gespielt. THEATER DER ZEIT war auch wichtig als Forum

der Diskussion und Selbstverständigung der Theaterleute. Es

hat zum Arbeitszusammenhang gerade auch der kleineren öf­

fentlichen Bühnen eine große (nicht nur geographische) Nähe

gehabt.

Es ist aktuell eine wichtige Aufgabe, die Theaterlands~haft

in den neuen Ländern modifiziert zu erhalten; bei dieser

Aufgabe sind alle Theaterträger, Theatermacher und Theater­

besucher auf eine kommunikative Publizistik angewiesen: eine

Fachzeitschrift ist dafür unverzichtbar.

Die DRAM~TURGISCHE GESELLSCHAFT, die ihr Wirkungsfeld mit

der Vereinigung auf die neuen Länder ausgedehnt hat, begrüßt

und unterstützt mit aller Entschiedenheit die Initiativen

und Anstrengungen zur Neubelebung von THEATER DER ZEIT.

Dr. Klaus Pierwoß

Vorsitzender der DRAMATURGISCHEN GESELLSCHAFT und Chefdramaturg am Maxim Gorki Theater Berlin

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dg

interessengemeinschaft thea.ter derzeit e.v. berlin ( i. G.) ..

An alle Freunde von THEATER DER ZEIT

Mit dem Votum bekannter Theatermenschen - Adolf Dresen, Dieter Görne,

Christian. Grashof, Alexander Lang, Heiner Müller, Volker Pfüller,

Udo Zimmermann u.a. -haben wir am 16. Mai in Berlin die oben ge­

nannte Interessengemeinschaft gegründet, zu Vorsitzenden wurden

Ma~tin Linz~r (Theater der Zeit) und Harald Müller (AUTOREN-

I( 0 L L E G I UM ) g e v: ä h 1 t .

Das Ziel der Interessengemeinschaft ist laut Satzung:

" ... die Förderung der Auseinandersetzung mit den aktuellen Erschei­

nungen und Trends des zeitgenössischen Theaters im vereinigten

Deutschland für eine breite theaterinteressierte Öffentlichkeit.

Schwerpunk.t der Vereinstätigkeit ist die wissenschaftliche, dokumen­

ta~ische und publizistische Aufarbeitung der künstlerischen und kul­

tur-politischen Tendenzen im Prozeß des Zusammenwachsens der Thea­

terlandschaften in Ost und West im Kontext der gesellschaftlichen,

auf das Theater v1irkenden Veränderungen vor allem im Osten und Süd­

osten Europas ...

Zur Durchsetzung dieser Ziele ist der Vorstand gegenwärtig bemüht,

organisatorische und finanzielle Voraussetzungen für eine Wiederbe­

lebung der Zeitschrift THEATER DER ZEIT zu schaffen. Das ist nur

möglich mit einem starken Verein, einer breiten Mitgliederbasis vor

allem in den neuen Bundesländern.

Werdet Mitglied in der "interessengemeinschaft theater der zeit e.v.

berlin", werbt Mitglieder im Kollegen- und Freundeskreis.

Der Beitritt kann mit anhängendem VordrucK, ab~ auch formlos bean­

tragt werden.

Ich bitte um Au~nahme in die

"interessengemeinschaft theater der zeit e.v. berlin"

Ich bin mit de~ Zahlung des jähr~ichen Mitgliedsbeitrags von 60,-- DM

einverstanden I icn werde als förderndes Mitglied jährlich ........ .

zahlen.

Name:

Adresse:

Beruf/Tätigkeit/Arbeitsstelle:

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Dramaturgische Gesellschaft Tempelhafer Ufer 22 · D-1000 Berlin 61 ·Telefon 030/216 30 43

Berlin, 15. Juni 1992

Eigenständigkeit für rrhenschel SCHAUSPIELrr

Die DRAMATURGISCHE GESELLSCHAFT fordert die Treuhand auf,

die wegen angeblicher Verquickung mit PDS-Vermogen vollzoge­

ne Übernahme von henschel SCHAUSPIEL rückgängig zu machen

und der Geschäftsführung wieder das Recht zur eigenständigen

Arbeit einzuräumen, weil sonst die Gefahr immer größer wird,

daß diese in der ehemaligen DDR einmalige Selbst-Initiative

von Autoren, Übersetzern und Verlegern durch die anhaltende

Beeinträchtigung der Arbeit in einem wichtigen Stadium der

Entw~cklung und Bewährung zum Erliegen gebracht wird. Es ist

eine groteske Widersinnigkeit, daß eine der frühesten ·markt­

wirtschaftlichen Veränderungen im Kulturbereich gerade von

der Treuhand in ihren Entfaltungsmöglichkeiten behindert und

geschädigt wird.

Dr. Kldus Pierwoß

Vorsitzender der DRAMATURGISCHEN GESELLSCHAFT und Chefdramaturg am Maxim Gorki Theater Berlin

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An die Dramaturgie u

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ein neuer Theaterverlag stellt sich vor!

"Das Theater braucht neue Impulse!" "Es gibt keine guten Stücke!" "Die Stücke sind zu lang, zu kurz, zu traurig, zu lustig, zu klein, zu groß .. ." "Sie werden erst gar nicht gelesen!"

u n t e

Der Theaterverlag.

h n e A- 1080 Wien

lenougosse l o Tel. 0222/403 58 27 FAX 0222/403 80 l 0

Wien, im Mai 1992

Der Verlag "Bunte Bühne" wird diese bestehenden Widersprüche nicht lösen, aber er wird die Theaterlandschaft um einige neue Stücke bereichern. Er wird unter anderem die Verbindung sein zwischen Off-Szene und arriviertem Theater. Theaterstücke, die in/für Freie Gruppen entstehen, sollen als Stücke erhalten und nachgespielt werden. Uraufführungen neuer Autorinnen sind uns ein Anliegen, satirisches Theater, heutige Kinder- und Jugendstücke zwei unserer Schwerpunkte.

Wir freuen uns auf gute Zusammenarbeit, mit freundlichen Grüßen

Barbara Klein Verlag Bunte Bühne

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M I T G L I E 0 E R

Neue Mitglieder 1991

Beatrice Arnim, Oieffenbachstraße 37, 1000 Berlin 61

Matthias Baier, Jahnstraße 47, 8670 Hof

Ralf Barth, Gleditschstraße 46, 1000 Berlin 30

Theresia Birkenhauer, Ludwigkirchplatz 2, 1000 Berlin 15

Wolfgang Bleul, Möllnerstraße 14, 2418 Ratzeburg

Regina Brauer, Waldbaumstraße 20, 0 - 7024 Leipzig

Brigitte Bruch, Geisbergstraße 12-13, 1000 Berlin 30

Wolf Bunge, Otto-von-Guericke-Straße 64, 3010 Magdeburg

Petra Busch, Plantage 12, 1000 Berlin 20

Wolfgang Caspar, Hauptstraße 98, 5000 Köln 50

Marina Oalügge, Flemingstraße 9, 1000 Berlin 21

Ekkehard Dennewitz, Biegenstraße 15, 3550 Marburg

Bernhard Oittmar, Thälmannstraße 46/48, 0 - 1330 Schwedt

Martina Oöcker, Im Wäger 24, 7400 Tübingen-Untergiesingen

Mira Ebert, Stadtpromenaden 11, 0 - 7500 Cottbus

Michael Eccarius, K.-Fischer-Straße 7b, 0 - 9002 Chemnitz

Thomas Eifler, Präsidentstraße 2, 4630 Bochum

Erika Eller, Bundesallee 82, 1000 Berlin 41

Cassius Elste, Ilbenstädter Straße 4, 6000 Frankfurt/M. 60

Eva-Maria Entreß, Willibald-Alexis-Straße 32, 1000 Berlin 61

Nikola Eterovit, Turmstraße 47a, 1000 Berlin 21

Wolfgang Eysold,A.-Bebel-Straße 2, 0 - 4900 Zeitz

Volker Fleige, Salzweg 11, 5750 Menden

Inge Harms, Breite Straße 155b, 4040 Neuss 1

Rüdiger Hillmer, Donaustraße 101, 1000 Berlin 44

Daniela Holdegel, Bergstraße 64, 0 - 2757 Schwerin

Christine Janssen, Motzstraße 22, 1000 Berlin 30

Stefan Kolowski, Gempener Straße 15, CH-4053 Basel

Dr.Wolfgang Kröplin, Mansfelder Weg 30, 0 - 7033 Leipzig

Franziska Kutscheva, Eichendorff-Straße 10, 6000 Frankfurt/M. 1

Christoph Lehnert, Josephstraße 38/40, 5000 Köln 1

Konstanze Mach-Meyerhofer, Schweriner Ring 15, 0 - 1095 Berlin

Bettina Masuch, TAT, Eschersheimer Landstraße 2,Frankf./Main 1

Isolde Matkey, Comeniusstraße 14a, 0 - 8019 Dresden

Marita Müller, Herloßsohnstraße 13, 0 - 7022 Leipzig

Arne Mutert, Kufsteinerstraße 22, 1000 Berlin 62

Ilse Nickel, Greifswalder Straße 209, 0 - 1055 Berlin

Dr.sc.Helmut Pollow, Schönfließer Straße 14, 0 - 1071 Berlin

Regine Rempel, Warthestraße 5, 1000 Berlin 44

Eva Renzi, Winklerstraße 28, 1000 Berlin 33

Johannes Richter, Hertelstraße 44, 0 - 8019 Dresden

Andreas Röhler, Baerwaldstraße 4, 1000 Berlin 61

Barbara Rüster, Hähne1straBe 18, 1000 Berlin 41

Gertrude Schareck, Crivitzer Straße 26, 0 - 1090 Berlin

Susanne Stetzuhn, Treptower Straße 13, 1000 Berlin 44

Ursula Thoket, Badgasse 49, CH - 3011 Bern

Prof. Dr.sc. Jochanan-Christoph Trilse-Finkelstein,

PSF 20, 0 - 1130 Berlin

Susanne Karin Willke, Vierländer Damm 32, 2000 Harnburg 26

Kraft-Eike Wrede, Ilmenauer Straße 3, 1000 Berlin 33

Dramaturgie der Oper Leipzig, Augustusplatz 12, 0 - 7010 Leipzig

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Ausgeschiedene Mitglieder 1991

Prof.Dr.Jan Berg, Nassauische Straße 61, 1000 Berlin 31

Dagmar Bexel-Schlunk, Akazienstraße 11, 3000 Hannover 1

Prof.Dr.Jutta Brückner, Nassauische Straße 36, 1000 Berlin 31

Roland Erne, Halden 22, CH-5000 Aarau

Hartmut Faustmann, Weißenseestraße 83, 8000 München 90

Dr.Günther Fuhrmann, Rossbrunnstraße 2, 8720 Schweinfurt

Herbert Greweling, Bachstraße 15, 4400 Münster

Dr.Dietrich Gronau, Offenbacher Straße 8, 1000 Berlin 33

Caspar Harlan, Mindener Straße 13, 1000 Berlin 10

Eva Halter-Arend, Haslistraße 4, CH-5630 Muri

Dr.Falk Harnack - verstorben

Dagmar von Hoff, Kielortallee 16, 2000 Harnburg 13

Wend Kässens, Clemens-Cassel-Straße 19, 3100 Celle

Hellmuth Kirchammer, Feilitzsch-Straße 14, 8000 München 40

Dr. Tebbe Harms Kleen, Theaterstraße 21, 8700 Würzburg

Verona Knüdeler, Seester Straße 35, 4400 Münster

Gabriele Lauser-Winkler, Grafenberger Allee 245, 4000 Düsseldorf

Ralf Lehnhardt, Grubachweg 7, 8990 Lindau (Bodensee)

Dr.Karin Vivian Obrecht-Wolfgang, Tietzestraße 2/21/8, 1220 Wien

Angela von Podewils, Barckhausenstraße 11, 2120 Lüneburg

Elke Pressler, Eilenau 15, 2000 Harnburg 76

Uwe Pierstorff - verstorben

Heinrich Riemenschneider, Nelly-Sachs-Str.13, 4000 Düsseldorf 30

Norbert Schultze, Humboldtstraße 9, 1000 Berlin 33

Ingrid Seyfried - verstorben

Prof.Dr.Peter Simhandl, Reiherbeize 57, 1000 Berlin 37

Dr.Thomas Trabitsch, Anten Langergasse 23/II/5, A-1130 Wien

Gerhard Wolfram - verstorben

Heinz-Ulrich Wünsch, Markelfstraße 19, 7760 Radelfzell

Ingrid Zander, Am Wittberg 9, 5190 Stolberg-Schevenhütte