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Der 'Linke Radikalismus', die Kinderkrankheit im Kommunismus Buecher/Lenin/PDF/Lenin, Der Linke... · Wie gut schrieb Karl Kautsky doch vor 18 Jahren! II. Eine der Grundbedingungen

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W.I. LeninDer "Linke Radikalismus", die Kinderkrankheit im Kommunismus1

(1920)

Inhalt:I. In welchem Sinne kann man von der internationalen

Bedeutung der russischen Revolution sprechen? 4II. Eine der Grundbedingungen des Erfolges der Bolschewiki 7III. Die Hauptetappen in der Geschichte des Bolschewismus 10IV. Im Kampf mit welchen Feinden innerhalb der

Arbeiterbewegung hat sich der Bolschewismus entwickelt,gekräftigt und gestählt? 19

V. Der "linke" Kommunismus in Deutschland 30 Führer - Partei - Klasse - Masse 30

VI. Sollen Revolutionäre in den reaktionären Gewerkschaften arbeiten? 39

VII. Soll man sich an den bürgerlichen Parlamenten beteiligen 54VIII. Keinerlei Kompromisse? 64IX. Der "linke" Kommunismus in England 77

1 Das Buch "Der 'linke Radikalismus', die Kinderkrankheit im Kommunismus"schrieb Lenin im April und Mai 1920, den Nachtrag am 12. Mai 1920. Im Druckerschien es am 12. Juni 1920 in russischer Sprache und im Juli in deutscher,französischer und englischer Sprache. Lenin beaufsichtigte selbst Satz undDruck des Buches, damit es bereits vor Eröffnung des II. Kongresses derKommunistischen Internationale erscheinen konnte. Es wurde an alleDelegierten des II. Kongresses verteilt. Die wichtigsten Thesen undSchlussfolgerungen dieses Buches bildeten die Grundlage für die Beschlüsse desII. Kongresses der Komintern.In der zweiten Hälfte des Jahres 1920 wurde das Buch deutsch in Leipzig, Berlinund Hamburg, französisch in Paris, englisch in London und New York, unditalienisch in Mailand herausgegeben.Im Manuskript des Buches "Der 'linke Radikalismus', die Kinderkrankheit imKommunismus" findet sich der Untertitel "(Versuch einer populären Darstellungder marxistischen Strategie und Taktik)". In allen Ausgaben zu Lebzeiten Leninswurde dieser Untertitel weggelassen. Im vorliegenden Band wird das Werk nachder ersten russischen Ausgabe veröffentlicht, deren Korrektur Lenin selbstbesorgt hat.

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X. Einige Schlussfolgerungen 97NachtragI. Die Spaltung der deutschen Kommunisten 114II. Die Kommunisten und die Unabhängigen in Deutschland

117III. Turati und Co. in Italien 120IV. Falsche Schlüsse aus richtigen Voraussetzungen 122V. Ein Brief Wijnkoops 128

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I. In welchem Sinne kann man von der internationalen Bedeutung der russischen Revolution sprechen?

In den ersten Monaten nach der Eroberung der politischen Machtdurch das Proletariat in Russland (25.Oktober/7.November 1917)konnte es scheinen, dass infolge der ungeheuren Unterschiedezwischen dem rückständigen Russland und den fortgeschrittenenwesteuropäischen Ländern die Revolution des Proletariats in diesenLändern der unsern sehr wenig ähnlich sein werde. Jetzt liegt unsbereits eine recht beträchtliche internationale Erfahrung vor, die mitvoller Bestimmtheit erkennen lässt, dass einige Grundzüge unsererRevolution nicht örtliche, nicht spezifische nationale, nichtausschließlich russische, sondern internationale Bedeutung haben.Ich spreche hier von internationaler Bedeutung nicht im weitenSinne des Wortes: Im Sinne der Einwirkung unserer Revolution aufalle Länder sind nicht einige, sondern alle ihre Grundzüge und vieleihrer sekundären Züge von internationaler Bedeutung. Nein, ichspreche davon im engsten Sinne des Wortes, d.h., versteht manunter internationaler Bedeutung, dass das, was bei uns geschehenist, internationale Geltung hat oder sich mit historischerUnvermeidlichkeit im internationalen Maßstab wiederholen wird,so muss man einigen Grundzügen unserer Revolution eine solcheBedeutung zuerkennen.

Natürlich wäre es ein großer Fehler, diese Wahrheit zuübertreiben und sie auf mehr als einige Grundzüge unsererRevolution auszudehnen. Ebenso wäre es verfehlt, außer acht zulassen, dass nach dem Sieg der proletarischen Revolution, sei esauch nur in einem der fortgeschrittenen Länder, allerWahrscheinlichkeit nach ein jäher Umschwung eintreten, dassnämlich Russland bald danach nicht mehr ein vorbildliches,sondern wieder ein (im "sowjetischen" und im sozialistischenSinne) rückständiges Land sein wird.

Aber im gegebenen historischen Zeitpunkt liegen die Dinge nuneinmal so, dass das russische Vorbild allen Ländern etwas, undzwar etwas überaus Wesentliches aus ihrer unausweichlichen und

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nicht fernen Zukunft zeigt. Die fortgeschrittenen Arbeiter allerLänder haben das längst begriffen - noch häufiger freilich haben siees nicht so sehr begriffen als vielmehr mit dem Instinkt derrevolutionären Klasse erfasst, empfunden. Daher die internationale"Bedeutung" (im engen Sinne des Wortes) der Sowjetmacht undebenso der Grundlagen der bolschewistischen Theorie und Taktik.Nicht begriffen haben das die "revolutionären" Führer der II.Internationale vom Schlage Kautskys in Deutschland, Otto Bauersund Friedrich Adlers in Österreich, die sich deshalb auch alsReaktionäre, als Verteidiger des schlimmsten Opportunismus undSozialverrats erwiesen haben.

Unter anderem zeigt die 1919 in Wien anonym erschieneneBroschüre "Weltrevolution" (Sozialistische Bücherei, Heft 11, beiIgnaz Brand) besonders anschaulich den ganzen Gedankengang undden ganzen Gedankenkreis, richtiger gesagt, den ganzen Abgrundvon Unverstand, Pedanterie, Gemeinheit und Verrat an denInteressen der Arbeiterklasse und das alles unter der Marke"Verteidigung der Idee der 'Weltrevolution'".

Aber auf diese Broschüre werden wir ein andermal ausführlicherzurückkommen müssen. Hier wollen wir nur noch eineshervorheben. In den längst vergangenen Zeiten, als Kautsky nochein Marxist war und kein Renegat, ging er an die Frage alsHistoriker heran und sah voraus, dass eine Situation eintretenkönne, in welcher der Revolutionismus des russischen Proletariatszum Vorbild für Westeuropa werden würde. Das war im Jahre 1902,als Kautsky in der revolutionären 'Iskra' den Artikel "Die Slawen

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und die Revolution" veröffentlichte. Man lese, was er in diesemArtikel schrieb:

»Heute [im Gegensatz zum Jahre 1848] scheint es jedoch, alsseien die Slawen nicht bloß in die Reihe der revolutionärenVölker eingetreten, sondern als verschiebe sich der Schwerpunktdes revolutionären Denkens und Wirkens immer mehr nach denSlawen zu. Das revolutionäre Zentrum wandert von West nachOst. In der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts war es inFrankreich, zeitweise in England, 1848 trat auch Deutschland indie Reihe der revolutionären Nationen ein ... Das neueJahrhundert jedoch beginnt unter Erscheinungen, die denGedanken nahe legen, dass wir einer weiteren Verschiebung desrevolutionären Zentrums entgegengehen, und zwar einerVerschiebung nach Russland hin ... Russland, das so vielerevolutionäre Anregungen von dem Westen empfangen, istvielleicht jetzt daran, auch seinerseits revolutionäre Anregungenzu geben. Das Aufflammen der russischen revolutionärenBewegung wird vielleicht das kraftvollste Mittel sein, jenen Geistdes weichlichen Philistertums und kühlen Staatsmannstums zubannen, der in unseren Reihen sich breitzumachen beginnt, unddie Leidenschaften des Kampfes und der Begeisterung für unseregroßen Ideale wieder hoch emporlodern zu lassen. Russland hatlängst aufgehört, für Westeuropa ein bloßer Hort der Reaktionund des Absolutismus zu sein. Das Verhältnis kehrt sich jetztvielmehr um. Westeuropa wird der Hort der Reaktion und desAbsolutismus in Russland ... Mit dem Zaren wären dieRevolutionäre Russlands vielleicht schon längst fertig geworden,wenn sie nicht gleichzeitig gegen seinen Bundesgenossen zukämpfen hätten, das europäische Kapital. Hoffentlich gelingt esihnen diesmal, beide Feinde niederzuringen, so dass derenunheilige Allianz rascher zusammenbricht als ihre Vorgängerin.Aber wie immer der jetzige Kampf in Russland enden möge, dasBlut und das Lebensglück der Märtyrer, das er leider nur zureichlich fordern dürfte, wird nicht umsonst dahingegebenwerden. Es wird die Saat der sozialen Umwälzung in der ganzenzivilisierten Welt befruchten und sie reicher und rascher in die

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Halme schießen lassen. Die Slawen waren 1848 der eisige Frost,der die Blüten des Völkerfrühlings tötete. Vielleicht ist es ihnenbeschieden, nun zum Föhnsturm zu werden, der das Eis derReaktion zum Bersten bringt und einen neuen, glücklichenVölkerfrühling mit Macht herbeiführt.« (Karl Kautsky, "DieSlawen und die Revolution", 'lskra', russischesozialdemokratische revolutionäre Zeitung, Nr. 18 vom 10. März1902.)2

Wie gut schrieb Karl Kautsky doch vor 18 Jahren!

II. Eine der Grundbedingungen des Erfolges der Bolschewiki

Sicherlich sieht jetzt schon fast jeder, dass die Bolschewiki dieMacht keine 2½ Monate, geschweige denn 2½ Jahre hättenbehaupten können ohne die strengste, wahrhaft eiserne Disziplin inunserer Partei, ohne die vollste und grenzenlose Unterstützung derPartei durch die gesamte Masse der Arbeiterklasse, d.h. durch alledenkenden, ehrlichen, selbstlosen, einflussreichen Menschen dieserKlasse, die fähig sind, die rückständigen Schichten zu führen odermit sich fortzureißen.

Die Diktatur des Proletariats [basisdemokratische Commune] istder aufopferungsvollste und schonungsloseste Krieg der neuenKlasse gegen einen mächtigeren Feind, gegen die Bourgeoisie,deren Widerstand sich durch ihren Sturz (sei es auch nur in einemLande) verzehnfacht und deren Macht nicht nur in der Stärke desinternationalen Kapitals, in der Stärke und Festigkeit derinternationalen Verbindungen der Bourgeoisie besteht, sondernauch in der Macht der Gewohnheit, in der Stärke derKleinproduktion. Denn Kleinproduktion gibt es auf der Welt leidernoch sehr, sehr viel; die Kleinproduktion aber erzeugt unausgesetzt,täglich, stündlich, elementar und im Massenumfang Kapitalismusund Bourgeoisie. Aus allen diesen Gründen ist die Diktatur desProletariats notwendig, und der Sieg über die Bourgeoisie ist

2 Deutscher Originaltext siehe "Märzfeier 1902", Festschrift der WienerVolksbuchhandlung Ignaz Brand zum Gedenktag der Revolution von 1848. DerÜbers.

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unmöglich ohne einen langen, hartnäckigen, erbitterten Krieg aufLeben und Tod, einen Krieg, der Ausdauer, Disziplin, Festigkeit,Unbeugsamkeit und einheitlichen Willen erfordert.

Ich wiederhole, die Erfahrungen der siegreichen Diktatur desProletariats in Russland haben denen, die nicht zu denken verstehenoder nicht in die Lage kamen, über diese Frage nachzudenken,deutlich gezeigt, dass unbedingte Zentralisation und strengsteDisziplin des Proletariats eine der Hauptbedingungen für den Siegüber die Bourgeoisie sind.

Davon wird häufig gesprochen. Es wird aber lange nicht genugdarüber nachgedacht, was das bedeutet, unter welchenBedingungen das möglich ist. Sollte man nicht lieber die derSowjetmacht und den Bolschewiki gezollten Beifallskundgebungenhäufiger mit einer sehr ernsten Analyse der Ursachen verknüpfen,die bewirkten, dass die Bolschewiki die für das revolutionäreProletariat notwendige Disziplin schaffen konnten?

Als Strömung des politischen Denkens und als politische Parteibesteht der Bolschewismus seit dem Jahre 1903. Nur dieGeschichte des Bolschewismus in der ganzen Zeit seines Bestehensvermag befriedigend zu erklären, warum er imstande war, die fürden Sieg des Proletariats notwendige eiserne Disziplin zu schaffenund sie unter den schwierigsten Verhältnissen aufrechtzuerhalten.

Und da taucht vor allem die Frage auf: wodurch wird dieDisziplin der revolutionären Partei des Proletariatsaufrechterhalten? wodurch wird sie kontrolliert? wodurch gestärkt?

Erstens durch das Klassenbewusstsein der proletarischenAvantgarde und ihre Ergebenheit für die Revolution, durch ihreAusdauer, ihre Selbstaufopferung, ihren Heroismus.

Zweitens durch ihre Fähigkeit, sich mit den breitesten Massen derWerktätigen, in erster Linie mit den proletarischen, aber auch mitden nichtproletariscben werktätigen Massen zu verbinden, sichihnen anzunähern, ja, wenn man will, sich bis zu einem gewissenGrade mit ihnen zu verschmelzen.

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Drittens durch die Richtigkeit der politischen Führung, die vondieser Avantgarde verwirklicht wird, durch die Richtigkeit ihrerpolitischen Strategie und Taktik, unter der Bedingung, dass sich diebreitesten Massen durch eigene Erfahrung von dieser Richtigkeitüberzeugen.

Ohne diese Bedingungen kann in einer revolutionären Partei, diewirklich fähig ist, die Partei der fortgeschrittenen Klasse zu sein,deren Aufgabe es ist, die Bourgeoisie zu stürzen und die ganzeGesellschaft umzugestalten, die Disziplin nicht verwirklichtwerden. Ohne diese Bedingungen werden die Versuche, eineDisziplin zu schaffen, unweigerlich zu einer Fiktion, zu einerPhrase, zu einer Farce. Diese Bedingungen können aber anderseitsnicht auf einmal entstehen. Sie werden nur durch langes Bemühen,durch harte Erfahrung erarbeitet; ihre Erarbeitung wird erleichtertdurch die richtige revolutionäre Theorie, die ihrerseits kein Dogmaist, sondern nur in engem Zusammenhang mit der Praxis einerwirklichen Massenbewegung und einer wirklich revolutionärenBewegung endgültige Gestalt annimmt.

Wenn der Bolschewismus in den Jahren 1917-1920 unter unerhörtschweren Bedingungen die strengste Zentralisation und eine eiserneDisziplin schaffen und erfolgreich verwirklichen konnte, so liegtdie Ursache dafür ganz einfach in einer Reihe historischerBesonderheiten Russlands.

Einerseits ist der Bolschewismus im Jahre 1903 auf der festenGrundlage der marxistischen Theorie entstanden. Dass aber diese -und nur diese - revolutionäre Theorie richtig ist, haben nicht nur dieinternationalen Erfahrungen des ganzen 19. Jahrhunderts, sonderninsbesondere auch die Erfahrungen mit den Irrungen undWirrungen, mit den Fehlern und Enttäuschungen des revolutionärenDenkens in Russland bewiesen. Im Laufe ungefähr eines halbenJahrhunderts, etwa von den vierziger und bis zu den neunzigerJahren des vorigen Jahrhunderts, suchte das fortschrittliche Denkenin Russland, unter dem Joch des unerhört barbarischen undreaktionären Zarismus, begierig nach der richtigen revolutionärenTheorie und verfolgte mit erstaunlichem Eifer und Bedacht jedes

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"letzte Wort" Europas und Amerikas auf diesem Gebiet. DenMarxismus als die einzig richtige revolutionäre Theorie hat sichRussland wahrhaft in Leiden errungen, durch ein halbesJahrhundert unerhörter Qualen und Opfer, beispiellosenrevolutionären Heldentums, unglaublicher Energie undhingebungsvollen Suchens, Lernens, praktischen Erprobens, derEnttäuschungen, des Überprüfens, des Vergleichens mit denErfahrungen Europas. Dank dem vom Zarismus aufgezwungenenEmigrantenleben verfügte das revolutionäre Russland in derzweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über eine solche Fülle voninternationalen Verbindungen, aber eine so vortreffliche Kenntnisaller Formen und Theorien der revolutionären Bewegung der Weltwie kein anderes Land auf dem Erdball.

Anderseits hatte der Bolschewismus, der auf dieser granitnentheoretischen Grundlage entstanden war, eine fünfzehnjährige(1903-1917) praktische Geschichte hinter sich, die an Reichtum derErfahrung nicht ihresgleichen kennt. Denn kein anderes Land hattein diesen 15 Jahren auch nur annähernd soviel durchgemacht anrevolutionärer Erfahrung, an rapidem und mannigfaltigem Wechselder verschiedenen Formen der Bewegung: der legalen undillegalen, der friedlichen und stürmischen, der unterirdischen undoffenen, der Zirkelarbeit und der Massenarbeit, derparlamentarischen und der terroristischen Form der Bewegung. Inkeinem anderen Lande war in einem so kurzen Zeitraum ein solcherReichtum an Formen, Schattierungen und Methoden des Kampfesaller Klassen der modernen Gesellschaft konzentriert gewesen, undzwar eines Kampfes, der infolge der Rückständigkeit des Landesund des schweren Jochs des Zarismus besonders schnell heranreifteund sich besonders begierig und erfolgreich das entsprechende"letzte Wort" der amerikanischen und europäischen politischenErfahrungen zu eigen machte.

III. Die Hauptetappen in der Geschichte des Bolschewismus

Die Jahre der Vorbereitung der Revolution (1903-1905). Überallist das Nahen des großen Sturmes zu spüren. In allen Klassen

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Gärung und Vorbereitung. Die Emigrantenpresse im Ausland wirfttheoretisch eilig Grundfragen der Revolution auf. Die Vertreter derdrei Hauptklassen, der drei wichtigsten politischen Strömungen -der bürgerlich-libera!en, der kleinbürgerlich-demokratischen (diesich hinter den Aushängeschildern der "sozial-demokratischen" undder "sozial-revolutionären" Richtung verbirgt) und der proletarisch-revolutionären -, nehmen im äußerst erbitterten Kampf derprogrammatischen und taktischen Auffassungen den kommendenoffenen Kampf der Klassen vorweg und bereiten ihn vor.

Alle Fragen, um derentwillen der bewaffnete Kampf der Massen

in den Jahren 1905-1907 und 1917-1920 geführt wurde, kann(und soll) man, in ihrer Keimform, an Hand der damaligen Presseverfolgen. Und zwischen den drei Hauptrichtungen gibt es natürlicheine Unmenge Zwischen-, Übergangs- und Halbgebilde. Richtiger:im Kampf der Presseorgane, Parteien, Fraktionen und Gruppenkristallisieren sich jene ideologischen und politischen Richtungenheraus, die wirklich klassenmäßig bestimmt sind; die Klassenschmieden sich die nötigen ideologischen und politischen Waffenfür die kommenden Schlachten.

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Demonstration am 17. Oktober 1905Gemälde von Ilya Repin 1906

Die Jahre der Revolution (1905-1907). Alle Klassen treten offenauf. Alle programmatischen und taktischen Auffassungen werdendurch die Aktion der Massen erprobt. Streikkämpfe von niedagewesener Ausdehnung und Heftigkeit. Hinüberwachsen deswirtschaftlichen Streiks in den politischen und des politischenStreiks in den Aufstand. Praktische Erprobung derWechselbeziehungen zwischen dem führenden Proletariat und derzu führenden, schwankenden, unbeständigen Bauernschaft. In derelementaren Entwicklung des Kampfes entsteht dieOrganisationsform der Sowjets.

Die damaligen Auseinandersetzungen über die Bedeutung derSowjets nehmen den großen Kampf von 1917 bis 1920 vorweg.Der Wechsel der parlamentarischen und deraußerparlamentarischen Kampfformen, der Taktik des Boykotts desParlamentarismus und der Taktik der Beteiligung am

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Parlamentarismus, der legalen und der illegalen Kampfformensowie ihre gegenseitigen Beziehungen und Zusammenhänge - allesdas zeichnet sich durch einen erstaunlichen Reichtum des lnhaltsaus. Jeder Monat dieser Periode kam, was die Unterweisung derMassen wie der Führer, der Klassen wie der Parteien in denGrundkenntnissen der politischen Wissenschaft betrifft, einem Jahr"friedlicher" "konstitutioneller" Entwicklung gleich. Ohne die"Generalprobe" von 1905 wäre der Sieg der Oktoberrevolution1917 nicht möglich gewesen.

Barrikade, Nowgorod 1905

Die Jahre der Reaktion (1907-1910). Der Zarismus hat gesiegt.Alle revolutionären und oppositionellen Parteien sind geschlagen.Niedergang, Demoralisation, Spaltungen, Zerfahrenheit,Renegatentum, Pornographie an Stelle der Politik. Verstärkter Hangzum philosophischen Idealismus; Mystizismus als Hüllekonterrevolutionärer Stimmungen. Gleichzeitig aber erteilt geradedie große Niederlage den revolutionären Parteien und derrevolutionären Klasse eine wirkliche und überaus nützlicheLektion, eine Lektion in geschichtlicher Dialektik, eine Lektionüber das Verständnis, die Fähigkeit und die Kunst, den politischen

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Kampf zu führen. Freunde erkennt man im Unglück. GeschlageneArmeen lernen gut.

Der siegreiche Zarismus ist gezwungen, die Überreste dervorbürgerlichen, patriarchalischen Lebensformen in Russland inbeschleunigtem Tempo zu zerstören. Die bürgerliche EntwicklungRusslands schreitet erfreulich rasch vorwärts. Die Illusionen, dassman außerhalb der Klassen, über den Klassen stehen könne, dieIllusionen, dass es möglich sei, den Kapitalismus zu vermeiden,zerstieben wie Spreu im Winde. Der Klassenkampf tritt auf ganzneue Art und umso deutlicher in Erscheinung.

Revolutionäre Parteien müssen stets zulernen. Sie haben gelerntanzugreifen. Jetzt gilt es zu begreifen, dass diese Wissenschaftergänzt werden muss durch die Wissenschaft, wie man sich richtigzurückzieht. Es gilt zu begreifen - und die revolutionäre Klasselernt aus eigener bitterer Erfahrung begreifen - dass man nichtsiegen kann, wenn man nicht gelernt hat, richtig anzugreifen undsich richtig zurückzuziehen. Von allen geschlagenenoppositionellen und revolutionären Parteien haben sich dieBolschewiki in größter Ordnung zurückgezogen, mit geringstenVerlusten für ihre "Armee", bei größter Erhaltung ihres Kerns, untergeringsten Spaltungen (ihrer Tiefe und Unheilbarkeit nach),geringster Demoralisation und größter Fähigkeit, die Arbeitmöglichst umfassend, richtig und energisch wiederaufzunehmen.Und die Bolschewiki haben das nur erreicht, weil sie dieRevolutionäre der Phrase schonungslos entlarvten und davonjagten,die nicht begreifen wollten, dass man den Rückzug antreten und esverstehen muss, den Rückzug durchzuführen, dass man unbedingtlernen muss, selbst in den reaktionärsten Parlamenten, in denreaktionärsten Gewerkschaften, Genossenschaften,Versicherungskassen und ähnlichen Organisationen legal zuarbeiten.

Die Jahre des Aufschwungs (1910-1914). Anfänglich vollzog sichder Aufschwung unglaublich langsam, später, nach den Ereignissenan der Lena im Jahre 1912, etwas schneller. Unter Überwindungunerhörter Schwierigkeiten drängten die Bolschewiki die

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Menschewiki zurück, deren Rolle als bürgerliche Agenten in derArbeiterbewegung von der gesamten Bourgeoisie nach 1905ausgezeichnet verstanden wurde und die deshalb von der gesamtenBourgeoisie auf tausendfache Art und Weise gegen die Bolschewikiunterstützt wurden. Den Bolschewiki wäre es jedoch niemalsgelungen, das zu erreichen, hätten sie nicht die richtige Taktikangewandt, die illegale Arbeit mit unbedingter Ausnutzung der"legalen Möglichkeiten" zu verbinden. In der erzreaktionärenDuma eroberten die Bolschewiki die ganze Arbeiterkurie.

Der erste imperialistische Weltkrieg (1914-1917). Der legaleParlamentarismus leistet der Partei des revolutionären Proletariats,den Bolschewiki, infolge des Umstands, dass das "Parlament"äußerst reaktionär ist, überaus nützliche Dienste. Diebolschewistischen Deputierten wandern nach Sibirien. In unsererEmigrantenpresse kommen alle Schattierungen der Auffassungendes Sozialimperialismus, des Sozialchauvinismus, desSozialpatriotismus, des inkonsequenten und des konsequentenInternationalismus, des Pazifismus und der revolutionärenAblehnung der pazifistischen Illusionen voll zum Ausdruck. Diegelehrten Dummköpfe und alten Weiber der II. Internationale, dieüber die Unmenge von "Fraktionen" im russischen Sozialismus undüber den erbitterten Kampf unter ihnen verächtlich und hochmütigdie Nase gerümpft hatten, waren, als der Krieg sie in allenfortgeschrittenen Ländern der vielgepriesenen "Legalität" beraubte,unfähig, auch nur annähernd einen so freien (illegalen)Meinungsaustausch und eine so freie (illegale) Herausarbeitung derrichtigen Auffassungen zu organisieren, wie das die russischenRevolutionäre in der Schweiz und in einer Reihe anderer Ländergetan haben. Gerade deshalb haben sich sowohl die offenenSozialpatrioten als auch die "Kautskyaner" aller Länder als dieschlimmsten Verräter des Proletariats erwiesen. Und wenn derBolschewismus in den Jahren 1917-1920 zu siegen vermochte, soliegt eine der Hauptursachen dieses Sieges darin, dass derBolschewismus die Widerwärtigkeit, Schändlichkeit undNiedertracht des Sozialchauvinismus und des "Kautskyanertums"

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(dem die Richtung Longuets3 in Frankreich, die Ansichten derFührer der Unabhängigen Arbeiterpartei4 und der Fabier5 inEngland, Turatis in Italien usw. entsprechen) bereits seit Ende 1914schonungslos entlarvte, die Massen aber sich nachher durch eigeneErfahrung immer mehr davon überzeugten, dass die Auffassungender Bolschewiki richtig waren.

Die zweite Revolution in Russland (von Februar bis Oktober1917). Der unglaublich überalterte und überlebte Zarismus hatte(mit Hilfe der Schläge und Lasten des äußerst qualvollen Krieges)eine ungeheure Kraft der Zerstörung erzeugt, die sich gegen ihnrichtete. In wenigen Tagen verwandelte sich Russland in einedemokratische bürgerliche Republik, die - unter den Verhältnissendes Krieges - freier war als ein beliebiges anderes Land der Welt.Die Regierung wurde nun - wie in den ausgesprochen "streng

3 Richtung Longuets - eine zentristische Minderheit, die sich 1915 in derfranzösischen Sozialistischen Partei herausbildete.

Während des ersten Weltkriegs vertraten die Longuetisten einensozialpazifistschen Standpunkt. Nach dem Sieg der Großen SozialistischenOktoberrevolution in Russland bekannten sie sich zwar in Worten zur Diktaturdes Proletariats, blieben ihr aber in Wirklichkeit feindlich gesinnt. Sie setzten diePolitik der Versöhnung mit den Sozialchauvinisten fort und billigten denRaubfrieden von Versailles. Als die revolutionäre Mehrheit auf dem Parteitag inTours (Dezember 1920) die Gründung der Kommunistischen Partei und denAnschluss an die Kommunistische Internationale beschloss, spalteten sich dieLonguetisten zusammen mit den offenen Reformisten von der Partei ab undbildeten eine selbständige Partei.

4 Die Unabhängige Arbeiterpartei Englands (Independent Labour Party) wurde1893 gegründet. An der Spitze der Partei standen James Keir Hardie, R.MacDonald und andere. Sie erhob Anspruch auf politische Unabhängigkeit vonden bürgerlichen Parteien, war jedoch in Wirklichkeit »'unabhängig' nur vomSozialismus, aber vom Liberalismus sehr abhängig" (Lenin).

5 Fabier - Mitglieder der "Gesellschaft der Fabier", einer reformistischenOrganisation, die 1884 in England von einer Gruppe bürgerlicher Intellektuellergegründet worden war. Eine Charakteristik der Fabier findet sich in folgendenSchriften Lenins: "Vorwort zur russischen Übersetzung des Buches 'Briefe undAuszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietzgen, Friedrich Engels, KarlMarx u. A. an F.A. Sorge und Andere'" (Werke, Bd. 12, S. 368/369); "DasAgrarprogramm der Sozialdemokratie in der russischen Revolution" (Werke, Bd.15, S. 171); "Der englische Pazifismus und die englische Abneigung gegen dieTheorie" (Werke, Bd. 21, S. 258) u.a.

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parlamentarischen" Republiken - von den Führern deroppositionellen und revolutionären Parteien gebildet, wobei derRuf, Führer einer Oppositionspartei im Parlament, und sei es auchin dem allerreaktionärsten Parlament, gewesen zu sein, es einemsolchen Führer erleichterte, später eine Rolle in der Revolution zuspielen.

Die Menschewiki und die "Sozialrevolutionäre" eigneten sich inwenigen Wochen alle Methoden und Manieren, alle Argumente undSophismen der europäischen Helden der II. Internationale, derMinisterialisten und des sonstigen opportunistischen Gelichtersvortrefflich an. Alles, was wir jetzt über die Scheidemänner undNoske, über Kautsky und Hilferding, über Renner und Austerlitz,über Otto Bauer und Fritz Adler, über Turati und Longuet, über dieFabier und die Führer der Unabhängigen Arbeiterpartei in Englandlesen, alles das scheint uns eine langweilige WiederhoIung, einNachleiern bekannter und alter Melodien zu sein (und ist es in derTat). Alles das haben wir schon bei den Menschewiki gesehen. DieGeschichte hat sich einen Scherz erlaubt und die Opportunisteneines rückständigen Landes genötigt, den Opportunisten einerReihe von fortgeschrittenen Ländern zuvorzukommen.

Wenn alle die Helden der II. Internationale Bankrott erlitten undsich in der Frage nach der Bedeutung und Rolle der Sowjets undder Sowjetmacht blamiert haben, wenn sich in dieser Frage dieFührer der drei jetzt aus der II. Internationale ausgetretenen sehrwichtigen Parteien (nämlich der UnabhängigenSozialdemokratischen Partei Deutschlands6, der französischenLonguetisten und der englischen Unabhängigen Arbeiterpartei)besonders "glänzend" blamiert und verheddert haben, wenn sie alle

6 Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands - im April 1917gegründete Arbeiterpartei mit zentristischer Führung, deren Kern die»Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft« bildete.

Im Oktober 1920 kam es auf dem Parteitag der USPD in Halle zur Spaltung. Einbeträchtlicher Teil der Partei vereinigte sich im Dezember 1920 mit derKommunistischen Partei Deutschlands. Der rechte Teil bildeten eine eigenePartei und behielten die alte Bezeichnung Unabhängige SozialdemokratischePartei bei. 1922 schlossen sie sich wieder der Sozialdemokratischen ParteiDeutschlands an.

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sich als SkIaven der Vorurteile der kleinbürgerlichen Demokratie(ganz im Geiste der Kleinbürger von 1848, die sich "Sozial-Demokraten" nannten) erwiesen haben, so haben wir das allesschon am Beispiel der Menschewiki gesehen. Die Geschichte hatsich den Scherz erlaubt, dass in Russland 1905 Sowjets entstanden,dass sie von Februar bis Oktober 1917 von den MenschewikiverfäIscht wurden, die Bankrott machten, weil sie die Rolle undBedeutung der Sowjets nicht zu begreifen vermochten, und dassnunmehr die Idee der Sowjetmacht in der ganzen Welt geborenworden ist und sich mit unerhörter Schnelligkeit unter demProletariat aller Länder verbreitet, wobei die alten Helden der II.Internationale infolge ihrer Unfähigkeit, die Rolle und Bedeutungder Sowjets zu begreifen, überall ebenso Bankrott machen wieunsere Menschewiki. Die Erfahrung hat bewiesen, dass in einigensehr wesentlichen Fragen der proletarischen Revolution alle Länderunvermeidlich dasselbe werden durchmachen müssen, wasRussland durchgemacht hat.

Ihren siegreichen Kampf gegen die parlamentarische (faktisch)bürgerliche Republik und gegen die Menschewiki haben dieBolschewiki sehr vorsichtig begonnen und gar nicht so einfachvorbereitet - entgegen den Auffassungen, die man jetzt mitunter inEuropa und Amerika antrifft. Zu Beginn der erwähnten Periodeforderten wir nicht zum Sturz der Regierung auf, sondern schafftenKlarheit darüber, dass ihr Sturz ohne vorherige Veränderungen inder Zusammensetzung und Stimmung der Sowjets unmöglich ist.Wir proklamierten nicht den Boykott des bürgerlichen Parlaments,der Konstituante, sondern sagten - seit der Aprilkonferenz (1917)unserer Partei sagten wir es offiziell im Namen der Partei -, dasseine bürgerliche Republik mit einer Konstituante besser ist als einesolche Republik ohne Konstituante, dass aber eine "Arbeiter- undBauernrepublik", eine Sowjetrepublik, besser ist als jedwedebürgerlich-demokratische, parlamentarische Republik. Ohne diesevorsichtige, gründliche, umsichtige und langwierige Vorbereitunghätten wir weder den Sieg im Oktober 1917 erringen noch diesenSieg behaupten können.

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IV. Im Kampf mit welchen Feinden innerhalb der Arbeiterbewegung hat sich der Bolschewismus entwickelt, gekräftigt und gestählt?

Erstens und hauptsächlich im Kampf gegen den Opportunismus,der sich 1914 endgültig zum Sozialchauvinismus auswuchs, derendgültig auf die Seite der Bourgeoisie überging und sich gegendas Proletariat wandte. Das war natürlich der Hauptfeind desBolschewismus innerhalb der Arbeiterbewegung. Dieser Feindbleibt auch der Hauptfeind im internationalen Maßstab. DiesemFeind hat der Bolschewismus stets die größte Aufmerksamkeitgewidmet und tut es auch heute. Über diese Seite der Tätigkeit derBolschewiki ist man jetzt auch im Ausland schon ziemlich gutunterrichtet.

Etwas anderes muss von einem anderen Feind desBolschewismus innerhalb der Arbeiterbewegung gesagt werden. ImAusland ist es noch allzu wenig bekannt, dass sich derBolschewismus entwickelt, formiert und gestählt hat imlangjährigen Kampf gegen den kleinbürgerlichenRevolutionarismus, der dem Anarchismus ähnelt oder manches vonihm entlehnt und der in allem, aber auch allem Wesentlichen vonden Bedingungen und Erfordernissen des konsequentenproletarischen Klassenkampfes abweicht. Theoretisch gilt es fürMarxisten als durchaus feststehend und durch die Erfahrungen allereuropäischen Revolutionen und revolutionären Bewegungenvollauf bestätigt, dass der Kleineigentümer, der Kleinbesitzer (einsozialer Typus, der in vielen europäischen Ländern sehr weit, jamassenhaft verbreitet ist), weil er unter dem Kapitalismus ständigerUnterdrückung und sehr oft einer unglaublich krassen und raschenVerschlechterung der Lebenshaltung und dem Ruin ausgesetzt ist,leicht in extremen Revolutionarismus verfällt, aber nicht fähig ist,Ausdauer, Organisiertheit, Disziplin und Standhaftigkeit an den Tagzu legen. Der durch die Schrecken des Kapitalismus "wildgewordene" Kleinbürger ist eine soziale Erscheinung, die ebensowie der Anarchismus allen kapitalistischen Ländern eigen ist. DieUnbeständigleit dieses Revolutionarismus, seine Unfruchtbarkeit,

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seine Eigenschaft, schnell in Unterwürfigkeit, Apathie undPhantasterei umzuschlagen, ja sich von dieser oder jenerbürgerlichen Modeströmung bis zur "Tollheit" fortreißen zu lassen -all das ist allgemein bekannt. Aber die theoretische, abstrakteAnerkennung dieser Wahrheiten bewahrt die revolutionärenParteien noch keineswegs vor den alten Fehlern, die stets ausunerwarteten Anlässen, in etwas neuer Form, in früher noch nichtgekannter Verhüllung oder Umgebung, unter originellen - mehroder weniger originellen - Umständen auftreten.

Der Anarchismus war nicht selten eine Art Strafe für dieopportunistischen Sünden der Arbeiterbewegung. Beide Auswüchseergänzten einander. Und wenn der Anarchismus in Russland,obwohl der Anteil des Kleinbürgertums an der Bevölkerung größerist als in den westeuropäischen Ländern, während der beidenRevolutionen (1905 und 1917) und während der Vorbereitung zuihnen einen verhältnismäßig geringfügigen Einfluss ausübte, somuss das zweifellos zum Teil dem Bolschewismus als Verdienstangerechnet werden, der stets den rücksichtslosesten undunversöhnlichsten Kampf gegen den Opportunismus geführt hat.Ich sage "zum Teil', denn von noch größerer Bedeutung für dieSchwächung des Anarchismus in Russland war der Umstand, dasser in der Vergangenheit (in den siebziger Jahren des 19.Jahrhunderts) die Möglichkeit hatte, sich ungewöhnlich üppig zuentfalten und seine Unrichtigkeit, seine Untauglichkeit als führendeTheorie der revolutionären Klasse restlos zu offenbaren.

Der Bolschewismus hat bei seiner Entstehung 1903 die Traditiondes schonungslosen Kampfes gegen den kleinbürgerlichen,halbanarchistischen (oder zum Liebäugeln mit dem Anarchismusneigenden) Revolutionarismus übernommen. Diese Tradition iststets in der revolutionären Sozialdemokratie lebendig gewesen undhat sich bei uns in den Jahren 1900 bis 1903, als das Fundament derMassenpartei des revolutionären Proletariats in Russland gelegtwurde, besonders gefestigt. In drei Hauptpunkten nahm derBolschewismus den Kampf auf gegen die Partei, die am meistendie Tendenzen des kleinbürgerlichen Revolutionarismusverkörperte, nämlich gegen die Partei der "Sozialrevolutionäre"

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https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialrevolution%C3%A4re. undsetzte diesen Kampf fort. Erstens wollte (oder richtiger wohl:konnte) diese Partei, die den Marxismus ablehnte, durchaus nichtbegreifen, dass es notwendig ist, vor jeder politischen Aktion dieKlassenkräfte und ihre Wechselbeziehungen streng objektivabzuwägen. Zweitens hielt sich diese Partei für besonders"revolutionär" oder "linksradikal", weil sie für den individuellenTerror, für Attentate war, was wir Marxisten entschieden ablehnten.

Selbstverständlich lehnten wir den individuellen Terror nur ausGründen der Zweckmäßigkeit ab; Leute aber, die es fertigbrächten,

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den Terror der Großen Französischen Revolution oder überhauptden Terror einer siegreichen und von der Bourgeoisie der ganzenWelt bedrängten revolutionären Partei "prinzipiell" zu verurteilen,solche Leute hat bereits Plechanow in den Jahren 1900-1903, als erMarxist und Revolutionär war, dem Spott und der Verachtungpreisgegeben. Drittens glaubten die "Sozialrevolutionäre","linksradikal" zu sein, weil sie über verhältnismäßig geringfügigeopportunistische Sünden der deutschen Sozialdemokratie kicherten,während sie gleichzeitig die extremen Opportunisten dieser selbenPartei, z.B. in der Agrarfrage oder in der Frage der Diktatur desProletariats, nachahmten.

Nebenbei bemerkt hat die Geschichte jetzt in großem,welthistorischem Maßstab die Ansicht bestätigt, die wir stetsverfochten haben, nämlich dass die revolutionäre deutscheSozialdemokratie (man beachte, dass bereits Plechanow in denJahren 1900-1903 den Ausschluss Bernsteins aus der Partei forderteund dass die Bolschewiki, die stets diese Tradition fortsetzten, 1913die ganze Niedrigkeit, Gemeinheit und Verräterei Legiensenthüllten) - dass die revolutionäre deutsche Sozialdemokratie derPartei am nächsten kam, wie sie das revolutionäre Proletariatbraucht, um siegen zu können. Jetzt, im Jahre 1920, nach all denschmachvollen Bankrotten und Krisen der Kriegszeit und der erstenNachkriegsjahre, ist deutlich zu sehen, dass von allen Parteien desWestens gerade die deutsche revolutionäre Sozialdemokratie diebesten Führer hervorgebracht und sich auch schneller erholt hat,schneller genesen und wiedererstarkt ist als die anderen. Das siehtman sowohl am Spartakusbund7 als auch am linken, proletarischen

7 Spartakusbund - Lenin meint die Kommunistische Partei Deutschlands(Spartakusbund). Bereits zu Beginn des imperialistischen Weltkriegs (1914 bis1918) hatten sich die deutschen Linken unter Führung von Karl Liebknecht,Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Clara Zetkin, Wilhelm Pieck u.a. zur Gruppe»Internationale« zusammengeschlossen. Diese Gruppe formierte sich auf ihrerReichskonferenz im Januar 1916 als "Spartakusgruppe" und nahm als Programmzur revolutionären Beendigung des Krieges die von Rosa Luxemburg und KarlLiebknecht entworfenen »Leitsätze über die Aufgaben der internationalenSozialdemokratie« an. Die Spartakusgruppe, deren großes historisches Verdienstdarin besteht, den Grundstein für die Kommunistische Partei Deutschlandsgelegt zu haben, trieb unter den Massen revolutionäre Propaganda und

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Flügel der "Unabhängigen Sozialdemokratischen ParteiDeutschlands", der einen unentwegten Kampf gegen denOpportunismus und die Charakterlosigkeit der Kautsky, Hilferding,Ledebour und Crispien führt. Wirft man jetzt einen Gesamtblick aufeine vollständig abgeschlossenne Geschichtsperiode, nämlich dievon der Pariser Kommune bis zur ersten SozialistischenSowjetrepublik, so zeichnet sich das Verhältnis des Marxismus zumAnarchismus überhaupt in ganz bestimmten, scharf ausgeprägtenUmrissen ab. Der Marxismus hat zu guter Letzt recht behalten, undwenn die Anarchisten mit Recht auf den opportunistischenCharakter der in den meisten sozialistischen Parteien herrschendenAuffassungen vorn Staat hinwiesen, so beruhte erstens dieserOpportunismus auf einer Entstellung und sogar direktenUnterschlagung der Marxschen Auffassungen vom Staat (inmeinem Buch " Staat und Revolution" habe ich festgestellt, dassBebel einen Brief von Engels, der den Opportunismus derlandläufigen sozialdemokratischen Anschauungen über den Staat

organisierte Massenaktionen gegen den imperialistischen Krieg; sie entlarvte dieEroberungspolitik des deutschen lmperialismus und den Verrat deropportunistischen sozialdemokratischen Führer. Sie war die ideologischführende Kraft unter den deutschen Linken. In wichtigen theoretischen undpolitischen Fragen waren die Spartakusanhänger jedoch nicht frei von ernstenFehlern. Sie unterschätzten die Rolle der nationalen Frage im Imperialismussowie die Bauernschaft als Verbündeten des Proletariats. Die Unklarheit derSpartakusgruppe über die Rolle einer selbständigen marxistischen Kampfparteider Arbeiterklasse äußerte sich darin, dass sie sich 1917 - wenn auch mit demVorbehalt, ihre politisch-ideologische Selbständigkeit zu wahren - derzentristischen USPD anschloss. Lenin hob die großen Verdienste der deutschenLinken im Kampf gegen den imperialistischen Krieg stets hervor, übte aberzugleich Kritik an ihren Fehlern, u.a. in seinen Schriften "Über die Junius-Broschüre" (siehe Werke, Bd. 22, S. 310-325) und »Das Militärprogramm derproletarischen Revolution« (siehe Werke, Bd. 23, S. 72-83). Diekameradschaftliche Kritik half der Spartakusgruppe, sich den LeninschenAnschauungen über den antiimperialistischen Kampf zu nähern. Auf ihrerReichskonferenz am 7. Oktober 1918 beschloss die Spartakusgruppe dasProgramm der herannahenden Revolution, in der sie sich zusammen mit anderenLinken als einzige ziel- und richtunggebende Kraft bewährte. Während derNovemberrevolution 1918 brach die Spartakusgruppe auch organisatorisch mitder USPD und gründete Ende Dezember desselben Jahres die KommunistischePartei Deutschlands (Spartakusbund).

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besonders prägnant, scharf, offen undklar enthüllt, 36 Jahre lang, von 1875bis 1911, in der Schublade verborgenhielt), und zweitens erfolgte dieKorrektur dieser opportunistischenAuffassungen, die Anerkennung derSowjetmacht und ihrer Überlegenheitüber die bürgerliche parlamentarischeDemokratie, am schnellsten undumfassendsten gerade aus der Mitteder Strömungen, die in deneuropäischen und amerikanischensozialistischen Parteien am meistenmarxistisch waren.

In zwei Fällen nahm der Kampf des Bolschewismus gegen dieAbweichungen nach "links" in der eigenen Partei einen besondersgroßen Umfang an: im Jahre 1908, als es um die Frage ging, obman an dem erzreaktionären "Parlament" und an den durcherzreaktionäre Gesetze eingeschnürten legalen Arbeitervereinenteilnehmen solle, und im Jahre 1918 (Frieden von Brest-Litowsk),als es um die Frage ging, ob das eine oder andere "Kompromiss"zulässig sei.

Im Jahre 1908 wurden die "linken" Bolschewiki aus unsererPartei ausgeschlossen, weil sie sich hartnäckig weigerten, dieNotwendigkeit der Beteiligung an dem erzreaktionären "Parlament"einzusehen. Die "Linken", unter denen es viele vortrefflicheRevolutionäre gab, die später wieder verdiente Mitglieder derKommunistischen Partei waren (und es auch weiterhin sind),stützten sich insbesondere auf die guten Erfahrungen mit demBoykott im Jahre 1905. Als der Zar im August 1905 dieEinberufung eines beratenden "Parlaments" verkündete, erklärtendie Bolschewiki, im Gegensatz zu allen Oppositionsparteien undauch zu den Menschewiki, den Boykott dieses Parlaments, und dieRevolution vom Oktober 1905 fegte es in der Tat hinweg. Damalswar der Boykott richtig, nicht weil es schlechthin richtig wäre, sichan reaktionären Parlamenten nicht zu beteiligen, sondern weil die

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objektive Lage richtig eingeschätzt worden war, die zu einerschnellen Umwandlung der Massenstreiks in den politischen, dannin den revolutionären Streik und schließlich in den Aufstand führte.Außerdem ging der Kampf damals darum, ob man die Einberufungder ersten Vertretungskörperschaft dem Zaren überlassen oder obman versuchen sollte, diese Einberufung den Händen der altenStaatsmacht zu entreißen. Da keine Gewissheit darüber bestand undbestehen konnte, dass eine analoge objektive Lage eintreten unddass sie sich in der gleichen Richtung und im gleichen Tempoentwickeln würde, hörte der Boykott auf, richtig zu sein.

Der bolschewistische Boykott des "Parlaments" im Jahre 1905 hatdas revolutionäre Proletariat um eine außerordentlich wertvollepolitische Erfahrung bereichert, indem er zeigte, dass es beiKombinierung von legalen und illegalen, parlamentarischen undaußerparlamentarischen Kampfformen bisweilen nützlich, ja sogarnotwendig ist, dass man es versteht, auf die parlamentarischenKampfformen zu verzichten. Aber ein blindes, nachäffendes,kritikloses Übertragen dieser Erfahrung auf andere Verhältnisse, aufeine andere Situation ist ein schwerer Fehler. Der Boykott der"Duma" durch die Bolschewiki im Jahre 1906 war bereits einFehler, wenn auch ein kleiner, leicht korrigierbarer8 Fehler. Ein sehrernster und schwer korrigierbarer Fehler war der Boykott in denJahren 1907, 1908 und in den darauffolgenden Jahren, als einerseitsein besonders rasches Ansteigen der revolutionären Welle undderen Umschlagen in einen Aufstand nicht zu erwarten war und alssich andererseits aus der ganzen historischen Situation der sicherneuernden bürgerlichen Monarchie die Notwendigkeit ergab,legale und illegale Arbeit miteinander zu kombinieren. Blickt manjetzt auf die vollständig abgeschlossene historische Periode zurück,deren Zusammenhang mit den folgenden Perioden schon offenzutage liegt, so wird es besonders klar, dass die Bolschewiki nichtimstande gewesen wären, in den Jahren 1908-1914 den festen Kern

8 Für die Politik und die Parteien gilt - mit entsprechenden Änderungen dasselbe,was für einzelne Personen gilt. Klug ist nicht, wer keine Fehler macht. SolcheMenschen gibt es nicht und kann es nicht geben. Klug ist, wer keine allzuwesentlichen Fehler macht und es versteht, sie leicht und rasch zu korrigieren.

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der revolutionären Partei des Proletariats zusammenzuhalten(geschweige denn ihn zu kräftigen, zu entwickeln, zu verstärken),wenn sie nicht in härtestem Kampf die Auffassung durchgesetzthätten, dass man unbedingt die legalen mit den illegalenKampfformen kombinieren muss und dass man sich unbedingt andem erzreaktionären Parlament und an einer Reihe anderer vonreaktionären Gesetzen eingeschnürten Institutionen(Versicherungskassen u. dgl.) beteiligen muss.

Im Jahre 1918 kam es nicht bis zur Spaltung. Die "linken"Kommunisten bildeten damals, und zwar nicht für lange, nur einebesondere Gruppe oder "Fraktion" innerhalb unserer Partei. Indemselben Jahr 1918 gaben die namhaftesten Vertreter des "linkenKommunismus", z.B. die Genossen Radek und Bucharin, offenihren Fehler zu. Sie hatten geglaubt, der Brester Frieden wäre einfür die Partei des revolutionären Proletariats prinzipiellunzulässiges und schädliches Kompromiss mit den Imperialisten.Das war in der Tat ein Kompromiss mit den Imperialisten, abergerade ein solches Kompromiss, das unter den gegebenenUmständen unbedingt notwendig war.

Wenn ich heutzutage höre, wie unsere Taktik bei derUnterzeichnung des Brester Friedens beispielsweise von den"Sozialrevolutionären" angegriffen wird, oder wenn ich dieBemerkung des Genossen Lansbury höre, die er in einerUnterhaltung mit mir machte: »Unsere englischen Trade-Union-Führer sagen, dass Kompromisse auch für sie zulässig sind, wennsie für den Bolschewismus zulässig waren«, so antworte ichgewöhnlich zunächst mit einem einfachen und "populären"Vergleich:

Stellen Sie sich vor, dass Ihr Automobil von bewaffnetenBanditen angehalten worden ist. Sie geben ihnen Ihr Geld, IhrenPass, Ihren Revolver, Ihren Wagen. Sie werden von derangenehmen Gesellschaft der Banditen erlöst. Das ist zweifellos einKompromiss. "Do ut des." ("Ich gebe" dir mein Geld, meine Waffe,meinen Wagen, "damit du" mir die Möglichkeit "gibst", michwohlbehalten aus dem Staube zu machen.) Es dürfte indes

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schwerfallen, einen Menschen zu finden, der bei gesundemVerstand ein derartiges Kompromiss für "prinzipiell unzulässig"oder aber die Person, die ein solches Kompromiss geschlossen hat,für einen Komplicen der Banditen erklären würde (obgleich dieBanditen, nachdem sie im Automobil Platz genommen hatten, denWagen und die Waffe für weitere Raubüberfälle benutzen konnten).Unser Kompromiss mit den Banditen des deutschen Imperialismusglich einem solchen Kompromiss.

Als aber die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre inRussland, die Scheidemänner (und in erheblichem Maße auch dieKautskyaner) in Deutschland, Otto Bauer und Friedrich Adler (ganzzu schweigen von den Herren Renner und Co.) in Österreich, dieRenaudel, Longuet und Co. in Frankreich, die Fabier, die"Unabhängigen" und die "Trudowiki" ("Labouristen"9 in Englandin den Jahren 1914-1918 und 1918-1920 Kompromisse mit denBanditen ihrer eigenen, bisweilen aber auch mit denen der"alliierten" Bourgeoisie gegen das revolutionäre Proletariat ihresLandes schlossen, da handelten alle diese Herren wie Komplicendes Banditentums.

Die Schlussfolgerung ist klar: Kompromisse "prinzipiell"abzulehnen, jedwede Zulässigkeit von Kompromissen ,welcherartsie auch seien, schlechthin zu verneinen, ist eine Kinderei, die manschwerlich ernst nehmen kann. Ein Politiker, der demrevolutionären Proletariat nützlich sein möchte, muss es verstehen,die konkreten Fälle gerade solcher Kompromisse herauszugreifen,die unzulässig sind, in denen Opportunismus und Verrat ihrenAusdruck finden, die ganze Wucht der Kritik, die ganze Schärfe derschonungslosen Entlarvung und des unversöhnlichen Kriegesgegen diese konkreten Kompromisse zu richten und dengerissenen "geschäftstüchtigen" Sozialisten und parlamentarischenJesuiten nicht zu erlauben, sich durch Betrachtungen über"Kompromisse schlechthin" herauszuwinden und derVerantwortung zu entziehen. Die Herren englischen "Führer" derTrade-Unions sowie der Fabier-Gesellschaft und der

9 "Labouristen" - die Mitglieder der englischen Labour Party (Arbeiterpartei).

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"Unabhängigen" Arbeiterpartei drücken sich gerade auf diese Weisevor der Verantwortung für den von ihnen begangenen Verrat, für einsolches von ihnen eingegangenes Kompromiss, das in Wirklichkeitden schlimmsten Opportunismus, Treubruch und Verrat bedeutet.

Es gibt Kompromisse und Kompromisse. Man muss es verstehen,die Umstände und die konkreten Bedingungen jedes Kompromissesoder jeder Spielart eines Kompromisses zu analysieren. Man musses lernen, den Menschen, der den Banditen Geld und Waffengegeben hat, um das Übel, das die Banditen stiften, zu verringernund ihre Ergreifung und Erschießung zu erleichtern, von demMenschen zu unterscheiden, der den Banditen Geld und Waffengibt, um sich an der Teilung der Banditenbeute zu beteiligen. In derPolitik ist das bei weitem nicht immer so leicht wie in demangeführten kindlich einfachen Beispiel. Wer es sich aber einfallenließe, für die Arbeiter ein Rezept zu erfinden, das im voraus fertigeEntscheidungen für alle Fälle des Lebens gäbe, oder verspräche,dass es in der Politik des revolutionären Proletariats keineSchwierigkeiten und keine verwickelten Situationen geben werde,der wäre einfach ein Scharlatan.

Um allen Missdeutungen vorzubeugen, will ich versuchen, wennauch nur ganz knapp, einige Grundsätze für die Analyse konkreterKompromisse aufzustellen.

Die Partei, die mit den deutschen Imperialisten den Kompromissschloss, der in der Unterzeichnung des Brester Friedens bestand,hatte sich ihren Internationalismus seit Ende 1914 durch die Taterarbeitet. Sie fürchtete sich nicht, die Niederlage derZarenmonarchie zu proklamieren und die "Vaterlandsverteidigung"in dem Krieg zwischen zwei imperialistischen Räubern zubrandmarken. Die Parlamentsabgeordneten dieser Partei wandertennach Sibirien, anstatt den Pfad zu beschreiten, der zuMinistersesseln in einer bürgerlichen Regierung führt. DieRevolution, die den Zarismus stürzte und die demokratischeRepublik schuf, bedeutete für diese Partei eine neue, gewaltigeProbe: Die Partei ließ sich auf keine Vereinbarungen mit »ihren«Imperialisten ein, sondern bereitete deren Sturz vor und stürzte sie

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auch. Nachdem diese Partei die politische Macht ergriffen hatte,ließ sie von dem gutsherrlichen wie dem kapitalistischen Eigentumkeinen Stein auf dem anderen. Nachdem diese Partei dieGeheimverträge der Imperialisten veröffentlicht und zerrissen hatte,schlug sie allen Völkern den Frieden vor und fügte sich der Gewaltder Räuber von Brest erst dann, als die englischen undfranzösischen Imperialisten den Frieden vereitelt und dieBolschewiki alles menschenmögliche getan hatten, um dieRevolution in Deutschland und in anderen Ländern zubeschleunigen. Die absolute Richtigkeit eines solchenKompromisses, das von einer solchen Partei unter solchenUmständen geschlossen wurde, wird mit jedem Tag klarer undoffenkundiger für alle.

Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre in Russland(ebenso wie alle Führer der II. Internationale in der ganzen Welt inden Jahren 1914 bis 1920) begannen den Verrat, indem sie direktoder indirekt die "Vaterlandsverteidigung", d.h. die Verteidigungihrer räuberischen Bourgeoisie rechtfertigten. Sie setzten den Verratfort, indem sie mit der Bourgeoisie ihres Landes eine Koalitioneingingen und im Verein mit ihrer Bourgeoisie gegen dasrevolutionäre Proletariat ihres Landes kämpften. Ihr Block, zuerstmit Kerenski und den Kadetten, dann mit Koltschak und Denikin inRussland, wie auch der Block ihrer ausländischenGesinnungsgenossen mit der Bourgeoisie ihrer Länder, war einÜbergang auf die Seite der Bourgeoisie gegen das Proletariat. IhrKompromiss mit den Banditen des Imperialismus bestand vonAnfang bis zu Ende darin, dass sie sich zu Komplicen desimperialistischen Banditentums machten.

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Kerenski (Sozialrevolutionär) hetzt die Frontsoldaten zum Durchhalten auf

V. Der „linke" Kommunismus in Deutschland Führer - Partei - Klasse - Masse

Die deutschen Kommunisten, von denen wir jetzt sprechenmüssen, nennen sich nicht "Linke", sondern - wenn ich nicht irre -"grundsätzliche Opposition". Dass sie aber durchaus die Symptomeder "Kinderkrankheit des linken Radikalismus" aufweisen, wird ausder weiteren Darlegung ersichtlich.

Die von der "Ortsgruppe Frankfurt a.M." rausgegebene kleineBroschüre "Die Spaltung der KPD (Spartakusbund)", die denStandpunkt dieser Opposition vertritt, legt im höchsten Gradeplastisch, präzis, klar und knapp den Wesenskern der Auffassungendieser Opposition dar. Einige Zitate werden genügen, um den Lesermit diesem Wesenskern bekannt zu machen:

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»Die Kommunistische Partei ist die Partei des entschiedenstenKlassenkampfes...«

»Politisch stellt sich diese Zwischenzeit' (zwischenKapitalismus und Sozialismus) dar als die Periode derproletarischen Diktatur.«

»Nun aber entsteht die Frage: wer soll die Diktatur ausüben:die kommunistische Partei oder die proletarische Klasse?... istgrundsätzlich die Diktatur der Kommunistischen Partei oder dieDiktatur der proletarischen Klasse zu erstreben?«

(Hervorhebungen in den Zitaten überall wie im Original.)

Im weiteren beschuldigt der Verfasser der Broschüre die"Zentrale" der Kommunistischen Partei Deutschlands, dass sieWege zur Koalition mit der Unabhängigen SozialdemokratischenPartei Deutschlands suche und dass diese "Zentrale" die Frage »dergrundsätzlichen Anerkennung aller politischen Mittel« desKampfes, auch des Parlamentarismus, nur aufgeworfen habe, umihre wahren und hauptsächlichen Bestrebungen nach einerKoalition mit den Unabhängigen zu verhüllen. Dann fährt dieBroschüre fort:

»Die Opposition entschied sich für einen anderen Weg. Sie istder Meinung, dass es sich bei der Frage der kommunistischenParteiherrschaft und Parteidiktatur nur um eine Frage der Taktikhandelt. Jedenfalls stellt die kommunistische Parteiherrschaft dieletzte Form aller Parteiherrschaft dar. Grundsätzlich muss dieDiktatur der proletarischen Klasse erstrebt werden. Und alleMaßnahmen der Partei, ihre Organisationen, ihre Kampfform,ihre Strategie und Taktik sind darauf einzustellen. Demzufolge istjeder Kompromiss mit anderen Parteien, jede Rückkehr zu denhistorisch und politisch erledigten Kampfformen desParlamentarismus, jede Politik des Lavierens und Paktierens mitaller Entschiedenheit abzulehnen. Die spezifisch proletarischenMethoden des revolutionären Kampfes sind mit Nachdruck zubetonen. Und für die Erfassung weitester proletarischer Kreiseund Schichten, die in dem revolutionären Kampf unter Führungder Kommunistischen Partei aufzumarschieren haben, sind neue

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Organisationsformen auf breitester Basis und mit weitestemRahmen zu treffen. Dieses Sammelbecken aller revolutionärenElemente ist die in den Betriebsorganisationen verankerteArbeiter-Union. In ihr finden sich alle Proletarier zusammen, diedem Rufe: Heraus aus den Gewerkschaften! gefolgt sind. Hierformiert sich das kämpfende Proletariat in breitesterSchlachtreihe. Das Bekenntnis zum Klassenkampf, zumRätesystem und zur Diktatur genügt für die Einreihung. Allesweitere, die politische Erziehung der kämpfenden Massen und diepolitische Orientierung im Kampfe, ist Aufgabe derKommunistischen Partei, die außerhalb der Arbeiter-Unionsteht...«

»Zwei Kommunistische Parteien stehen also jetzt einandergegenüber:

Eine Führungspartei, die den revolutionären Kampf zuorganisieren und von oben zu meistern sucht, zu Kompromissenund Parlamentarismus bereit, um Situationen zu schaffen, die ihrden Eintritt in eine Koalitionsregierung gestatten, in derenHänden die Diktatur zu liegen hätte, und eine Massenpartei, diedas Emporschlagen des revolutionären Kampfes von untenerwartet, in diesem Kampfe unter Ablehnung aller parlamen-Ztarischen und opportunistischen Methoden nur eine zielklareMethode kennt und übt, nämlich die der rücksichtslosenNiederwerfung der Bourgeoisie, um dann die proletarischeKlassendiktatur zur Durchführung des Sozialismus zu errichten.«

»Hie Führerdiktatur - hie Massendiktatur! das ist die Losung.«

Das sind die wesentlichsten Sätze, die die Auffassungen derOpposition in der Kommunistischen Partei Deutschlandskennzeichnen.

Jeder Bolschewik, der die Entwicklung des Bolschewismus seit1903 bewusst mitgemacht oder aus der Nähe beobachtet hat, wirdbeim Lesen dieser Zeilen sofort sagen: »Was für ein alter, längstbekannter Plunder! Was für eine 'linke', Kinderei«

Sehen wir uns jedoch die angeführten Stellen etwas näher an.

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Schon allein die Fragestellung: »Diktatur der Partei oderDiktatur der Klasse? - Diktatur (Partei) der Führer oder Diktatur(Partei) der Massen?« zeugt von einer ganz unglaublichen unduferlosen Begriffsverwirrung. Die Leute mühen sich ab, etwas ganzBesonderes auszuhecken, und machen sich in ihrem spintisierendenEifer lächerlich. Jedermann weiß, dass die Massen sich in Klassenteilen; dass man Massen und Klassen nur dann einandergegenüberstellen kann, wenn man die überwiegende Mehrheitschlechthin, nicht gegliedert nach der Stellung in der sozialenOrdnung der Produktion, den Kategorien gegenüberstellt, die in dersozialen Ordnung der Produktion eine besondere Stellungeinnehmen; dass die Klassen gewöhnlich und in den meistenFällen, wenigstens in den modernen zivilisierten Ländern, vonpolitischen Parteien geführt werden; dass die politischen Parteien inder Regel von mehr oder minder stabilen Gruppen der autorita-tivsten, Einflussreichsten, erfahrensten, auf die verantwortungsvoll-sten Posten gestellten Personen geleitet werden, die man Führernennt. Das alles sind Binsenwahrheiten. Das alles ist einfach undklar. Wozu bedurfte es statt dessen eines Kauderwelsch, einesneuen Volapüks? Einerseits sind die Leute offenbar in Verwirrunggeraten, weil sie in eine schwierige Lage kamen, als ein schnellerWechsel von Legalität und Illegalität der Partei das gewöhnliche,normale, einfache Verhältnis zwischen Führern, Parteien undKlassen störte. In Deutschland wie auch in anderen europäischenLändern hat man sich zu sehr an die Legalität gewöhnt, an die freieund regelrechte Wahl der "Führer" durch regelmäßige Parteitage, andie bequeme Kontrolle der Klassenzusammensetzung der Parteiendurch Parlamentswahlen, öffentliche Versammlungen, die Presse,die Stimmungen der Gewerkschaften und anderer Verbände usw.Als man, infolge des stürmischen Verlaufs der Revolution und derEntwicklung des Bürgerkriegs, von diesem Gewohnten rasch zumWechsel von Legalität und Illegalität, zu ihrer Kombinierung, zu"unbequemen", "undemokratischen" Methoden der Aussonderungoder Bildung oder Erhaltung von "Führergruppen" übergehenmusste - da gerieten die Leute außer Fassung und begannenhanebüchenen Unsinn auszuhecken. Wahrscheinlich sind die

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holländischen "Tribunisten"10, die das Unglück hatten, in einemkleinen Lande mit den Traditionen und Verhältnissen einerbesonders privilegierten und besonders stabilen Legalität geborenzu sein, und die den Wechsel von Legalität und Illegalität überhauptnie gekannt haben, selber in Verwirrung und außer Fassung geratenund haben zu den absurden Einfallen beigetragen.

Andererseits macht sich einfach ein unüberlegter, zusammen-hangloser Gebrauch der jetzt in "Mode" gekommenen Schlagworte"Masse" und "Führer" bemerkbar. Die Leute haben viel davongehört und sich fest eingeprägt, dass die "Führer" angegriffen undder "Masse" gegenübergestellt werden, aber darüber nachzudenken,wie das eine mit dem andern zusammenhängt, und sich über dieSache klarzuwerden, dazu waren sie nicht imstande.

Die Scheidung zwischen "Führern" und "Massen" trat in allenLändern am Ende des imperialistischen Krieges und nach demKriege besonders klar und schroff in Erscheinung. DieHauptursache dieser Erscheinung haben Marx und Engels in denJahren 1852-1892 viele Male am Beispiel Englands erläutert. DieMonopolstellung Englands hatte dazu geführt, dass sich aus der"Masse" eine halb kleinbürgerliche, opportunistische "Arbeiter-aristokratie" absonderte. Die Führer dieser Arbeiteraristokratiegingen in einem fort auf die Seite der Bourgeoisie über und wurdendirekt oder indirekt - von ihr ausgehalten. Marx zog sich denehrenvollen Hass dieses Gesindels dadurch zu, dass er sie offen alsVerräter brandmarkte. Der moderne Imperialismus (des 20.Jahrhunderts) hat für einige fortgeschrittene Länder eine privile-gierte Monopolstellung geschaffen, und auf dieser Grundlage hatsich überall in der II. Internationale der Typus der verräterischen

10 Holländische "Tribunisten" nennt Lenin die Mitglieder der KommunistischenPartei Hollands. Ursprünglich bildeten die Tribunisten in derSozialdemokratischen Arbeiterpartei Hollands eine linke Gruppe, die 1907 dieZeitung "De Tribune" gründete. 1909 wurden die Tribunisten aus derSozialdemokratischen Arbeiterpartei ausgeschlossen und gründeten eineselbständige Partei (die Sozialdemokratische Partei Hollands). Die Tribunistenbildeten den linken Flügel der holländischen Arbeiterbewegung und standenwährend des ersten Weltkriegs im wesentlichen auf den Positionen desInternationalismus. 1918 gründeten sie die Kommunistische Partei Hollands.

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Führer, der Opportunisten, der Sozialchauvinisten herausgebildet,die die Interessen ihrer Zunft, ihrer dünnen Schicht der Arbeiter-aristokratie vertreten. Es kam zu einer Isolierung der opportuni-stischen Parteien von den "Massen", d.h. von den breiten Schichtender Werktätigen, von ihrer Mehrheit, von den am schlechtesten ent-lohnten Arbeitern. Der Sieg des revolutionären Proletariats ist un-möglich ohne Kampf gegen dieses Übel, ohne Entlarvung, Brand-markung und Vertreibung der opportunistischen, sozialverräteri-schen Führer. Das ist denn auch die Politik der III. Internationale.

Sich aus diesem Anlass zur Gegenüberstellung der Diktatur derMassen und der Diktatur der Führer überhaupt zu versteigen istlächerlicher Unsinn und dummes Zeug. Besonders komisch ist es,dass in Wirklichkeit an die Stelle der alten Führer, die allgemeinmenschliche Ansichten über einfache Dinge haben, nun praktisch(unter dem Deckmantel der Losung "Nieder mit den Führern") neueFührer treten, die hirnverbrannten Unsinn und wirres Zeugverzapfen. Das sind in Deutschland Laufenberg, Wolffheim,Horner11, Karl Schröder, Friedrich Wendel, Karl Erler12. DieVersuche Erlers, die Frage zu "vertiefen" und die Entbehrlichkeitund die "Bürgerlichkeit" der politischen Parteien überhaupt zuproklamieren - das sind bereits solche Herkulessäulen derAbsurdität, dass man nur die Hände über dem Kopfzusammenschlagen kann. Hier sieht man wahrhaftig: Aus einem

11 Horner - A. Pannekoek; Erler - H. Laufenberg.

12 'Kommunistische Arbeiterzeitung' 10 (Nr. 32 vom 7. Februar 1920, Hamburg,"Die Auflösung der Partei", Artikel von Karl Erler): »Die Arbeiterklasse kannden bürgerlichen Staat nicht zertrümmern ohne Vernichtung der bürgerlichenDemokratie, und sie kann die bürgerliche Demokratie nicht vernichten ohne dieZertrümmerung der Parteien.«

Die größten Wirrköpfe unter den romanischen Syndikalisten und Anarchistenkönnen "zufrieden" sein: Solide Deutsche, die sich offenbar für Marxisten halten(K. Erler und K. Horner liefern durch ihre Artikel in der genannten Zeitungeinen besonders soliden Beweis dafür, dass sie sich für solide Marxisten halten,und reden in besonders komischer Weise einen unglaublichen Unsinnzusammen, wodurch sie offenbaren, dass sie das Abc des Marxismus nichtbegriffen haben), versteigen sich zu ganz ungereimtem Zeug. Die bloßeAnerkennung des Marxismus befreit noch nicht von Fehlern. Das wissen dieRussen besonders gut, denn bei uns war der Marxismus besonders oft "Mode".

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kleinen Fehler kann man stets einen ungeheuerlich großen machen,wenn man auf dem Fehler beharrt, wenn man ihn vertieftbegründet, wenn man ihn "zu Ende führt".

Verneinung des Parteibegriffs und der Parteidisziplin - das ist es,was bei der Opposition herausgekommen ist. Das aber istgleichbedeutend mit völliger Entwaffnung des Proletariatszugunsten der Bourgeoisie. Das ist gleichbedeutend eben mit jenerkleinbürgerlichen Zersplitterung, Unbeständigkeit und Unfähigkeitzur Konsequenz, zur Vereinigung, zu geschlossenem Vorgehen, dieunweigerlich jede proletarische revolutionäre Bewegung zugrunderichten wird, wenn man ihr die Zügel schießen lässt. DenParteibegriff unter dem Gesichtspunkt des Kommunismusverneinen heißt einen Sprung machen von der Vorstufe desZusammenbruchs des Kapitalismus (in Deutschland) nicht zurniederen und nicht zur mittleren, sondern zur höheren Phase desKommunismus. Wir in Russland erleben (im dritten Jahr nach demSturz der Bourgeoisie) die ersten Schritte des Übergangs vomKapitalismus zum Sozialismus oder zur niederen Phase desKommunismus. Die Klassen sind stehengeblieben und werdenüberall nach der Eroberung der Macht durch das Proletariatjahrelang bestehenbleiben. Höchstens in England, wo es keineBauern (immerhin aber Kleinbesitzer!) gibt, wird diese Frist kürzersein. Die Klassen aufheben heißt nicht nur die Gutsbesitzer undKapitalisten davonjagen - das haben wir verhältnismäßig leichtgetan -, das heißt auch die kleinen Warenproduzenten beseitigen,diese aber kann man nicht davonjagen, man kann sie nichtunterdrücken, man muss mit ihnen zurechtkommen, man kann (undmuss) sie nur durch eine sehr langwierige, langsame, vorsichtigeorganisatorische Arbeit ummodeln und umerziehen. Sie umgebendas Proletariat von allen Seiten mit einer kleinbürgerlichenAtmosphäre, durchtränken es damit, demoralisieren es damit, rufenbeständig innerhalb des Proletariats Rückfälle in kleinbürgerlicheCharakterlosigkeit, Zersplitterung, Individualismus, abwechselndBegeisterung und Mutlosigkeit hervor. Innerhalb der politischenPartei des Proletariats sind strengste Zentralisation und Disziplinnotwendig, um dem zu widerstehen, um die organisatorische Rolle

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des Proletariats (das aber ist seine Hauptrolle) richtig, erfolgreichund siegreich durchzuführen. Die Diktatur des Proletariats ist einzäher Kampf, ein blutiger und unblutiger, gewaltsamer undfriedlicher, militärischer und wirtschaftlicher, pädagogischer undadministrativer Kampf gegen die Mächte und Traditionen der altenGesellschaft. Die Macht der Gewohnheit von Millionen und aberMillionen ist die fürchterlichste Macht. Ohne eine eiserne undkampfgestählte Partei, ohne eine Partei, die das Vertrauen allesdessen genießt, was in der gegebenen Klasse ehrlich ist, ohne einePartei, die es versteht, die Stimmung der Massen zu verfolgen undzu beeinflussen, ist es unmöglich, einen solchen Kampf erfolgreichzu führen. Es ist tausendmal leichter, die zentralisierteGroßbourgeoisie zu besiegen, als die Millionen und aber Millionender Kleinbesitzer "zu besiegen"; diese aber führen durch ihretagtägliche, alltägliche, unmerkliche, unfassbare, zersetzendeTätigkeit eben jene Resultate herbei, welche die Bourgeoisiebraucht, durch welche die Macht der Bourgeoisie restauriert wird.Wer die eiserne Disziplin der Partei des Proletariats (besonderswährend seiner Diktatur) auch nur im geringsten schwächt, der hilftfaktisch der Bourgeoisie gegen das Proletariat.

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Neben die Frage: Führer - Partei - Klasse - Masse sollte man dieFrage der "reaktionären" Gewerkschaften stellen. Zunächst aberwerde ich mir noch ein paar Schlussbemerkungen auf Grund derErfahrungen unserer Partei erlauben. Angriffe auf die "Diktatur derFührer" hat es in unserer Partei stets gegeben. Ich erinnere mich derersten dieser Angriffe im Jahre 1895, als die Partei formell nochnicht bestand, sich aber in Petersburg eine zentrale Gruppeherauszubilden begann, der es oblag,die Führung der Bezirksgruppen zuübernehmen. Auf dem IX. Parteitagunserer Partei (im April 1920) gab eseine kleine Opposition, die ebenfallsgegen die "Diktatur der Führer", die"Oligarchie" usw. auftrat. Daher hatdie "Kinderkrankheit" "des linkenKommunismus" der Deutschennichts Verwunderliches, nichtsNeues, nichts Schreckliches an sich.Diese Krankheit geht gefahrlosvorüber, und der Organismus wirddanach sogar kräftiger. Andererseits führte der rasche Wechsel vonlegaler und illegaler Arbeit, verbunden mit der Notwendigkeit,gerade den Generalstab, gerade die Führer besonders gut "zuverstecken", besonders gut zu konspirieren, bei uns bisweilen zuäußerst gefährlichen Erscheinungen.

Roman Malinowski

Die schlimmste von ihnen war, dass 1912 der LockspitzelMalinowski in das Zentralkomitee der Bolschewiki Eingang fand.Er ließ Dutzende und aber Dutzende der besten und treuestenGenossen hochgehen, brachte sie ins Zuchthaus und beschleunigteden Tod vieler von ihnen. Wenn er nicht noch größeres Unheilangerichtet hat, so lag das daran, dass bei uns ein richtigesVerhältnis zwischen legaler und illegaler Arbeit bestand. Um unserVertrauen zu gewinnen, musste uns Malinowski als Mitglied desZentralkomitees der Partei und Abgeordneter der Duma helfen,legale Tageszeitungen herauszugeben, die es auch unter dem

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Zarismus verstanden, den Kampf gegen den Opportunismus derMenschewiki zu führen und in entsprechend verhüllter Form dieGrundsätze des Bolschewismus zu propagieren. Mit der einen Handschickte Malinowski viele Dutzende der besten Vertreter desBolschewismus in Verbannung und Tod, während er mit deranderen Hand helfen musste, vermittels der legalen Presse vieleZehntausende neuer Bolschewiki zu erziehen. über diese Tatsachesollten jene deutschen (und auch die englischen undamerikanischen, französischen und italienischen) Genossen rechtgründlich nachdenken, die jetzt lernen müssen, revolutionäre Arbeitin reaktionären Gewerkschaften zu leisten.13

In vielen, darunter auch in den fortgeschrittensten Ländernschickt die Bourgeoisie jetzt zweifellos Lockspitzel in diekommunistischen Parteien, und sie wird das auch in Zukunft tun.Eines der Mittel zur Bekämpfung dieser Gefahr ist die geschickteKombinierung von illegaler und legaler Arbeit.

VI. Sollen Revolutionäre in den reaktionären Gewerkschaften arbeiten?

Die deutschen "Linken" betrachten es für sich als entschieden,dass diese Frage unbedingt verneinend zu beantworten ist. IhrerMeinung nach genügen Deklamationen und zornige Ausrufe gegendie "reaktionären" und "konterrevolutionären' Gewerkschaften(besonders "solid" und besonders dumm macht das K. Horner), um"zu beweisen", dass Revolutionäre, dass Kommunisten in dengelben, sozialchauvinistischen, paktiererischen, Legienschen,

13 Malinowski war in Kriegsgefangenschaft in Deutschland. Als er unter derHerrschaft der Bolschewiki nach Russland zurückkehrte, wurde er von unserenArbeitern sofort vor Gericht gestellt und erschossen. Die Menschewikibegeiferten uns besonders arg wegen unseres Fehlers, der darin bestand, dass wireinen Lockspitzel im Zentralkomitee unserer Partei hatten. Als wir aber unterKerenski forderten, dass der Dumapräsident Rodsjanko verhaftet und abgeurteiltwerde, weil er schon vor dem Krieg von der Lockspitzeltätigkeit Malinowskisgewußt, es aber den Trudowiki und den Arbeitern in der Duma nicht mitgeteilthatte, da unterstützten uns weder die Menschewiki noch die Sozialrevolutionäre,die mit Kerenski in der Regierung saßen, und Rodsjanko blieb auf freiem Fußund konnte ungehindert zu Denikin entkommen.

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konterrevolutionären Gewerkschaften nicht zu arbeiten brauchen, jasogar nicht arbeiten dürfen.

Wie sehr die deutschen "Linken" aber auch überzeugt seinmögen, dass diese Taktik revolutionär sei, in Wirklichkeit ist siegrundfalsch und enthält nichts als hohle Phrasen.

Um das klarzumachen, will ich mit der von uns gemachtenErfahrung beginnen - entsprechend dem allgemeinen Plan dervorliegenden Schrift, die den Zweck hat, auf Westeuropa dasanzuwenden, was in der Geschichte und der heutigen Taktik desBolschewismus allgemein anwendbar, von allgemeiner Bedeutungund allgemeiner Gültigkeit ist.

Das Verhältnis zwischen Führer, Partei, Klasse und Masse unddamit zugleich das Verhältnis der Diktatur des Proletariats undseiner Partei zu den Gewerkschaften hat bei uns jetzt konkretfolgende Form angenommen: Die Diktatur wird durch das in denSowjets organisierte Proletariat verwirklicht, dessen Führer dieKommunistische Partei der Bolschewiki ist, die nach den Angabendes letzten Parteitags (April 1920) 611.000 Mitglieder zählt. DieZahl der Mitglieder schwankte sowohl vor als auch nach derOktoberrevolution sehr stark und war früher, sogar in den Jahren1918 und 1919, viel geringer14. Wir fürchten eine übermäßigeAusdehnung der Partei, denn in eine Regierungspartei versuchensich unvermeidlich Karrieristen und Gauner einzuschleichen, dienur verdienen, erschossen zu werden.

14 Nach der Februarrevolution von 1917 veränderte sich die Mitgliederzahl bis1919 folgendermaßen: Zur Zeit der VII. Gesamtrussischen Konferenz(Aprilkonferenz) der SDAPR(B) im Jahre 1917 zählte die Partei 80.000, zur Zeitdes Vl. Parteitags der SDAPR(B) im Juli-August 1917 rund 240.000, zur Zeitdes VII. Parteitags der KPR(B) im März 1918 mindestens 300.000 und zur Zeitdes VIII. Parteitags der KPR(B) im März 1919 313.766 Mitglieder.

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Das letztemal haben wir - nur fürArbeiter und Bauern - die Tore der Parteiweit geöffnet, als (im Winter 1919)Judenitsch wenige Werst vor Petrogradund Denikin in Oriol (etwa 350 Werstvon Moskau) stand, d.h. als derSowjetrepublik höchste, tödliche Gefahrdrohte und als Abenteurer, Karrieristen,Gauner und überhaupt unsichereElemente keineswegs auf eine guteKarriere (eher auf Galgen und Folter)rechnen konnten, wenn sie sich denKommunisten anschlossen.

Nikolai Judenitsch

Die Partei, die alljährlich ihre Parteitage abhält (bei dem letztenentfiel auf 1.000 Mitglieder 1 Delegierter), wird vomZentralkomitee geleitet, das aus 19 Personen besteht und auf demParteitag gewählt wird; die laufende Arbeit in Moskau wird vonnoch engeren Kollegien geleistet, dem sogenannten "Orgbüro"(Organisationsbüro) und dem sogenannten "Politbüro" (PolitischenBüro), die aus je fünf Mitgliedern des Zentralkomitees bestehenund in Plenarsitzungen des Zentralkomitees gewählt werden. Hierhaben wir also eine regelrechte "Oligarchie". Keine einzigewichtige politische oder organisatorische Frage wird in unsererRepublik von irgendeiner staatlichen Institution ohne Direktivendes Zentralkomitees unserer Partei entschieden.

Die Partei stützt sich bei ihrer Arbeit unmittelbar auf dieGewerkschaften, die nach den Angaben des letzten Kongresses(April 1920) gegenwärtig über 4 Millionen Mitglieder zählen undder Form nach parteilos sind. Faktisch bestehen alle leitendenKörperschaften der weitaus meisten Verbände und in erster Linienatürlich der Zentrale oder des Büros aller Gewerkschaften ganzRusslands (WZSPS - Gesamtrussischer Zentralrat derGewerkschaften) aus Kommunisten und führen alle Direktiven derPartei durch. Im großen und ganzen haben wir also einen der Form

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nach nicht kommunistischen, elastischen und verhältnismäßigumfassenden, überaus mächtigen proletarischen Apparat, durch dendie Partei mit der KIasse und der Masse eng verbunden ist unddurch den, unter Führung der Partei, die Diktatur der Klasseverwirklicht wird. Ohne die engste Verbindung mit denGewerkschaften, ohne ihre tatkräftige Unterstützung, ohne ihreselbstlose Arbeit beim Aufbau nicht nur der Wirtschaft, sondernauch der Armee, hätten wir das Land selbstverständlich keine 2½Monate, geschweige denn 2½ Jahre regieren und die Diktaturausüben können. Diese überaus enge Verbindung bedeutet natürlichin der Praxis eine sehr komplizierte und mannigfaltige Arbeit derPropaganda, der Agitation, der rechtzeitigen und häufigenBeratungen nicht nur mit den leitenden, sondern überhaupt mit deneinflussreichen Gewerkschaftlern und einen entschiedenen Kampfgegen die Menschewiki, die bis jetzt über eine gewisse, wenn auchganz geringe Zahl von Anhängern verfügen, die sie zu allenmöglichen konterrevolutionären Machenschaften anleiten - von derideologischen Verteidigung der (bürgerlichen) Demokratie, demPredigen der "Unabhängigkeit" der Gewerkschaften(Unabhängigkeit - von der proletarischen Staatsmacht!) bis zurSabotage der proletarischen Disziplin usw. usf.

Die Verbindung mit den "Massen" vermittels der Gewerkschaftenhalten wir für ungenügend. Die Praxis hat bei uns, im Laufe derRevolution, eine solche Institution hervorgebracht wie dieKonferenzen parteiloser Arbeiter und Bauern, die wir auf jede Artund Weise zu unterstützen, zu entwickeln und zu erweitern bemühtsind, um die Stimmung der Massen zu verfolgen, um an die Massennäher heranzukommen und ihren Anforderungen zu entsprechen,um aus ihrer Mitte die besten Kräfte auf Staatsposten aufrücken zulassen usw. In einem der letzten Dekrete über die Umwandlung desVolkskommissariats für Staatliche Kontrolle in die "Arbeiter- undBauerninspektion" wird diesen Konferenzen von Parteilosen dasRecht eingeräumt, Mitglieder der Staatlichen Kontrolle fürRevisionen verschiedener Art zu wählen usw.

Ferner erfolgt selbstverständlich die ganze Arbeit der Parteivermittels der Sowjets, die die werktätigen Massen ohne

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Unterschied des Berufs vereinigen. Die Kreistagungen der Sowjetssind eine solche demokratische Einrichtung, wie sie die bestendemokratischen Republiken der bürgerlichen Welt noch nichtgekannt haben. Durch diese Tagungen (welche die Partei soaufmerksam wie nur möglich zu verfolgen bemüht ist) wie auchdurch ständige Abkommandierung klassenbewußter Arbeiter aufverschiedene Posten im Dorf wird die führende Rolle desProletariats gegenüber der Bauernschaft verwirklicht, wird dieDiktatur des städtischen Proletariats verwirklicht, wird dersystematische Kampf gegen die reiche, bourgeoise, ausbeutendeund spekulierende Bauernschaft geführt usw.

So sieht der allgemeine Mechanismus der proletarischenStaatsmacht aus, wenn man ihn 'von oben', vom Standpunkt derpraktischen Verwirklichung der Diktatur betrachtet. Der Leser wirdhoffentlich verstehen, warum dem russischen Bolschewik, der mitdiesem Mechanismus vertraut ist und der beobachtet hat, wie sichdieser Mechanismus im Laufe von 25 Jahren aus kleinen, illegalen,unterirdischen Zirkeln entwickelte, das ganze Gerede, ob "vonoben" oder "von unten", ob Diktatur der Führer oder Diktatur derMassen usw., als lächerlicher, kindischer Unsinn erscheinen muss,als eine Art Streit darüber, ob dem Menschen der linke Fuß oder dierechte Hand nützlicher ist.

Als ein ebenso lächerlicher, kindischer Unsinn muss uns auch daswichtigtuerische, überaus gelehrte und furchtbar revolutionäreGerede der deutschen Linken über das Thema erscheinen, dass dieKommunisten in den reaktionären Gewerkschaften nicht arbeitenkönnen und nicht arbeiten dürfen, dass es statthaft sei, diese Arbeitabzulehnen, dass man aus den Gewerkschaften austreten undunbedingt eine nagelneue, blitzsaubere, von sehr netten (undmeistens wohl sehr jungen) Kommunisten ausgeheckte "Arbeiter-Union" schaffen müsse usw. usf.

Der Kapitalismus hinterlässt dem Sozialismus unvermeidlicheinerseits die alten, in Jahrhunderten herausgebildeten beruflichenund gewerblichen Unterschiede zwischen den Arbeitern undanderseits die Gewerkschaften. Diese können und werden sich nur

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sehr langsam, im Laufe vieler Jahre zu breiteren, wenigerzünftlerischen Produktionsverbänden (die ganze Produktionszweigeund nicht nur einzelne Branchen, Gewerbe und Berufe umfassen)entwickeln und erst dann dazu übergehen, vermittels dieserProduktionsverbände die Arbeitsteilung unter den Menschenaufzuheben und allseitig entwickelte und allseitig geschulteMenschen, die alles machen können, zu erziehen, zu unterweisenund heranzubilden. Dahin steuert der Kommunismus, dahin mussund wird er gelangen, aber erst nach einer langen Reihe von Jahren.Der Versuch, heute dieses künftige Ergebnis des vollkommenentwickelten, vollkommen gefestigten und herausgebildeten,vollkommen entfalteten und reifen Kommunismus praktischvorwegzunehmen, wäre gleichbedeutend damit, einem vierjährigenKind höhere Mathematik beibringen zu wollen.

Wir können (und müssen) beginnen, den Sozialismus aufzubauen,und zwar nicht aus einem phantastischen und nicht aus einem vonuns speziell geschaffenen Menschenmaterial, sondern aus demMaterial, das uns der Kapitalismus als Erbteil hinterlassen hat. Dasist sehr "schwer", wer will es leugnen, aber jedes andereHerangehen an diese Aufgabe ist so wenig ernst, dass es gar nichtlohnt, davon zu reden.

Zu Beginn der Entwicklung des Kapitalismus bedeuteten dieGewerkschaften als Übergang von der Zersplitterung undHilflosigkeit der Arbeiter zu den Anfängen einerKlassenvereinigung einen riesigen Fortschritt der Arbeiterklasse.Als die höchste Form der Klassenvereinigung der Proletarier, dierevolutionäre Partei des Proletariats (die ihren Namen nichtverdient, solange sie es nicht gelernt hat, die Führer mit der Klasseund mit den Massen zu einem Ganzen, zu etwas Untrennbarem zuverbinden), sich herauszubilden anfing, da begannen dieGewerkschaften unvermeidlich gewisse reaktionäre Züge zuoffenbaren, eine gewisse zünftlerische Beschränktheit, eine gewisseNeigung zur politischen Indifferenz, eine gewisse Stagnation usw.Aber anders als vermittels der Gewerkschaften, anders als durch ihrZusammenwirken mit der Partei der Arbeiterklasse ging dieEntwicklung des Proletariats nirgendwo in der Welt vor sich und

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konnte auch nicht vor sich gehen. Die Eroberung der politischenMacht durch das Proletariat bedeutet für das Proletariat als Klasseeinen riesigen Schritt vorwärts, und die Partei muss noch mehr undauf neue, nicht nur auf alte Art die Gewerkschaften erziehen undleiten, darf aber gleichzeitig nicht vergessen, dass sie eineunentbehrliche "Schule des Kommunismus" sind und noch langebleiben werden, eine Vorbereitungsschule für die Proletarier zurVerwirklichung ihrer Diktatur, eine unentbehrliche Vereinigung derArbeiter für den allmählichen Übergang der Verwaltung dergesamten Wirtschaft des Landes in die Hände der Arbeiterklasse(aber nicht einzelner Berufszweige) und sodann aller Werktätigen.

Im erwähnten Sinne sind gewisse "reaktionäre Züge" derGewerkschaften unter der Diktatur des Proletariats unvermeidlich.Wer das nicht begreift, versteht absolut nichts von dengrundlegenden Bedingungen des Übergangs vom Kapitalismus zumSozialismus. Fürchtet man diese "reaktionären Züge", sucht mansie zu ignorieren, sie zu überspringen, so ist das die größteDummheit, denn das bedeutet, vor der Rolle der proletarischenAvantgarde zurückzuschrecken, die darin besteht, dass sie dierückständigsten Schichten und Massen der Arbeiterklasse und derBauernschaft schult, aufklärt, erzieht und dem neuen Lebenzuführt. Anderseits wäre es ein noch größerer Fehler, dieVerwirklichung der Diktatur des Proletariats so langeaufzuschieben, bis es keinen einzigen Arbeiter mehr gibt, derberuflich beschränkt ist, der zünftlerische und trade-unionistischeVorurteile hat. Die Kunst des Politikers (und das richtigeVerständnis des Kommunisten für seine Aufgaben) besteht ebendarin, die Bedingungen und den Zeitpunkt richtig einzuschätzen,wo die Avantgarde des Proletariats die Macht mit Erfolg ergreifenkann, damit sie während und nach der Machtergreifung auf eineausreichende Unterstützung genügend breiter Schichten derArbeiterklasse und der nichtproletarischen werktätigen Massenrechnen kann, wo sie nach der Machtergreifung ihre Herrschaftdadurch behaupten, festigen und erweitern kann, dass sie immerbreitere Massen der Werktätigen erzieht, schult und mitreißt.

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Weiter. In Ländern, die fortgeschrittener sind als Russland, hatsich, und das musste so sein, ein gewisser reaktionärer Geist in denGewerkschaften zweifellos viel stärker geltend gemacht als bei uns.Gerade wegen der zünftlerischen Beschränktheit, des beruflichenEgoismus und des Opportunismus hatten die Menschewiki bei unseine Stütze in den Gewerkschaften (und haben sie zum Teil in ganzwenigen Gewerkschaften auch heute noch). Im Westen haben sichdie dortigen Menschewiki in den Gewerkschaften viel mehr"festgesetzt", dort hat sich eine viel stärkere Schicht einer beruflichbeschränkten, bornierten, selbstsüchtigen, verknöcherten,eigennützigen, spießbürgerlichen, imperialistisch gesinnten undvom Imperialismus bestochenen, vom Imperialismusdemoralisierten Arbeiteraristokratie herausgebildet als bei uns. Dasist unbestreitbar. Der Kampf mit den Gompers, den HerrenJouhaux, Henderson, Merrheim, Legien und Co. in Westeuropa istweit schwieriger als der Kampf mit unseren Menschewiki, diesozial und politisch einen völlig gleichartigen Typus darstellen.Dieser Kampf muss rücksichtslos und, so wie wir es getan haben,unbedingt bis zu Ende geführt werden, bis zur völligenDiskreditierung aller unverbesserlichen Führer des Opportunismusund Sozialchauvinismus und ihrer Vertreibung aus denGewerkschaften. Man kann die politische Macht nicht erobern (undsoll nicht versuchen, die politische Macht zu ergreifen), solangedieser Kampf nicht eine gewisse Stufe erreicht hat, wobei diese"gewisse Stufe" in den verschiedenen Ländern und unter denverschiedenen Verhältnissen nicht die gleiche ist; und sie richtigabschätzen können nur kluge, erfahrene und sachkundige politischeFührer des Proletariats jedes einzelnen Landes. (Bei uns waren einMaßstab für den Erfolg in diesem Kampf unter anderem die Wahlenzur Konstituierenden Versammlung, die im November 1917,wenige Tage nach der proletarischen Umwälzung vom 25.10.1917,stattfanden. Bei diesen Wahlen wurden die Menschewiki aufsHaupt geschlagen. Sie erhielten 0,7 Millionen Stimmen -zusammen mit Transkaukasien 1,4 Millionen gegenüber 9Millionen Stimmen, die für die Bolschewiki abgegeben wurden:Siehe meinen Artikel: "Die Wahlen zur Konstituierenden

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Versammlung und die Diktatur des Proletariats"15 in Nr. 7/8 der'Kommunistischen Internationale'.)

Doch den Kampf gegen die "Arbeiteraristokratie" führen wir imNamen der Arbeitermassen und um sie für uns zu gewinnen; denKampf gegen die opportunistischen und sozialchauvinistischenFührer führen wir, um die Arbeiterklasse für uns zu gewinnen.Diese höchst elementare und ganz augenfällige Wahrheit zuvergessen wäre eine Dummheit. Und gerade diese Dummheitbegehen die "linken" deutschen Kommunisten, die aus derTatsache, dass die Spitzen der Gewerkschaften reaktionär undkonterrevolutionär sind, den, Schluss ziehen, dass man ... aus denGewerkschaften austreten!!, die Arbeit in den Gewerkschaftenablehnen!! und neue, ausgeklügelte Formen vonArbeiterorganisationen schaffen müsse!! Das ist eine sounverzeihliche Dummheit, dass sie dem größten Dienstgleichkommt, den Kommunisten der Bourgeoisie erweisen können.Denn unsere Menschewiki sind wie alle opportunistischen,sozialchauvinistischen und kautskyanischen Führer derGewerkschaften nichts anderes als "Agenten der Bourgeoisie in derArbeiterbewegung" (was wir immer von den Menschewiki gesagthaben) oder, nach dem ausgezeichneten und zutiefst wahrenAusdruck der Anhänger Daniel de Leons in Amerika,"Arbeiterkommis der Kapitalistenklasse" (Labor lieutenants of thecapitalist class). »Nicht in den reaktionären Gewerkschaftenarbeiten heißt die ungenügend entwickelten oder rückständigenArbeitermassen dem Einfluss der reaktionären Führer, der Agentender Bourgeoisie, der Arbeiteraristokraten oder der verbürgertenArbeiter« (vgl. Engels' Brief von 1858 an Marx über die englischenArbeiter16) überlassen.

Gerade die absurde "Theorie", wonach sich die Kommunisten anden reaktionären Gewerkschaften nicht beteiligen dürfen, zeigt amdeutlichsten, wie leichtfertig sich diese "linken" Kommunisten zurFrage der Beeinflussung der "Massen" verhalten und wie sie mit

15 Siehe W. I. Lenin, Werke, Bd. 30, S. 242-265.

16 Siehe Karl Marx /Friedrich Engels, Werke, Bd. 29, Berlin 1967, S. 358.

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ihrem Geschrei von den Massen" Missbrauch treiben. Will man der"Masse" helfen und sich die Sympathien, die Zuneigung, dieUnterstützung der "Masse" erwerben, so darf man sich nichtfürchten vor Schwierigkeiten, darf man sich nicht fürchten vor denSchikanen, den Fußangeln, den Beleidigungen und Verfolgungenseitens der "Führer" (die als Opportunisten und Sozialchauvinistenin den meisten Fällen direkt oder indirekt mit der Bourgeoisie undder Polizei in Verbindung stehen) und muss unbedingt dortarbeiten, wo die Massen sind. Man muss jedes Opfer bringen unddie größten Hindernisse überwinden können, um systematisch,hartnäckig, beharrlich, geduldig gerade in allen denjenigen - undseien es auch die reaktionärsten Einrichtungen, Vereinen undVerbänden Propaganda und Agitation zu treiben, in denen esproletarische oder halbproletarische Massen gibt. DieGewerkschaften und die Arbeitergenossenschaften (diesewenigstens mitunter) sind aber gerade Organisationen, die Massenerfassen. In England hat sich nach den Angaben der schwedischenZeitung "Folkets Dafblad-Politiken" (vom 10.3.1920) dieMitgliederzahl der Trade-Unions von Ende 1917 bis Ende 1918 von5,5 auf 6,6 Millionen, d.h. um 19 Prozent erhöht. Ende 1919schätzte man die Mitgliederzahl auf 7,5 Millionen. Ich habe dieentsprechenden Zahlen über Frankreich und Deutschland nicht zurHand, aber die Tatsachen, die von einem starken Anwachsen derMitgliederzahl der Gewerkschaften auch in diesen Ländern zeugen,sind ganz unbestreitbar und allgemein bekannt.

Diese Tatsachen beweisen sonnenklar, was auch durch Tausendeanderer Anzeichen bestätigt wird: Gerade in den proletarischenMassen, den "unteren Schichten", unter den Rückständigen, nimmtdas Klassenbewusstsein und das Streben nach Organisation zu.Millionen von Arbeitern in England, Frankreich, Deutschlandgehen zum ersten Mal von der vollständigen Unorganisiertheit zurelementaren, untersten, einfachsten (für diejenigen, die noch durchund durch von bürgerlich-demokratischen Vorurteilen erfüllt sind),zugänglichsten Organisationsform, nämlich zu den Gewerkschaftenüber, während die revolutionären, jedoch unvernünftigen linkenKommunisten daneben stehen, "Masse! Masse!" schreien - und sich

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weigern, innerhalb der Gewerkschaften zu arbeiten!! Sie tun dasunter dem Vorwand, die Gewerkschaften seien "reaktionär"!!, undklügeln eine nagelneue, blitzsaubere "Arbeiter-Union" aus, dieunbefleckt ist von bürgerlich-demokratischen Vorurteilen und freivon den Sünden zünftlerischer, eng beruflicher Beschränktheit, eine"Arbeiter-Union", die angeblich eine Massenorganisation werden(werden!) soll und die als Aufnahmebedingung nur (nur!) die"Anerkennung des Rätesystems und der Diktatur' (siehe die obenangeführte Stelle) fordert!!

Einen schlimmeren Unverstand, einen größeren Schaden für dieRevolution, als ihn die "linken" Revolutionäre anrichten, kann mansich gar nicht ausdenken! Wenn wir jetzt in Russland, nach 2½Jahren unvergleichlicher Siege über die Bourgeoisie Russlands undder Entente, die "Anerkennung der Diktatur" zur Bedingung für denEintritt in die Gewerkschaften machen wollten, so würden wir eineDummheit begehen, unserem Einfluss auf die Massen Abbruch tunund den Menschewiki Vorschub leisten. Denn die ganze Aufgabeder Kommunisten besteht darin, dass sie es verstehen, dieRückständigen zu überzeugen, unter ihnen zu arbeiten, und sichnicht durch ausgeklügelte, kindische "linke" Losungen von ihnenabsondern.

Kein Zweifel, die Herren Gompers, Henderson, Jouhaux undLegien sind solchen "linken" Revolutionären sehr dankbar, die wiedie deutsche "grundsätzliche" Opposition (der Himmel bewahreuns vor solcher "Grundsätzlichkeit"!) oder wie mancheRevolutionäre unter den amerikanischen "Industriearbeitern derWelt"17 den Austritt aus den reaktionären Gewerkschaften und die

17 "Industriearbeiter der Welt" (Industrial Workers of the World - IWW) -Gewerkschaftsorganisation der amerikanischen Arbeiter, die 1905 gegründetwurde. Während der Massenstreikbewegung, die sich unter dem Einfluss derrussischen Revolution 1905-1907 in den USA entfaltete, führten die»Industriearbeiter der Welt« eine Reihe erfolgreicher Streiks durch undbekämpften die Politik der reformistischen Führer der »AmerikanischenFöderation der Arbeit« sowie der rechten Sozialisten. Einige Führer der IWWbegrüßten die Sozialistische Oktoberrevolution und traten der KommunistischenPartei Amerikas bei. Gleichzeitig zeigten sich in der Tätigkeit der Organisationanarchosyndikalistische Züge. Die anarchosyndikalistischen Führer der IWW

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Ablehnung der Arbeit in ihnen predigen. Kein Zweifel, die Herren"Führer" des Opportunismus werden zu allen möglichen Kniffender bürgerlichen Diplomatie greifen, werden die Hilfe derbürgerlichen Regierungen, der Pfaffen, der Polizei, der Gerichte inAnspruch nehmen, um die Kommunisten nicht in dieGewerkschaften hineinzulassen, um sie auf jede Art und Weise ausden Gewerkschaften zu verdrängen, um ihnen die Arbeit in denGewerkschaften möglichst zu verleiden, um sie zu beleidigen,gegen sie zu hetzen und sie zu verfolgen. Man muss all demwiderstehen können, muss zu jedwedem Opfer entschlossen seinund sogar - wenn es sein muss - alle möglichen Schliche, Listenund illegalen Methoden anwenden, die Wahrheit verschweigen undverheimlichen, nur um in die Gewerkschaften hineinzukommen, inihnen zu bleiben und in ihnen um jeden Preis kommunistischeArbeit zu leisten. Unter dem Zarismus hatten wir bis 1905 keinerlei"legale Möglichkeit", als aber Subatow von der OchranaArbeiterversammlungen und Arbeitervereine der Schwarzhunderterinszenierte, um Revolutionäre einzufangen und den Kampf gegensie zu führen, da schickten wir in diese Versammlungen undVereine Mitglieder unserer Partei (an einen von ihnen erinnere ichmich persönlich, nämlich an Genossen Babuschkin, einenhervorragenden Petersburger Arbeiter, der von den zaristischenGeneralen 1906 erschossen worden ist), die mit der MasseVerbindung herstellten, es geschickt verstanden, Agitation zutreiben, und die Arbeiter dem Einfluss der Subatowleute entrissen.18

Natürlich, in Westeuropa, das besonders stark durchdrungen ist vonbesonders stark eingewurzelten legalistischen, konstitutionellen,bürgerlich-demokratischen Vorurteilen, lässt sich so etwas schwerer

lehnten 1920 entgegen dem Willen ihrer Mitglieder den Aufruf des EKKI, derKommunistischen Internationale beizutreten, ab. Dabei machten sie sich dieTatsache zunutze, dass viele revolutionäre Führer der IWW eingekerkert waren.

18 Die Gompers, Henderson, Jouhaux und Legien sind nichts anderes als solcheSubatow, die sich von unserem Subatow nur durch das europäische Kostüm, deneuropäischen Schliff, durch die zivilisierten, verfeinerten, demokratischverbrämten Methoden unterscheiden, mit denen sie ihre niederträchtige Politikbetreiben.

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durchführen. Aber man kann und muss es durchführen, und zwarsystematisch durchführen.

Das Exekutivkomitee der III. Internationale muss meiner Ansichtnach sowohl allgemein die Politik der Nichtbeteiligung an denreaktionären Gewerkschaften (unter ausführlicher Begründung,warum eine solche Nichtbeteiligung unvernünftig und für die Sacheder proletarischen Revolution außerordentlich schädlich ist) alsauch besonders das Verhalten einiger Mitglieder derKommunistischen Partei Hollands, die - einerlei, ob direkt oderindirekt, offen oder versteckt, ganz oder teilweise - diese falschePolitik unterstützt haben, direkt verurteilen und dem nächstenKongreß der Kommunistischen Internationale vorschlagen,dasselbe zu tun. Die III. Internationale muss mit der Taktik der II.Internationale brechen, sie darf die heiklen Fragen nicht umgehen,nicht vertuschen, sondern muss sie mit aller Schärfe stellen. Wirhaben den "Unabhängigen" (der UnabhängigenSozialdemokratischen Partei Deutschlands) die ganze Wahrheit insGesicht gesagt, wir müssen auch den "linken" Kommunisten dieganze Wahrheit ins Gesicht sagen.

VII. Soll man sich an den bürgerlichen Parlamenten beteiligen?

Die deutschen "linken" Kommunisten beantworten diese Fragemit größter Geringschätzung - und mit größter Leichtfertigkeit -verneinend. Ihre Argumente? In dem oben angeführten Zitat habenwir gelesen:

»... jede Rückkehr zu den historisch und politisch erledigtenKampfformen des Parlamentarismus ... ist mit allerEntschiedenheit abzulehnen...«

Das ist bis zur Lächerlichkeit anmaßend gesagt und offenkundigfalsch. "Rückkehr" zum Parlamentarismus! Gibt es in Deutschlandgar schon eine Sowjetrepublik? Doch wohl nicht! Wie kann manalso von einer "Rückkehr" reden? Ist das nicht eine leere Phrase?

Der Parlamentarismus ist »historisch erledigt«. Im Sinne derPropaganda ist das richtig. Aber jedermann weiß, dass es von da biszur praktischen Überwindung noch sehr weit ist. Den Kapitalismus

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konnte man bereits vor vielen Jahrzehnten, und zwar mit vollemRecht, als "historisch erledigt" bezeichnen, das enthebt uns aberkeineswegs der Notwendigkeit eines sehr langen und sehrhartnäckigen Kampfes auf dem Boden des Kapitalismus. DerParlamentarismus ist im welthistorischen Sinne "historischerledigt", d.h., die Epoche des bürgerlichen Parlamentarismus istbeendet, die Epoche der Diktatur des Proletariats hat begonnen.Das ist unbestreitbar. Aber der welthistorische Maßstab rechnetnach Jahrzehnten. 10 bis 20 Jahre früher oder später, das ist, mitdem welthistorischen Maßstab gemessen, gleichgültig, das ist -vom Standpunkt der Weltgeschichte aus gesehen - eine Kleinigkeit,die man nicht einmal annähernd berechnen kann. Aber geradedeshalb ist es eine haarsträubende theoretische Unrichtigkeit, sichin einer Frage der praktischen Politik auf den welthistorischenMaßstab zu berufen.

Der Parlamentarismus ist »politisch erledigt«? Das ist eine ganzandere Sache. Wäre das richtig, dann hätten die "Linken" eine festePosition. Das müßte jedoch durch eine sehr gründliche Analysebewiesen werden, die "Linken" aber verstehen es nicht einmal, aneine solche Analyse heranzugehen. In den "Thesen über denParlamentarismus", die in Nr. 1 des 'Bulletins des ProvisorischenAmsterdamer Büros der Kommunistischen Internationale' ('Bulletinof the Provisional Bureau in Amsterdam of the CommunistInternational', February 1920) veröffentlicht sind und offensichtlichdie Ansichten der holländisch-linken oder links-holländischenRichtung zum Ausdruck bringen, ist die Analyse, wie wir sehenwerden, ebenfalls ganz miserabel.

Erstens. Die deutschen »Linken« haben entgegen der Meinung sohervorragender politischer Führer wie Rosa Luxemburg und KarlLiebknecht bekanntlich schon im Januar 1919 denParlamentarismus für »politisch erledigt« gehalten. Wie bekannt,haben sich die "Linken" geirrt. Schon das allein stößt sofort undradikal die These um, dass der Parlamentarismus »politischerledigt« sei. Den "Linken" obliegt es zu beweisen, weshalb ihrunbestreitbarer Fehler von damals jetzt aufgehört hat, ein Fehler zusein. Nicht einmal den Schimmer eines Beweises führen sie an und

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können sie anführen. Das Verhalten einer politischen Partei zu ihrenFehlern ist eines der wichtigsten und sichersten Kriterien für denErnst einer Partei und für die tatsächliche Erfüllung ihrer Pflichtengegenüber ihrer Klasse und den werktätigen Massen. Einen Fehleroffen zuzugeben, seine Ursachen aufdecken, die Umstände, die ihnhervorgerufen haben, analysieren, die Mittel zur Behebung desFehlers sorgfältig prüfen - das ist das Merkmal einer ernsten Partei,das heißt Erfüllung ihrer Pflichten, das heißt Erziehung undSchulung der Klasse und dann auch der Masse. Wenn die "Linken"in Deutschland (und in Holland) diese ihre Pflicht nicht erfüllen,wenn sie nicht mit größter Aufmerksamkeit, Sorgfalt und Vorsichtan das Studium ihres offenkundigen Fehlers gehen, so beweisen siegerade dadurch, dass sie nicht eine Partei der Klasse, sondern einKonventikel, nicht eine Partei der Massen, sondern eine Gruppevon Intellektuellen und einigen wenigen Arbeitern sind, die dieschlechtesten Eigenschaften der Intellektuellen kopieren.

Zweitens. In derselben Broschüre der Frankfurter Gruppe der"Linken", aus der wir oben ausführliche Zitate angeführt haben,lesen wir:

»Die Millionen der im Banne der Zentrumspolitik« (der Politikder katholischen Zentrumspartei) »noch marschierenden Arbeitersind gegenrevolutionär. Die Landproletarier stellen Legionengegenrevolutionärer Truppen.« (S.3 der obengenanntenBroschüre.)

Man merkt an allem, dass das allzu schwungvoll gesagt undübertrieben ist. Aber die hier dargelegte grundlegende Tatsache istunbestreitbar, und dass die "Linken" sie anerkennen, zeugtbesonders anschaulich von ihrem Fehler. Wie kann man denn davonreden, dass der »Parlamentarismus politisch erledigt« sei, wenn»Millionen« und »Legionen« Proletarier nicht nur für denParlamentarismus schlechthin eintreten, sondern sogar direkt»gegenrevolutionär« sind!? Es ist klar, dass der Parlamentarismusin Deutschland politisch noch nicht erledigt ist. Es ist klar, dass die»Linken« in Deutschland ihren eigenen Wunsch, ihre eigeneideologisch-politische Stellung für die objektive Wirklichkeit

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halten. Das ist der gefährlichste Fehler, den Revolutionäre machenkönnen. In Russland, wo das überaus barbarische und grausameJoch des Zarismus besonders lange und in besondersmannigfaltigen Formen Revolutionäre verschiedener Richtungenhervorgebracht hat, Revolutionäre, deren Hingabe, Enthusiasmus,Heldenmut und Willenskraft bewundernswert sind, in Russlandhaben wir diesen Fehler an Revolutionären aus nächster Nähebeobachtet, haben ihn besonders aufmerksam studiert, kennen ihnbesonders gut und sehen ihn deshalb auch bei anderen besondersklar. Für die Kommunisten in Deutschland ist derParlamentarismus natürlich »politisch erledigt«, aber es kommtgerade darauf an, dass wir das, was für uns erledigt ist, nicht alserledigt für die Klasse, nicht als erledigt für die Massen betrachten.Gerade hier sehen wir wiederum, dass die "Linken" nicht zuurteilen verstehen, dass sie nicht als Partei der Klasse, als Partei derMassen zu handeln verstehen. Ihr seid verpflichtet, nicht auf dasNiveau der Massen, nicht auf das Niveau der rückständigenSchichten der Klasse hinabzusinken. Das ist unbestreitbar. Ihr seidverpflichtet, ihnen die bittere Wahrheit zu sagen. Ihr seidverpflichtet, ihre bürgerlich-demokratischen und parlamentarischenVorurteile beim richtigen Namen zu nennen. Aber zugleich seid ihrverpflichtet, den tatsächlichen Bewusstseins- und Reifegrad ebender ganzen Klasse (und nicht nur ihrer kommunistischenAvantgarde), eben der ganzen werktätigen Masse (und nicht nurihrer fortgeschrittensten Vertreter) nüchtern zu prüfen.

Selbst wenn keine "Millionen" und "Legionen", sondern bloßeine ziemlich beträchtliche Minderheit von Industriearbeitern denkatholischen Pfaffen und von Landarbeitern den Junkern undGroßbauern nachläuft, ergibt sich schon daraus unzweifelhaft, dassder Parlamentarismus in Deutschland politisch noch nicht erledigtist, dass die Beteiligung an den Parlamentswahlen und am Kampfauf der Parlamentstribüne für die Partei des revolutionärenProletariats unbedingte Pflicht ist, gerade um die rückständigenSchichten ihrer Klasse zu erziehen, gerade um die unentwickelte,geduckte, unwissende Masse auf dem Lande aufzurütteln undaufzuklären. Solange ihr nicht stark genug seid, das bürgerliche

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Parlament und alle sonstigen reaktionären Institutionenauseinanderzujagen, seid ihr verpflichtet, gerade innerhalb dieserInstitutionen zu arbeiten, weil sich dort noch Arbeiter befinden, dievon den Pfaffen und durch das Leben in den ländlichenProvinznestern verdummt worden sind. Sonst lauft ihr Gefahr,einfach zu Schwätzern zu werden.

Drittens. Die "linken" Kommunisten sagen über uns Bolschewikisehr viel Gutes. Manchmal möchte man sagen: Wenn sie uns dochweniger loben, wenn sie doch in die Taktik der Bolschewiki bessereindringen, sich besser mit ihr vertraut machen wollten! Wir habenuns im September bis November 1917 an den Wahlen zumbürgerlichen Parlament Russlands, zur KonstituierendenVersammlung, beteiligt. War unsere Taktik richtig oder nicht? Wennnicht, so muss das klar gesagt und bewiesen werden; das istnotwendig, damit der internationale Kommunismus eine richtigeTaktik ausarbeitet. Wenn ja, so müssen daraus bestimmteSchlussfolgerungen gezogen werden. Selbstverständlich kann voneiner Gleichsetzung der Verhältnisse in Russland und derVerhältnisse in Westeuropa keine Rede sein.

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bürgerliches Duma-Parlament (noch mit Zar)

Speziell in der Frage jedoch, was der Satz: "DerParlamentarismus ist politisch erledigt!" bedeutet, muss unsereErfahrung unbedingt genau in Betracht gezogen werden, dennsolche Aussprüche verwandeln sich allzu leicht in hohle Phrasen,wenn die konkrete Erfahrung nicht in Betracht gezogen wird.Hatten wir russischen Bolschewiki im September-November 1917nicht mehr als jeder beliebige Kommunist im Westen das Recht,anzunehmen, dass der Parlamentarismus in Russland politischerledigt sei?

Natürlich hatten wir es, denn es kommt ja nicht darauf an, ob diebürgerlichen Parlamente lange oder kurze Zeit bestehen, sonderndarauf, wieweit die breiten Massen der Werktätigen (ideologisch,politisch, praktisch) bereit sind, die Sowjetordnung anzunehmen

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und das bürgerlich-demokratische Parlament auseinanderzujagen(oder seine Auseinanderjagung zuzulassen).

Dass in Russland im September-November 1917 dieArbeiterklasse der Städte, die Soldaten und die Bauern infolge einerReihe von besonderen Umständen für die Annahme derSowjetordnung und die Auseinanderjagung selbst desdemokratischsten bürgerlichen Parlaments außerordentlich gutvorbereitet waren, ist eine ganz unbestreitbare und einwandfreifeststehende historische Tatsache.

Und trotzdem haben die Bolschewiki die KonstituierendeVersammlung nicht boykottiert, sondern haben sich sowohl vor alsauch nach der Eroberung der politischen Macht durch dasProletariat an den Wahlen beteiligt. Dass diese Wahlenaußerordentlich wertvolle (und für das Proletariat im höchsten Gradnützliche) politische Resultate gezeitigt haben, hoffe ich, in demobenerwähnten Artikel bewiesen zu haben, der das Material überdie Wahlen zur Konstituierenden Versammlung in Russlandeingehend analysiert.

Daraus ergibt sich eine ganz unbestreitbare Schlussfolgerung: Esist bewiesen, dass sogar einige Wochen vor dem Siege derSowjetrepublik, ja sogar nach diesem Siege die Beteiligung ambürgerlich-demokratischen Parlament dem revolutionärenProletariat nicht nur nicht schadet, sondern es ihm erleichtert, denrückständigen Massen zu beweisen, weshalb solche Parlamente esverdienen, auseinandergejagt zu werden, es ihm erleichtert, sie mitErfolg auseinanderzujagen, es ihm erleichtert, den bürgerlichenParlamentarismus "politisch zu erledigen". Diese Erfahrung nicht inRechnung stellen und gleichzeitig auf die Zugehörigkeit zurKommunistischen Internationale Anspruch erheben, die ihre Taktikinternational (nicht als eng oder einseitig nationale, sondern ebenals internationale Taktik) auszuarbeiten hat, heißt einen sehrschweren Fehler begehen und vom Internationalismus gerade in derPraxis abweichen, während man ihn in Worten anerkennt.

Betrachten wir nun die "holländisch-linken" Argumente für dieNichtbeteiligung an den Parlamenten. Die wichtigste der

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obengenannten "holländischen" Thesen, die vierte These, lautet inder Übersetzung (aus dem Englischen) folgendermaßen:

»Wenn das kapitalistische Produktionssystemzusammengebrochen ist und die Gesellschaft sich im Zustand derRevolution befindet, verliert die parlamentarische Aktion, imVergleich zur Aktion der Massen selbst, allmählich ihreBedeutung. Wenn unter diesen Umständen das Parlament zumZentrum und Organ der Konterrevolution wird, andrerseits aberdie Arbeiterklasse ihre Machtinstrumente in Gestalt der Sowjetsaufbaut - kann es sogar notwendig werden, sich all und jederBeteiligung an der parlamentarischen Aktion zu enthalten.«

Der erste Satz ist offenkundig falsch, denn die Aktion der Massenz.B. ein großer Streik - ist immer und keineswegs nur während derRevolution oder in einer revolutionären Situation wichtiger als dieparlamentarische Aktion. Dieses offenkundig unhaltbare, historischund politisch falsche Argument zeigt nur mit besondererAnschaulichkeit, dass die Verfasser weder die gesamteuropäischenErfahrungen (die französische vor den Revolutionen von 1848 und1870; die deutsche der Jahre 1878 bis 1890 usw.) noch dierussischen Erfahrungen (siehe oben), die zeigen, wie wichtig es ist,den legalen und den illegalen Kampf zu verbinden, auch nur imgeringsten berücksichtigen. Diese Frage ist im allgemeinen wieauch speziell deswegen von allergrößter Bedeutung, weil in allenzivilisierten und fortgeschrittenen Ländern schnell die Zeitheranrückt, da eine solche Verbindung für die Partei desrevolutionären Proletariats immer mehr und mehr zu einerNotwendigkeit wird - teilweise schon geworden ist -, und zwarinfolge des Heranreifens und Herannahens des Bürgerkriegszwischen Proletariat und Bourgeoisie, infolge der wütendenVerfolgungen der Kommunisten durch die republikanischen undüberhaupt die bürgerlichen Regierungen, die sich auf jede Art undWeise über die Legalität hinwegsetzen (wie schwer wiegt allein dasBeispiel Amerikas) usw. Diese höchst wichtige Frage haben dieHolländer und überhaupt die Linken absolut nicht begriffen.

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Der zweite Satz ist erstens historisch falsch. Wir Bolschewikibeteiligten uns selbst an den konterrevolutionärsten Parlamenten,und die Erfahrung hat gezeigt, dass eine solche Beteiligung für diePartei des revolutionären Proletariats gerade nach der erstenbürgerlichen Revolution in Russland (1905) nicht nur nützlich,sondern auch notwendig war, um die zweite bürgerliche (Februar1917) und dann die sozialistische (Oktober 1917) Revolutionvorbereiten zu können. Zweitens ist dieser Satz erstaunlichunlogisch. Daraus, dass das Parlament zum Organ und "Zentrum"der Konterrevolution wird (in Wirklichkeit ist es niemals das"Zentrum" gewesen und kann es auch nicht sein, doch das nurnebenbei) und die Arbeiter ihre Machtinstrumente in Gestalt derSowjets schaffen, folgt, dass die Arbeiter sich darauf vorbereiten -ideologisch, politisch und technisch vorbereiten - müssen, dasParlament durch die Sowjets zu bekämpfen, das Parlament durchdie Sowjets auseinanderzujagen. Daraus folgt aber keineswegs,dass ein solches Auseinanderjagen durch das Vorhandensein einerSowjetopposition innerhalb des konterrevolutionären Parlamentserschwert oder doch nicht erleichtert würde. Wir haben währendunseres siegreichen Kampfes gegen Denikin und Koltschak keineinziges Mal gemerkt, dass das Bestehen einer sowjetischen, einerproletarischen Opposition bei ihnen für unsere Siege gleichgültiggewesen wäre. Wir wissen sehr wohl, dass uns dasAuseinanderjagen der Konstituante am 5.1.1918 nicht erschwert,sondern erleichtert worden ist dadurch, dass innerhalb derauseinanderzujagenden konterrevolutionären Konstituante sowohleine konsequente, die bolschewistische, als auch eineinkonsequente, die linke sozialrevolutionäre, Sowjetoppositionvorhanden war. Die Verfasser der These haben sich völligverheddert und die Erfahrung zahlreicher, wenn nicht allerRevolutionen vergessen, die davon zeugt, dass es zuRevolutionszeiten besonders nützlich ist, die Massenaktionenaußerhalb des reaktionären Parlaments mit einer Opposition, diemit der Revolution sympathisiert (oder noch besser: die Revolutiondirekt unterstützt), innerhalb dieses Parlaments zu verbinden, DieHolländer und die "Linken" überhaupt urteilen hier wie Doktrinäreder Revolution, die an einer wirklichen Revolution niemals

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teilgenommen oder sich in die Geschichte der Revolutionen nichtvertieft haben oder naiv die subjektive "Ablehnung" einerbestimmten reaktionären Institution für deren tatsächlicheZerstörung durch die vereinten Kräfte einer ganzen Reihe vonobjektiven Faktoren halten. Das sicherste Mittel, eine neuepolitische (und nicht nur eine politische) Idee zu diskreditieren undihr zu schaden, besteht darin, sie ad absurdum zu führen, währendman sie verteidigt. Denn jede Wahrheit kann man, wenn man sie"überschwenglich" macht (wie der alte Dietzgen zu sagen pflegte),wenn man sie übertreibt, wenn man sie über die Grenzen ihrerwirklichen Anwendbarkeit hinaus ausdehnt, ad absurdum führen, jasie wird unter diesen Umständen unvermeidlich absurd. Und ebendiesen Bärendienst erweisen die holländischen und die deutschenLinken der neuen Wahrheit, dass die Sowjetmacht den bürgerlich-demokratischen Parlamenten überlegen ist.

Selbstverständlich wäre jemand, der so wie früher und ganzallgemein sagen wollte, dass ein Verzicht auf die Beteiligung anbürgerlichen Parlamenten unter keinen Umständen zulässig sei, imUnrecht.

Ich kann hier nicht versuchen, die Bedingungen zu formulieren,unter denen ein Boykott von Nutzen ist, denn diese Schrift stelltsich die viel bescheidenere Aufgabe, im Zusammenhang miteinigen brennenden Tagesfragen der internationalenkommunistischen Taktik die russischen Erfahrungen auszuwerten.Die russischen Erfahrungen haben uns einmal (1905) eineerfolgreiche und richtige und ein andermal (1906) eine verfehlteAnwendung des Boykotts durch die Bolschewiki geliefert.Analysieren wir den ersten Fall, so sehen wir, dass es uns gelang,die Einberufung eines reaktionären Parlaments durch diereaktionäre Regierung in einer Situation zu verhindern, da sich dieaußerparlamentarische revolutionäre Aktion der Massen(insbesondere die Streikbewegung) mit ungewöhnlicherSchnelligkeit ausbreitete, da keine einzige Schicht des Proletariatsund der Bauernschaft die reaktionäre Regierung irgendwieunterstützen konnte, da sich das revolutionäre Proletariat durch den

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Streikkampf und die Agrarbewegung den Einfluss auf dierückständigen breiten Massen gesichert hatte.

Es ist vollkommen klar, dass diese Erfahrung auf diegegenwärtigen europäischen Verhältnisse nicht anwendbar ist. Esist auch vollkommen klar - auf Grund der oben angeführtenArgumente -, dass ein Verzicht auf die Beteiligung an denParlamenten, wie er von den Holländern und den "Linken", wennauch nur bedingt, verfochten wird, grundfalsch und für die Sachedes revolutionären Proletariats schädlich wäre.

In Westeuropa und Amerika hat sich das Parlament denbesonderen Hass der fortgeschrittenen Revolutionäre aus derArbeiterklasse zugezogen. Das ist unbestreitbar. Es ist durchausbegreiflich, denn man kann sich schwerlich etwasNiederträchtigeres, Gemeineres, Verräterischeres vorstellen als dasVerhalten der übergroßen Mehrheit der sozialistischen undsozialdemokratischen Abgeordneten im Parlament während desKrieges und nach dem Kriege.

Es wäre aber nicht nur unvernünftig, sondern geradezuverbrecherisch, dieser Stimmung nachzugeben, wenn die Frageentschieden werden muss, wie das von allen erkannte Übel zubekämpfen ist. In vielen Ländern Westeuropas ist die revolutionäreStimmung jetzt gewissermaßen eine "Neuheit" oder "Seltenheit",auf die man allzulange, vergeblich, ungeduldig gewartet hat, undvielleicht gibt man deswegen dieser Stimmung so leicht nach.Natürlich kann ohne revolutionäre Stimmung unter den Massenund ohne Bedingungen, die das Anwachsen einer solchenStimmung fördern, die revolutionäre Taktik nicht in die Tatumgesetzt werden; wir in Russland haben uns aber durchallzulange, schwere, blutige Erfahrungen von der Wahrheitüberzeugt, dass die revolutionäre Taktik auf revolutionärerStimmung allein nicht aufgebaut werden kann. Die Taktik muss aufeiner nüchternen, streng objektiven Einschätzung allerKlassenkräfte des betreffenden Staates (und der ihn umgebendenStaaten sowie aller Staaten der ganzen Welt) sowie auf derBerücksichtigung der von den revolutionären Bewegungen

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gesammelten Erfahrungen aufgebaut werden. Es ist sehr leicht,seinen "Revolutionismus" nur durch Schimpfen auf denparlamentarischen Opportunismus, nur durch Ablehnung derBeteiligung an den Parlamenten zu bekunden, aber gerade weil dasnur allzu leicht ist, ist es keine Lösung der schwierigen, überausschwierigen Aufgabe.

In den europäischen Parlamenten ist es viel schwieriger, einewirklich revolutionäre Parlamentsfraktion zu schaffen, als es inRussland der Fall war. Gewiss. Aber das ist nur ein besondererAusdruck der allgemeinen Wahrheit, dass es für Russland in derkonkreten, historisch außerordentlich eigenartigen Situation von1917 leicht war, die sozialistische Revolution zu beginnen,während es für Russland schwerer als für die europäischen Ländersein wird, sie fortzusetzen und zu Ende zu führen. Bereits Anfang1918 musste ich auf diesen Umstand hinweisen, und die späterenzweijährigen Erfahrungen haben die Richtigkeit dieser Erwägungvollauf bestätigt. Solche spezifische Bedingungen wie:

1. die Möglichkeit, den Sowjetumsturz mit der dank diesemUmsturz herbeigeführten Beendigung des imperialistischen Kriegeszu verbinden, der die Arbeiter und Bauern aufs äußerste erschöpfthatte;

2. die Möglichkeit, eine gewisse Zeit lang den auf Tod und Lebengeführten Kampf der beiden weltbeherrschenden Gruppenimperialistischer Räuber auszunutzen, der beiden Gruppen, die sichnicht gegen die Sowjets, ihren Feind, vereinigen konnten;

3. die Möglichkeit - teilweise dank der ungeheuren Ausdehnungdes Landes und den schlechten Verkehrsmitteln -, einenverhältnismäßig langwierigen Bürgerkrieg auszuhalten;

4. das Vorhandensein einer so tief gehenden bürgerlich-demokratischen revolutionären Bewegung unter der Bauernschaft,dass die Partei des Proletariats die revolutionären Forderungen vonder Partei der Bauern (der Sozialrevolutionäre, einer Partei, die inihrer Mehrheit dem Bolschewismus ausgesprochen feindlichgegenüberstand) übernehmen und sie dank der Eroberung der

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politischen Macht durch das Proletariat unverzüglich verwirklichenkonnte –

solche spezifische Bedingungen sind jetzt in Westeuropa nichtvorhanden, und die Wiederkehr solcher oder ähnlicherBedingungen ist nicht allzu leicht möglich.

Deshalb übrigens ist es, neben einer Reihe anderer Gründe, fürWesteuropa schwerer, als es für uns war, die sozialistischeRevolution zu beginnen. Diese Schwierigkeit dadurch "umgehen"zu wollen, dass man die schwere Aufgabe der Ausnutzungreaktionärer Parlamente zu revolutionären Zwecken "überspringen"möchte, ist reinste Kinderei.

Ihr wollt eine neue Gesellschaft schaffen? und ihr fürchtetSchwierigkeiten bei der Schaffung einer guten Parlamentsfraktionaus überzeugten, treuen, heldenhaften Kommunisten imreaktionären Parlament! Ist das etwa nicht Kinderei? Wenn KarlLiebknecht in Deutschland und Z. Höglund in Schweden es sogarohne Unterstützung der Massen von unten vermocht haben,Musterbeispiele einer wirklich revolutionären Ausnutzungreaktionärer Parlamente zu geben, warum sollte dann eine raschwachsende revolutionäre Massenpartei unter denNachkriegsverhältnissen der Enttäuschung und Erbitterung derMassen nicht imstande sein, sich in den schlimmsten Parlamenteneine kommunistische Fraktion zu schmieden?!

Gerade deshalb, weil die rückständigen Massen der Arbeiter und -in noch höherem Grade - der Kleinbauern in Westeuropa vielstärker als in Russland von bürgerlich-demokratischen undparlamentarischen Vorurteilen durchdrungen sind, gerade deshalbkönnen (und müssen) die Kommunisten nur in solchenInstitutionen wie den bürgerlichen Parlamenten von innen herausden langwierigen, hartnäckigen, vor keinen Schwierigkeitenzurückschreckenden Kampf zur Enthüllung, Zerstreuung undÜberwindung dieser Vorurteile führen.

Die deutschen "Linken" klagen über die schlechten "Führer" ihrerPartei und geraten darob in Verzweiflung, wobei sie sich bis zurlächerlichen "Verneinung" der "Führer" versteigen.

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Aber unter Bedingungen, wo man die "Führer" häufig in derIllegalität verstecken muss, ist es besonders schwer, gute,zuverlässige, erprobte, angesehene "Führer" herauszubilden, unddiese Schwierigkeiten kann man nicht mit Erfolg überwinden, ohnedie legale und die illegale Arbeit miteinander zu verbinden, ohnedie "Führer" unter anderem auch in der Parlamentsarena zuerproben. Die Kritik - und zwar die schärfste, schonungsloseste,unversöhnlichste Kritik - ist nicht gegen den Parlamentarismusoder gegen die parlamentarische Tätigkeit zu richten, sonderngegen jene Führer, die es nicht verstehen, die Parlamentswahlenund die Parlamentstribüne auf revolutionäre, auf kommunistischeArt auszunutzen, und noch mehr gegen diejenigen, die das nichtwollen. Nur eine solche Kritik, natürlich verbunden damit, dassman die untauglichen Führer fortjagt und durch taugliche ersetzt,wird eine nützliche und fruchtbringende revolutionäre Arbeit sein,die gleichzeitig sowohl die "Führer" erzieht, damit sie derArbeiterklasse und der werktätigen Massen würdig sind, als auchdie Massen erzieht, damit sie lernen, sich in der politischen Lagezurechtzufinden und die mitunter sehr komplizierten undverwickelten Aufgaben zu verstehen, die sich aus dieser Lageergeben.19

19 Ich hatte zuwenig Gelegenheit, den "linken' Kommunismus in Italienkennenzulernen. Unzweifelhaft sind Gen. Bordiga und seine Fraktion der"kommunistischen Boykottisten" (Comunista astensionista) im Unrecht, wennsie die Nichtbeteiligung am Parlament verfechten. In einem Punkt aber scheintGen. Bordiga recht zu haben - soweit man sich auf Grund von zwei Nummernseiner Zeitung "ll Soviet" (Nr. 3 und 4 vorn 18.1, und 1.11. 1920), vier Heftender vortrefflichen Zeitschrift des Gen. Serrati "Comunismo" (Nr. 1-4 vom 1.X.bis 30.XI. 1919) und einzelner Nummern italienischer bürgerlicher Zeitungen,die zu lesen ich Gelegenheit hatte, ein Urteil bilden kann. Und zwar sind Gen.Bordiga und seine Fraktion im Recht mit ihren Angriffen gegen Turati unddessen Gesinnungsgenossen, die in einer Partei bleiben, welche die Sowjetmachtund die Diktatur des Proletariats anerkannt hat, die Mitglieder des Parlamentsbleiben und ihre überaus schädliche, alte, opportunistische Politik fortsetzen.Natürlich machen Gen. Serrati und die gesamte "Italienische SozialistischePartei"* dadurch, dass sie das dulden, einen Fehler, der ebenso großen Schadenanzurichten und eine ebenso große Gefahr heraufzubeschwören droht, wie das inUngarn der Fall war, wo die ungarischen Herren Turati sowohl die Partei alsauch die Rätemacht von innen heraus sabotierten. Dieses falsche, inkonsequenteoder charakterlose Verhalten gegenüber den opportunistischen Parlamentariern

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VIII. Keinerlei Kompromisse?

Wir haben im Zitat aus der Frankfurter Broschüre gesehen, mitwelcher Entschiedenheit die "Linken" diese Losung aufstellen. Esist traurig mitanzusehen, wie Leute, die sich zweifellos fürMarxisten halten und Marxisten sein möchten, dieGrundwahrheiten des Marxismus vergessen haben. Engels, derebenso wie Marx zu jenen überaus seltenen Schriftstellern gehört,bei denen jeder Satz einer jeden größeren Arbeit vonbewundernswerter Tiefe des Inhalts ist, schrieb 1874 gegen dasManifest der 33 blanquistischen Kommunarden folgendes:

»'Wir sind Kommunisten, (schrieben in ihrem Manifest dieblanquistischen Kommunarden), weil wir bei unseren Zielankommen wollen, ohne uns an Zwischenstationen aufzuhalten,an Kompromissen, die nur den Sieg vertagen und die Sklavereiverlängern.'

Die deutschen Kommunisten sind Kommunisten, weil sie durchalle Zwischenstationen und Kompromisse, die nicht von ihnen,sondern von der geschichtlichen Entwicklung geschaffen werden,das Endziel klar hindurchsehen und verfolgen: die Abschaffungder Klassen, die Errichtung einer Gesellschaft, worin keinPrivateigentum an der Erde und an den Produktionsmitteln mehrexistiert. Die Dreiunddreißig sind Kommunisten, weil sie sicheinbilden, sobald sie nur den guten Willen haben, dieZwischenstationen und Kompromisse zu überspringen, sei dieSache abgemacht, und wenn es, wie ja feststeht, dieser Tage

erzeugt einerseits den "linken" Kommunismus und rechtfertigt anderseits bis zueinem gewissen Grade dessen Existenz. Gen. Serrati hat offenkundig unrecht,wenn er dem Abgeordneten Turati "Inkonsequenz" vorwirft ('Comunismo' Nr. 3),denn inkonsequent ist gerade die Italienische Sozialistische Partei, die solcheopportunistischen Parlamentarier wie Turati und Co. duldet.

* Die "Italienische Sozialistische Partei" wurde 1892 als "Partei der italienischenArbeiter" gegründet und 1893 in "Italienische Sozialistische Partei" umbenannt.Nach dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Russlandverstärkte sich der linke Flügel in der Italienischen Sozialistischen Partei. ImJanuar 1921, auf dem Parteitag von Livorno, brachen die Linken mit derSozialistischen Partei, beriefen einen eigenen Parteitag ein und gründeten dieKommunistische Partei Italiens.

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'losgeht' und sie nur ans Ruder kommen, so sei übermorgen derKommunismus eingeführt'. Wenn das nicht sofort möglich, sindsie also auch keine Kommunisten.

Kindliche Naivität, die Ungeduld als einen theoretischüberzeugenden Grund anzuführen!« (F. Engels, "Programm derblanquistischen Kommuneflüchtlinge"20, aus der deutschensozialdemokratischen Zeitung 'Der Volksstaat', 1874, Nr. 73, nachdem Sammelband "Artikel 1871 bis 1875", russ. Übersetzung,Petrograd 1919, S. 52/53.)

Engels bringt in demselben Aufsatz seine tiefe Hochschätzung fürVaillant zum Ausdruck und spricht von dem "unbestrittenenVerdienst" Vaillants (der ebenso wie Guesde ein hervorragenderFührer des internationalen Sozialismus gewesen war, bevor beideim August 1914 den Sozialismus verrieten). Aber denoffenkundigen Fehler lässt Engels nicht ohne gründliche Analyse.Sehr jungen und unerfahrenen Revolutionären scheint es, natürlichebenso wie kleinbürgerlichen Revolutionären, sogar wenn sie sehrehrwürdigen Alters und reich an Erfahrungen sind, außerordentlich"gefährlich", unverständlich, ja falsch zu sein, "Kompromisse zuerlauben". Und viele Sophisten (die übermäßig oder allzu"erfahrene" Politikaster sind) argumentieren ebenso wie die vonGen. Lansbury erwähnten englischen Führer des Opportunismus:"Wenn den Bolschewiki dieses oder jenes Kompromiss erlaubt ist,warum sollen wir dann nicht beliebige Kompromisse schließendürfen?" Die Proletarier aber, die in zahlreichen Streiks geschultworden sind (um nur diese eine Erscheinungsform desKlassenkampfes herauszugreifen), pflegen sich die von Engelsdargelegte überaus tiefe (philosophische, historische, politische undpsychologische) Wahrheit ausgezeichnet anzueignen. JederProletarier hat einen Streik mitgemacht, hat "Kompromisse" mitden verhassten Unterdrückern und Ausbeutern miterlebt, wo dieArbeiter die Arbeit aufnehmen mussten, entweder ohne überhauptetwas erreicht zu haben oder indem sie darauf eingingen, dass ihre

20 Siehe Friedrich Engels, "Programm der blanquistischenKommuneflüchtlinge", in Karl Marx/Friedridi Engels, Werke, Bd. 18, Berlin1969, S. 533.

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Forderungen nur teilweise befriedigt wurden. Jeder Proletariererkennt, dank dem Milieu des Massenkampfes und der starkenZuspitzung der Klassengegensätze, in dem er lebt, den Unterschiedzwischen einem Kompromiss, das durch die objektivenVerhältnisse erzwungen ist (wenn die Streikkasse leer ist, wenn dieStreikenden keine Unterstützung von außen erhalten, wenn sie biszum äußersten ausgehungert und erschöpft sind), einemKompromiss, das bei den Arbeitern, die ein solches Kompromissgeschlossen haben, die revolutionäre Hingabe und Bereitschaft zumweiteren Kampf keineswegs beeinträchtigt - und anderseits einemKompromiss von Verrätern, die ihren Eigennutz (Streikbrecherschließen ebenfalls ein "Kompromiss"!), ihre Feigheit, ihrenWunsch, sich bei den Kapitalisten lieb Kind zu machen, ihreEmpfänglichkeit für Einschüchterungen, manchmal auch fürÜberredungskünste, für Almosen, für Schmeicheleien derKapitalisten, hinter objektiven Ursachen verbergen (besonders vielesolcher Kompromisse von Verrätern finden wir in der Geschichteder englischen Arbeiterbewegung bei den Führern der englischenTrade-Unions, doch haben fast alle Arbeiter in allen Ländernähnliche Erscheinungen in dieser oder jener Form beobachtet).

Es gibt natürlich einzelne, außerordentlich schwierige undverwickelte Fälle, in denen es nur mit größter Mühe gelingt, denwirklichen Charakter dieses oder jenes "Kompromisses" richtig zubestimmen, wie es Fälle von Mord gibt, in denen es gar nicht soleicht ist zu entscheiden, ob ein durchaus gerechtfertigter odersogar notwendiger Totschlag (z.B. in Notwehr) oder eineunverzeihliche Fahrlässigkeit oder gar ein fein eingefädelterheimtückischer Plan vorliegt. Es versteht sich von selbst, dass es inder Politik, wo es sich mitunter um äußerst komplizierte - nationaleund internationale - Wechselbeziehungen zwischen den Klassenund Parteien handelt, sehr viele weit schwierigere Fälle geben wirdals die Frage, ob ein bestimmtes "Kompromiss" bei einem Streikberechtigt oder ob es das verräterische "Kompromiss" einesStreikbrechers, eines verräterischen Führers usw. war. Ein Rezeptoder eine allgemeine Regel, brauchbar für alle Fälle ("keinerleiKompromisse"!), fabrizieren zu wollen wäre Unsinn.

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Man muss selbst einen Kopf auf den Schultern haben, um sich injedem einzelnen Fall zurechtzufinden. Gerade darin besteht unteranderem die Bedeutung der Parteiorganisation und der Parteiführer,die diesen Namen verdienen, dass man durch langwierige,hartnäckige, mannigfaltige, allseitige Arbeit aller denkendenVertreter der gegebenen Klasse21 die notwendigen Kenntnisse, dienotwendigen Erfahrungen, das - neben Wissen und Erfahrung -notwendige politische Fingerspitzengefühl erwirbt, umkomplizierte politische Fragen schnell und richtig zu lösen.

Naive und ganz unerfahrene Leute bilden sich ein, es genüge, dieZulässigkeit von Kompromissen überhaupt anzuerkennen - undschon werde jede Grenze verwischt zwischen dem Opportunismus,gegen den wir einen unversöhnlichen Kampf führen und führenmüssen, und dem revolutionären Marxismus oder Kommunismus.Wenn aber solche Leute noch nicht wissen, dass alle Grenzensowohl in der Natur als auch in der Gesellschaft beweglich und biszu einem gewissen Grade bedingt sind, so ist ihnen nicht anders zuhelfen als durch anhaltende Belehrung, Erziehung, Aufklärung,durch politische und alltägliche Erfahrung. Wichtig ist, dass man esversteht, unter den praktischen Fragen der Politik jedes einzelnenoder besonderen historischen Augenblicks diejenigenherauszufinden, in denen die hauptsächliche Spielart derunzulässigen, verräterischen Kompromisse zum Ausdruck kommt,die den für die revolutionäre Klasse verhängnisvollenOpportunismus verkörpern, und alle Kräfte auf die Bloßstellungdieser Kompromisse, auf den Kampf gegen sie zu konzentrieren.

Während des imperialistischen Krieges 1914-1918 zwischen denzwei Gruppen von Ländern, die gleichermaßen eine Raub- undEroberungspolitik trieben, war eine solche hauptsächliche,

21 In jeder Klasse, sogar unter den Verhältnissen des aufgeklärtesten Landes,sogar in der fortgeschittensten Klasse, die durch die Zeitumstände zu einemaußerordentlich hohen Aufschwung aller geistigen Kräfte gelangt ist, gibt esimmer Vertreter der Klasse - und wird es, solange Klassen bestehen, solange sichdie klassenlose Gesellschaft nicht völlig konsolidiert, gefestigt und auf ihrereigenen Grundlage entwickelt hat, unvermeidlich immer Vertreter der Klassegeben -, die nicht denken und nicht fähig sind zu denken. Der Kapitalismus wärenicht der Kapitalismus, der die Massen unterdrückt, wenn dem nicht so wäre.

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entscheidende Spielart des Opportunismus der Sozialchauvinismus,d.h. das Eintreten für die "Vaterlandsverteidigung", die in einemsolchen Kriege praktisch der Verteidigung der räuberischenInteressen der "eigenen" Bourgeoisie gleichkam. Nach dem Kriegewaren die Verteidigung des räuberischen "Völkerbundes", dieVerteidigung der direkten oder indirekten Bündnisse mit derBourgeoisie des eigenen Landes gegen das revolutionäre Proletariatund die "Räte"bewegung, die Verteidigung der bürgerlichenDemokratie und des bürgerlichen Parlamentarismus gegen die"Rätemacht" die hauptsächlichen Äußerungen jener unzulässigenund verräterischen Kompromisse, die in ihrer Summe den für dasrevolutionäre Proletariat und seine Sache verhängnisvollenOpportunismus ergaben.

»Demzufolge ist jeder Kompromiss mit anderen Parteien... jedePolitik des Lavierens und Paktierens mit aller Entschiedenheitabzulehnen...« schreiben die deutschen Linken in der FrankfurterBroschüre.

Ein Wunder, dass diese Linken bei solchen Ansichten denBolschewismus nicht entschieden verurteilen! Es ist dochunmöglich, dass die deutschen Linken nicht wissen, dass die ganzeGeschichte des Bolschewismus, sowohl vor als auch nach derOktoberrevolution, voll ist von Fällen des Lavierens, desPaktierens, der Kompromisse mit anderen, darunter auch mitbürgerlichen Parteien!

Krieg führen zum Sturz der internationalen Bourgeoisie, einenKrieg, der hundertmal schwieriger, langwieriger, komplizierter istals der hartnäckigste der gewöhnlichen Kriege zwischen Staaten,und dabei im voraus auf das Lavieren, auf die Ausnutzung von(wenn auch zeitweiligen) Interessengegensätzen zwischen denFeinden, auf Übereinkommen und Kompromisse mit möglichen(wenn auch zeitweiligen, unbeständigen, schwankenden, bedingten)Verbündeten verzichten - ist das nicht über alle Maßen lächerlich?Ist das nicht dasselbe, als wollte man bei einem schwierigenAufstieg auf einen noch unerforschten und bisher unzugängliehenBerg von vornherein darauf verzichten, manchmal im Zickzack zu

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gehen, manchmal umzukehren, die einmal gewählte Richtungaufzugeben und verschiedene Richtungen zu versuchen? UndLeute, die so wenig einsichtig und so unerfahren sind (noch gut,wenn sich das durch ihre Jugend erklärt: es ist das natürlicheVorrecht der Jugend, eine Zeitlang solche Dummheiten zu reden),konnten bei manchen Mitgliedern der Kommunistischen ParteiHollands - einerlei, ob direkt oder indirekt, offen oder versteckt,ganz oder teilweise - Unterstützung finden!!

Nach der ersten sozialistischen Revolution des Proletariats, nachdem Sturz der Bourgeoisie in einem Lande, bleibt das Proletariatdieses Landes lange Zeit schwächer als die Bourgeoisie, schonallein wegen der ungeheuren internationalen Verbindungen derBourgeoisie, dann aber auch infolge der elementar und ständig vorsich gehenden Wiederherstellung, Wiederbelebung desKapitalismus und der Bourgeoisie durch die kleinenWarenproduzenten des Landes, das die Bourgeoisie gestürzt hat.Einen mächtigeren Gegner kann man nur unter größter Anspannungder Kräfte und nur dann besiegen, wenn man unbedingt aufsangelegentlichste, sorgsamste, vorsichtigste, geschickteste sowohljeden, selbst den kleinsten »Riss« zwischen den Feinden, jedenInteressengegensatz zwischen der Bourgeoisie der verschiedenenLänder, zwischen den verschiedenen Gruppen oder Schichten derBourgeoisie innerhalb der einzelnen Länder als auch jede, selbst diekleinste Möglichkeit ausnutzt, um einen Verbündeten unter denMassen zu gewinnen, mag das auch ein zeitweiliger, schwankender,unsicherer, unzuverlässiger, bedingter Verbündeter sein. Wer dasnicht begriffen hat, der hat auch nicht einen Deut vom Marxismusund vom wissenschaftlichen, modernen, Sozialismus überhauptbegriffen. Wer nicht während einer recht beträchtlichen Zeitspanneund in recht verschiedenartigen politischen Situationen praktischbewiesen hat, dass er es versteht, diese Wahrheit in der Tatanzuwenden, der hat noch nicht gelernt, der revolutionären Klassein ihrem Kampf um die Befreiung der gesamten werktätigenMenschheit von den Ausbeutern zu helfen. Und das Gesagte gilt ingleicher Weise für die Periode vor und nach der Eroberung derpolitischen Macht durch das Proletariat.

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Unsere Theorie ist kein Dogma, sondern eine Anleitung zumHandeln, pflegten Marx und Engels zu sagen22, und der schwersteFehler, das schwerste Verbrechen solcher "patentierten" Marxistenwie Karl Kautsky, Otto Bauer u.a. besteht darin, dass sie das nichtbegriffen, dass sie es nicht verstanden haben, diese Theorie in denwichtigsten Augenblicken der Revolution des Proletariatsanzuwenden. "Die politische Tätigkeit ist nicht das Trottoir desNewski-Prospekts" (das saubere, breite, glatteTrottoir der schnurgeraden HauptstraßePetersburgs), pflegte schon N.G.Tschernyschewski23, der große russischeSozialist der vormarxschen Periode, zu sagen.Die russischen Revolutionäre haben seitTschernyschewski das Ignorieren oder Vergessendieser Wahrheit mit unzähligen Opfern bezahlt.Es gilt, um jeden Preis zu erreichen, dass dielinken Kommunisten und die der Arbeiterklasseergebenen Revolutionäre Westeuropas und Amerikas dieAneignung dieser Wahrheit nicht so teuer bezahlen, wie dierückständigen Russen sie bezahlt haben.

Die russischen revolutionären Sozialdemokraten haben vor demSturz des Zarismus wiederholt die Dienste der bürgerlichenLiberalen in Anspruch genommen, d.h., sie haben eine Mengepraktischer Kompromisse mit ihnen geschlossen. In den Jahren1901 und 1902, noch vor der Entstehung des Bolschewismus,schloss die alte Redaktion der "Iskra" (zu der Plechanow, Axelrod,Sassulitsch, Martow, Potressow und ich gehörten) ein formellespolitisches Bündnis (allerdings nicht auf lange) mit Struve, dempolitischen Führer des bürgerlichen Liberalismus, verstand es abergleichzeitig, ununterbrochen den rücksichtslosesten ideologischen

22 Lenin bezieht sich auf eine Stelle in dem Brief von Friedrich Engels an F.A.Sorge vom 29. November 1886, wo Engels die in Amerika lebenden deutschensozialdemokratischen Emigranten kritisiert und sagt, für sie sei die Theorie »einCredo, keine Anleitung zum Handeln«. (Siehe Friedrich Engels, Werke, Bd. 36,Berlin 1967, S. 578.)

23 Siehe N. G. Tschernyschewski, Ausgewählte ökonomische Schriften, B II,Moskau 1948, S. 550, russ.

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und politischen Kampf gegen denbürgerlichen Liberalismus und gegendie geringsten Äußerungen seinesEinflusses innerhalb derArbeiterbewegung zu führen. DieserPolitik sind die Bolschewiki stets treugeblieben. Seit 1905 haben siesystematisch das Bündnis der Arbeiterklasse mit der Bauernschaftgegen die liberale Bourgeoisie und den Zarismus verfochten, ohnezugleich jemals die Unterstützung der Bourgeoisie gegen denZarismus (z.B. im zweiten Stadium der Wahlen oder beiStichwahlen) abzulehnen und ohne den unversöhnlichstenideologischen und politischen Kampf gegen die bürgerlich-revolutionäre Bauernpartei, die "Sozialrevolutionäre", einzustellen,die sie als kleinbürgerliche, sich fälschlich zu den Sozialistenzählende Demokraten entlarvten. Im Jahre 1907 schlossen dieBolschewiki bei den Wahlen zur Duma auf kurze Zeit formell einenpolitischen Block mit den "Sozialrevolutionären". Mit denMenschewiki waren wir in den Jahren 1903-1912 wiederholtmehrere Jahre hindurch formell in einer einheitlichensozialdemokratischen Partei, ohne jemals den ideologischen undpolitischen Kampf gegen diese Opportunisten und Schrittmacherdes bürgerlichen Einflusses auf das Proletariat einzustellen.Während des Krieges gingen wir einen gewissen Kompromiss mitden "Kautskyanern", den linken Menschewiki (Martow) und einemTeil der "Sozialrevolutionäre" (Tschernow, Natanson) ein, tagtenzusammen mit ihnen in Zimmerwald und Kienthal und erließengemeinsame Manifeste, haben aber niemals den ideologischen undpolitischen Kampf gegen die "Kautskyaner", gegen die Martow undTschernow eingestellt oder abgeschwächt (Natanson starb 1919 alsuns durchaus nahestehender, mit uns fast solidarischervolkstümlerischer "revolutionärer Kommunist"). Im Augenblickdes Oktoberumsturzes schlossen wir einen zwar nicht formellen,aber sehr wichtigen (und sehr erfolgreichen) politischen Block mitder kleinbürgerlichen Bauernschaft, indem wir das Agrarprogrammder Sozialrevolutionäre voll und ganz, ohne jede Änderung,übernahmen, d.h., wir gingen unzweifelhaft einen Kompromiss ein,

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um den Bauern zu beweisen, dass wir sie nicht majorisieren,sondern uns mit ihnen verständigen wollen. Gleichzeitig schlugenwir den "linken Sozialrevolutionären" einen (bald darauf von unsverwirklichten) formellen politischen Block einschließlich derTeilnahme an der Regierung vor. Nach Abschluss des BresterFriedens sprengten die linken Sozialrevolutionäre diesen Block undgingen später, im Juli 1918, zum bewaffneten Aufstand gegen unsund in der Folgezeit zum bewaffneten Kampf gegen uns über.

Es ist daher begreiflich, dass wir die Angriffe der deutschenLinken gegen die Zentrale der Kommunistischen ParteiDeutschlands, weil sie den Gedanken an einen Block mit den"Unabhängigen" (der "Unabhängigen Sozialdemokratischen ParteiDeutschlands", den Kautskyanern) zulässt, für ganz unernst haltenund in ihnen einen klaren Beweis dafür sehen, dass die "Linken"unrecht haben. Bei uns in Russland gab es ebenfalls rechteMenschewiki (die der Regierung Kerenski angehörten), die dendeutschen Scheidemännern entsprechen, und linke Menschewiki(Martow), die zu den rechten Menschewiki in Opposition standenund den deutschen Kautskyanern entsprechen. Den allmählichenÜbergang der Arbeitermassen von den Menschewiki zu denBolschewiki konnten wir deutlich im Jahre 1917 beobachten: Aufdem 1. Gesamtrussischen Sowjetkongress im Juni 1917 hatten wirnur 13 Prozent der Stimmen. Die Mehrheit gehörte denSozialrevolutionären und den Menschewiki. Auf dem II.Sowjetkongress (am 25.10.1917 alten Stils) hatten wir 51 Prozentder Stimmen. Warum hat in Deutschland derselbe, völliggleichartige Drang der Arbeiter von rechts nach links nicht sofortzur Stärkung der Kommunisten, sondern zunächst zur Stärkung derZwischenpartei der "Unabhängigen" geführt, obwohl diese Parteiniemals irgendwelche selbständigen politischen Ideen besaß,niemals eine selbständige Politik trieb, sondern stets nur zwischenden Scheidemännern und den Kommunisten hin und herschwankte?

Eine der Ursachen war offensichtlich die fehlerhafte Taktik derdeutschen Kommunisten, die diesen Fehler furchtlos und ehrlichzugeben und lernen müssen, ihn zu korrigieren. Der Fehler bestand

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darin, dass sie eine Beteiligung am reaktionären, bürgerlichenParlament und an den reaktionären Gewerkschaften verwarfen; derFehler bestand in zahlreichen Äußerungen jener "linken"Kinderkrankheit, die jetzt offen zum Ausbruch gekommen ist undum so gründlicher, um so schneller, mit um so größerem Nutzen fürden Organismus kuriert werden wird.

Die Zusammensetzung der "Unabhängigen SozialdemokratischenPartei Deutschlands" ist ausgesprochen uneinheitlich: Neben denalten opportunistischen Führern (Kautsky, Hilferding, in hohemGrade offenbar auch Crispien, Ledebour u.a.), die ihre Unfähigkeitbewiesen haben, die Bedeutung der Rätemacht und der Diktatur desProletariats zu erfassen und den revolutionären Kampf desProletariats zu leiten, hat sich in dieser Partei ein linker,proletarischer Flügel gebildet, der erfreulich rasch anwächst.Hunderttausende Mitglieder dieser Partei (die, glaube ich, ungefährdrei Viertel Millionen Mitglieder zählt) sind Proletarier, dieScheidemann den Rücken kehren und sich rasch demKommunismus zuwenden. Dieser proletarische Flügel hat schonauf dem Leipziger Parteitag der Unabhängigen (1919) densofortigen und bedingungslosen Anschluss an die III. Internationalebeantragt. Ein "Kompromiss" mit diesem Flügel der Partei zufürchten wäre geradezu lächerlich. Im Gegenteil, die Kommunistenmüssen unbedingt die geeignete Form eines Kompromisses mit ihmsuchen und finden, eines Kompromisses, das einerseits dienotwendige völlige Verschmelzung mit diesem Flügel erleichternund beschleunigen, anderseits aber die Kommunisten in ihremideologischen und politischen Kampf gegen den opportunistischenrechten Flügel der "Unabhängigen" in keiner Weise behindernwürde. Wahrscheinlich wird es nicht leicht sein, die geeignete Formeines Kompromisses zu finden, aber nur ein Scharlatan könnte dendeutschen Arbeitern und den deutschen Kommunisten einen'leichten' Weg zum Sieg versprechen.

Der Kapitalismus wäre nicht Kapitalismus, wenn das "reine"Proletariat nicht von einer Masse außerordentlich mannigfaltigerÜbergangstypen vom Proletarier zum Halbproletarier (der seinenLebensunterhalt zur Hälfte durch Verkauf seiner Arbeitskraft

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erwirbt), vom Halbproletarier zum Kleinbauern (und kleinenHandwerker, Hausindustriellen, Kleinbesitzer überhaupt), vomKleinbauern zum Mittelbauern usw. umgeben wäre; wenn esinnerhalb des Proletariats selbst nicht Unterteilungen in mehr oderminder entwickelte Schichten, Gliederungen nachLandsmannschaften, nach Berufen, manchmal nach Konfessionenusw. gäbe. Aus alledem aber ergibt sich für die Vorhut desProletariats, für seinen klassenbewußten Teil, für diekommunistische Partei absolut unumgänglich die Notwendigkeit,die unbedingte Notwendigkeit, zu lavieren, Übereinkommen undKompromisse mit verschiedenen proletarischen Gruppen, mitverschiedenen Parteien der Arbeiter und der Kleinbesitzer zuschließen. Es kommt nur darauf an, dass man es versteht, dieseTaktik so anzuwenden, dass sie zur Hebung und nicht zur Senkungdes allgemeinen Niveaus des proletarischen Klassenbewusstseins,des revolutionären Geistes, der Kampf- und Siegesfähigkeitbeiträgt. übrigens muss bemerkt werden, dass der Sieg derBolschewiki über die Menschewiki nicht nur vor derOktoberrevolution 1917, sondern auch nachher die Anwendung derTaktik des Lavierens, der Übereinkommen und Kompromisseerforderte, natürlich nur eines solchen Lavierens, solcherÜbereinkommen und Kompromisse, die den Sieg erleichterten undbeschleunigten und die Bolschewiki auf Kosten der Menschewikifestigten und stärkten. Die kleinbürgerlichen Demokraten (darunterauch die Menschewiki) schwanken unvermeidlich zwischenBourgeoisie und Proletariat, zwischen bürgerlicher Demokratie undSowjetsystem, zwischen Reformismus und Revolutionismus,zwischen Liebe zu den Arbeitern und Furcht vor der proletarischenDiktatur usw. Die richtige Taktik der Kommunisten muss darinbestehen, dass man diese Schwankungen ausnutzt, keineswegsdarin, dass man sie ignoriert. Um sie auszunutzen, muss manZugeständnisse an diejenigen Elemente machen, die sich demProletariat zuwenden, und zwar dann, wenn sie sich dem Proletariatzuwenden, und insoweit, wie sie sich dem Proletariat zuwenden -gleichzeitig aber muss man den Kampf gegen diejenigen führen,die zur Bourgeoisie abschwenken. Die Anwendung der richtigenTaktik hatte zur Folge, dass der Menschewismus bei uns immer

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mehr zerfiel und auch weiter zerfällt, dass die verbohrtenopportunistischen Führer isoliert werden und dass die bestenArbeiter, die besten Elemente aus der kleinbürgerlichen Demokratiein unser Lager übergehen. Das ist ein langwieriger Prozess, unddurch einen übers Knie gebrochenen "Beschluss': "keinerleiKompromisse, keinerlei Lavieren!" kann man dem Wachstum desEinflusses des revolutionären Proletariats und der Mehrung seinerKräfte nur schaden.

Ein unzweifelhafter Fehler der "Linken" in Deutschland istschließlich, dass sie starrköpfig darauf bestehen, den VersaillerFrieden nicht anzuerkennen. Je »solider« und »gewichtiger«, je»entschiedener« und kategorischer diese Ansicht z.B. von K.Horner formuliert wird, desto unkluger wirkt das. Es genügt nicht,sich von den himmelschreienden Absurditäten des»Nationalbolschewismus« (Laufenbergs u.a.) loszusagen, der sichunter den gegenwärtigen Bedingungen der internationalenproletarischen Revolution - bis zu einem Block mit der deutschenBourgeoisie zum Krieg gegen die Entente verstiegen hat. Man mussverstehen, dass eine Taktik von Grund aus falsch ist, die nichtzugeben will, dass es für ein Rätedeutschland (wenn bald einedeutsche Räterepublik entstehen sollte) unbedingt notwendig seinkann, den Versailler Frieden eine Zeitlang anzuerkennen und sichihm zu fügen. Daraus folgt nicht, dass die "Unabhängigen" rechthatten, die zu einer Zeit, als in der Regierung die Scheidemännersaßen, als die Rätemacht in Ungarn noch nicht gestürzt war, als dieMöglichkeit der Unterstützung Räteungarns durch eineRäterevolution in Wien noch nicht ausgeschlossen war - die unterden damaligen Bedingungen forderten, dass der VersaillerFriedensvertrag unterzeichnet werde. Damals lavierten undmanövrierten die "Unabhängigen" sehr schlecht, denn sieübernahmen mehr oder minder die Verantwortung für dieverräterischen Scheidemänner und glitten mehr oder weniger vomStandpunkt des schonungslosen (und kaltblütig geführten)Klassenkrieges gegen die Scheidemänner auf einen Standpunkt»ohne Klassen« oder »über den Klassen« hinab.

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Gegenwärtig ist aber die Lageunverkennbar so, dass dieKommunisten Deutschlandssich nicht die Hände bindenund nicht versprechen dürfen,im Fall eines Sieges desKommunismus den VersaillerFriedensvertrag unbedingt undunter allen Umständen zuannullieren. Das wäre eineDummheit. Sie müssen sagen:Die Scheidemänner undKautskyaner haben eine Reihevon Verrätereien begangen, diedas Bündnis mit Sowjetrusslandund mit Räteungarn erschwert (zum Teil direkt unmöglichgemacht) haben. Wir Kommunisten werden ein solches Bündnismit allen Mitteln erleichtern und vorbereiten, wobei wir keineswegsverpflichtet sind, den Versailler Frieden unbedingt, und zwar sofortzu annullieren. Die Möglichkeit, ihn mit Erfolg zu annullieren,hängt nicht nur von den deutschen, sondern auch von deninternationalen Erfolgen der Rätebewegung ab. Diese Bewegungwurde von den Scheidemännern und Kautskyanern gehemmt, wiraber fördern sie. Das ist der Kern der Sache, das ist dergrundlegende Unterschied. Und wenn unsere Klassenfeinde, dieAusbeuter, und ihre Lakaien, die Scheidemänner und Kautskyaner,eine ganze Reihe von Möglichkeiten verpasst haben, die deutschewie die internationale Rätebewegung, die deutsche wie dieinternationale Räterevolution zu stärken, so fällt die Schuld auf sie.Die Räterevolution in Deutschland wird die internationaleRätebewegung stärken, die das stärkste Bollwerk (und das einzigzuverlässige, unbezwingbare, international machtvolle Bollwerk)gegen den Versailler Frieden, gegen den internationalenImperialismus überhaupt ist. Die Befreiung vom Versailler Friedenunbedingt, unter allen Umständen und unverzüglich an die ersteStelle, vor die Frage nach der Befreiung der anderen vomImperialismus unterdrückten Länder vom Joch des Imperialismus

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zu setzen ist kleinbürgerlicher Nationalismus (der Kautsky,Hilferding, Otto Bauer und Co. würdig), aber kein revolutionärerInternationalismus. Der Sturz der Bourgeoisie in einem beliebigengroßen europäischen Land, darunter auch in Deutschland, ist einsolches Plus für die internationale Revolution, dass manseinetwegen - wenn es notwendig sein sollte - auf eine längereGültigkeit des Versailler Friedens eingehen kann und muss. WennRussland allein imstande war, zum Nutzen für die Revolutionmehrere Monate lang den Brester Frieden zu ertragen, so ist nichtsUnmögliches daran, dass ein Rätedeutschland im Bunde mitSowjetrussland zum Nutzen für die Revolution eine längereGültigkeit des Versailler Friedens erträgt.

Die Imperialisten Frankreichs, Englands usw. provozieren diedeutschen Kommunisten, stellen ihnen eine Falle: "Sagt doch, dassihr den Versailler Frieden nicht unterschreiben werdet!" Und dielinken Kommunisten gehen wie Kinder in die ihnen gestellte Falle,anstatt geschickt gegen den heimtückischen und im gegebenenAugenblick stärkeren Feind zu manövrieren, anstatt ihm zu sagen:»Jetzt werden wir den Versailler Frieden unterschreiben.« Sich imvoraus die Hände zu binden, dem Feind, der heute besser gerüstetist als wir, offen zu sagen, ob und wann wir mit ihm Krieg führenwerden, ist eine Dummheit und keine revolutionäre Tat. DenKampf aufzunehmen, wenn das offenkundig für den Feind undnicht für uns günstig ist, ist ein Verbrechen, und Politiker derrevolutionären Klasse, dienicht »zu lavieren,Übereinkommen undKompromisse zu schließen«verstehen, um einemoffenkundig unvorteilhaftenKampf auszuweichen, sindkeinen Pfifferling wert.

Demonstration vor dem Reichstag gegen den Versailler Vertrag

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IX. Der "linke" Kommunismus in England

In England gibt es noch keinekommunistische Partei, aber es gibtunter den Arbeitern eine frische,breite, machtvolle, raschanwachsende kommunistischeBewegung, die zu den schönstenHoffnungen berechtigt; es gibteinige politische Parteien undOrganisationen (die "BritischeSozialistische Partei"24, die"Sozialistische Arbeiterpartei", die "Sozialistische Gesellschaft vonSüd-Wales", die "Sozialistische Arbeiterföderation"25, die eine

24 Die "Britische Sozialistische Partei" (British Socialist Party) wurde 1911 inManchester gegründet. Die Partei trieb Propaganda und Agitation im Geiste desMarxismus und war eine Partei, die »nicht opportunistisch, sondern von denLiberalen wirklich unabhängig ist« (Lenin). Ihre zahlenmäßige Schwäche undihre Losgelöstheit von den Massen verliehen ihr einen gewissen sektiererischenCharakter.

Während des ersten Weltkriegs bildeten sich in der Partei zwei Richtungenheraus: eine offen sozialchauvinistische unter der Führung von Hyndman undeine internationalistische unter der Führung von A. Inkpin und anderen. DieJahreskonferenz der BSP, die 1916 in Salford stattfand, verurteilte diesozialchauvinistische Position Hyndmans und seiner Anhänger, worauf diese ausder Partei austraten. Seitdem hatten die internationalistischen Elemente in derBSP die Führung inne. Die Britische Sozialistische Partei spielte eine bedeutendeRolle bei der Gründung der Kommunistischen Partei Großbritanniens. Auf demVereinigungsparteitag 1920 trat die überwiegende Mehrheit der örtlichenOrganisationen der BSP in die Kommunistische Partei über.

25 Die "Sozialistische Arbeiterpartei" entstand 1903 in Schottland aus einerGruppe linker Sozialdemokraten, die sich von der SozialdemokratischenFöderation abgespalten hatten. Die »Sozialistische Gesellschaft von Süd-Wales«war eine kleinere Gruppe, die sich vorwiegend aus revolutionären Bergarbeiternvon Wales zusammensetzte. Die "Sozialistische Arbeiterföderation" war einezahlenmäßig schwache Organisation, die im Mai 1918 aus der "Gesellschaft zurVerfechtung des Wahlrechts der Frauen" hervorgegangen war und hauptsächlichaus Frauen bestand.

Bei der Gründung der Kommunistischen Partei Großbritanniens (derGründungsparteitag fand am 31. Juli und 1. August 1920 statt), die in ihrProgramm die Beteiligung der Partei an den Parlamentswahlen und den

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kommunistische Partei gründen wollen und darüber bereitsmiteinander verhandeln. In der Zeitung 'The Workers' Dreadnought'(Jahrgang VI, Nr. 48 vom 21.2.1920), dem Wochenblatt der letztenunter den aufgezählten Organisationen, das von Genossin SylviaPankhurst redigiert wird, finden wir ihren Artikel "Auf dem Weg zueiner kommunistischen Partei". Der Artikel schildert den Gang derVerhandlungen zwischen den vier genannten Organisationen überdie Bildung einer einheitlichen kommunistischen Partei auf derGrundlage des Anschlusses an die III. Internationale, derAnerkennung des Sowjetsystems (an Stelle des Parlamentarismus)und der Diktatur des Proletariats. Wie sich herausstellt, sind einHaupthindernis für die sofortige Gründung einer einheitlichenkommunistischen Partei Meinungsverschiedenheiten über die Frageder Beteiligung am Parlament und des Anschlusses der neuenkommunistischen Partei an die alte, zünftlerische, vorwiegend ausTrade-Unions zusammengesetzte opportunistische undsozialchauvinistische "Arbeiterpartei". Die "SozialistischeArbeiterföderation" wie auch die "Sozialistische Arbeiterpartei"26

sprechen sich gegen die Beteiligung an den Parlamentswahlen undam Parlament, gegen den Anschluss an die "Arbeiterpartei" aus;ihre Ansichten weichen in dieser Beziehung von denen aller oderder meisten Mitglieder der Britischen Sozialistischen Partei ab, diein ihren Augen den »rechten Flügel der kommunistischenParteien« in England bildet. (S.5, der erwähnte Artikel von SylviaPankhurst.)

Die grundlegende Teilung ist demnach dieselbe wie inDeutschland, trotz der ungeheuren Unterschiede in der Form, in der

Anschluss an die Labour Party aufnahm, schlossen sich die oben genanntenOrganisationen, die sektiererische Auffassungen vertraten, nicht derKommunistischen Partei an. Im Januar 1921 vereinigten sich die "SozialistischeGesellschaft von Süd-Wales" und die "Sozialistische Arbeiterföderation", dieinzwischen den Namen "Kommunistische Partei (Britische Sektion der III.Internationale)« angenommen hatte, mit der Kommunistischen ParteiGroßbritanniens. Die Führung der "Sozialistischen Arbeiterpartei" lehnte denZusammenschluss ab.

26 Wie es scheint, ist diese Partei gegen den Anschluss an die "Arbeiterpartei",aber nicht einhellig gegen die Beteiligung am Parlament.

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die Meinungsverschiedenheiten hervortreten (in Deutschlandkommt diese Form der "russischen" weit näher als in England), undin einer ganzen Reihe anderer Umstände. Sehen wir uns nun dieArgumente der "Linken" näher an.

In der Frage der Beteiligung am Parlament beruft sich GenossinSylvia Pankhurst auf einen in derselben Nummer veröffentlichtenArtikel des Genossen W. Gallacher, der im Namen des"Schottischen Arbeiterrats" in Glasgow folgendes schreibt:

»Dieser Arbeiterrat ist entschieden antiparlamentarisch, undhinter ihm steht der linke Flügel verschiedener politischerOrganisationen.

Wir vertreten die revolutionäre Bewegung in Schottland, diebestrebt ist, in den Industrien [den verschiedenenProduktionszweigen] eine revolutionäre Organisation und imganzen Land eine kommunistische Partei, die sich auf sozialeKomitees gründet, aufzubauen. Lange Zeit haben wir uns mit denoffiziellen Parlamentariern herumgezankt. Wir haben es nicht fürnötig gehalten, ihnen offen den Krieg zu erklären, sie aberfürchten sich, den Angriff gegen uns zu eröffnen.

Eine solche Lage der Dinge kann jedoch nicht lange andauern.Wir sind dabei, auf der ganzen Linie zu siegen.

Die einfachen Mitglieder der Unabhängigen Arbeiterpartei inSchottland werden mehr und mehr angewidert von demGedanken an das Parlament, und fast alle Ortsgruppen sind fürSowjets [das russische Wort wird hier in englischer Transkriptiongebraucht] oder Arbeiterräte.

Das ist natürlich eine sehr ernste Sache für die Herrschaften,die die Politik als Beruf (als Einkommenquelle) betrachten, undsie setzen alle Hebel in Bewegung, um ihre Mitglieder zurRückkehr in den Schoß des Parlamentarismus zu bewegen.

Die revolutionären Genossen dürfen diese Bande nichtunterstützen [Hervorhebungen überall vom Verfasser] Hier stehtuns ein schwerer Kampf bevor. Einer seiner schlimmsten Züge

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wird der Verrat derjenigen sein, die sich mehr von persönlicherAmbition als von den Interessen der Revolution leiten lassen.

Jede Unterstützung des Parlamentarismus trägt ganz einfachdazu bei, dass die Macht in die Hände unserer britischenScheidemänner und Noske gelangt. Henderson, Clynes und Co.sind hoffnungslos reaktionär. Die offizielle UnabhängigeArbeiterpartei gerät immer mehr unter den Einfluss bürgerlicherLiberaler, die...ein geistiges Asyl' im Lager der HerrenMacDonald, Snowden und Co. gefunden haben. Die offizielleUnabhängige Arbeiterpartei steht der Dritten Internationale inbitterer Feindschaft gegenüber, während die einfachen Mitgliederdafür sind. Die opportunistischen Parlamentarier irgendwieunterstützen heißt einfach, diesen Herrschaften in die Händearbeiten.

Die Britische Sozialistische Partei spielt hier gar keine Rolle ...Hier bedarf es einer gesunden, revolutionären Industrieorga-nisation und einer kommunistischen Partei, die nach klaren,genau festgelegten wissenschaftlichen Grundsätzen handelt. Kön-nen unsere Genossen uns helfen, solche Organisationen zu schaf-fen, so werden wir ihre Hilfe gern annehmen; können sie dasnicht, so mögen sie um Himmels willen ihre Finger davonlassen,wenn sie nicht die Revolution verraten wollen, indem sie dieReaktionäre unterstützen, die so eifrig nach parlamentarischen'Ehren' (?)« (Fragezeichen vom Verfasser) »verlangen und dievor Begierde brennen, zu beweisen, dass sie ebenso gut regierenkönnen wie die Politiker aus der Klasse der 'Bosse' selbst.«

Dieser Brief an die Redaktion drückt, meiner Ansicht nach,glänzend die Stimmung und den Standpunkt der jungenKommunisten oder der unter der Masse Arbeitenden aus, die ebenerst begonnen haben, zum Kommunismus zu stoßen. DieseStimmung ist im höchsten Grade erfreulich und wertvoll; manmuss sie zu schätzen und zu unterstützen wissen, denn ohne siewäre auf einen Sieg der proletarischen Revolution in England - undauch in jedem anderen Land - nicht zu hoffen. Mit Leuten, die einersolchen Stimmung der Massen Ausdruck zu geben und bei den

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Massen eine derartige (sehr oft schlummernde, noch nichtbewusste, noch nicht geweckte) Stimmung hervorzurufenverstehen, muss man behutsam umgehen und ihnen fürsorglich aufjede Art und Weise helfen. Gleichzeitig aber muss man ihnenunumwunden und offen sagen, dass die Stimmung allein nichtgenügt, um die Massen im großen revolutionären Kampf zu führen,und dass die und die Fehler, die der Sache der Revolution treuergebene Menschen begehen können oder schon begehen, Fehlersind, die der Revolution zu schaden vermögen. Der Brief des Gen.Gallacher an die Redaktion zeigt unzweifelhaft die Keime allerjener Fehler, die von den deutschen "linken" Kommunistengemacht werden und die von den russischen "linken" Bolschewikiin den Jahren 1908 und 1918 gemacht worden sind.

Der Verfasser des Briefes ist erfüllt von edelstem proletarischemHass auf die bürgerlichen "Klassenpolitiker" (einem Hass, derallerdings nicht nur den Proletariern, sondern auch allen anderenWerktätigen, allen, um einen deutschen Ausdruck zu gebrauchen,"kleinen Leuten" einleuchtend und verständlich ist). Dieser Hassdes Vertreters der unterdrückten und ausgebeuteten Massen istwahrlich "aller Weisheit Anfang", die Grundlage einer jedensozialistischen und kommunistischen Bewegung und ihrer Erfolge.Aber der Verfasser berücksichtigt offenbar nicht, dass die Politikeine Wissenschaft und Kunst ist, die nicht vom Himmel fällt, dieeinem nicht in die Wiege gelegt wird, und dass das Proletariat,wenn es die Bourgeoisie besiegen will, seine eigenen,proletarischen "Klassenpolitiker" hervorbringen muss, und zwarPolitiker, die nicht schlechter sein dürfen als die bürgerlichenPolitiker.

Der Briefschreiber hat ausgezeichnet begriffen, dass nicht dasParlament, sondern nur die Arbeiterräte das Werkzeug sein können,mit dem die Ziele des Proletariats zu erreichen sind, und natürlichist derjenige, der das bis jetzt noch nicht begriffen hat, derschlimmste Reaktionär, mag er auch der größte Gelehrte, dererfahrenste Politiker, der aufrichtigste Sozialist, der belesensteMarxist, der ehrlichste Staatsbürger und Familienvater sein. Aberder Briefschreiber stellt nicht einmal die Frage, denkt gar nicht

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nach über die Notwendigkeit, die Frage zu stellen, ob man die Rätezum Sieg über das Parlament führen kann, ohne "Räte"politikerinnerhalb des Parlaments zu haben, ohne den Parlamentarismus voninnen heraus zu zersetzen, ohne im Schoße des Parlaments denErfolg der Räte bei der ihnen zufallenden Aufgabe derAuseinanderjagung des Parlaments vorzubereiten. Dabei äußert derVerfasser des Briefes den ganz richtigen Gedanken, dass einekommunistische Partei in England nach wissenschaftlichenGrundsätzen wirken müsse. DieWissenschaft erfordert erstens, dassman die Erfahrung anderer Länderin Betracht zieht, besonders wennandere, gleichfalls kapitalistischeLänder eine ganz ähnlicheErfahrung durchmachen oderunlängst durchgemacht haben;zweitens, dass man alle Kräfte,Gruppen, Parteien, Klassen, Massen, die innerhalb des betreffendenLandes wirken, in Rechnung stellt und die Politik keineswegs nurauf Grund der Wünsche und Ansichten, des Grades desKlassenbewusstseins und der Kampfbereitschaft nur einer Gruppeoder Partei bestimmt.

Dass die Henderson, Clynes,MacDonald und Snowdenhoffnungslos reaktionär sind, dasstimmt. Ebenso stimmt es, dasssie in den Besitz der Machtkommen wollen (wobei sie,nebenbei bemerkt, eine Koalitionmit der Bourgeoisie vorziehen),dass sie nach denselbenalthergebrachten bürgerlichen Regeln "regieren" wollen, dass sie,einmal zur Macht gelangt, sich unweigerlich ebenso verhaltenwerden wie die Scheidemänner und Noske. Das alles stimmt. Aberdaraus folgt keineswegs, dass eine Unterstützung dieser LeuteVerrat an der Revolution ist, vielmehr folgt daraus, dass die

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Revolutionäre der Arbeiterklasse im Interesse der Revolutiondiesen Herrschaften eine gewisse parlamentarische Unterstützunggewähren müssen. Um diesen Gedanken klarzumachen, will ichzwei englische politische Dokumente aus der letzten Zeit anführen:1. die Rede des: Premierministers Lloyd George vom 18.3.1920(nach dem Bericht des 'Manchester Guardian' vom 19.3.1920) und2. die Betrachtungen der Genossin Sylvia Pankhurst, einer "linken"Kommunistin, in ihrem oben erwähnten Artikel.

Lloyd George polemisierte in seiner Rede gegen Asquith (derspeziell zur Versammlung eingeladen worden war, aber abgelehnthatte zu erscheinen) und gegen diejenigen Liberalen, die keineKoalition mit den Konservativen, sondern eine Annäherung an dieArbeiterpartei wünschen. (In dem Brief des Gen. Gallacher an dieRedaktion finden wir ebenfalls einen Hinweis auf die Tatsache,dass Liberale zur Unabhängigen Arbeiterpartei übertreten.) LloydGeorge suchte zu beweisen, dass eine Koalition der Liberalen mitden Konservativen, und zwar eine enge Koalition, notwendig sei,denn sonst könne die Arbeiterpartei siegen, die Lloyd George alsSozialistische Partei »zu bezeichnen vorzieht« und die das"Gemeineigentum" an den Produktionsmitteln anstrebe. »InFrankreich hieß das Kommunismus!«, erläuterte der Führer derenglischen Bourgeoisie in populärer Weise seinen Zuhörern, denMitgliedern der parlamentarischen Liberalen Partei, die das bishervermutlich nicht gewusst haben, »in Deutschland hieß dasSozialismus, und in Russland heißt es Bolschewismus.« Für dieLiberalen, legte Lloyd George dar, sei das grundsätzlichunannehmbar, denn die Liberalen seien grundsätzlich für dasPrivateigentum. »Die Zivilisation ist in Gefahr«, erklärte derRedner, und deshalb müssten die Liberalen und die Konservativenzusammengehen ...

»Wenn Sie in die landwirtschaftlichen Bezirke gehen', führteLloyd George aus, "so werden Sie dort - einverstanden - die altenParteigliederungen so stark wie je vorfinden. Sie sind weitab vonder Gefahr. Die Gefahr pocht nicht an ihre Türen. Kommt es abererst soweit, so wird dort die Gefahr ebenso groß sein wie jetzt inmanchen industriellen Wahlkreisen. Vier Fünftel der Bevölkerung

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unseres Landes leben von Industrie und Handel, kaum ein Fünftelvon der Landwirtschaft. Das ist ein Umstand, den ich ständig imAuge habe, wenn ich über die Gefahren nachdenke, die uns dieZukunft bringt. Frankreich hat eine Agrarbevölkerung, und esgibt dort für die öffentliche Meinung eine solide Basis, die sichnicht sehr rasch ändert und sich durch revolutionäreBewegungen nicht sehr leicht erschüttern lässt. Bei uns liegen dieDinge anders. Unser Land ist kopflastiger als irgendein anderesLand der Welt, und wenn es ins Schlingern gerät, so wird ausdem erwähnten Grunde die Katastrophe hier größer sein als inirgendeinem anderen Land.«

Der Leser sieht daraus, dass Herr Lloyd George nicht nur ein sehrkluger Mann ist, sondern auch viel von den Marxisten gelernt hat.Es wird nicht schaden, wenn auch wir von Lloyd George lernen.

Interessant ist noch die folgende Episode aus der Diskussion, zuder es nach der Rede Lloyd Georges kam:

Herr Wallace: »lch möchte fragen, wie der Premierminister dieWirkung, seiner Politik in den industriellen Wahlkreisen auf dieIndustriearbeiter beurteilt, von denen gegenwärtig so vieleLiberale sind und von denen wir so große Unterstützung erhalten.Könnte das nicht dazu führen, dass die Arbeiterpartei von Leuten,die uns gegenwärtig aufrichtig unterstützen, unmittelbar einenüberwältigenden Kräftezuwachs bekommt?«

Der Premierminister: »Ich bin völlig anderer Ansicht. DieTatsache, dass Liberale einander bekämpfen, treibt zweifelsohneeine sehr beträchtliche Anzahl von Liberalen aus Verzweiflung zurArbeiterpartei, wo bereits eine ganze Menge von Liberalen, sehrfähigen Leuten, zu finden ist, die sich damit befassen, dieRegierung zu diskreditieren. Die Folge ist zweifellos, dass sich dieöffentliche Meinung stark zugunsten der Arbeiterpartei ändert. Siewandelt sich nicht zugunsten der Liberalen, die außerhalb stehen,sondern zugunsten der Arbeiterpartei. Das zeigen dieNachwahlen.«

Nebenbei bemerkt, zeigt diese Betrachtung besonders deutlich,wie sich die gescheitesten Leute der Bourgeoisie verheddert haben

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und unweigerlich nicht wieder gutzumachende Dummheitenbegehen. Daran wird die Bourgeoisie denn auch zugrunde gehen.Unsere Leute aber können sich sogar Dummheiten leisten(allerdings dürfen diese Dummheiten nicht sehr groß sein undmüssen rechtzeitig korrigiert werden), und doch werden sieschließlich die Sieger sein.

Das andere politische Dokument sind folgende Betrachtungeneiner "linken" Kommunistin, der Genossin Sylvia Pankhurst:

»Genosse Inkpin« (der Sekretär der Britischen SozialistischenPartei) »bezeichnet die Arbeiterpartei als 'die wichtigsteOrganisation der Bewegung der Arbeiterklasse'. Ein andererGenosse von der Britischen Sozialistischen Partei hat auf derkürzlichen Konferenz der III. Internationale die Auffassung derBritischen Sozialistischen Partei noch drastischer zum Ausdruckgebracht. Er sagte: 'Wir betrachten die Arbeiterpartei als dieorganisierte Arbeiterklasse.'

Wir teilen diese Ansicht über die Arbeiterpartei nicht. DieArbeiterpartei ist zahlenmäßig sehr stark, obgleich ihreMitglieder zu einem großen Teil passiv und apathisch sind. Dassind Männer und Frauen, die den Trade-Unions beigetreten sind,weil ihre Arbeitskollegen Trade-Unionisten sind und weil sieUnterstützung beziehen wollen.

Wir erkennen jedoch an, dass die zahlenmäßige Stärke derArbeiterpartei auch darauf zurückzuführen ist, dass sie dieSchöpfung einer Schule des Denkens darstellt, über derenGrenzen die Mehrheit der britischen Arbeiterklasse noch nichthinausgekommen ist, obwohl sich große Änderungen in denKöpfen der Menschen vorbereiten, die die Lage bald ändernwerden...

... Die Britische Arbeiterpartei wird ebenso wie diesozialpatriotischen Organisationen anderer Länder im Laufe dernatürlichen Entwicklung der Gesellschaft unvermeidlich zurMacht gelangen. Es ist Sache der Kommunisten, die Kräfte insLeben zu rufen, die die Sozialpatrioten stürzen werden, und wir

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müssen in unserem Lande diese Arbeit ohne Zögern und ohneSchwanken leisten.

Wir dürfen unsere Energie nicht verzetteln, indem wir dieArbeiterpartei stärken. Sie wird unausbleiblich ans Ruderkommen. Wir müssen unsere Kräfte darauf konzentrieren, einekommunistische Bewegung zu schaffen, die sie besiegen wird.

Die Arbeiterpartei wird bald eine Regierung bilden; dierevolutionäre Opposition muss sich zum Angriff auf dieseRegierung bereithalten...«

Also, die liberale Bourgeoisie verzichtet auf das durchjahrhundertelange geschichtliche Erfahrung geheiligte und für dieAusbeuter außerordentlich vorteilhafte System der 'zwei Parteien'(der Ausbeuter) und hält es für notwendig, ihre Kräfte zum Kampfgegen die Arbeiterpartei zu vereinigen. Ein Teil der Liberalen läuft,wie die Ratten das sinkende Schiff verlassen, zur Arbeiterparteiüber. Die linken Kommunisten sind der Auffassung, dass dieArbeiterpartei unausbleiblich ans Ruder kommt, und geben zu, dassjetzt die Mehrheit der Arbeiterschaft hinter ihr steht. Hieraus ziehensie die sonderbare Schlussfolgerung, die Genossin Sylvia Pankhurstwie folgt formuliert:

»Die Kommunistische Partei darf keine Kompromisseeingehen ... Sie muss ihre Lehre rein und ihre Unabhängigkeitvom Reformismus unbefleckt erhalten. Ihre Mission ist es, ohnehaltzumachen oder vom Wege abzubiegen, direkt zurkommunistischen Revolution vorwärtszuschreiten.«

Im Gegenteil, aus der Tatsache, dass die Mehrheit der Arbeiter inEngland noch den englischen Kerenskis oder ScheidemännernGefolgschaft leistet, dass sie mit einer Regierung dieser Leute nochnicht die Erfahrungen gemacht hat, wie sie in Russland und inDeutschland nötig waren, damit die Arbeiter in Massen zumKommunismus übergingen, aus dieser Tatsache folgt unzweifelhaft,dass sich die englischen Kommunisten am Parlamentarismusbeteiligen müssen, dass sie von innerhalb des Parlaments derArbeitermasse helfen müssen, die Ergebnisse der Regierung derHenderson und Snowden in der Praxis zu erkennen, dass sie den

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Henderson und Snowden helfen müssen, die vereinigten LloydGeorge und Churchill zu besiegen.

Anders handeln heißt die Sache der Revolution erschweren, dennohne eine Änderung in den Anschauungen der Mehrheit derArbeiterklasse ist die Revolution unmöglich; diese Änderung aberwird durch die politische Erfahrung der Massen, niemals durchPropaganda allein erreicht.

Lloyd George und Winston Churchill

»Vorwärts ohne Kompromisse, ohne vom Wege abzubiegen« -wenn das eine offenkundig ohnmächtige Minderheit der Arbeitersagt, die weiß (oder jedenfalls wissen müßte), dass die Mehrheitnach kurzer Zeit, wenn die Henderson und Snowden über Lloyd

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George und Churchill den Sieg davongetragen haben sollten, vonihren Führern enttäuscht sein und dazu übergehen wird, denKommunismus zu unterstützen (oder jedenfalls den Kommunistengegenüber Neutralität und größtenteils wohlwollende Neutralität zuüben), so ist diese Losung offensichtlich falsch. Das ist dasselbe,als wollten sich 10.000 Soldaten gegen 50.000 Mann des Feindes inden Kampf stürzen, anstatt "haltzumachen" und "vom Wegeabzubiegen", ja sogar ein "Kompromiss" zu schließen, um dasEintreffen einer Verstärkung von 100.000 Mann abzuwarten, dienicht sofort in Aktion treten können. Das ist eine Kinderei vonIntelligenzlern, aber keine ernste Taktik einer revolutionärenKlasse.

Das Grundgesetz der Revolution, das durch alle Revolutionenund insbesondere durch alle drei russischen Revolutionen des 20.Jahrhunderts bestätigt worden ist, besteht in folgendem: ZurRevolution genügt es nicht, dass sich die ausgebeuteten undunterdrückten Massen der Unmöglichkeit, in der alten Weiseweiterzuleben, bewusstwerden und eine Änderung fordern; zurRevolution ist es notwendig, dass die Ausbeuter nicht mehr in deralten Weise leben und regieren können. Erst dann, wenn die"Unterschichten" das Alte nicht mehr wollen und die"Oberschichten" in der alten Weise nicht mehr können, erst dannkann die Revolution siegen. Mit anderen Worten kann man dieseWahrheit so ausdrücken: Die Revolution ist unmöglich ohne einegesamtnationale (Ausgebeutete wie Ausbeuter erfassende) Krise.Folglich ist zur Revolution notwendig: erstens, dass die Mehrheitder Arbeiter (oder jedenfalls die Mehrheit der klassenbewussten,denkenden, politisch aktiven Arbeiter) die Notwendigkeit desUmsturzes völlig begreift und bereit ist, seinetwegen in den Tod zugehen; zweitens, dass die herrschenden Klassen eineRegierungskrise durchmachen, die sogar die rückständigstenMassen in die Politik hineinzieht (das Merkmal einer jedenwirklichen Revolution ist die schnelle Verzehnfachung, jaVerhundertfachung der Zahl der zum politischen Kampf fähigenVertreter der werktätigen und ausgebeuteten Masse, die bis dahin

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apathisch war), die Regierung kraftlos macht und es denRevolutionären ermöglicht, diese Regierung schnell zu stürzen.

In England reifen, wie das unter anderem gerade aus der RedeLloyd Georges zu ersehen ist, unverkennbar beide Bedingungen füreine erfolgreiche proletarische Revolution heran. Und die Fehlerder linken Kommunisten sind jetzt eben deshalb besondersgefährlich, weil bei manchen Revolutionären eine nicht genügenddurchdachte, nicht genügend aufmerksame, nicht genügendzielklare, nicht genügend abgewogene Stellungnahme zu jederdieser Bedingungen wahrzunehmen ist. Wenn wir nicht einerevolutionäre Gruppe, sondern die Partei der revolutionären Klassesind, wenn wir die Massen mitreißen wollen (und tun wir das nicht,so laufen wir Gefahr, einfach Schwätzer zu bleiben), so müssen wirerstens Henderson oder Snowden helfen, Lloyd George undChurchill zu schlagen (richtiger gesagt sogar: jene zwingen, diesezu schlagen, denn die ersteren fürchten ihren eigenen Sieg!);zweitens der Mehrheit der Arbeiterklasse helfen, sich durch eigene

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Erfahrung davon zu überzeugen, dass wir recht haben, d.h. sich vonder völligen Untauglichkeit der Henderson und Snowden, von ihrerkleinbürgerlichen und verräterischen Natur, von derUnvermeidlichkeit ihres Bankrotts zu überzeugen; drittens denZeitpunkt näher rücken, zu dem es möglich sein wird, aufgrund derEnttäuschung der Mehrheit der Arbeiter über die Henderson miternsten Aussichten auf Erfolg die Regierung der Henderson miteinem Schlage zu stürzen, die noch verstörter hin und her pendelnwird, wenn man bedenkt, dass sogar der überaus kluge und solide,nicht kleinbürgerliche, sondern großbürgerliche Lloyd Georgevöllige Verstörtheit an den Tag legt und sich (und die gesamteBourgeoisie) immer mehr schwächt, gestern durch seine"Reibungen" mit Churchill, heute durch seine "Reibungen" mitAsquith.

Ich will ganz konkret sprechen. Die englischen Kommunistenmüssen meiner Ansicht nach alle ihre vier Parteien und Gruppen(sie sind alle sehr schwach, einige sogar schwächer als schwach)auf dem Boden der Grundsätze der III. Internationale und derobligatorischen Beteiligung am Parlament zu einer einzigenKommunistischen Partei zusammenschließen. Die KommunistischePartei schlägt den Henderson und Snowden ein "Kompromiss", einWahlabkommen vor: Wir kämpfen gemeinsam gegen das BündnisLloyd Georges und der Konservativen, verteilen dieParlamentssitze entsprechend der Zahl der von den Arbeitern fürdie Arbeiterpartei bzw. die Kommunisten abgegebenen Stimmen(nicht bei den Wahlen, sondern in einer besonderen Abstimmung),behalten uns aber die vollste Freiheit der Agitation, Propagandaund politischen Tätigkeit vor. Ohne die letzte Bedingung darf mansich natürlich nicht auf einen Block einlassen, denn das wäreVerrat: Die vollste Freiheit der Entlarvung der Henderson undSnowden müssen die englischen Kommunisten ebenso unbedingtverfechten und durchsetzen, wie die russischen Bolschewiki sie(fünfzehn Jahre lang, von 1903 bis 1917) gegenüber den russischenHenderson und Snowden, d.h. gegenüber den Menschewiki,verfochten und durchgesetzt haben.

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Gehen die Henderson und Snowden den Block unter diesenBedingungen ein, so werden wir gewonnen haben, denn für uns istkeineswegs die Zahl der Parlamentssitze wichtig, wir reißen unsnicht darum, wir werden in diesem Punkt nachgiebig sein (dieHenderson aber und insbesondere ihre neuen Freunde - oder neuenHerren -, die Liberalen, die zur Unabhängigen Arbeiterparteiübergegangen sind, reißen sich gerade darum am allermeisten). Wirwerden gewonnen haben, denn wir werden unsere Agitation zueinem Zeitpunkt in die Massen tragen, da Lloyd George selbst sie"aufgeputscht" hat, und werden nicht nur der Arbeiterpartei helfen,schneller ihre Regierung zu bilden, sondern auch den Massen,schneller unsere ganze kommunistische Propaganda zu begreifen,die wir gegen die Henderson ohne jede Einschränkung und ohneetwas zu verschweigen treiben werden.

Arthur Henderson 1863 - 1934

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Lehnen die Henderson und Snowden den Block mit uns unterdiesen Bedingungen ab, so werden wir noch mehr gewonnenhaben. Denn wir werden den Massen sofort gezeigt haben(wohlgemerkt, sogar innerhalb der rein menschewistischen, völligopportunistischen Unabhängigen Arbeiterpartei ist die Masse fürdie Sowjets), dass den Henderson ihre nahen Beziehungen zu denKapitalisten lieber sind als der Zusammenschluss aller Arbeiter.Wir werden sofort gewonnen haben in den Augen der Massen, diebesonders nach den glänzenden, höchst richtigen und (für denKommunismus) höchst nützlichen Erläuterungen Lloyd Georgesmit einem Zusammenschluss aller Arbeiter gegen das BündnisLloyd Georges und der Konservativen sympathisieren werden. Wirwerden sofort gewonnen haben, denn wir werden vor den Massendemonstriert haben, dass die Henderson und Snowden einen Siegüber Lloyd George fürchten, dass sie die alleinige Machtübernahmefürchten, dass sie bestrebt sind, heimlich die Unterstützung LloydGeorges zu erlangen, der offen den Konservativen die Hand gegendie Arbeiterpartei reicht. Es muss bemerkt werden, dass bei uns inRussland nach der Revolution vom 27.11.1917 (alten Stils) diePropaganda der Bolschewiki gegen die Menschewiki undSozialrevolutionäre (d.h. gegen die russischen Henderson undSnowden) gerade durch einen ebensolchen Umstand gewann. Wirerklärten den Menschewiki und Sozialrevolutionären: Nehmt dieganze Macht ohne die Bourgeoisie, denn ihr habt die Mehrheit inden Sowjets (auf dem 1. Gesamtrussischen Sowjetkongress im Juni1917 hatten die Bolschewiki nur 13 Prozent der Stimmen). Aber dierussischen Henderson und Snowden fürchteten sich, die Machtohne die Bourgeoisie zu ergreifen, und als die Bourgeoisie dieWahlen zur Konstituierenden Versammlung verschleppte, da siesehr wohl wusste, dass die Wahlen den Sozialrevolutionären undMenschewiki die Mehrheit bringen würden27 (beide bildeten einen

27 Die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung in Russland, im November1917, erbrachten laut Angaben, die mehr als 36 Millionen Wähler erfassen, 25Prozent der Stimmen für die Bolschewiki, 13 Prozent für die verschiedenenParteien der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie, 62 Prozent für diekleinbürgerliche Demokratie, d.h. für die Sozialrevolutionäre und Menschewikinebst kleineren ihnen nahestehenden Gruppen.

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ganz engen politischen Block, denn sie vertraten praktisch ein unddieselbe kleinbürgerliche Demokratie), da waren dieSozialrevolutionäre und Menschewiki nicht imstande, gegen dieseVerschleppung energisch und konsequent zu kämpfen.

Lehnen die Henderson und Snowden einen Block mit denKommunisten ab, so werden die Kommunisten sofort gewonnenhaben, was die Eroberung der Sympathien der Massen und dieDiskreditierung der Henderson und Snowden betrifft, und solltenwir dadurch einige Parlamentssitze verlieren, so ist das für uns ganzunwichtig. Wir würden unsere Kandidaten nur in einer ganzgeringen Zahl absolut sicherer Wahlkreise aufstellen, d.h. dort, wodie Aufstellung unserer Kandidaten nicht dem Liberalen zum Siegüber den Labouristen (das Mitglied der Arbeiterpartei) verhelfenwürde. Wir würden Wahlagitation treiben, Flugblätter zugunstendes Kommunismus verbreiten und in allen Wahlkreisen, in denenwir keinen eigenen Kandidaten aufstellen, empfehlen, für denLabouristen und gegen den Bourgeois zu stimmen. Genossin SylviaPankhurst und Genosse Gallacher irren, wenn sie darin einen Verratam Kommunismus oder einen Verzicht auf den Kampf gegen dieSozialverräter sehen. Im Gegenteil, dadurch würde die Sache derkommunistischen Revolution ohne Zweifel gewinnen.

Den englischen Kommunisten fällt es jetzt sehr oft schwer, an dieMasse auch nur heranzukommen, sich bei ihr auch nur Gehör zuverschaffen. Wenn ich als Kommunist auftrete und erkläre, dass ichdazu auffordere, für Henderson und gegen Lloyd George zustimmen, so wird man mich gewiss anhören. Und ich werde nichtnur in populärer Weise erklären können, warum die Sowjets bessersind als das Parlament und die Diktatur des Proletariats besser istals die Diktatur Churchills (die durch das Aushängeschild derbürgerlichen "Demokratie" verdeckt wird), sondern ich werde aucherklären können, dass ich Henderson durch meine Stimmabgabeebenso stützen möchte, wie der Strick den Gehängten stützt; dass indem Maße, wie sich die Henderson einer eigenen Regierungnähern, ebenso die Richtigkeit meines Standpunkts bewiesen wird,ebenso die Massen auf meine Seite gebracht werden und ebenso derpolitische Tod der Henderson und Snowden beschleunigt wird, wie

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das bei ihren Gesinnungsgenossen in Russland und in Deutschlandder Fall war.

Und wenn man mir entgegnen sollte, das sei eine zu "schlaue"oder zu komplizierte Taktik, die Massen würden sie nichtverstehen, sie werde unsere Kräfte verzetteln, zersplittern, werdeuns hindern, diese Kräfte auf die Sowjetrevolution zu konzentrierenusw., so werde ich diesen "linken" Opponenten antworten: Wälzteuren Doktrinarismus nicht auf die Massen ab! In Russland ist dasKulturniveau der Massen gewiss nicht höher, sondern niedriger alsin England. Und dennoch haben die Massen die Bolschewikibegriffen; und es hat den Bolschewiki nicht geschadet, sonderngenützt, dass sie am Vorabend der Sowjetrevolution, im September1917, die Listen ihrer Kandidaten für das bürgerliche Parlament(die Konstituierende Versammlung) aufstellten und am Tag nachder Sowjetrevolution, im November 1917, an den Wahlen zu dieserselben Konstituierenden Versammlung teilnahmen, die sie dann am5.1.1918 auseinanderjagten.

Ich kann hier nicht auf die zweite Meinungsverschiedenheit unterden englischen Kommunisten eingehen, die darin besteht, ob mansich der Arbeiterpartei anschließen soll oder nicht. Ich habezuwenig Material über diese Frage, die besonders kompliziert istwegen der stark ausgeprägten Eigenart der britischen"Arbeiterpartei", die ihrer ganzen Struktur nach von den üblichenpolitischen Parteien auf dem europäischen Festland allzu sehrabweicht. Unzweifelhaft ist allerdings erstens, dass auch in dieserFrage derjenige unvermeidlich fehlgehen würde, der auf denGedanken käme, die Taktik des revolutionären Proletariats vonGrundsätzen abzuleiten wie: "Die Kommunistische Partei mussihre Lehre rein und ihre Unabhängigkeit vom Reformismusunbefleckt erhalten. Ihre Mission ist es, ohne halt zumachen odervom Wege abzubiegen, direkt zur kommunistischen Revolutionvorwärts zuschreiten." Denn solche Grundsätze wiederholenlediglich den Fehler der französischen blanquistischenKommunarden, die im Jahre 1874 die "Ablehnung" allerKompromisse und aller Zwischenstationen proklamierten. Zweitensbesteht ohne Zweifel auch hier wie stets die Aufgabe darin, dass

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man es versteht, die allgemeinen und grundlegenden Prinzipien desKommunismus auf jene Eigenart der Beziehungen zwischen denKlassen und Parteien, auf jene Eigenart in der objektivenEntwicklung zum Kommunismus anzuwenden, die jedes einzelneLand aufweist und die man zu studieren, zu erforschen, zu erratenfähig sein muss.

Davon aber muss im Zusammenhang nicht allein mit demenglischen Kommunismus, sondern mit den allgemeinenSchlussfolgerungen gesprochen werden, welche die Entwicklungdes Kommunismus in allen kapitalistischen Ländern betreffen. Zudiesem Thema wollen wir nun übergehen.

X. Einige Schlussfolgerungen

In der russischen bürgerlichen Revolution von 1905 zeigte sicheine außerordentlich eigenartige Wendung der Weltgeschichte. Ineinem der rückständigsten kapitalistischen Länder erlangte dieStreikbewegung einen Umfang und eine Stärke wie nie zuvor in derWelt. Allein im ersten Monat des Jahres 1905 betrug die Zahl derStreikenden das Zehnfache der jährlichen Durchschnittszahl derStreikenden in den vorangegangenen 10 Jahren (1895-1904), undvom Januar bis zum Oktober 1905 wuchsen die Streiksununterbrochen und in riesigem Ausmaß an.

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Unter dem Einfluss einer Reihe ganz eigenartiger historischerBedingungen demonstrierte das rückständige Russland der Welt alserstes Land nicht nur ein sprunghaftes Anwachsen der Aktivität derunterdrückten Massen während der Revolution (das war in allengroßen Revolutionen der Fall), sondern auch die Bedeutung desProletariats, die unendlich größer war als der Anteil des Proletariatsan der Bevölkerung, ferner die Verbindung von wirtschaftlichemund politischem Streik, mit dem Umschlagen des letzteren in denbewaffneten Aufstand, und die Entstehung der Sowjets als einerneuen Form des Massenkampfes und der Massenorganisation dervom Kapitalismus unterjochten Klassen.

Die Februar- und die Oktoberrevolution des Jahres 1917 haben zueiner allseitigen Entwicklung der Sowjets im ganzen Lande unddann zu ihrem Sieg in der proletarischen, sozialistischenUmwälzung geführt. Und in knapp zwei Jahren offenbarte sich derinternationale Charakter der Sowjets, die Ausbreitung dieserKampf- und Organisationsform auf die Arbeiterbewegung derganzen Welt, die geschichtliche Mission der Sowjets, Totengräber,Erbe, Nachfolger des bürgerlichen Parlamentarismus und derbürgerlichen Demokratie überhaupt zu sein.

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Damit nicht genug, zeigt die Geschichte jetzt, dass es derArbeiterbewegung in allen Ländern bevorsteht (und sie bereitsbegonnen hat), den Kampf des wachsenden, erstarkenden, zumSieg voranschreitenden Kommunismus vor allem undhauptsächlich gegen den eigenen "Menschewismus" (in jedemLande), d.h. gegen den Opportunismus und Sozialchauvinismus,und zweitens - sozusagen als Ergänzung - gegen den "linken"Kommunismus durchzumachen. Der erste Kampf hat sich in allenLändern, offenbar ohne jede Ausnahme, als Kampf zwischen der(heute bereits faktisch zur Strecke gebrachten) II. und der III.Internationale entfaltet. Der zweite Kampf ist zu beobachten inDeutschland wie in England, in Italien wie in Amerika (zumindestvertritt ein gewisser Teil der "Industriearbeiter der Welt" und deranarcho-syndikalistischen Strömungen die Fehler des linkenKommunismus bei fast allgemeiner, fast ungeteilter Anerkennungdes Sowjetsystems) und in Frankreich (die Einstellung eines Teilsder früheren Syndikalisten zur politischen Partei und zumParlamentarismus, wiederum bei Anerkennung des Sowjetsystems),d.h. zweifellos nicht nur in einem internationalen, sondern einemweltumfassenden Maßstab.

Doch indem die Arbeiterbewegung überall eine dem Wesen nachgleichartige Vorschule zum Sieg über die Bourgeoisie durchmacht,vollzieht sie diese Entwicklung in jedem Lande auf eigene Weise.Dabei schreiten die großen, fortgeschrittenen kapitalistischenLänder auf diesem Wege viel schneller vorwärts als derBolschewismus, der von der Geschichte eine fünfzehnjährige Fristerhalten hatte, um sich als organisierte politische Strömung auf denSieg vorzubereiten. Die III. Internationale hat in einer so kurzenFrist, wie es ein Jahr ist, bereits einen entscheidenden Siegerrungen, sie hat die gelbe, sozialchauvinistische Il. Internationalezerschlagen, die noch vor einigen Monaten unvergleichlich stärkerwar als die III. Internationale, die fest und mächtig zu sein schien,die in jeder Hinsicht - direkt und indirekt, materiell (Ministersessel,Pässe, Presse) und ideologisch - die Unterstützung derWeltbourgeoisie genoss.

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Alles kommt jetzt darauf an, dass die Kommunisten eines jedenLandes sowohl die grundlegenden prinzipiellen Aufgaben desKampfes gegen den Opportunismus und den "linken"Doktrinarismus als auch die konkreten Besonderheiten ganz klareinschätzen, die dieser Kampf in jedem einzelnen Landeentsprechend der Eigenart seiner Ökonomik, Politik und Kultur,seiner nationalen Zusammensetzung (Irland usw.), seiner Kolonien,seiner religiösen Gliederung usw. usf. annimmt und unvermeidlichannehmen muss. Überall zeigt sich, verbreitet sich und wächst dieUnzufriedenheit mit der II. Internationale sowohl wegen ihresOpportunismus als auch wegen ihrer Ohnmacht oder ihrerUnfähigkeit, eine wirklich zentralisierte, wirklich leitendeZentralstelle zu schaffen, die fähig wäre, die internationale Taktikdes revolutionären Proletariats in seinem Kampf für eineweltumspannende Sowjetrepublik zu leiten. Man muss sich klarRechenschaft darüber ablegen, dass eine solche leitendeZentralstelle keinesfalls auf einer Schablonisierung, einermechanischen Gleichsetzung und Identifizierung der taktischenKampfregeln aufgebaut werden kann. Solange nationale undstaatliche Unterschiede zwischen den Völkern und Ländernbestehen - diese Unterschiede werden sich aber noch sehr, sehrlange sogar nach der Verwirklichung der Diktatur des Proletariatsim Weltmaßstab erhalten -, erfordert die Einheitlichkeit derinternationalen Taktik der kommunistischen Arbeiterbewegungaller Länder nicht die Beseitigung der Mannigfaltigkeit, nicht dieAufhebung der nationalen Unterschiede (das wäre imgegenwärtigen Augenblick eine sinnlose Phantasterei), sonderneine solche Anwendung der grundlegenden Prinzipien desKommunismus (Sowjetmacht und Diktatur des Proletariats), beider diese Prinzipien im einzelnen richtig modifiziert und dennationalen und nationalstaatlichen Verschiedenheiten richtigangepaßt, auf sie richtig angewandt werden. Das nationalBesondere, das national Spezifische beim konkreten Herangehenjedes Landes an die Lösung der einheitlichen internationalenAufgabe, an den Sieg über den Opportunismus und den linkenDoktrinarismus innerhalb der Arbeiterbewegung, an den Sturz derBourgeoisie, an die Errichtung der Sowjetrepublik und der

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proletarischen Diktatur zu erforschen, zu studieren, herauszufinden,zu erraten und zu erfassen - das ist die Hauptaufgabe deshistorischen Augenblicks, den alle fortgeschrittenen (und nichtallein die fortgeschrittenen) Länder gegenwärtig durchmachen. Fürdie Gewinnung der Avantgarde der Arbeiterklasse, für ihrenÜbergang auf die Seite der Sowjetmacht gegen denParlamentarismus, auf die Seite der Diktatur des Proletariats gegendie bürgerliche Demokratie ist das Wichtigste - natürlich beiweitem noch nicht alles, aber doch das Wichtigste - bereits getan.Jetzt gilt es, alle Kräfte, die ganze Aufmerksamkeit auf dennächsten Schritt zu konzentrieren, der weniger wichtig zu seinscheint - und es von einem gewissen Standpunkt auch wirklich ist -,aber dafür der konkreten Lösung der Aufgabe praktisch näherkommt, nämlich darauf, die Form des Übergehens zurproletarischen Revolution oder des Herangebens an sie ausfindig zumachen.

Die proletarische Avantgarde ist ideologisch gewonnen. Das istdie Hauptsache. Ohne diese Vorbedingung kann man nicht einmalden ersten Schritt zum Sieg tun. Aber von hier bis zum Sieg ist esnoch ziemlich weit. Mit der Avantgarde allein kann man nichtsiegen. Die Avantgarde allein in den entscheidenden Kampf werfen,solange die ganze Klasse, solange die breiten Massen nicht diePosition eingenommen haben, dass sie die Avantgarde entwederdirekt unterstützen oder zumindest wohlwollende Neutralität ihrgegenüber üben und dem Gegner der Avantgarde jederleiUnterstützung versagen, wäre nicht nur eine Dummheit, sondernauch ein Verbrechen. Damit aber wirklich die ganze Klasse, damitwirklich die breiten Massen der Werktätigen und vom KapitalUnterdrückten zu dieser Position gelangen, dazu ist Propagandaallein, Agitation allein zuwenig. Dazu bedarf es der eigenenpolitischen Erfahrung dieser Massen. Das ist das grundlegendeGesetz aller großen Revolutionen, das sich jetzt mit überraschenderKraft und Anschaulichkeit nicht nur in Russland, sondern auch inDeutschland bestätigt hat. Nicht nur die auf niedriger Kulturstufestehenden, vielfach des Lesens und Schreibens unkundigen MassenRusslands, sondern auch die auf hoher Kulturstufe stehenden,

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durchweg des Lesens und Schreibens kundigen MassenDeutschlands mussten erst am eigenen Leibe die ganze Ohnmacht,die ganze Charakterlosigkeit, die ganze Hilflosigkeit, die ganzeLiebedienerei vor der Bourgeoisie, die ganze Gemeinheit einerRegierung der Ritter der Il. Internationale, die ganzeUnvermeidlichkeit einer Diktatur der extremen Reaktionäre(Kornilow in Russland, Kapp und Co. in Deutschland) als einzigeAlternative gegenüber der Diktatur des Proletariats erfahren, umsich entschieden dem Kommunismus zuzuwenden.

Die nächste Aufgabe der klassenbewussten Vorhut in derinternationalen Arbeiterbewegung, d.h. der kommunistischenParteien, Gruppen und Strömungen, besteht darin, dass sie esversteht, die breiten (jetzt meistenteils noch schlummernden,apathischen, in althergebrachten Vorstellungen befangenen, trägen,noch nicht erweckten) Massen an diese ihre neue Positionberanzuführen, richtiger gesagt, dass sie es versteht, nicht nur dieeigene Partei, sondern auch diese Massen zu leiten, während sie zurneuen Position übergehen, die neue Position beziehen. Konnte dieerste historische Aufgabe (die Gewinnung der klassenbewußssenVorhut des Proletariats für die Sowjetmacht und die Diktatur derArbeiterklasse) nicht ohne den vollen ideologischen und politischenSieg über den Opportunismus und Sozialchauvinismus gelöstwerden, so kann die zweite Aufgabe, die nun zur nächsten wird unddie in der Fähigkeit besteht, die Massen heranzuführen an die neuePosition, die den Sieg der Vorhut in der Revolution zu sichernvermag - so kann diese nächste Aufgabe nicht erfüllt werden, ohnedass man mit dem linken Doktrinarismus aufräumt, ohne dass manseine Fehler völlig überwindet und sich von ihnen frei macht.

Solange es sich darum handelte (und insoweit es sich noch darumhandelt), die Avantgarde des Proletariats für den Kommunismus zugewinnen, solange und insoweit tritt die Propaganda an die ersteStelle; sogar Zirkel mit allen dem Zirkelwesen eigenen Schwächensind hier nützlich und zeitigen fruchtbare Ergebnisse. Wenn es sichum die praktische Aktion der Massen, um die Verteilung - wennman sich so ausdrücken darf von Millionenarmeen, um dieGruppierung aller Klassenkräfte einer gegebenen Gesellschaft zum

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letzten und entscheidenden Kampf handelt, so kann man allein mitpropagandistischer Gewandtheit, allein mit der Wiederholung derWahrheiten des "reinen" Kommunismus nichts mehr ausrichten.Hier gilt es, nicht mit Hunderten und Tausenden zu rechnen, wiedas im Grunde genommen der Propagandist als Mitglied einerkleinen Gruppe tut, die noch keine Massen geführt hat; hier mussman mit Millionen und aber Millionen rechnen. Hier muss mansich nicht nur fragen, ob wir die Avantgarde der revolutionärenKlasse überzeugt haben, sondern außerdem auch, ob die historischwirksamen Kräfte aller Klassen, unbedingt ausnahmslos allerKlassen der gegebenen Gesellschaft, so gruppiert sind, dass dieEntscheidungsschlacht bereits vollauf herangereift ist, nämlich dass1. alle uns feindlichen Klassenkräfte genügend in Verwirrunggeraten sind, genügend miteinander in Fehde liegen, sich durch denKampf, der ihre Kräfte übersteigt, genügend geschwächt haben;dass 2. alle schwankenden, unsicheren, unbeständigenZwischenelemente, d.h. das Kleinbürgertum, die kleinbürgerlicheDemokratie zum Unterschied von der Bourgeoisie, sich vor demVolk genügend entlarvt haben, durch ihren Bankrott in der Praxisgenügend bloßgestellt sind; dass 3. im Proletariat dieMassenstimmung zugunsten der Unterstützung der entschiedensten,grenzenlos kühnen, revolutionären Aktionen gegen die Bourgeoisiebegonnen hat und machtvoll ansteigt. Ist das der Fall, dann ist dieZeit für die Revolution reif, dann ist unser Sieg - wenn wir alleoben erwähnten, oben kurz umrissenen Bedingungen richtigeingeschätzt und den Zeitpunkt richtig gewählt haben -, dann istunser Sieg gesichert.

Die Differenzen zwischen den Churchill und Lloyd George -diese politischen Typen gibt es mit geringen nationalenUnterschieden in allen Ländern - einerseits und sodann dieDifferenzen zwischen den Henderson und Lloyd George anderseitssind vom Standpunkt des reinen, d.h. abstrakten, d.h. noch nicht zurpraktischen politischen Massenaktion herangereiftenKommunismus ganz belanglos und geringfügig. Aber vomStandpunkt dieser praktischen Aktion der Massen aus gesehen, sinddiese Unterschiede äußerst, äußerst wichtig. Sie in Rechnung zu

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stellen, den Zeitpunkt zu bestimmen, in dem die unter diesen"Freunden" unvermeidlichen Konflikte völlig herangereift sind, diealle die "Freunde" zusammengenommen schwächen und entkräften- darin besteht die ganze Aufgabe, die ganze Tätigkeit desKommunisten, der nicht nur ein bewusster, überzeugter, von derIdee durchdrungener Propagandist, sondern auch ein praktischerFührer der Massen in der Revolution sein will. Man muss diegrößte Treue zu den Ideen des Kommunismus mit der Fähigkeitvereinigen, alle notwendigen praktischen Kompromisseeinzugehen, zu lavieren, zu paktieren, im Zickzack vorzugehen,Rückzüge anzutreten und ähnliches mehr, um den politischenMachtantritt und das Abwirtschaften der Henderson (der Heldender II. Internationale, um nicht die Namen einzelner Personen zunennen, die Vertreter der kleinbürgerlichen Demokratie sind, sichaber als Sozialisten bezeichnen) zu beschleunigen; um ihrenunvermeidlichen Bankrott in der Praxis zu beschleunigen, der dieMassen gerade in unserem Geist, gerade in der Richtung zumKommunismus aufklärt; um die unvermeidlichen Reibungen,Streitigkeiten, Konflikte, das völlige Zerwürfnis zwischen denHenderson, Lloyd George und Churchill (den Menschewiki undSozialrevolutionären, den Kadetten, den Monarchisten; denScheidemännern, der Bourgeoisie, den Kappleuten usw.) zubeschleunigen und den Augenblick des größten Zerwürfnisseszwischen allen diesen "Stützen des heiligen Privateigentums"richtig zu wählen, damit das Proletariat durch einen entschlossenenAngriff sie alle schlägt und die politische Macht erobert.

Die Geschichte im allgemeinen und die Geschichte derRevolutionen im besonderen ist stets inhaltsreicher, mannigfaltiger,vielseitiger, lebendiger, "vertrackter", als die besten Parteien, dieklassenbewusstesten Avantgarden der fortgeschrittensten Klassen essich vorstellen. Das ist auch verständlich, denn die bestenAvantgarden bringen das Bewusstsein, den Willen, dieLeidenschaft, die Phantasie von Zehntausenden zum Ausdruck, dieRevolution aber wird in Augenblicken eines besonderenAufschwungs und einer besonderen Anspannung allermenschlichen Fähigkeiten durch das Bewusstsein, den Willen, die

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Leidenschaft, die Phantasie von vielen Millionen verwirklicht, dieder schärfste Klassenkampf vorwärtspeitscht. Hieraus ergeben sichzwei sehr wichtige praktische Schlussfolgerungen: erstens, dass dierevolutionäre Klasse, wenn sie ihre Aufgabe erfüllen will, esverstehen muss, alle Formen oder Seiten der gesellschaftlichenTätigkeit ohne die geringste Ausnahme zu beherrschen (wobei sienach der Eroberung der politischen Macht, mitunter mit großemRisiko und unter ungeheurer Gefahr, das zu Ende führt, was sievorher nicht zu Ende geführt hat); zweitens, dass die revolutionäreKlasse gerüstet sein muss, aufs schnellste und unerwartetste dieeine Form durch die andere zu ersetzen.

Jeder wird zugeben, dass es unvernünftig, ja verbrecherisch ist,wenn eine Armee sich nicht darauf vorbereitet, alleWaffengattungen, alle Kampfmittel und Kampfmethoden zubeherrschen, über die der Feind verfügt oder verfügen kann. Dasgilt aber für die Politik noch mehr als für das Kriegswesen. In derPolitik ist es noch weniger möglich, im Voraus zu wissen, welchesKampfmittel unter diesen oder jenen künftigen Umständen für unsanwendbar und vorteilhaft sein wird. Beherrschen wir nicht alleKampfmittel, so können wir eine schwere - manchmal sogar eineentscheidende - Niederlage erleiden, wenn von unserem Willenunabhängige Veränderungen in der Lage der anderen Klassen eineForm des Handelns auf die Tagesordnung setzen, in der wirbesonders schwach sind. Beherrschen wir alle Kampfmittel, sosiegen wir mit Sicherheit, denn wir vertreten die Interessen derwirklich fortgeschrittenen, wirklich revolutionären Klasse; sosiegen wir selbst dann, wenn die Umstände uns nicht erlaubensollten, die Waffe einzusetzen, die dem Feind am gefährlichsten ist,die Waffe, die am schnellsten tödliche Schläge versetzt.Unerfahrene Revolutionäre meinen oft, legale Kampfmittel seienopportunistisch, weil die Bourgeoisie auf diesem Gebiet dieArbeiter besonders häufig (am meisten in »friedlichen«,nichtrevolutionären Zeiten) betrogen und übertölpelt hat, illegaleKampfmittel dagegen seien revolutionär. Das ist jedoch nichtrichtig. Richtig ist, dass Opportunisten und Verräter an derArbeiterklasse diejenigen Parteien und Führer sind, die nicht fähig

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oder nicht gewillt sind (sage nicht: ich kann nicht, sage lieber: ichwill nicht!), illegale Kampfmittel z.B. unter Verhältnissenanzuwenden, wie sie während des imperialistischen Krieges 1914-1918 bestanden, als die Bourgeoisie der freiesten demokratischenLänder die Arbeiter mit unerhörter Frechheit und Brutalität betrogund es verbot, die Wahrheit über den räuberischen Charakter desKrieges zu sagen. Aber Revolutionäre, die es nicht verstehen, dieillegalen Kampfformen mit allen legalen zu verknüpfen, sind sehrschlechte Revolutionäre. Es ist nicht schwer, dann ein Revolutionärzu sein, wenn die Revolution bereits ausgebrochen und entbranntist, wenn sich all und jeder der Revolution anschließt, aus einfacherSchwärmerei, aus Mode, mitunter sogar aus Gründen derpersönlichen Karriere. Das Proletariat hat nachher, nach seinemSieg, die größte Mühe, man könnte sagen, seine liebe Not, sich vonsolchen Quasi-Revolutionären "zu befreien". Viel schwerer - undviel wertvoller - ist, dass man es versteht, ein Revolutionär zu sein,wenn die Bedingungen für einen direkten, offenen, wirklich vonden Massen getragenen, wirklich revolutionären Kampf noch nichtvorhanden sind, dass man es versteht, die Interessen der Revolution(propagandistisch, agitatorisch, organisatorisch) innichtrevolutionären, oft sogar direkt reaktionären Institutionen, ineiner nichtrevolutionären Situation, unter einer Masse zuverfechten, die unfähig ist, die Notwendigkeit revolutionärerMethoden des Handelns sofort zu begreifen. Die Fähigkeit, denkonkreten Weg oder den besonderen Wendepunkt der Ereignisse,der die Massen an den wirklichen, entscheidenden, letzten, großenrevolutionären Kampf heranführt, herauszufinden, herauszufühlen,richtig zu bestimmen - das ist die Hauptaufgabe des heutigenKommunismus in Westeuropa und Amerika.

Ein Beispiel: England. Wir können nicht wissen - und niemand istimstande, im voraus zu bestimmen -, wie bald dort die wirklicheproletarische Revolution entbrennen und welcher Anlass sehrbreite, jetzt noch schlummernde Massen am stärksten aufrütteln,entflammen, zum Kampf vorwärts treiben wird. Deshalb sind wirverpflichtet, unsere ganze Vorarbeit so zu leisten, dass sie (wiePlechanow, als er noch Marxist und Revolutionär war, zu sagen

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pflegte) »in jeder Hinsicht hieb- und stichfest« ist. Es ist möglich,dass eine Parlamentskrise den "Durchbruch bringen", das "Eisbrechen" wird; vielleicht wird es eine Krise sein, die denhoffnungslos verworrenen, sich immer schmerzhafter gestaltendenund immer mehr zuspitzenden kolonialen und imperialistischenGegensätzen entspringt; möglich ist aber auch ein Drittes usw. Wirsprechen nicht davon, welcher Kampf das Schicksal derproletarischen Revolution in England entscheiden wird (diese Frageerregt bei keinem Kommunisten Zweifel, diese Frage ist für unsalle entschieden und eindeutig entschieden), wir sprechen von demAnlass, der die jetzt noch schlummernden proletarischen Massen inBewegung bringen und bis dicht an die Revolution heranführenwird. Vergessen wir nicht, dass z.B. in der bürgerlichenfranzösischen Republik in einer Situation, die international wieinnerpolitisch hundertmal weniger revolutionär war als die jetzige,ein so "unerwarteter" und so "geringfügiger" Anlass wie eine derunzähligen ehrlosen Manipulationen der reaktionären Militärclique(der Fall Dreyfus) genagt hat, um das Volk bis dicht an denBürgerkrieg heranzuführen!

Die Kommunisten müssen in England sowohl dieParlamentswahlen als auch alle Wechselfälle der irischen, derkolonialen, der ganzen internationalen imperialistischen Politik derbritischen Regierung und alle sonstigen Gebiete, Sphären undSeiten des öffentlichen Lebens ununterbrochen, unablässig,unentwegt ausnutzen und in allen diesen Bereichen auf neue, aufkommunistische Art, im Geiste nicht der II., sondern der Ill.Internationale arbeiten. Mir fehlen hier Zeit und Raum, um dieMethoden der "russischen", der "bolschewistischen" Beteiligung anden Parlamentswahlen und am Parlamentskampf zu schildern, ichkann aber den ausländischen Kommunisten versichern, dass dasden üblichen westeuropäischen Wahlkampagnen keineswegsähnelte. Daraus zieht man oft den Schluss: »Nun ja, das war beieuch in Russland so, bei uns aber ist der Parlamentarismus anders.«Das ist eine falsche Schlussfolgerung. Dafür gibt es ja auf der WeltKommunisten, Anhänger der III. Internationale in allen Ländern,dass sie auf der ganzen Linie, auf allen Lebensgebieten die alte

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sozialistische, trade-unionistische, syndikalistische,parlamentarische Arbeit in eine neue, kommunistische umgestalten.Opportunistisches, rein Bürgerliches, Geschäftsmäßiges, gaunerhaftKapitalistisches hat es auch bei unseren Wahlen stets mehr alsgenug gegeben. Die Kommunisten in Westeuropa und in Amerikamüssen es lernen, einen neuen, andersartigen Parlamentarismushervorzubringen, der mit Opportunismus und Karrierismus nichtszu tun hat. Es muss so sein, dass die Partei der Kommunisten ihreLosungen ausgibt und echte Proletarier mit Hilfe derunorganisierten und niedergedrückten Ärmsten der ArmenFlugblätter verteilen und austragen, die Wohnungen der Arbeiter,die Hütten der Landproletarier und der in weltabgeschiedenenWinkeln lebenden Bauern aufsuchen (in Europa gibt es zum Glückviel weniger weltabgeschiedene Winkel auf dem Lande als bei uns,und in England fast gar keine), in die Kneipen gehen, wo das ganzeinfache Volk verkehrt, und sich zu Verbänden, Vereinen, zufälligenVersammlungen des einfachen Volkes Zutritt verschaffen. Siedürfen mit dem Volk nicht in gelehrter (und nicht in sehr"parlamentarischer") Sprache reden, dürfen nicht im geringsten aufeinen »Sitz« im Parlament erpicht sein, sondern müssen überall dasDenken wachrütteln, die Masse in Bewegung bringen, dieBourgeoisie beim Wort nehmen, den von der Bourgeoisiegeschaffenen Apparat, die von ihr angesetzten Wahlen, die von ihran das ganze Volk gerichteten Aufrufe ausnutzen und das Volk mitdem Bolschewismus so vertraut machen, wie das sonst niemals(unter der Herrschaft der Bourgeoisie) außer währendWahlkampagnen möglich war (natürlich abgesehen von Zeitengroßer Streiks, in denen ein ebensolcber Apparat einer das ganzeVolk erfassenden Agitation bei uns noch intensiver gearbeitet hat).Das in Westeuropa und Amerika durchzuführen ist sehr schwer,unvorstellbar schwer, aber es kann und muss getan werden, dennohne Mühe können die Aufgaben des Kommunismus überhauptnicht gelöst werden, die Mühe aber muss der Lösung der immermannigfaltigeren praktischen Aufgaben gelten, die immer mehr mitallen Zweigen des öffentlichen Lebens verknüpft sind und durchdie immer mehr ein Zweig, ein Gebiet nach dem anderen derBourgeoisie abgerungen wird.

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Um auf England zurückzukommen, so muss man dort auch dieArbeit der Propaganda, der Agitation, der Organisation im Heer undunter den unterdrückten und nicht gleichberechtigten Nationalitätendes "eigenen" Staates (Irland, Kolonien) auf neue Art (nichtsozialistisch, sondern kommunistisch, nicht reformistisch, sondernrevolutionär) anpacken. Denn auf allen diesen Gebieten desöffentlichen Lebens häuft sich in der Epoche des Imperialismusüberhaupt und jetzt, nach dem Kriege, der die Völker völligerschöpft hat und ihnen rasch die Augen für die Wahrheit öffnet(nämlich dafür, dass Millionen und aber Millionen Menschengetötet und verstümmelt worden sind, nur um die Frage zuentscheiden, ob die englischen oder die deutschen Räuber mehrLänder ausplündern sollen) häuft sich auf allen diesen Gebieten desöffentlichen Lebens besonders viel Zündstoff an und entstehenbesonders viel Anlässe zu Konflikten, zu Krisen und zurVerschärfung des Klassenkampfes. Wir wissen nicht und könnennicht wissen, welcher Funke - aus der Unmenge von Funken, diejetzt in allen Ländern unter dem Einfluss der ökonomischen undpolitischen Weltkrise umherstieben - imstande sein wird, den Brandin dem Sinne zu entfachen, dass die Massen besonders starkaufgerüttelt werden, und wir sind daher verpflichtet, mit unserenneuen, den kommunistischen Grundsätzen an die "Bearbeitung" allund jedes, sogar des ältesten, muffigsten und anscheinendhoffnungslosen Gebietes zu gehen, denn sonst werden wir nicht aufder Höhe der Aufgabe stehen, werden wir nicht allseitig sein,werden wir nicht alle Waffengattungen beherrschen, werden wirweder zum Sieg über die Bourgeoisie (die alle Gebiete desöffentlichen Lebens auf bürgerliche Art organisiert, jetzt aber auchdesorganisiert hat) noch zur bevorstehenden kommunistischenReorganisation des gesamten Lebens nach diesem Sieg gerüstetsein.

Nach der proletarischen Revolution in Russland und den, für dieBourgeoisie und die Philister, unerwarteten Siegen dieserRevolution im internationalen Maßstab ist die ganze Welt jetzt eineandere geworden, ist auch die Bourgeoisie überall eine anderegeworden. Sie ist durch den "Bolschewismus" in Schrecken

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versetzt und vom Haß auf ihn fast bis zum Wahnsinn getriebenworden, und gerade deshalb beschleunigt sie einerseits dieEntwicklung der Ereignisse und konzentriert anderseits ihrAugenmerk darauf, den Bolschewismus gewaltsamniederzuwerfen, wodurch sie ihre Position auf einer ganzen Reiheanderer Gebiete schwächt. Diese beiden Umstände müssen dieKommunisten aller fortgeschrittenen Länder bei ihrer Taktik inBetracht ziehen.

Als die russischen Kadetten und Kerenski gegen die Bolschewikieine wüste Hetze entfachten - besonders seit dem April 1917 undnoch mehr im Juni und Juli 1917 -, da taten sie "des Guten zuviel".Millionen von Exemplaren der bürgerlichen Zeitungen, die in allenTonarten über die Bolschewiki herzogen, trugen dazu bei, dass dieMassen sich ein Urteil über den Bolschewismus bildeten, und auchabgesehen von den Zeitungen war das gesamte öffentliche Lebengerade dank dem "Eifer" der Bourgeoisie vonAuseinandersetzungen über den Bolschewismus erfüllt. Jetztbenehmen sich im internationalen Maßstab die Millionäre allerLänder so, dass wir ihnen von Herzen dankbar sein müssen. Siehetzen gegen den Bolschewismus mit demselben Eifer, mit demKerenski und Co. gegen ihn hetzten; sie tun dabei ebenso "desGuten zuviel" und helfen uns ebenso, wie Kerenski es tat. Wenn diefranzösische Bourgeoisie den Bolschewismus zum Mittelpunktihrer Wahlagitation macht und relativ gemäßigte oder schwankendeSozialisten des Bolschewismus bezichtigt; wenn die amerikanischeBourgeoisie, die völlig den Kopf verloren hat, Tausende und aberTausende Menschen des Bolschewismus verdächtigt und verhaftet,überall Nachrichten über bolschewistische Verschwörungenverbreitet und dadurch eine Atmosphäre der Panik erzeugt; wenndie "solideste" Bourgeoisie der Welt, die englische, trotz all ihrerKlugheit und Erfahrung, unglaubliche Dummheiten macht, mitgroßen Geldmitteln ausgestattete "Vereine zum Kampf gegen denBolschewismus" gründet, eine spezielle Literatur über denBolschewismus herausgibt, sich zum Kampf gegen denBolschewismus eine weitere Zahl von Gelehrten, Agitatoren undPfaffen dingt - so müssen wir uns vor den Herren Kapitalisten

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verbeugen und ihnen danken. Sie arbeiten für uns. Sie helfen uns,das Interesse der Massen für die Frage nach dem Wesen und derBedeutung des Bolschewismus zu wecken. Und sie können nichtanders handeln, denn den Bolschewismus »totzuschweigen«, ihnabzuwürgen, ist ihnen schon misslungen.

Gleichzeitig aber sieht die Bourgeoisie fast nur die eine Seite desBolschewismus: Aufstand, Gewalt, Terror; die Bourgeoisie istdeshalb bemüht, sich zur Abwehr und zum Widerstandinsbesondere auf diesem Gebiet vorzubereiten. Es ist möglich, dassihr das in einzelnen Fällen, in einzelnen Ländern, für diese oderjene kurze Zeitspanne gelingen wird. Mit dieser Möglichkeit mussman rechnen, und wenn ihr das gelingt, so hat es für uns nichtsSchreckliches an sich. Der Kommunismus "wächst" buchstäblichaus allen Zweigen des öffentlichen Lebens empor, seine Triebe sindentschieden überall zu finden, die "Seuche" (um denLieblingsausdruck der Bourgeoisie und der bürgerlichen Polizeiund den ihr "angenehmsten" Vergleich zu gebrauchen) ist in denOrganismus sehr tief eingedrungen und hat den ganzen Organismusergriffen. Wird der eine Kanal besonders beflissen verstopft", sobricht die "Seuche" an einer anderen, mitunter ganz unerwartetenStelle aus. Das Leben setzt sich durch. Mag die Bourgeoisie toben,bis zum Irrsinn wüten, übertreiben, Dummheiten machen, sich anden Bolschewiki im voraus rächen und weitere Hunderte,Tausende, Hunderttausende von Menschen hinzumorden suchen,die gestern zu Bolschewiki geworden sind oder es morgen seinwerden (in Indien, in Ungarn, in Deutschland usw.); indem dieBourgeoisie das tut, handelt sie, wie alle von der Geschichte zumUntergang verurteilten Klassen gehandelt haben. Die Kommunistenmüssen wissen, dass die Zukunft auf jeden Fall ihnen gehört, unddaher können (und müssen) wir die größte Leidenschaftlichkeit indem gewaltigen revolutionären Kampf mit möglichst kaltblütigerund nüchterner Einberechnung der Tobsuchtsanfälle derBourgeoisie verbinden.

Die russische Revolution ist 1905 grausam niedergeschlagenworden; die russischen Bolschewiki sind im Juli 1917 geschlagenworden; durch abgefeimte Provokationen und geschickte Manöver

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haben die Scheidemänner und Noske im Verein mit der Bourgeoisieund den monarchistischen Generalen über 15.000 deutscheKommunisten hingemordet; in Finnland und in Ungarn wütet derweiße Terror. Aber in allen Fällen und in allen Ländern stählt undentwickelt sich der Kommunismus; er hat so tiefe Wurzelngeschlagen, dass die Verfolgungen ihn nicht schwächen, nichtentkräften, sondern stärken. Es fehlt nur eins, damit wir dem Siegesicher und fest entgegenschreiten: nämlich dass alle Kommunistenin allen Ländern durchweg und restlos die Notwendigkeit erkennen,in ihrer Taktik äußerst elastisch zu sein. Dem sich großartigentwickelnden Kommunismus fehlt jetzt, besonders in denfortgeschrittenen Ländern, diese Erkenntnis und die Fähigkeit,diese Erkenntnis in der Praxis anzuwenden.

Eine nützliche Lehre könnte (und müsste) das sein, was sohochgelehrten Marxisten und dem Sozialismus ergebenen Führernder II. Internationale wie Kautsky, Otto Bauer u.a. widerfahren ist.Sie hatten die Notwendigkeit einer elastischen Taktik vollauferkannt, hatten die Marxsche Dialektik studiert und anderenbeigebracht (und vieles von dem, was sie in dieser Hinsicht getanhaben, wird für immer ein wertvoller Beitrag zur sozialistischenLiteratur bleiben), sie machten aber bei der Anwendung dieserDialektik einen derartigen Fehler oder erwiesen sich in der Praxisals solche Nichtdialektiker, als Leute, die so wenig zu begreifenvermochten, wie schnell die Formen wechseln und die altenFormen sich mit neuem Inhalt füllen, dass ihr Los nicht vielbeneidenswerter ist als das der Hyndman, Guesde und Plechanow.Die Hauptursache ihres Bankrotts bestand darin, dass sie sich ineine bestimmte Form des Wachstums der Arbeiterbewegung unddes Sozialismus "vergafften", deren Einseitigkeit vergaßen, jenenjähen Umschwung zu sehen fürchteten, der kraft der objektivenVerhältnisse unvermeidlich geworden war, und fortfuhren,einfache, auswendig gelernte, auf den ersten Blick unbestreitbareWahrheiten zu wiederholen wie: drei ist mehr als zwei. Aber diePolitik ist der Algebra ähnlicher als der Arithmetik und der höherenMathematik noch ähnlicher als der niederen. In Wirklichkeit hattensich alle alten Formen der sozialistischen Bewegung mit neuem

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Inhalt gefüllt, vor die Zahlen trat deshalb ein neues Vorzeichen:"minus"; unsere Neunmalweisen aber fuhren (und fahren)hartnäckig fort, sich selbst und anderen einzureden, dass "minusdrei" mehr sei als "minus zwei".

Man muss dafür sorgen, dass sich bei den Kommunisten nichtderselbe Fehler, nur von einer anderen Seite her, wiederholt oder,richtiger, dass derselbe Fehler, den die "linken" Kommunisten, nurvon einer anderen Seite her, begehen, möglichst bald korrigiert undmöglichst rasch und schmerzlos für den Organismus überwundenwird. Der linke Doktrinarismus ist ebenfalls ein Fehler, nicht nurder rechte Doktrinarismus. Natürlich ist der Fehler des linkenDoktrinarismus im Kommunismus gegenwärtig tausendmalweniger gefährlich und weniger folgenschwer als der Fehler desrechten Doktrinarismus (d.h. des Sozialchauvinismus und desKautskyanertums), aber doch nur, weil der linke Kommunismuseine ganz junge, eben erst im Entstehen begriffene Strömung ist.Nur darum kann diese Krankheit unter gewissen Bedingungenleicht geheilt werden, und man muss sich mit maximaler Energiedaranmachen, sie zu heilen.

Die alten Formen sind geborsten, denn es hat sich erwiesen, dassihr neuer Inhalt - ein antiproletarischer, reaktionärer Inhalt - sichübermäßig ausgedehnt hatte. Wir haben jetzt, vom Standpunkt derEntwicklung des internationalen Kommunismus gesehen, einen sofesten, so starken, so mächtigen Inhalt der Arbeit (für dieSowjetmacht, für die Diktatur des Proletariats), dass er sich in jederbeliebigen, in der neuen wie der alten Form, offenbaren kann undmuss, alle Formen, nicht nur die neuen, sondern auch die alten,ummodeln, besiegen, sich unterordnen kann und muss - nicht umsich mit dem Alten abzufinden, sondern um alle, restlos alleFormen, die neuen wie die alten, in den Dienst des vollen undendgültigen, entscheidenden und unumstößlichen Sieges desKommunismus zu stellen.

Die Kommunisten müssen alle Kräfte anspannen, um dieArbeiterbewegung und die gesellschaftliche Entwicklung überhauptauf dem geradesten und raschesten Wege zum Sieg der

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Sowjetmacht und zur Diktatur des Proletariats in der ganzen Weltzu führen. Das ist eine unbestreitbare Wahrheit. Aber man brauchtnur einen ganz kleinen Schritt weiter - scheinbar einen Schritt inderselben Richtung - zu tun, und die Wahrheit verwandelt sich ineinen Irrtum. Man braucht nur wie die deutschen und englischenlinken Kommunisten zu sagen, dass wir nur einen einzigen Weg,nur den geraden Weg anerkennen, dass wir kein Lavieren, keinPaktieren, keine Kompromisse zulassen - und das wird bereits einFehler sein, der dem Kommunismus ernstesten Schaden zufügenkann, zum Teil schon zugefügt hat und noch zufügen wird. Derrechte Doktrinarismus hat sich darauf versteift, einzig und allein diealten Formen anzuerkennen, und hat völlig Bankrott gemacht, weiler den neuen Inhalt nicht bemerkte. Der linke Doktrinarismusversteift sich darauf, bestimmte alte Formen unbedingt abzulehnen,weil er nicht sieht, dass der neue Inhalt sich durch alle nurdenkbaren Formen Bahn bricht, dass es unsere Pflicht alsKommunisten ist, alle Formen zu meistern und es zu lernen, mitmaximaler Schnelligkeit eine Form durch die andere zu ergänzen,eine Form durch die andere zu ersetzen, unsere Taktik einer jedersolchen Änderung anzupassen, die nicht durch unsere Klasse odernicht durch unsere Anstrengungen hervorgerufen worden ist.

Die Weltrevolution ist durch die Schrecken, Gemeinheiten undScheußlichkeiten des imperialistischen Weltkriegs, durch dieAusweglosigkeit der von ihm geschaffenen Lage so mächtigvorwärtsgetrieben und beschleunigt worden, diese Revolutionentwickelt sich mit einer so großartigen Schnelligkeit, mit einem sowunderbaren Reichtum an wechselnden Formen in die Breite undTiefe, sie widerlegt in der Praxis so lehrreich jedwedenDoktrinarismus, dass wir allen Grund haben, auf eine rasche undvollständige Heilung der internationalen kommunistischenBewegung von der Kinderkrankheit des linken" Kommunismus zuhoffen.

27.4.1920

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Nachtrag

Bis die Verlagsanstalten unseres Landes - das von denImperialisten der ganzen Welt aus Rache für die proletarischeRevolution ausgeraubt worden ist und ungeachtet aller ihrenArbeitern gegebenen Versprechungen weiter ausgeraubt undblockiert wird -, bis unsere Verlagsanstalten die Herausgabe meinerBroschüre zustande brachten, ist aus dem Ausland ergänzendesMaterial eingetroffen. Da ich keineswegs den Anspruch erhebe, inmeiner Broschüre mehr zu bieten als flüchtige Notizen einesPublizisten, will ich einige Punkte kurz streifen.

I. Die Spaltung der deutschen Kommunisten

Die Spaltung der Kommunisten in Deutschland ist zur Tatsachegeworden. Die "Linken" oder die "grundsätzliche Opposition"haben zum Unterschied von der "Kommunistischen Partei" einebesondere "Kommunistische Arbeiterpartei" gebildet. In Italienkommt es anscheinend ebenfalls zur Spaltung - ich sageanscheinend, denn ich besitze nur die neuen Nummern (Nr. 7 und8) der linken Zeitung 'Il Soviet', in denen die Möglichkeit undNotwendigkeit der Spaltung offen erörtert wird, wobei auch voneiner Konferenz der Fraktion der "Astensionisten" (oderBoykottisten, d.h. der Gegner einer Beteiligung am Parlament) dieRede ist; diese Fraktion gehört bis heute noch der ItalienischenSozialistischen Partei an.

Es ist zu befürchten, dass die Abspaltung der "linken"Antiparlamentarier (die zum Teil auch Antipolitiker, Gegner derpolitischen Partei und der Arbeit in den Gewerkschaften sind) zueiner internationalen Erscheinung werden wird, ebenso wie dieAbspaltung der "Zentristen" (der Kautskyaner, Longuetisten,"Unabhängigen" usw.). Nun schön! Spaltung ist immerhin besser

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als Konfusion, die sowohl das ideologische, theoretische,revolutionäre Wachstum, den Reifeprozess der Partei als auch ihreeinmütige, wirklich organisierte, wirklich die Diktatur desProletariats vorbereitende, praktische Arbeit hemmt.

Mögen die "Linken" in der praktischen Arbeit, im nationalen undinternationalen Maßstab, ihre Kräfte erproben, mögen sieversuchen, ohne eine streng zentralisierte Partei mit eisernerDisziplin, ohne die Fähigkeit, alle Gebiete, alle Zweige undAbarten der politischen und kulturellen Arbeit zu beherrschen, dieDiktatur des Proletariats vorzubereiten (und dann auch zuverwirklichen). Die praktische Erfahrung wird sie schnell einesBesseren belehren.

Nur müssen alle Anstrengungen gemacht werden, damit dieAbspaltung der "Linken" die in naher Zukunft unvermeidlichbevorstehende und notwendige Verschmelzung aller Teilnehmer derArbeiterbewegung, die aufrichtig und ehrlich für die Sowjetmachtund die Diktatur des Proletariats eintreten, zu einer einheitlichenPartei nicht erschwert oder so wenig wie möglich erschwert. Dasbesondere Glück der Bolschewiki in Russland war, dass sie 15Jahre Zeit hatten, den systematischen und konsequenten Kampfsowohl gegen die Menschewiki (d.h. gegen die Opportunisten und"Zentristen") als auch gegen die "Linken" schon lange vor demunmittelbaren Kampf der Massen für die Diktatur des Proletariatsauszutragen. In Europa und Amerika müssen wir jetzt dieselbeArbeit in "Eilmärschen" durchführen. Einzelne Personen, besondersunter den erfolglosen Anwärtern auf Führerrollen, können (wenn esihnen an proletarischer Diszipliniertheit und "Ehrlichkeit gegensich selbst" fehlt) lange auf ihren Fehlern beharren, aber dieArbeitermassen werden, wenn der Augenblick herangereift seinwird, schnell und leicht sich selbst und alle aufrichtigenKommunisten zu einer einheitlichen Partei zusammenschließen, diefähig ist, das Sowjetsystem und die Diktatur des Proletariats zuverwirklichen.28

28 Zur Frage der künftigen Verschmelzung der »linken« Kommunisten, derAntiparlamentarier, mit den Kommunisten überhaupt will ich noch folgendesbemerken. Soweit ich nach den Zeitungen der "linken" Kommunisten und

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II. Die Kommunisten und die Unabhängigen Deutschland

Ich habe in dieser Broschüre die Meinung geäußert, dass einKompromiss zwischen den Kommunisten und dem linken Flügelder Unabhängigen für den Kommunismus notwendig und nützlichist, dass es aber nicht leicht sein wird, es zustande zu bringen. DieZeitungen, die ich inzwischen erhielt, haben das eine wie dasandere bestätigt. In Nr. 32 der 'Roten Fahne', dem Zentralorgan derKommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund), vom26.3.1920 finden wir eine "Erklärung" des Zentralkomitees dieserPartei über den "Militärputsch" der Kapp und Lüttwitz und über die"sozialistische Regierung". Diese Erklärung ist sowohl ihrerHauptvoraussetzung nach als auch ihrer praktischenSchlussfolgerung nach vollkommen richtig. DieHauptvoraussetzung besteht darin, dass "die objektivenGrundlagen" für die Diktatur des Proletariats im gegebenenAugenblick nicht vorhanden sind, weil die "städtischeArbeiterschaft in ihrer Mehrheit" den Unabhängigen Gefolgschaftleistet. Schlussfolgerung: einer "sozialistischen Regierung unterAusschluss der bürgerlich-kapitalistischen Parteien" wird eine

überhaupt der Kommunisten in Deutschland, in die ich Einblick bekommenhabe, urteilen kann, haben die ersten den Vorzug, dass sie es besser als diezweiten verstehen, unter den Massen Agitation zu treiben. Etwas Ähnliches habeich wiederholt - nur in geringerem Umfang und in einzelnenLokalorganisationen, nicht aber im Landesmaßstab - in der Geschichte derbolschewistischen Partei beobachtet. Zum Beispiel agitierten in den Jahren 1907und 1908 die "linken" Bolschewiki mitunter und mancherorts mit mehr Erfolgunter den Massen als wir. Das ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass in einemrevolutionären Augenblick oder wenn die Erinnerungen an die Revolution nochlebendig sind, mit der Taktik der "einfachen" Verneinung leichter an die Massenheranzukommen ist. Das ist jedoch noch kein Beweis für die Richtigkeit dieserTaktik. Auf jeden Fall kann nicht im geringsten daran gezweifelt werden, dasseine kommunistische Partei, die in der Tat die Avantgarde, der Vortrupp derrevolutionären Klasse, des Proletariats, sein will und die darüber hinaus lernenwill, nicht nur die breiten proletarischen Massen, die Massen der Werktätigenund Ausgebeuteten, zu führen, es verstehen muss, sowohl für die "Straße", inden Städten und Fabrikvierteln, als auch das Dorf in der fasslichsten,verständlichsten, klarsten und lebendigsten Propaganda zu treiben, zu agitierenund zu organisieren.

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"loyale Opposition" versprochen (d.h., es wird auf die Vorbereitungzum "gewaltsamen Umsturz" verzichtet).

Zweifellos ist diese Taktik im Wesentlichen richtig. Aber wennman sich auch bei geringfügigen Ungenauigkeiten derFormulierung nicht aufhalten soll, so kann man doch nicht mitSchweigen darüber hinweggehen, dass (in der offiziellen Erklärungeiner kommunistischen Partei) eine Regierung der Sozialverräternicht als "sozialistische" bezeichnet werden darf, dass nicht vomAusschluss der "bürgerlich-kapitalistischen Parteien" gesprochenwerden darf, wo doch die Parteien sowohl der Scheidemänner wieauch der Herren Kautsky und Crispien kleinbürgerlich-demokratische Parteien sind, und dass man solche Dinge nichtschreiben darf wie Punkt 4 der Erklärung, der lautet:

»Für die weitere Eroberung der proletarischen Massen für denKommunismus ist ein Zustand, wo die politische Freiheitunbegrenzt ausgenutzt werden, wo die bürgerliche Demokratienicht als Diktatur des Kapitals auftreten könnte, von der größtenWichtigkeit für die Entwicklung in der Richtung zurproletarischen Diktatur...«

Ein solcher Zustand ist unmöglich. Die kleinbürgerlichen Führer,die deutschen Henderson (Scheidemänner) und Snowden(Crispien), gehen nicht hinaus und können nicht hinausgehen überden Rahmen der bürgerlichen Demokratie, die ihrerseits nichtsanderes sein kann als eine Diktatur des Kapitals.

Um das praktische Ergebnis zu erzielen, das vom Zentralkomiteeder Kommunistischen Partei durchaus richtig angestrebt wurde,brauchte man diese grundsätzlich falschen und politischschädlichen Dinge überhaupt nicht zu schreiben. Dazu genügte eszu sagen (wenn man sich schon parlamentarischer Höflichkeitbefleißigen wollte): Solange die städtischen Arbeiter in ihrerMehrheit den Unabhängigen Gefolgschaft leisten, können wirKommunisten diese Arbeiter nicht hindern, ihre letztenkleinbürgerlich-demokratischen (d.h. auch "bürgerlich-kapitalistischen") Illusionen durch die Erfahrung mit "ihrer'Regierung zu überwinden. Das genügt zur Begründung eines

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Kompromisses, das tatsächlich notwendig ist und darin bestehenmuss, dass man für eine gewisse Zeit auf Versuche zumgewaltsamen Sturz einer Regierung verzichtet, der die Mehrheit derstädtischen Arbeiter Vertrauen schenkt. In der tagtäglichenAgitation unter den Massen aber, bei der man nicht an dieoffizielle, parlamentarische Höflichkeit gebunden ist, könnte mannatürlich hinzufügen: Mögen solche Schurken wie dieScheidemänner und solche Philister wie die Kautsky und Crispienin der Praxis enthüllen, wie sehr sie selbst zum Narren gehaltenwerden und wie sehr sie die Arbeiter zum Narren halten; ihre"saubere" Regierung wird diese "Säuberung" der Augiasställe desSozialismus, des Sozialdemokratismus und anderer Abarten desSozialverrats "am saubersten" durchführen.

Die wahre Natur der jetzigen Führer der "UnabhängigenSozialdemokratischen Partei Deutschlands" (derjenigen Führer, vondenen mit Unrecht gesagt wird, sie hätten bereits jeden Einflussverloren, und die in Wirklichkeit für das Proletariat nochgefährlicher sind als die ungarischen Sozialdemokraten, die sichKommunisten nannten und die Diktatur des Proletariats "zuunterstützen" versprachen) hat sich während der deutschenKornilowiade, d.h. während des Putsches der Herren Kapp undLüttwitz, aber und abermals offenbart.29 Eine kleine, aberanschauliche Illustration dazu sind die Artikelchen von KarlKautsky "Entscheidende Stunden" in der "Freiheit" (dem Organ derUnabhängigen) vom 30.3.1920 und von Artur Crispien "Zurpolitischen Situation" (ebenda, 14.4.1920). Diese Herrschaften sindvöllig außerstande, wie Revolutionäre zu denken und zu urteilen.Das sind weinerliche spießbürgerliche Demokraten, die demProletariat noch tausendmal gefährlicher sind, wenn sie sich alsAnhänger der Rätemacht und der Diktatur des Proletariatsausgeben, denn in Wirklichkeit werden sie in jedem schwierigenund gefährlichen Augenblick unweigerlich Verrat begehen ... in der

29 Überaus klar, kurz und bündig, auf marxistische Art ist das übrigens in dervortrefflichen Zeitung der Kommunistischen Partei Österreichs beleuchtetworden. ('Die Rote Fahne', Wien, Nr. 266 und 267 vom 28. und 30. März 1920,L. L., "Ein neuer Abschnitt der deutschen Revolution".)

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"aufrichtigsten" Überzeugung, dass sie dem Proletariat helfen!Wollten doch auch die ungarischen Sozialdemokraten, die sich inKommunisten umgetauft hatten, dem Proletariat "helfen", als sieaus Feigheit und Charakterlosigkeit die Lage der Räteregierung inUngarn für hoffnungslos hielten und vor den Agenten derEntentekapitalisten und der Ententehenker zu flennen anfingen.

III. Turati und Co. in Italien

Die obenerwähntenNummern der italienischenZeitung 'Il Soviet'bestätigen vollauf, was ichin dieser Broschüre überden Fehler der ItalienischenSozialistischen Parteigesagt habe, die derartigeMitglieder und sogar einederartige Gruppe vonParlamentariern in ihrenReihen duldet. Noch mehrwird das von einem solchenunbeteiligten Zeugen wiedem römischenKorrespondenten derenglischen bürgerlich-liberalen Zeitung 'TheManchester Guardian' bestätigt, der in der Nummer vom 12.3.1920ein Interview mit Turati veröffentlicht hat:

»Signor Turati meint«, schreibt dieser Korrespondent, »dierevolutionäre Gefahr sei nicht derart, dass sie übermäßigeBefürchtungen in Italien hervorriefe. Die Maximalisten fachendas Feuer der Sowjettheorien nur an, um die Massen in wacherund erregter Stimmung zu halten. Diese Theorien sind jedochrein legendäre Begriffe, unreife Programme, die sich nichtpraktisch verwirklichen lassen. Sie taugen nur dazu, diearbeitenden Klassen im Zustand der Erwartung zu halten.

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Dieselben Leute, die diese Theorien als Lockmittel gebrauchen,um die Augen der Proletarier zu blenden, sehen sich genötigt,einen tagtäglichen Kampf für einige, oft geringfügigewirtschaftliche Vorteile zu führen, um so den Zeitpunkthinauszuschieben, wo die arbeitenden Klassen ihre Illusionenund den Glauben an ihre Lieblingsmythen verlieren werden,Daher eine lange Kette von Streiks verschiedener Ausmaße undunter verschiedenen Vorwänden, bis zu den letzten Streiks bei derPost und der Eisenbahn - Streiks, welche die ohnehin schlechteLage des Landes noch mehr verschlechtern. Das Land ist erregtdurch die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit deradriatischen Frage, auf ihm lasten seine auswärtige Schuld undder inflationistische Umlauf von Papiergeld, und dennoch siehtes noch lange nicht die Notwendigkeit ein, sich jeneArbeitsdisziplin anzueignen, die allein Ordnung und Prosperitätwiederherstellen kann...«

Es ist sonnenklar, dass derenglische Korrespondent dieWahrheit ausgeplaudert hat,die wahrscheinlich sowohl vonTurati selbst als auch vonseinen bürgerlichenVerteidigern, Helfershelfernund Inspiratoren in Italienverhüllt und beschönigt wird.Diese Wahrheit besteht darin,dass die Ideen und diepolitische Arbeit der HerrenTurati, Treves, Modigliani,Dugoni und Co. wirklich sosind und gerade so sind, wie der englische Korrespondent sieschildert. Das ist ein einziger Sozialverrat. Wie schwer wiegt alleindie Predigt von Ordnung und Disziplin für die Arbeiter, dieLohnsklaven sind und für den Profit der Kapitalisten arbeiten! Undwie vertraut sind uns Russen alle diese menschewistischen Reden!Wie wertvoll ist das Eingeständnis, dass die Massen für die

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Sowjetmacht sind! Wie stumpfsinnig und banal-bürgerlich ist dasUnverständnis für die revolutionäre Rolle der elementaranschwellenden Streiks! Ja, ja, der englische Korrespondent derbürgerlich-liberalen Zeitung hat den Herren Turati und Co. einenBärendienst erwiesen und glänzend bestätigt, wie recht Genosse[Amadeo] Bordiga und seine Freunde von der Zeitung 'Il Soviet'haben, wenn sie fordern, dass die Italienische Sozialistische Partei,falls sie in Wirklichkeit für die III. Internationale sein will, dieHerren Turati und Co. mit Schimpf und Schande aus ihren Reihenverjagen und sowohl ihrem Namen als auch ihren Taten nach einekommunistische Partei werden muss.

IV. Falsche Schlüsse aus richtigen Voraussetzungen

Aber Gen. Bordiga und seine "linken" Freunde ziehen aus ihrerrichtigen Kritik an den Herren Turati und Co. den falschen Schluss,dass eine Beteiligung am Parlament überhaupt schädlich sei. ZurVerteidigung dieser Auffassung können die italienischen »Linken«nicht einen Schimmer ernster Argumente anführen. Sie kenneneinfach nicht die internationalen Vorbilder einer wirklichrevolutionären und kommunistischen, für die Vorbereitung derproletarischen Revolution zweifellos wertvollen Ausnutzung derbürgerlichen Parlamente (oder suchen sie zu vergessen). Sie könnensich einfach nichts »Neues« vorstellen und zetern, sich endloswiederholend, über die »alte«, die unbolschewistische Ausnutzungdes Parlamentarismus.

Darin besteht denn auch ihr Grundfehler. Nicht nur in denparlamentarischen, sondern in alle Tätigkeitsbereiche muss derKommunismus etwas grundsätzlich Neues hineintragen (und ohnelangwierige, beharrliche, hartnäckige Arbeit wird er das nicht tunkönnen), das mit den Traditionen der II. Internationale radikalbricht (und gleichzeitig das beibehält und weiterentwickelt, was sieGutes hervorgebracht hat).

Nehmen wir beispielsweise die journalistische Arbeit. Zeitungen,Broschüren und Flugblätter sind notwendig für die Propaganda,Agitation und Organisation. Ohne einen journalistischen Apparatkann keine einzige Massenbewegung in einem halbwegs

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zivilisierten Lande auskommen. Und kein Gezeter gegen die"Führer", keine Schwüre, die Massen vom Einfluss der Führer reinzu halten, werden uns der Notwendigkeit entheben, für diese ArbeitIntellektuelle zu verwenden, die aus dem Bürgertumhervorgegangen sind, werden uns von der bürgerlich-demokratischen Atmosphäre, der "Eigentümer"-Atmosphäre unddem Milieu befreien, in dem diese Arbeit unter dem Kapitalismusgeleistet wird. Sogar zweieinhalb Jahre nach dem Sturz derBourgeoisie, nach der Eroberung der politischen Macht durch dasProletariat spüren wir um uns diese Atmosphäre, dieses Milieumassenhafter (bäuerlicher, handwerklicher) bürgerlich-demokratischer Beziehungen von Eigentümern.

Der Parlamentarismus ist eine Form der Arbeit, die Journalistikeine andere. Der Inhalt beider kann kommunistisch sein und musskommunistisch sein, wenn auf diesem wie auf jenem Gebietwirkliche Kommunisten, wirkliche Mitglieder einer proletarischenMassenpartei tätig sind. Aber auf diesem wie auf jenem Gebiet -und auf jedem beliebigen - Arbeitsgebiet unter dem Kapitalismusund beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus - gibt eskein Ausweichen vor den Schwierigkeiten, die das Proletariatüberwinden, vor den eigenartigen Aufgaben, die es lösen muss, umdie aus dem Bürgertum kommenden Intellektuellen für seineZwecke auszunutzen, die bürgerlich-intelligenzlerischen Vorurteileund Einflüsse zu besiegen und den Widerstand deskleinbürgerlichen Milieus zu schwächen (und es im weiterenvollkommen umzugestalten).

Haben wir denn nicht vor dem Kriege 1914-1918 in allenLändern eine außerordentliche Fülle von Beispielen dafür gesehen,wie ganz "linke" Anarchisten, Syndikalisten und andere denParlamentarismus verdammten, die bürgerlich-verfluchtensozialistischen Parlamentarier verspotteten, ihren Karrierismusgeißelten usw. usf., selbst aber vermittels der Journalistik,vermittels der Arbeit in den Syndikaten (Gewerkschaften) eineebensolche bürgerliche Karriere machten? Sind denn die Beispieleder Herren Jouhaux und Merrheim, wenn man sich auf Frankreichbeschränken will, nicht typisch?

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Darin besteht eben die Kinderei der "Ablehnung" einerBeteiligung am Parlamentarismus, dass man auf eine so "einfache","leichte", angeblich revolutionäre Weise die schwierige Aufgabedes Kampfes gegen die bürgerlich-demokratischen Einflüsseinnerhalb der Arbeiterbewegung "zu lösen" glaubt, in Wirklichkeitaber nur vor dem eigenen Schatten davonläuft, nur die Augen vorder Schwierigkeit verschließt und mit bloßen Worten über siehinwegzukommen sucht. Schamlosester Karrierismus, Ausnutzungder Parlamentspöstchen auf bürgerliche Art, himmelschreiendereformistische Entstellung der Arbeit im Parlament, abgeschmacktespießbürgerliche Routine - das alles sind ohne Zweifel diegewöhnlichen und überwiegenden charakteristischen Züge, die derKapitalismus überall, nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalbder Arbeiterbewegung erzeugt. Aber der Kapitalismus und die vonihm geschaffenen bürgerlichen Zustände (die sogar nach dem Sturzder Bourgeoisie nur sehr langsam verschwinden, denn dieBauernschaft bringt immer wieder eine Bourgeoisie hervor)erzeugen durchweg auf allen Arbeits- und Lebensgebieten imGrunde genommen den gleichen, sich nur durch ganz geringeVarianten in der Form unterscheidenden bürgerlichen Karrierismusund nationalen Chauvinismus, die gleiche spießbürgerlicheVerflachung usw. usf.

Ihr kommt euch selber "schrecklich revolutionär" vor, liebeBoykottisten und Antiparlamentarier, aber in Wirklichkeit habt ihrAngst bekommen vor den verhältnismäßig kleinen Schwierigkeitendes Kampfes gegen die bürgerlichen Einflüsse innerhalb derArbeiterbewegung, obwohl doch euer Sieg, d.h. der Sturz derBourgeoisie und die Eroberung der politischen Macht durch dasProletariat, dieselben Schwierigkeiten in noch größerem,unermesslich größerem Ausmaß schaffen wird. Ihr habt wie KinderAngst bekommen vor einer kleinen Schwierigkeit, die euch heutebevorsteht, und begreift nicht, dass ihr morgen oder übermorgentrotz allem werdet lernen, endgültig lernen müssen, dieselbenSchwierigkeiten in unermesslich beträchtlicherem Ausmaß zuüberwinden.

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Unter der Sowjetmacht werden in eure und in unsere proletarischePartei noch mehr Intellektuelle aus dem Bürgertumhineinzuschlüpfen versuchen. Sie werden auch in die Sowjets, indie Gerichte und in die Verwaltung hineinschlüpfen, denn mankann den Kommunismus nicht anders und mit nichts anderemaufbauen als mit dem Menschenmaterial, das der Kapitalismusgeschaffen hat, man kann die bürgerliche Intelligenz nicht fortjagenund vernichten, sondern muss sie besiegen, ummodeln,umwandeln, genauso wie man in langwierigen Kämpfen, auf demBoden der Diktatur des Proletariats, auch die Proletarier selbstumerziehen muss, die sich von ihren eigenen kleinbürgerlichenVorurteilen nicht auf einmal, nicht durch ein Wunder, nicht aufGeheiß der Mutter Gottes, nicht auf Geheiß einer Losung, einerResolution, eines Dekrets befreien, sondern nur in langwierigenund schwierigen Massenkämpfen gegen den Masseneinfluss desKleinbürgertums. Unter der Sowjetmacht erstehen vor unsdieselben Aufgaben, die der Antiparlamentarier jetzt so stolz, soleichtfertig, so kindisch mit einer Handbewegung abtut - erstehendieselben Aufgaben innerhalb der Sowjets, innerhalb derSowjetverwaltung, innerhalb der sowjetischen "Rechtsbeistände"(wir haben in Russland die bürgerliche Advokatur abgeschafft undhaben recht daran getan, sie abzuschaffen, aber unter demDeckmantel der "sowjetischen Rechtsbeistände"30. lebt sie bei unswieder auf). Unter den Sowjetingenieuren, unter den Sowjetlehrern,unter den privilegierten, d.h. am meisten qualifizierten und ambesten gestellten Arbeitern in den Sowjetfabriken sehen wir einständiges Wiederaufleben durchweg aller der negativen Züge, diedem bürgerlichen Parlamentarismus eigen sind, und nur durchwiederholten, unermüdlichen, langwierigen, hartnäckigen Kampf,durch proletarische Organisiertheit und Disziplin werden wir -allmählich - dieses Übels Herr.

Gewiss, unter der Herrschaft der Bourgeoisie ist es sehr"schwierig", die bürgerlichen Gewohnheiten in der eigenen Partei,

30 "Sowjetische Rechtsbeistände" - die Kollegien der Rechtsbeistände wurden imFebruar 1918 bei den Sowjets der Arbeiter-, Soldaten-, Bauern- undKosakendeputierten geschaffen. Im Oktober 1920 wurden sie aufgelöst.

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d.h. in der Arbeiterpartei, zu besiegen: es ist "schwierig", diegewohnten, durch bürgerliche Vorurteile hoffnungslos verdorbenenparlamentarischen Führer aus der Partei zu vertreiben; es ist"schwierig", eine absolut notwendige (eine ganz bestimmte, wennauch sehr beschränkte) Zahl von Leuten, die aus dem Bürgertumkommen, der proletarischen Disziplin unterzuordnen; es ist"schwierig", eine der Arbeiterklasse durchaus würdigekommunistische Fraktion im bürgerlichen Parlament zu schaffen;es ist "schwierig' zu erreichen, dass die kommunistischenParlamentarier ihre Zeit nicht mit bürgerlich-parlamentarischenKinkerlitzchen vertändeln, sondern sich mit der so überausdringenden Arbeit der Propaganda, Agitation und Organisationunter den Massen befassen. All das ist "schwierig", wer wollte esleugnen, es war schwierig in Russland und wird nochunvergleichlich schwieriger sein in Westeuropa und Amerika, wodie Bourgeoisie weit stärker ist, wo die bürgerlich-demokratischenTraditionen und dergleichen stärker sind.

Aber alle diese "Schwierigkeiten" sind geradezu kinderleicht imVergleich mit den Aufgaben ganz derselben Art, die das Proletariatsowieso unweigerlich wird lösen müssen, sowohl um zu siegen alsauch während der proletarischen Revolution und nach derMachtergreifung durch das Proletariat. Im Vergleich mit diesenwahrhaft gigantischen Aufgaben, wenn man unter der Diktatur desProletariats Millionen Bauern und Kleinproduzenten,Hunderttausende Angestellte, Beamte, bürgerliche Intellektuelleumerziehen und sie alle dem proletarischen Staat und derproletarischen Führung unterstellen, in ihnen die bürgerlichenGewohnheiten und Traditionen wird besiegen müssen - imVergleich mit diesen gigantischen Aufgaben ist es einekinderleichte Sache, unter der Herrschaft der Bourgeoisie, imbürgerlichen Parlament eine wirklich kommunistische Fraktioneiner wirklich proletarischen Partei zu schaffen.

Wenn die Genossen "Linken" und Antiparlamentarier es nichtlernen, heute selbst eine so kleine Schwierigkeit zu überwinden, sokann man mit Gewissheit sagen, dass sie entweder nicht imstandesein werden, die Diktatur des Proletariats zu verwirklichen, es nicht

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zuwege bringen werden, sich die bürgerlichen Intellektuellen unddie bürgerlichen Institutionen in großem Maßstab unterzuordnenund sie umzumodeln, oder aber dass sie das alles in größter Hastwerden nachlernen müssen und durch diese Hast der Sache desProletariats gewaltigen Schaden zufügen, mehr Fehler alsgewöhnlich begehen, mehr Schwäche und Unvermögen alsdurchschnittlich an den Tag legen werden usw. usf.

Solange die Bourgeoisie nicht gestürzt ist und solange ferner dieKleinwirtschaft und die kleine Warenproduktion nicht völligverschwunden sind, solange werden bürgerliche Zustände,Eigentümergewohnheiten und kleinbürgerliche Traditionen dieproletarische Arbeit von außerhalb wie von innerhalb derArbeiterbewegung schädigen, nicht allein auf dem Feld derparlamentarischen Tätigkeit, sondern unvermeidlich auf allen undjeglichen Gebieten der öffentlichen Tätigkeit, in ausnahmslos allenkulturellen und politischen Wirkungskreisen. Und ein überausschwerer Fehler, den wir später unbedingt werden büßen müssen,ist der Versuch, sich vor einer der »unangenehmen« Aufgaben oderSchwierigkeiten auf einem Arbeitsgebiet zu drücken, von ihr nichtswissen zu wollen. Man muss es lernen, alle Arbeits- undTätigkeitsgebiete ohne Ausnahme zu meistern und zu beherrschen,alle Schwierigkeiten und alle bürgerlichen Praktiken, Traditionenund Gewohnheiten überall und allerorts zu überwinden. Eineandere Fragestellung wäre einfach nicht ernst zu nehmen, wäreeinfach eine Kinderei. 12.5.1920

V.

In der russischen Ausgabe dieses Buches habe ich die Haltung derKommunistischen Partei Hollands in ihrer Gesamtheit zu Fragender internationalen revolutionären Politik nicht ganz richtigbeleuchtet. Deshalb nehme ich diese Gelegenheit wahr, umnachstehenden Brief unserer holländischen Genossen über dieseFrage zu veröffentlichen und sodann den im russischen Text vonmir gebrauchten Ausdruck "holländische Tribunisten" richtig

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zustellen und durch die Worte "einige Mitglieder derKommunistischen Partei Hollands" zu ersetzen.

N. Lenin

Ein Brief Wijnkoops

Werter Genosse Lenin!

Moskau, den 30. Juni 1920

Dank IhrerLiebenswürdigkeit konntenwir Mitglieder derholländischen Delegationzum Zweiten Kongress derKommunistischenInternationale Ihr Buch "Der'linke Radikalismus', dieKinderkrankheit imKommunismus" durchsehen,bevor die Übersetzungen in die westeuropäischen Sprachengedruckt worden sind. In diesem Buch missbilligen Sie wiederholtnachdrücklich die Rolle, die einige Mitglieder derKommunistischen Partei Hollands in der internationalen Politikspielten.

Wir müssen indes dagegen protestieren, dass Sie dieKommunistische Partei für die Haltung dieser Genossenverantwortlich machen. Das ist äußerst ungenau. ja mehr noch, esist ungerecht, denn diese Mitglieder der Kommunistischen ParteiHollands haben sich kaum oder überhaupt nicht am tagtäglichenKampf unserer Partei beteiligt. Sie versuchen überdies direkt oderindirekt, in der Kommunistischen Partei oppositionelle Losungendurchzusetzen, gegen welche die Kommunistische Partei Hollandsund jedes einzelne ihrer Organe mit all ihrer Energie gekämpfthaben und bis auf den heutigen Tag kämpfen

Mit brüderlichem Gruß (Für die holländische Delegation)

D.J. Wijnkoop

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