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Géza Anda

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Geza Anda

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Géza Anda

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Zum Concours Géza Anda ist ein neuer Film erschienen. Der Film von Jörg Lohner porträtiert die Géza Anda-Gewinner Pietro De Maria, Filippo Gamba, Jinsang Lee und Alexei Volodin und zeigt die Wege auf, die sie nach ihrem ersten Preis in Zürich eingeschlagen haben.

Die DVD ist zu beziehen bei:Géza Anda-Stiftung, Bleicherweg 18, CH-8002 Zü[email protected], Telefon +41 44 205 14 23

www.gezaanda.ch

Der Concours Géza Anda E r b E E i n E s P i a n i s t E n

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«Es war wunderbar, mit jemandem zusammenzuleben, der das Haus acht Stunden am Tag mit Musik erfüllte. Das Leben mit ihm war reich, bunt und spannend. Das Spiel drang aus dem eben-erdigen Musikzimmer bis ins Arbeitszimmer im ersten Stock des Wohnhauses.» Hortense Anda-Bührle erinnert sich an ihren viel zu früh im Jahr 1976 verstorbenen Mann Géza Anda, der in diesem Jahr 90 Jahre alt geworden wäre.

Er war einer der bedeutendsten Pianisten seiner Zeit. Er war temperamentvoll, elegant, urban, weit gereist, kultiviert und gebildet. Sein Stil prägte sein Spiel. Als glänzender Interpret war er darauf bedacht, den Puls zu fühlen – bei Schumann, Chopin, Mozart. Géza Anda konnte sich auf seine Fähigkeiten verlassen. Er war anders, ein stolzer Individualist. «Er hatte den sechsten Sinn», schreibt Dr. Martin Meyer, Leiter der NZZ-Feuilletonredaktion (Seite 8).

Dabei hatte es der junge Musiker nicht leicht. Der drohen-den Einberufung als Soldat nach der Mobilmachung Ungarns konnte er sich entziehen, indem er als 19-jähriger erst nach Deutsch-land und dann in die Schweiz emigrierte. Die Anfangszeit in Genf

Er war anders, ein stolzer IndividualistVon Oliver Prange

Editorial

war schwer. Er kannte niemanden, erhielt keine Unterstützung. Später, als er schon bekannt war, wurde er nach Konzerten von jun-gen Musikern belagert, die ihn um Unterstützung baten. Er half, wo er konnte, wenn er vom Talent überzeugt war.

Vor diesem Hintergrund rief Hortense Anda-Bührle 1979 den Concours Géza Anda ins Leben. Sie hätte auch Talentsucher losschicken können, doch sie entschloss sich für die Form des Wett-bewerbs. Dabei sollte nicht nur die Preissumme zählen, sondern auch die Konzertauftritte, welche die Stiftung den Preisträgern er-möglicht. Das Niveau ist sehr hoch. Die Interpreten müssen Fanta-sie, Klangsinn, musikalische Intelligenz und Aussagekraft beweisen. Diese Sonderausgabe von Du zeigt das Leben und Wirken von Géza Anda, präsentiert die Künstler hinter dem Wettbewerb und porträtiert einige erfolgreiche Preisträger: Pietro De Maria, Dénes Várjon, Alexei Volodin, Hisako Kawamura, Hüseyin Ser-met, Henri Sigfridsson, Jingsang Lee und Konstantin Scherbakov. Wir bedanken uns bei Hortense Anda-Bührle für die Ermögli-chung dieser Arbeit. <

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5 Editorial

Dr. Martin Meyer

8 Géza Anda – Über allem die PhantasiePorträt des Pianisten Géza Anda

Prof. Dr. Wolfgang Rathert

20 Ein Leben für die MusikBiografie von Géza Anda (1921–1976)

Prof. Dr. Wolfgang Rathert

26 Wie man den Menschen auf die Platte bringt: Das diskografische Erbe Géza Andas

András Schiff im Gespräch mit Christian Berzins

32 «Mozart erträgt keine Geschmacklosigkeiten» Gedanken zu seiner Heimat Ungarn, zu seinem Lands-mann Géza Anda und zu Klavierwettbewerben.

Jonathan Nott im Gespräch mit Dr. Bruno Rauch

36 «Technik ist nur dazu da, um bessere Musik zu machen» Erfahrung, Offenheit und breite Vernetzung sind ideale Voraussetzungen für die Position als Jury-Präsident des Géza Anda Concours.

Hortense Anda-Bührle im Gespräch mit Dr. Bruno Rauch

40 «Junge Pianisten, auf die Bühne!» Hortense Anda-Bührle, die Witwe des Pianisten, rief 1979 den Concours Géza Anda ins Leben, der seither alle drei Jahre stattfindet.

Der Concours Géza Anda

46 Das Erbe eines grossen Pianisten Nachwuchsförderung

Géza Anda-Preisträger – Porträts

50 «Wir spielen, was wir sind»Pietro De Maria, Gewinner im Jahr 1994

52 «Ich war kein fertiger Künstler» Dénes Várjon, Gewinner im Jahr 1991

54 «IchwolltekeinenfremdenEinfluss»Alexei Volodin, Gewinner im Jahr 2003

56 «Nur in Tönen zu denken ist zu wenig»Hisako Kawamura, Preisträgerin im Jahr 2003

58 «Diese Kraft, die aus dem Innern kommt»Hüseyin Sermet, Preisträger im Jahr 1985

60 «Der Concours war ein Wendepunkt»Henri Sigfridsson, Preisträger im Jahr 2000

62 «Den Flügel zum Singen zu bringen» Jinsang Lee, Gewinner im Jahr 2009

64 «Man bekommt eine gewisse Weisheit und Übersicht» Konstantin Scherbakov, Preisträger im Jahr 1991

66 Impressum

Inhalt

Linke Seite: Géza Anda in Innsbruck, 1. Juni 1976 (sein letztes Konzert). Oben links: Géza Anda in Budapest, ums Jahr 1939. Oben rechts: Géza Anda-Schlusskonzert 2000 in der Tonhalle Zürich.

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Du-SondereditionPorträt des Pianisten Géza Anda – Dr. Martin Meyer

Géza Anda – Über allem die PhantasieUnter den grossen Pianisten seiner Zeit verkörperte Géza Anda – geboren 1921 in Budapest, gestorben 1976 in Zürich – den temperamentvollen Weltmann. Elegant, urban, weit gereist, kultiviert und vielseitig gebildet, mit Neigung zu Genuss und Lebensfreude: So trat er von früh an in Erscheinung, so blieb er bis zuletzt, als eine tückische Krankheit seinen ganz unzeitigen Tod beschleunigte. Wenn man ihn in seinen reifen Jahren auch bei Gelegenheit «Herrn Professor» nannte, dann schien in solcher Anrede der «Herr» noch immer fast wichtiger als der «Professor».

Von Dr. Martin Meyer

Stil – sowohl für das äussere Auftreten wie, noch wichtiger, für den Umgang mit dem Metier – war für ihn entscheidend. Er verachtete das Formlose, mied das Ungefähr, suchte und fand stattdessen Hal-tung und Noblesse. Doch diese Tugenden hatten nichts Altmodi-sches oder gar Erstarrtes. Denn Géza Anda war ein eminenter Be-wegungsmensch. Wie die Musik Takt für Takt fortschreitet und dabei immer neue Horizonte zeigt, so war ihr glänzender Interpret darauf bedacht, den Atem und Puls zu fühlen – bei Schumann oder Chopin nicht anders als im persönlichen Alltag. Daraus ergab sich Andas charakteristische Vitalität. Eine «Ganzheit» ging von ihm aus, was wesentlich zu seiner Aura beitrug. Und wenn seine Profes-sion zwar Genauigkeit und Fleiss, Ausdauer und philologisches Ge-wissen verlangte, sollte am Ende doch die «Natur» gewinnen: die fraglos gewordene Souveränität eines Daseins in der Welt.

Seine Biografie bot dafür Voraussetzungen. Aber sie war nur ein – notwendiger, noch nicht zureichender – Teil. Das andere kam sowohl aus inneren Anlagen wie auch aus an der Realität er-probten Studien. Anda war kein Wunderkind. Er, der aus kultivier-tem Budapester Elternhaus stammte – der Vater war Lehrer, die Mutter pflegte das Klavier aus Lust und Neigung –, durchlief eine sorgfältige und vielseitige Erziehung. Bedeutende Mentoren stan-

den ihm bei, für die Kammermusik Leó Weiner, für die Komposi-tion Zoltán Kodály, für sein Instrument schliesslich der ebenso ori-ginelle wie gestrenge Ernst von Dohnányi. Und die berühmte Franz-Liszt-Akademie seiner Heimatstadt gab ihm bis er zwanzig war den Rahmen einer Ausbildung, die den Pianisten mit allem Handwerklichen bestens versorgte, doch im Grunde darauf ab-zielte, einen Musiker zu fordern und zu fördern. Dieses Kapital sorgte dann schliesslich für jene Selbstsicherheit, die den jungen Anda zu brillanten Erkundungen, besonders des romantischen Re-pertoires, animierte und später den reifen Künstler wie ein diskre-ter Schatten begleitete. Der Mann, der einerseits bis zuletzt um jede «richtige», jedenfalls sinnfällige Phrase rang, besass andererseits das ruhige Gewissen dessen, der sich auf seine Fähigkeiten vollkommen verlassen konnte. Als Géza Anda wenige Monate vor seinem Tod in Berlin die Walzer von Chopin für die Schallplatte einspielte – in visionärer Einfachheit für die Substanz der Musik –, geschah alles aus einer geläuterten Naivität heraus, die jedes «Gemachte» weit hinter sich liess.

Anda war immer anders. Doch auf eine Art – nämlich so-wohl als der diskrete wie stolze Individualist –, die nie das Eigene allzu mächtig forciert hätte. Im Umkreis seines Jahrgangs wuchsen

Rechts: Géza Anda, um 1965.

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da und dort häufig eines Besseren belehrt worden. Eines, zunächst, scheint freilich evident. Spricht man von Anda, gab es bis etwa zu Beginn der 60er-Jahre den virtuos zupackenden, geistvoll originell argumentierenden Pianisten mit einem Repertoire von Bach bis Bartók, wobei romantische Musik sowie das Oeuvre seines genia-len Landsmanns Bartók einen deutlichen Schwerpunkt setzten. Und es gab – danach und bis zu seinem Tod – den Pianisten einer zunehmenden Vertiefung ins «objektiv» Gültige. Daran hatte na-türlich die vieljährige Beschäftigung mit sämtlichen Klavierkon-zerten Mozarts, für welche Anda in vielen Fällen gelungene Ka-denzen schrieb, massgeblichen Anteil. Sogar Andas letzte Schallplattenaufnahme mit den bereits erwähnten Walzern von Chopin profitierte davon: von jener sublim verfeinerten Gelassen-heit, die sich aus Mozarts Geist nun in die Tänze seines polnischen Nachfahren einhauste.

Der junge und jüngere Anda aber war gewissermassen ein Mordskerl. Als er 1943 für Telefunken eine erste Version von Schu-manns gefürchteten Sinfonischen Etüden einspielte, ging er bereits aufs Ganze. Eigensinnig und durchaus anfechtbar liess er die Wie-derholungen weg, setzte er sich über so manche Vorschriften der Dynamik hinweg und versuchte den «spirit» dieses Zyklus jenseits

bedeutende Pianisten heran. Der älteste, Emil Gilels, erschütterte die Konzertsäle mit energiegeladener, drängender Präsenz. Ein zweiter Ungar, György Cziffra, wie Anda zunächst Schüler am Konservatorium von Budapest, gab seit seiner Emigration in den Westen 1956 berauschende und mitunter bestürzende Proben sei-ner Virtuosität. Dinu Lipatti, ein weiterer Zeitgenosse, war wie Anda vom Sinn für Klang und Kantabilität beseelt, doch wurde er schon 33-jährig von einem bösen Leiden dahingerafft. Und schliess-lich wäre Arturo Benedetti Michelangeli zu nennen: Ein Pianist von makellosem Können, dessen Skrupel allerdings manchmal nach in-nen das Fliessen und Sprechen der Musik überdeckten, während sie nach aussen in zahlreiche Absagen und Eremitagen mündeten.

Konkurrenz gab es also, und nicht zu knapp. Aber Géza Anda passte schlecht ins Schema der Vergleiche. Nicht nur seine Identität stand gewissermassen hors concours, es war auch sein Mu-sizieren, das sich auf eigentümliche Weise ausserhalb des interpre-tatorischen Komparativs ansiedelte: Seit seinen frühen Auftritten, deren Qualität wir durch die Schallplatten seit den 40er-Jahren rekonstruieren können, besass dieser Pianist – vielleicht ähnlich wie Dinu Lipatti – einen speziellen Zugang zu den Werken. Etwas ge-wagt formuliert: Er komponierte mit – und manchmal übrigens

sehr frei, doch meistens so, dass sich das Resultat weniger als Wie-dergabe eines Stücks, denn als dessen mögliche Essenz präsentierte. Was den einen oder anderen Kritiker als gelegentliche Arroganz zu stören schien, lag hier begründet: in einer Mixtur aus intellektuell-emotionaler Präsenz und generöser Unbekümmertheit.

Der «Troubadour des Klaviers»

Wilhelm Furtwängler, der den jungen Pianisten kurz begleitete, nannte ihn deshalb, es ist oft zitiert worden, einen Troubadour des Klaviers. Der grosse Dirigent, selbst kein «werkgerechter» Buch-halter der Notentexte, hörte alsgleich heraus, dass hier kein beflis-sener Eleve zur Karriere ausholte, sondern ein Künstler mit enor-mem Mitteilungsdrang. Tatsächlich ist Géza Andas rhetorisches Geschick von Anfang an verbürgt. Wer sich in seine Aufnahmen, insbesondere seit etwa 1943 und bis in die späten 50er-Jahre, vertieft, hört sogleich den Tonus heraus: die beherrscht, manchmal gar un-beherrscht angreifende Spielweise, deren Differenzierungsreichtum und plötzlich zu Tage tretenden Nuancen immer wieder für Über-raschungen sorgten. «Akademisch» war das jedenfalls nicht, und wer nun mit den Pflichten der puren Philologie geprüft hätte, wäre

jedes vorsichtigen Alltags zu ergründen. Daraus entstand eine so-zusagen offene, perspektivisch überaus reiche Interpretation. Sie verband das Auftrumpfen mit der forteilenden Nervosität, den or-chestralen Gestus mit kammermusikalischer Intimität, die Brillanz der Akkorde mit der Selbstvergessenheit der Lyrismen – ohne dass dies alles den Wurf des Werks gefährdet hätte. Ein Schumann-Deu-ter war geboren.

Ebenso fulminant erspielte sich Anda danach weitere Pfei-ler und Ornamente des romantischen Repertoires. Eine Miniatur, die Géza Anda im Januar 1954 in London für Columbia und deren Chef Walter Legge einspielte, soll nicht unerwähnt bleiben. Es han-delt sich hierbei nicht um «grosse» Musik. Doch ihr Interpret spielte diese Valse lente aus Léo Delibes’ Ballett Coppélia in der Bearbei-tung durch Ernst von Dohnányi so beredt und klug, dass daraus ein kurzes Seelenerlebnis wurde – vom schweifenden Beginn über die rhythmisch erregten, virtuosen Walzer-Steigerungen bis zum kap-riziösen Schluss.

Der Generalnenner lautete: Phantasie. Die Technik, die Géza Anda problemlos beherrschte, war immer nur das eine. Das andere war Originalität. Klänge und Farben, Rhythmen und Phra-sen, das Netz der Stimmen oder die Verhältnisse in und auf den

Porträt des Pianisten Géza Anda – Dr. Martin Meyer

In Budapest – aus dem Familienalbum.

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begleitenden Ebenen – darum ging es ihm: Durchwegs und wenn nötig energisch gegen das nur lineare Fortschreiten und Nachbuch-stabieren vorzugehen. Wenn Beethovens Klaviersonaten nicht sein bevorzugtes Terrain waren, deren prozessuales Geschehen wohl doch zu Strenge und Übersicht zwingt, wenn also diese 32 Stücke nicht mehr die Zuwendung des reifen Musikers erfahren konnten, so gilt für die Romantiker das Gegenteil. Sie warteten darauf, die Freuden und Leiden ihres interpretierenden Erweckers zu teilen.

Franz Liszt etwa besass für Anda den Schwung aus Feuer und Ritterlichkeit. Noch mehr als das erste Klavierkonzert des deutsch-ungarischen Komponisten – das Anda freilich mit stolzer Kraft für die Oktaven und akkordischen Brechungen zu referieren wusste – lockte und reizte ihn die Sonate in h-Moll. Als er sie zu-sammen mit einer kühn beschleunigten Version des Mephisto- Walzers in London ebenfalls 1954 einspielte, kam etwas Besonde-res zustande. Denn Anda blieb zwar den virtuosen Entladungen nichts schuldig. Doch ebenso interessierten ihn die «seriellen», durchaus modern anmutenden Ereignisse. Während zwei Jahr-zehnte zuvor Vladimir Horowitz eine räumlich und klanglich geschlossene, niederschmetternd brillante Aufnahme präsentiert hatte (und zehn Jahre später György Cziffra eine temperamentvoll «chaotische» Zusammenschau dieses kapitalen Werks liefern sollte), erforschte Anda eben auch das Gegensätzliche der Musik. In den lyrischen Passagen mit ihren entrückten Diskant-Trillern agierte er wie ein Maler des plein air mit leichtesten Duftnoten; im grollenden Rezitativ beschwor er durch kluge Zweistimmigkeit einen unerhört dramatisierten Dialog herauf; und das tückische Fugato meisterte er, als ob nun ein sehr fähiger Architekt zur Vermessung geschritten wäre.

Wie Renoir gegen Cézanne

Es sei nicht verschwiegen, dass auch nicht immer alles gelingen konnte. Die 1966 entstandene Einspielung der Konzert-Etüde Wal-desrauschen, die Anda meines Wissens zu Lebzeiten zurückhielt, wirkte nun wie eine Pflichtübung ohne viel gesanglichen Schmelz. Aber in dem Gegenstück, Un Sospiro, nahm der Interpret 1954 den Titel ganz wörtlich: als langen, durch viele Harmonien und virtu-ose Steigerungen singenden Seufzer. Reine, vom Instrument fast losgelöste oder jedenfalls gelockerte Musik! Der Belcanto war Anda wichtig, vielleicht zentral. Die menschliche Stimme war ihm Vor-bild – doch weniger in der sprechenden, sozusagen analytisch vor-tragenden Diktion als vielmehr in ihren kantablen Variationen. Da-mit war er nicht allein, reihte sich vielmehr ein in eine inzwischen höchst ehrwürdige Tradition pianistischer «Phänomenologie».

Vereinfacht gesagt: es geht dabei um Ausdrucksoptionen, die auf die Physiognomie eines Pianisten zurückgreifen. Während Horowitz mit hohem Belcanto-Gespür gleichwohl zu den «Red-nern» und «Sprechern» gehörte, wie sein Schumann-Spiel exemp-larisch zeigt, zählte etwa Rubinstein viel mehr zu den «Sängern». Rubinsteins Ton war demzufolge voll, leuchtend und im Pedal ge-

Nicht anders – nämlich ungemein schattierungsfreudig – trug Anda auch die beiden Klavierkonzerte von Brahms vor, die in sei-nem Repertoire bis in die letzten Jahre einen prominenten Platz ein-nahmen. Zwei Aufführungen in Zürich – am Pult leiteten John Barbirolli bzw. Ferdinand Leitner – rangen diesen wahrhaftig schweren Brocken ein Höchstmass an klanglich-rhythmischem Empfindungsreichtum ab. Schon während den Proben mit dem Zürcher Tonhalle-Orchester präsentierte sich Anda nicht einfach in der üblichen Rolle des kraftgestählten Solisten. Er dachte orchest-ral, also auch in den Dimensionen langer Kantilenen oder im part-nerschaftlichen Geben und Nehmen einzelner Solostimmen, so dass die Konzerte sich zu spannendem Bühnengeschehen weiteten. Die berühmte, von Brahms unnachahmlich intonierte Rückfüh-rung in die Reprise des Kopfsatzes des B-Dur-Konzerts wurde dabei zu einem leider vergänglichen Stück Sphärenmusik.

Ja, das Vergängliche. Géza Anda begriff wie wenige an-dere Musiker, dass ihr Gegenstand in der Zeit erklingt. Musik tritt auf, konfiguriert sich zu Themen, Entwicklungen, Höhepunkten und Nachgedanken und verlöscht zuletzt wieder ins Nichts. Die-sen sich fortwährend auflösenden Prozess nahm Anda ungemein ernst. Er wollte niemals unterhalten. Daher gibt es kaum Aufnah-

rundet; derjenige von Horowitz hingegen körnig, auf Trennungen bedacht, in die Vertikale gelegt und im Pedal oft abgesetzt. Géza Anda ist eindeutig der Fraktion der Sänger zuzurechnen, deren Li-nie von Rubinstein über Edwin Fischer bis zu Pollini oder Kissin führt. Bei der Gegenseite wären Horowitz, Kempff, Gulda, Glenn Gould oder Pletnev zu nennen. Natürlich ist ein solches Raster eine grobe Simplifikation. Aber es deutet zumindest an, wie der Klang eines Interpreten zustande kommt. Noch plakativer gesprochen: Renoir gegen Cézanne, Romanée-Conti gegen Château Margaux.

Solchermassen geeicht, fühlte sich Géza Anda in den wei-ten, überwölbten Räumen der Klaviermusik von Brahms besonders zuhause. Als er zwischen 1953 und 1957 dessen grosse Sonate in f-Moll, die gefürchteten Paganini-Variationen und die drei Intermezzi op. 117 in London für Columbia einspielte, lieh er diesen Stücken bei aller Differenzierung nach innen einen langen und innigen Atem. Besonders in dem riesigen Andante expressivo der Sonate, das von zwei gewichtigen Seitenthemen erfüllt wird, agierte Anda mit grossartiger Musikalität, die nichts forcierte, in der Dynamik keine Extreme suchte und so den Bogen durch den ganzen Satz schlüssig von Beginn bis zu Ende durchzog. Das nachfolgende Scherzo kam dagegen, wie vorgeschrieben, sehr energisch. In dessen Mittelteil – ein lyrisches Trio – brachte Anda nun überraschend nochmals eine geradezu atemberaubende Weltabgewandtheit, indem er das Tempo gespenstisch zurücknahm.

Das gab es also schon damals: Dass die Musik im prägnan-ten Moment wie selbstverloren in sich kreiste und ohne jedes inter-pretierende Zutun aus sich selbst schöpft. Anda, der «Troubadour», der vordergründig so temperamentvoll eingriff und bei Bedarf den Rhythmus mit grimmiger Freude herausstampfte, so dass der Bo-den des Podiums gerne vibrierte, konnte innerhalb von Sekunden die Gang- und Denkart ändern. Jetzt war eine geradezu mystische Ruhe angesagt. Dies ist belegt mit dem ersten Intermezzo aus op. 117 in Es-Dur, dessen gesangliche Introversion in der Aufnahme vom Dezember 1957 keinerlei «pianistische» Lenkung mehr zu kennen scheint.

Hier hören wir reinen, schuldlosen Wohlklang – vom In-strument so weit entfernt, dass die Musik eine Art absolute Quali-tät erreicht. Eben deshalb nahm sich Anda auch die Paganini- Variationen nicht einfach unter dem Aspekt ihrer virtuosen Über-redungskunst vor. Dieser Zyklus, den er noch länger und mit grossem Erfolg auch im Konzertsaal wiederholte, galt ihm als Zeugnis sowohl einer für Brahms durchaus unüblichen Brillanz, wie als Beweis dafür, dass der technische Aufriss in seinen lyrisch-romantischen Exkursen ergänzt und letztlich sublimiert wird. Den Walzer aus dem zweiten Teil spielte er so schlicht, dass die Hommage an Schubert unverstellt zu Ohr und Gemüt dringt. Die Arpeggio-Figuren der achten Variation erhielten eine an Schu-mann erinnernde komödiantische Note. Und viele weitere Mo-mente folgten, in denen der pianistische Ausbruch nach allerlei Oktaven- und Akkord-Gedonner plötzlich in kammermusikalische Zurückhaltung kippte.

men oder überhaupt Stücke im Repertoire, die darauf angelegt wä-ren, dem Publikum bloss Charmantes, abgefeimt Virtuoses, listig Humoristisches oder sonst wie Aufregendes anzubieten. Während Pianisten wie Horowitz, Cziffra oder Cherkassky – Ehre ihrem Andenken! – gerne auch ein Feuerwerk in den Saal schickten, ver-blieb Géza Anda mit herber Beharrlichkeit im Geviert der grossen Musik. Das kostete ihn womöglich die letzten Hysterien eines Applauses mit stehenden Ovationen, doch befriedigte es, viel wich-tiger, sein künstlerisches Gewissen.

Bedeutende Dirigenten standen ihm dabei zur Seite. Im September 1959 und im Oktober 1960 nahm Anda mit seinem Landsmann Ferenc Fricsay die drei Klavierkonzerte von Béla Bar-tók sowie dessen Rhapsodie für Klavier und Orchester in Berlin auf. Das war ein Pensum für Schwerarbeiter und damals eine Pionier-tat, aus der die vier Meisterwerke des grossen Ungarn in einer ma-kellosen, objektiv gültigen Wiedergabe hervorgingen. Andas ro-mantische Seele, die eben noch bei Chopin, Brahms und Schumann mit phantasiereichem Esprit fündig geworden war, wurde hier in die Pflicht genommen: klar, ja mitunter messerscharf zu artikulie-ren, im Rhythmus biegsam, doch zielgewiss vorzuspuren und den-noch auch das nächtlich Leidende zum Leben zu erwecken. Später

Porträt des Pianisten Géza Anda – Dr. Martin Meyer

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Spitztiel – Blindtext Du-Sonderedition

Géza Anda in Innsbruck, 1. Juni 1976.

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Du-SondereditionPorträt des Pianisten Géza Anda – Dr. Martin Meyer

zu zeigen. Vielmehr ging es um eine Zusammenschau der Charak-terisierung am Einzelnen, die den Rahmen der Diskretion selbst in den furiosen Nummern niemals überschritt. Kein grösserer Gegen-satz ist hier denkbar als der zu der Version von Martha Argerich, die sich in Fieberträume einer entfesselten Pianistik begibt.

Andas Chopin besass immer Wärme, Grosszügigkeit, räumliches Gewicht. Die Tempi wurden in der Regel massvoll ge-staltet, weshalb auch die «kleinen Noten» zu Bedeutungsträgern vorrückten. So spielte Anda ausgerechnet die zweimal zwölf Etü-den im Konzertsaal nicht in der Weise, dass sie einfach ihrem Titel oder Genre entsprachen, sondern er zeigte sie als Individuationen aus je verschiedener Absicht und Handschrift. Man nimmt daher etwa in der Schallplatten-Aufnahme der Etüden op. 25 vom Mai 1956 wahr, wie die Nebenstimmen, die Verzögerungen, die Begleit-figuren plötzlich aufleuchten – wo andere Pianisten in schneller Fahrt Proben ihres technischen Könnens liefern. Etüden also, die im Grunde Charakterskizzen hinter gebrochenen Akkorden, chro-matischen Terzen und rollenden Doppeloktaven sind.

Der Schritt des Romantikers zu Mozart war kürzer, als man zunächst vermuten mochte. Es stimmt, dass sich Géza Anda in den letzten zehn Jahren seines Lebens sehr intensiv und auch ex-tensiv mit dem Meister befasste. Es stimmt nicht, dass er ihn nicht

schon viel früher für sich entdeckt hätte. Denn ebenfalls 1956 ent-stand die schöne, beredte und dialogisch vollendete Aufnahme des Konzerts für zwei Klaviere mit Clara Haskil. Was Anda an seiner Freundin bewunderte, war natürlich ihre ehrliche und überaus selbstkritische Persönlichkeit. Zweitens begeisterte ihn Clara Has-kils musikalisch-pianistisches Vermögen, mit leichtester Hand zu sprechen, an- und abzusetzen, die Phrasen hell und klar mit apol-linischer Eleganz zu beleben. Fünf Jahre nach dieser Kooperation – und nachdem einige Schwierigkeiten mit Orchestern, Dirigenten und Produzenten ausgeräumt waren – ging Anda daran, sämtliche Klavierkonzerte in der Doppelrolle des Solisten und des Leiters der Camerata Academica des Salzburger Mozarteums einzuspielen.

Das Projekt war ehrgeizig, doch es gelang. Insbesondere gelang auf der interpretatorischen Ebene eine Art von Quadratur des Zirkels. Anda verband nämlich Clara Haskils lichte Diktion mit Edwin Fischers sinnenfreudiger Farb- und Klanggebung zu einer höchst persönlichen Synthese. Und er zeigte dabei, wie alle Partner davon profitierten, dass ein ordnender und wissender Geist das Ganze abmischte. Spielte er in dem C-Dur-Konzert KV 467 wirk-lich konzertant und mit Brillanz auf, so fand er für den Mittelteil im langsamen Satz des Konzerts in G-Dur KV 453 verhaltene Me-lancholie mit leidenschaftlichen Untertönen, ebenso wie für das

kamen andere, bedeutende Pianisten, die sich gleichfalls kenntnis-reich und gewandt mit Bartók identifizierten. Die Verbindung aus elementarer Spiellaune, intellektueller Übersicht, melancholischem Verweilen und humoristischem Aplomb wurde freilich nie wieder so schlüssig gezogen.

Denn als Bartók-Interpret besass Géza Anda – wie wohl heute András Schiff – einen sechsten Sinn. Der einem Interpreten «im Blut» zirkuliert und letztlich wiederum mit dem richtigen Ti-ming zu tun hat. Die beiden Kinder-Alben des Meisters, auf unga-rischen und slowakischen Volksliedern basierend, sind einerseits und zurecht Stoff für aufgeklärte Frühpädagogik in der Klavier-stunde. Andererseits sind sie auch ungemein facettenreiche Minia-turen und Kürzel aus einer avancierten, «modern» fortschreitenden Mischung von Rhythmus, Melodie, Harmonie, Begleitung und Klang. Zwischen 1954 und 1955 – als Anda ein noch immer junger Virtuose für starke Auftritte war – nahm er diese Zyklen in Lon-don auf. Das war nicht nur eine Reverenz an Ungarns bedeu- tendsten Komponisten, sondern zugleich eine Verbeugung vor einem genialen Kosmos des Minimalismus.

Kraftvolle Gestik, nachdenkliche Introspektion

Der Weltmann Anda also, der bald bis nach Amerika und Süd- afrika reiste, konnte sich immer wieder auch wie ein Eremit mit Werken auseinandersetzen, die seiner introvertierten Seite entspra-chen. In seiner Wahlheimat Zürich und durch seine Vermählung mit Hortense Anda-Bührle bewegte er sich in einem überaus ge-deihlichen Ambiente aus grosser Kunst, gesellschaftlichem Glanz und joie de vivre, das ihm den Austausch mit vielem ermöglichte. Doch in dem kleinen Haus am Bachtel im Zürcher Oberland kam er allein mit sich selbst ins Reine. Das war sein Doppelgesicht. Anda war sehr offen nach aussen, weshalb er, als Nachfolger von Edwin Fischer, zuerst in Luzern und dann in Zürich seine jährlichen Meisterkurse offerierte. Aber zugleich war er sehr gesammelt und konzentriert auf sein Inneres, wodurch seine Musik jene schon be-schriebene, eigentümliche Spannung aus kraftvoller Gestik und nachdenklicher Introspektion bekam.

Es gibt in den meisten Interpretationen, die durch Schall-platten überliefert sind, musikalisch gestaltete Phasen, in denen die Zeit still zu stehen scheint. Zum Beispiel im langsamen Satz von Brahms’ B-Dur-Konzert, der – besonders in der Einspielung vom Mai 1960 mit Ferenc Fricsay – nach dem turbulenten, mit heftigen Trillern gespickten Mittelteil so wieder am Anfang anknüpft, als wäre nun das Jenseits erreicht. Zum Beispiel in Schuberts letzter So-nate in B-Dur, deren Molto moderato zunächst fahl und aus weiter Ferne beginnt und wo die berühmten Bass-Triller fast nur wie dunkles Grollen anklingen. Zum Beispiel in Chopins Präludien, die Anda oft vortrug und 1959 als erste Aufnahme für die Deutsche Grammophon einspielte. Auch hier, in diesen oft sehr kurzen, aus dem Geiste Bachs entstandenen Stücken, ging es Anda nicht da-rum, aufdringlich oder raffiniert die Handschrift des Tastenhexers

Meisterkurs im Muraltengut in Zürich, 1973.Oben: Bei Aufnahmen der Chopin-Walzer in Berlin, 1975. Mitte: Bei Aufnahmen von Brahms’ B-Dur-Konzert mit Herbert von Karajan in Berlin, 1967. Unten: Géza Anda mit dem Klavierstimmer Horst Filipski, 1975.

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Du-SondereditionPorträt des Pianisten Géza Anda – Dr. Martin Meyer

letzte Werk in B-Dur KV 595, das semplice, dessen täuschende Ein-fachheit im Reichtum der Umspielungen und Varianten hintersin-nige Dialektik verbirgt. Dieser Mozart – nicht überall vollkommen, aber überall mit Emphase und Ideen erfüllt – war das Gegenteil einer «kommerziellen» Handlung. Er gab Géza Anda Gelegenheit, die essenziellen Momente so vorzustellen, dass die Musik sich ge-wissermassen selbst verklärte. Daraus entwickelten sich die Über-raschungen, und nicht umgekehrt. Er selbst nannte das mit charak-teristischer Pointierung «Ferien vom Ich».

Denn während der Virtuose und Könner mit dem Solo-Repertoire bei aller kommunikativer Spannung alleine war – und alle Chancen aus sich selbst hervorbringen musste –, erfuhr der «Kammermusiker» der Mozart-Konzerte eine Form von sozialer Aufgehobenheit. Anda war immer ein Januskopf. Einerseits gesel-lig und gesprächig und unter Freunden gerne bereit, seine Ansich-ten zu Politik, Gesellschaft und Ästhetik griffig, mitunter angriffig vorzubringen – was ihm nicht immer nur Beifall beschied. Ande-rerseits nach innen gekehrt, sogar grüblerisch, doch ohne missiona-risches Philosophieren, suchend, forschend, prüfend, verwerfend. In der Schweiz fand der Emigrant, der 1943 nach eigenen Worten «vergisst, nach Deutschland zurückzukehren», und sich zwei Jahre

eine verlangsamende Insistenz, die gelegentlich ans Metrum greift. Aber darauf kommt es nicht an, wenn einer so phantasievoll, hor-chend, dann wieder zupackend und brillant agiert und der Masken-welt von Robert Schumann ihre sinnliche Vergegenwärtigung er-öffnet. Es herrscht in allen Aufnahmen ein ungemein lauterer Ton vor. Dieser Klang freilich verzweigt sich meistens Takt für Takt in ein fabelhaftes Pulsieren ohne rein «pianistische» Kalkulation. Wenn Anda im Carnaval den Mittelteil der Valse noble zurücksetzt und mit Schuberts Sehnen im Pianissimo auffängt, wenn er in Hommage an Chopin ein riesiges Decrescendo niederbringt, wenn er die Valse allemande nach dem Paganini-Intermezzo rabiat been-det und zuletzt den grossen Marsch der Davidsbündler gegen die Philister nicht einfach dröhnend auffahren lässt, sondern da und dort klug mit Stauungen versieht, dann hat der Einfallsreichtum gegenüber kalter Virtuosität deutlich gewonnen.

Ähnliche Hör-Erlebnisse liessen sich auch für die anderen Schumann-Aufnahmen belegen. Anda, der gebildete und belesene Mensch, wusste und kannte die Vorgaben, nach denen zu gestalten war. Er spiegelte sich in Schumanns imaginären Doppelrollen: in dem drängenden Florestan wie in dem lyrisch versponnenen Euse-bius, und er bewahrte immer auch noch die übersichtlich ordnende

später endgültig in Zürich niederliess, das zuträgliche, gelegentlich wohl auch etwas helvetisch-karierte Klima, das ihm ermöglichte, beide Seiten seiner Persönlichkeit zu entfalten.

Zuletzt sei eines Komponisten gedacht, der dieses Janus-köpfige seines Interpreten sowohl anzog wie belohnte: Robert Schu-mann. Mag sein, dass Anda, hätte er länger gelebt, auch noch ein profunder Beethoven-Spieler geworden wäre; seine eigenwillig tän-zerische, humoristisch auffahrende, dann wieder wie improvisie-rend lockere Aufnahme der Diabelli-Variationen von 1961, deren Finale sich geradezu abenteuerlich im leisen Nichts verabschiedet, wäre dafür ein Versprechen gewesen. Doch bei Schumann ent-deckte Anda alle Ausdruckssphären eines ebenso intellektuellen wie seelisch tiefgründigen Künstlers, der ihn sein Leben lang her-ausforderte.

Lebenszeit wird zum Schicksal

Beckmesserische Philologen fänden bei Andas Schubert-Aufnah-men einiges, was nicht vom Notenbild beglaubigt würde. So ver-zichtet Anda vielerorts auf die Wiederholungen. Und die Verzie-rungen – übrigens auch bei anderen Komponisten – erfahren gern

Hand des Meisters Raro. Horowitz, ein gänzlich anderer Typus, trieb Schumann in die Nähe von Skrjabin. Anda liess ihn einfach bei sich selbst, wo mehr als genug an Stoff und Idee zu finden war. Die letzten beiden Nummern der Davidsbündlertänze, Wie aus der Ferne und Nicht schnell, zogen ihm die Summe aus aller Balladen-freude und Walzerschwingung ins nachdenklich Verschwindende.

Kein Pianistenleben reichte jemals aus, all das zu sagen und weiterzugeben, was zunächst aus jugendlicher Entdeckerlust und später aus der Reife in der Musik verborgen ist. Darin liegt Tra-gik, und besonders dann, wenn die Vita viel zu früh und jählings endet. Lebenszeit wird zum Schicksal. Géza Anda, seine Angehö-rigen, seine Freunde, seine Zu- und Mithörer mussten dies schmerz-lich erfahren. Aber umgekehrt gilt auch: Nur in der Interpretation existiert Musik, und dies berechtigt die Musiker, so sie ihre Verant-wortung wahrnehmen, zu Genugtuung und Stolz. Géza Anda hatte insofern ein überaus erfülltes Dasein, dessen wir uns immer wieder und gerne erinnern. Auch mit dem Concours seines Na-mens, der seit nunmehr 32 Jahren und elf Durchgängen in seinem Geiste für die Zukunft musikalischen Interpretierens eintritt. So ist denn, wie in der Musik auch, immer wieder Anfang. <

Bei den Luzerner Musikfestwochen, 1964. Links: Meisterkurs in Luzern. Rechts oben: Géza Anda mit Sohn Gratian in St. Anton, 1971. Rechts unten: Bei Proben zu seinem letzten Konzert in Innsbruck, 1. Juni 1976.

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Ein Leben für die MusikBiografie von Géza Anda (1921–1976) – zusammengestellt von Prof. Dr. Wolfgang Rathert

1921 Géza Anda wird als einziges Kind des Schuldirektors Géza György Anda und seiner Frau Mathilde am 19. November in Budapest geboren. Ab dem Alter von 5 Jahren erhält er regelmässig Klavierunterricht.

1934 13-jährig wird Anda als Student am Franz-Liszt-Konservatorium seiner Heimatstadt aufgenommen. Seine Klavierlehrer sind zunächst Imre Stefaniai und Imre Keeri-Szanto, bevor er der Klasse Ernst (ErnÓ) von Dohnányis, dem Direktor der Hochschule und einem Enkelschüler Liszts, zugeteilt wird. Komposition studiert er bei Zoltán Ko-dály, nachhaltigen Einfluss übt der Theorieunterricht Leó Weiners auf ihn aus.

1939 –19 41 Anda gewinnt den Franz-Liszt-Preis der Stadt Budapest und in den beiden darauffol-genden Jahren den begehrten Preis der Franz-Liszt-Gesellschaft. Am 4. Juni 1941 schliesst er mit dem Konzertdiplom ab und gibt erste Solo-Recitals in Budapest. Auf Wunsch der Eltern beendet er parallel ein Studium als Volksschullehrer. Dank der Auszeichnungen der Liszt-Gesellschaft bekommt er ein staatliches Stipendium, das ihn an das Collegium Hungaricum in Berlin führt und ihn vor der Musterung be-wahrt.

19 41–19 43 In Deutschland erhält Anda erste Engagements in den Niederlanden, kehrt aber im-mer für Auftritte nach Ungarn zurück. Am 13. Februar 1942 absolviert er unter der Leitung von Willem Mengelberg sein Budapester Orchester-Debüt mit dem 2. Klavier-konzert von Brahms, einem Kernstück seines Repertoires; mit Ferenc Fricsay konzer-tiert er in Szeged. Er erteilt bereits selbst Unterricht in Berlin und kann Wilhelm Furt-wängler auf sich aufmerksam machen, der ihn als Solisten der Variations symphoniques von César Franck im Januar 1943 in der Alten Berliner Philharmonie mit den Berliner Philharmonikern engagiert. Unter dem Eindruck seines Spiels charakterisiert Furt-wängler ihn als «Troubadour am Klavier».

Erste Schallplatteneinspielungen entstehen für die Deutsche Grammophon mit Wer-ken von Bach, Busoni, Chopin, Liszt, Scarlatti und Schumann sowie in Amsterdam mit den Franck-Variationen und dem Concertgebouw Orkest unter Eduard van Beinum.

Im Juli 19 43 gelingt Anda durch Vermittlung von Hilde Ochsenbein, der Gattin des Schweizer Handelsattachés in Berlin, sowie des in Genf amtierenden amerikanischen Konsuls Sam Woods die Ausreise in die Schweiz, um dem drohenden ungarischen Militärdienst zu entgehen.

19 43 –19 45 In ärmlichen Verhältnissen in Genf und zunächst ohne Auftrittserlaubnis in der Schweiz, durchlebt Anda eine grössere künstlerische Krise. Erst Ende 1943 tritt er erst-mals in der Zürcher Tonhalle auf, 1944 folgen Konzerte in Spanien, Portugal und Hol-land. Auf Empfehlung von Dr. Heinrich Fueter und Prof. Dr. Hans R. Hahnloser kann er Verbindungen zu Hermann Scherchen und Paul Sacher knüpfen, die ihm zu wei-teren Engagements in der Schweiz verhelfen.

19 4 4 lernt er die 15 Jahre ältere Heny Winterstein-Bosshard kennen, die seine Konzerttätig-keit organisiert. Ein Jahr später siedelt Anda nach Zürich über. 1953 folgt die Heirat.

19 4 6 –19 49 Mehrmonatige Aufenthalte Andas in Paris seit Ende 1945 führen zu prägenden Be-gegnungen mit Pierre Souvtchinsky, dem Freund und künstlerischen Berater Strawins-kys. Er schliesst Freundschaft mit dem 4 Jahre jüngeren Pierre Boulez; für eine in Paris entstandene Aufnahme der Intermezzi op. 117 von Brahms erhält Anda 1948 erstmals einen «Grand Prix du Disque». Seine Konzerttätigkeit gestaltet sich durch die politischen Verhältnisse der Nachkriegszeit jedoch weiterhin schwierig, auch eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz wird Anda zunächst nicht erteilt.

Unterstützt durch seine Konzertagenten (darunter vor allem Rudolf Vetter), gelingt es Anda ab 1949 im Zuge der beginnenden wirtschaftlichen und politischen Konsolidie-rung, sich mit Auftritten in mehreren europäischen Ländern und über den Rundfunk einen Namen zu machen. Sein sich ständig erweiterndes Repertoire umfasst zu dieser Zeit Solowerke und Konzerte von Bach bis Bartók. Er lernt den Schweizer Komponis-ten Rolf Liebermann kennen und schätzen, der in Zürich als Rundfunkredakteur ar-beitet und ihm wichtige Kontakte zu den deutschen Rundfunkanstalten vermittelt.

19 50 –19 51 Anda konzertiert erstmals seit Kriegsende wieder mit den Berliner Philharmonikern (unter der Leitung von Eugen Jochum mit dem 1. Klavierkonzert von Chopin) und er-zielt seinen Durchbruch beim deutschen Publikum. Er löst den Vertrag mit der Deut-schen Grammophon auf und wechselt zum Label Telefunken, für das er im Lauf der nächsten 2 Jahre Solo-Werke von Bach, Haydn, Mozart und Schumann einspielt. Erstmals taucht das 2. Klavierkonzert von Béla Bartók auf seinen Konzertprogram-men in Aufführungen mit George Solti und Paul Sacher auf.

19 52 Nach weiteren erfolgreichen Aufführungen des 2. Bartók-Konzerts mit verschiedenen Dirigenten erzielen Anda und Fricsay mit ihrer Interpretation auf dem 26. Fest der In-ternationalen Gesellschaft für Neue Musik am 27. Juni in Salzburg einen überwältigen-den Erfolg. Bis zu Fricsays Tod 1963 führen sie das Werk über 300-mal öffentlich auf.

Im selben Jahr wird Anda erstmals für die Salzburger Festspiele verpflichtet: Er spielt ein Solo-Programm mit Werken Haydns, Schumanns, Brahms’ sowie der ihm gewid-meten Klaviersonate Liebermanns und wird von Bernhard Paumgartner und der Ca-merata Salzburg als Solist des Klavierkonzerts Es-Dur KV 482 von Mozart begleitet. Bis 1974 wird Anda jährlich auf den Festspielen auftreten und damit zum am häufigsten verpflichteten Interpreten in Salzburg.

19 53 –19 58 Zahlreiche internationale Verpflichtungen mit bis zu 120 Konzerten pro Jahr und Rundfunkeinspielungen machen aus Anda einen begehrten Solisten und Partner füh-render Dirigenten, darunter Karl Böhm, Herbert von Karajan, Joseph Keilberth, Otto Klemperer und Carl Schuricht. Clara Haskil wählt ihn zu ihrem bevorzugten Duo-Partner für Aufführungen des Konzerts für zwei Klaviere Es-Dur KV 365 von Mozart.

19 53 tritt Anda erstmals auf den Luzerner Festwochen auf und gibt seinen Einstand als Kla-vierdozent bei den Kursen der Internationalen Sommerakademie in Salzburg.

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19 54 wechselt er zum englischen Label Columbia, für das er in den folgenden 5 Jahren unter dem Produzenten Walter Legge, dem Ehemann der Sängerin Elisabeth Schwarz-kopf, eine Reihe von Solo- und Konzertaufnahmen realisiert, die seinen Ruf als füh-renden Vertreter der pianistischen Nachkriegs-Generation festigen.

19 55 folgt die erste von insgesamt 17 USA-Tourneen. Neben Solo-Recitals erzielt er Erfolge durch Konzerte mit drei der grossen amerikanischen Orchester und ihren ungarischen Chef-Dirigenten (Eugene Ormandy und das Philadelphia Orchestra; Fritz Reiner und das Chicago Symphony Orchestra; George Szell und das Cleveland Orchestra).

Im selben Jahr erhält Anda das Bürgerrecht der Stadt Zürich und die Schweizer Staats-angehörigkeit.

Im April 19 57 führt Anda an einem Abend zusammen mit Ernest Bour und dem Symphonie-Or-chester des Bayerischen Rundfunks alle drei Klavierkonzerte Béla Bartóks im Rahmen der Münchner musica viva-Reihe auf.

Ebenfalls in München gibt er im darauffolgenden Jahr sein Debüt als Dirigent, als er für den erkrankten Edwin Fischer einspringt und erstmals ein Mozart-Konzert vom Flügel aus leitet.

19 59 –19 69 1959 beendet Géza Anda die Zusammenarbeit mit der Columbia und kehrt zur Deut-schen Grammophon zurück, deren Exklusivkünstler er bis 1971 bleibt. Zusammen mit Fricsay und dem RIAS-Sinfonie-Orchester entsteht in Berlin die Gesamteinspielung der drei Bartók-Konzerte einschliesslich der Rhapsodie op. 1, die bis heute Referenzstatus besitzt. Weitere modellhafte und preisgekrönte Aufnahmen, so das 2. Klavierkonzert von Brahms (mit Fricsay und später v. Karajan), die Diabelli-Variationen von Beetho-ven, die 24 Préludes von Chopin, Schuberts letzte Klaviersonate in B-Dur und die Kla-vierkonzerte von Schumann und Grieg (mit Rafael Kubelik) folgen.

Unterstützt von seinem Assistenten, dem dänischen Pianisten Egil Harder, gibt Anda ab 1960 jährlich Meisterkurse am Luzerner Konservatorium, die er 1970 in das Muraltengut Zürich verlagert. Zu den prominenten Pianisten, die aus seinem ebenso gefragten wie fordernden Unterricht hervorgehen, gehören Sontraud Speidel, Michael Studer und Dinorah Varsi.

Zwischen 1961 und 1969 nimmt Anda als erster Pianist der Schallplattengeschichte in Personalunion von Solist und Dirigent sämtliche 25 Solo-Konzerte Mozarts zusammen mit der Camerata Salzburg auf. Seine Interpretation des langsamen Satzes aus dem Klavierkonzert Nr. 21 in C-Dur KV 467 erlangt als Filmmusik in dem schwedischen Spielfilm Elvira Madrigan weltweite Popularität.

1964 heiratet Anda in zweiter Ehe die Unternehmerin Hortense Bührle, Tochter des Zür-cher Industriellen und Kunstsammlers Emil Bührle; 1969 wird der Sohn Gratian geboren.

Zu den Höhepunkten von Andas Konzerttätigkeit in diesem Jahrzehnt gehören zwei Konzerte im Jahr 1965: der Chopin-Abend mit den Préludes op. 24 und den beiden

Etüdenzyklen op. 10 und op. 25 bei den Salzburger Festspielen und die Aufführung des 3. Klavierkonzerts von Bartók mit dem 82-jährigen Ernest Ansermet bei den Lu-zerner Festwochen. Rolf Liebermanns Filmporträt Géza Anda. Pianist, Dirigent, Päd-agoge wird 1966 im Schweizer und deutschen Fernsehen ausgestrahlt.

Auszeichnungen und Ehrungen (u. a. als Chevalier des arts et des lettres der Französi-schen Ehrenlegion) sowie Tätigkeiten als Juror beim Concours Clara Haskil und dem Internationalen Klavierwettbewerb in Leeds bekunden Andas hohe Wertschätzung als Pianist und Pädagoge. 1969 tritt er erstmals in Südamerika auf.

19 70 –19 74 Nach dem Abschluss der Mozart-Einspielungen trübt sich das Verhältnis zur DGG erneut. Seine folgende Einspielung – 2 Mozart-Konzerte mit den Wiener Sympho- nikern – vertraut Anda dem Label Eurodisc an. Zahlreiche internationale Konzert-tourneen, u. a. nach Südafrika und Japan, sowie Meisterkurse zeigen ihn auf dem Höhepunkt seiner rastlosen Aktivitäten. 1973 tritt er erstmals wieder in seiner Heimat-stadt Budapest auf. Er plant eine Gesamteinspielung der Klavierwerke von Brahms.

19 75 Im Mai wird bei Géza Anda Speiseröhrenkrebs diagnostiziert. Nach einer erfolgrei-chen Operation in London kann er bereits im Dezember die Gesamtaufnahme der Walzer Chopins in der Berliner Siemens-Villa realisieren.

19 76 In Münster führt Anda mit dem Dirigenten Alfred Walter das 2. Klavierkonzert von Brahms auf; Ende Mai folgt in Bratislava unter widrigen Umständen eine eindrucks-volle Wiedergabe von Beethovens 3. Klavierkonzert. Erstmals seit 1953 ist Anda wieder als Kammermusiker zu hören, als er am 1. Juni – sein letzter Konzertauftritt überhaupt – in Innsbruck zusammen mit dem Innsbrucker Streichquartett das Forel-lenquintett von Schubert spielt.

Am 13. Juni 1976 stirbt Géza Anda überraschend in seinem Zürcher Heim an den Folgen eines Blutsturzes.

Ein grosses, reiches und heiteres, ein kosmopolitisches, fleissiges und darum erfolggekröntes Leben geht an diesem Sommerabend zu Ende. Es wollte weitergehen.

H. C. Schmidt, 1991

19 79 Hortense Anda-Bührle eröffnet in Zürich den von ihr initiierten, alle drei Jahre statt-findenden «Concours Géza Anda», der das künstlerische und pädagogische Erbe ih-res Mannes bewahren soll und heute zu den weltweit angesehensten und anspruchs-vollsten Klavierwettbewerben zählt.

Biografie Géza Anda

Weiterführende Literatur: Hans-Christian Schmidt: Géza Anda. «Sechzehntel sind auch Musik!» Dokumente seines Lebens. Zürich: Artemis & Winkler, 1991

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Wie man den Menschen auf die Platte bringt: Das diskografische Erbe Géza Andas Rolf Liebermanns Filmporträt Géza Anda – Pianist, Dirigent, Pädagoge aus dem Jahr 1966 endet mit einer ein-drücklichen Szene: Im Tonstudio am Wiener Rosenhügel nimmt Anda Schumanns Kreisleriana auf. Wir erleben den Pianisten in der konzentrierten Einsamkeit des Aufnahmeraums vor dem unerbittlichen Mikrofon und an-schliessend im entspannten, gleichwohl ernsten Gespräch mit Tonmeister und Produzenten über das Ergebnis. Es geht um Grundsätzliches: Die manuelle Perfektion und ihre Grenzen, die manipulativen Möglichkeiten der Technik, die künstlerische Inspiration, und schliesslich um den Sinn von Aufzeichnungen überhaupt.

Von Prof. Dr. Wolfgang Rathert

Im Lauf des Gesprächs fällt der unnachahmliche und in seiner Ver-bindung von Lakonie, Humor und Weltverständnis für Anda so typische Satz, dass das eigentliche Problem jeder Aufnahme sei, wie man den Menschen auf die Platte bekomme. Die Bemerkung zielt auf das unaufhebbare Paradox jeder Einspielung: Zugleich den Au-genblick festhalten und Ewigkeitswert beanspruchen zu wollen. Manch grosser Künstler hat daraus extreme Konsequenzen gezo-gen: Glenn Gould überliess sich völlig dem virtuellen Zauber des Tonstudios und einer ausgefeilten Schnitttechnik, um jeden stören-den Zufall auszuschalten; Sergiu Celibidache dagegen duldete al-lein den Konzertmitschnitt, um möglichst viel von der Aura der Aufführung einzufangen. Oft übersehen wird der Wert von Rund-funkaufnahmen, die ursprünglich nicht für die Nachwelt gedacht sind, dennoch archiviert werden und sich später oft als heraus- ragende künstlerische Leistungen erweisen. Über all dem darf man nicht vergessen, dass eine wie auch immer entstandene Aufzeich-nung stets ein bestimmtes Entwicklungsstadium eines Künstlers protokolliert, das dieser notwendigerweise auch hinter sich lassen wird. Der konträre Anspruch einer nicht mehr überbietbaren, gleichsam in Stein gemeisselten Perfektion erweist sich daher als gefährlich. So belegt der eindringliche Bericht des Pianisten und Produzenten Cord Garben «Arturo Benedetti Michelangeli, Grat-wanderungen mit einem Genie» (Hamburg 2002) über die Aufnah-mesitzungen mit dem Pianisten, in welche Artisten-Hölle alle Be-teiligten unter einer solchen Prämisse geraten können. Das Ergebnis jener bis in die frühen Morgenstunden andauernden, die Ton- und Klaviertechniker an und über den Rand ihrer Kräfte treibenden Sitzungen gibt auch vieles von der Persönlichkeit Michelangelis preis: Sein Bedürfnis nach Distanz, eine überraschende unter-

einer Virtuosen-Existenz mit einschloss. Es gehört zu den grossen Privilegien unserer Zeit, dass Andas Weg in seiner Gänze auf Tonträgern dokumentiert ist. Diesen Weg gestaltete er in Partner-schaft mit grossen Dirigenten – neben seinen Lieblingsdirigenten Ferenc Fricsay und Herbert von Karajan Persönlichkeiten wie Sir John Barbirolli, Joseph Keilberth, Otto Klemperer, Rafael Kubelik, Erich Leinsdorf, Fritz Reiner, Carl Schuricht oder George Szell. Für alle Freunde des Klaviers, vor allem aber angehende Pianis- ten bietet Andas Diskografie damit musikalische Einsichten und Anregungen.

Durch seine Lehrer Ernst von Dohnányi und Leó Weiner, aber auch durch die Persönlichkeit Béla Bartóks erhielt Anda Zu-gang zu einer hochdifferenzierten musikalischen Weltsicht. Sie um-fasste selbstverständlich auch die Auseinandersetzung mit jener anderen, besonders von Brahms vertretenen Auffassung, die die möglichst getreue Wiedergabe des Notentextes ins Zentrum stellt. Die Synthese der Ansätze von Liszt und Brahms verlangt von den Studierenden nicht nur manuelle und handwerkliche Souveränität, sondern Fantasie, Geduld in der Erarbeitung des Repertoires, die Fähigkeit zur rationalen Analyse von Musik verschiedenster Epo-chen und nicht zuletzt die Reflexion des eigenen Tuns.

Andas Diskografie spiegelt diese Philosophie deutlich wider. Über 40 Schallplatten erschienen zwischen 1942 und 1976, und illustrieren nebenbei auch den rasanten technischen Auf-nahme-Fortschritt der boomenden Tonträger-Industrie. Den Auf-takt bilden Schellackplatten für Polydor/Deutsche Grammophon (1942/1943) mit hinreissenden Chopin-, Schumann- und Scarlatti-Aufnahmen des stürmischen 21-jährigen, denen ein Jahr später Francks Variations Symphoniques mit dem Concertgebouw Orkest

schwellige Aggressivität des Musizierens und die geradezu obsessive Suche nach einem Schönheitsideal, das nur noch in der Vorstel-lungswelt des Künstlers existiert, aber in jedem Moment an der Un-vollkommenheit von Mechanik und Physis scheitern kann.

Géza Andas Verständnis des Künstlers, der sich auch als Mensch in der Aufnahme wiederfinden soll, ging in eine ganz an-dere Richtung; dies belegen viele seiner Äusserungen, die in Hans Christian Schmidts Buch Géza Anda – «Sechzehntel sind auch Mu-sik!» Dokumente seines Lebens von 1991 dokumentiert sind. Anda war davon überzeugt, dass Fehlbarkeit (und das Wissen darum) die Authentizität stärker zum Ausdruck bringen kann als Perfektion, weil Weg und Ziel in einer dynamischen Beziehung stehen. In der Wiener Aufnahmesitzung war Anda bereit, einen winzigen Lap-sus in der Kreisleriana zugunsten der unwiederholbaren, kostbaren Inspiration des Augenblicks stehen zu lassen. Diese Ehrlichkeit macht die Aufnahme über ihren künstlerischen Wert hinaus zu ei-nem menschlichen Dokument. Doch man möge dies nicht missver-stehen: Anda war in seinen Anforderungen an sich und seine Schü-ler unerbittlich, allerdings nicht als Selbstzweck. Musik sollte sich nicht in Makellosigkeit erschöpfen, die Langeweile erzeugt und hinter der die Persönlichkeit des Musikers nicht erkennbar wird. Darin folgte Anda Liszts ironischer Bemerkung, dass der Musiker nicht wie Pontius Pilatus seine Hände in Unschuld waschen könne, sondern eine gestalterische Entscheidung treffen müsse, wenn er überbrückend zwischen den Notentext und den Hörer tritt. Nur dann entsteht ein kommunikatives Dreieck aus Werk, Interpret und Hörer, das – phänomenologisch betrachtet – auch jenseits des Kon-zertsaals beim Hören einer Aufnahme präsent ist. Anda verschrieb sich diesem Ideal mit einer Passion und Hingabe, die alle Wagnisse

Amsterdam und Eduard van Beinum folgen. Für die Pariser Ein-spielung zweier Brahms-Intermezzi auf dem Label La Boîte à Mu-sique von 1947/1948 erhält Anda zum ersten Mal die begehrte Aus-zeichnung eines «Grand Prix du Disque». Das Zwischenspiel der Jahre 1950 bis 1952 bei Telefunken mit Solowerken Bachs, Haydns, Mozarts (Klaviersonate D-Dur KV 576!) und Schumanns ist leider bis heute nicht digitalisiert. 1953 erscheint schliesslich die erste von insgesamt zehn Platten Andas bei EMI-Columbia, die allesamt noch in Mono aufgenommen, aber bereits auf Vinyl gepresst sind. Gefördert von dem legendären Produzenten Walter Legge, etabliert sich Anda mit seinen Einspielungen grosser Solo- und Konzert-werke des klassisch-romantischen Repertoires weltweit als einer der führenden Pianisten seiner Generation.

1959 bis 1968 folgt die Zusammenarbeit als Exklusiv-Künstler für die Deutsche Grammophon (DGG): Es entstehen nicht weniger als 22 LPs in Stereo (bei den Aufnahmen bis 1964 auch noch in Mono) mit Interpretationen von Werken Bartóks, Beethovens, Chopins, Griegs, Mozarts, Schuberts und Schumanns, die bis heute als exemplarische, zum Teil klassische Lesarten gelten. Am Ende stehen die luziden Interpretationen zweier grosser Mo-zart-Konzerte im Mai 1973 in Wien und der Chopin-Walzer im Dezember 1975 in Berlin, die Anda seiner schweren Erkrankung abtrotzt. Diese beiden zum Vermächtnis gewordenen Platten für das Label Eurodisc, deren besondere Atmosphäre auch dem fein-fühligen Produzenten Hans-Richard Stracke zu verdanken ist, wurden bereits in Quadrophonie-Technik aufgenommen.

Wie viele andere bedeutende Interpreten hegte auch Géza Anda den Wunsch, sein Repertoire an Aufzeichnung zu erweitern oder dieselben Werke in «noch schöneren Aufnahmen» vorzulegen,

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wie er in dem Nachruf auf seinen langjährigen Partner Ferenc Fric-say schrieb, mit dem er die drei Bartók-Konzerte am liebsten noch einmal aufnehmen wollte. Der Columbia schlug Anda eine Ge-samteinspielung der Klavierwerke Bartóks vor, für die DGG wollte er nach Abschluss der Mozart-Serie die Klaviermusik von Brahms einspielen. Mit Karajan hatte Anda 1967 verabredet, nach der er-neuten Aufnahme von Brahms’ 2. Klavierkonzert mit den Berliner Philharmonikern nun auch das 1. Konzert folgen zu lassen. Es bleibt unserer (recht wehmütigen) Vorstellungskraft überlassen, sich die Interpretation dieses epochalen Stücks durch die beiden Musi-ker auf dem Höhepunkt ihrer Gestaltungskraft vorzustellen.

Die Gründe für das Scheitern solcher Pläne sind vielfälti-ger Natur: Unterschiedliche Vorstellungen von Künstlern und Ma-nagern spielen eine Rolle, wechselnde Marketing-Strategien der produzierenden Firmen, die Konkurrenz im eigenen Label, aber auch Zufälle und Unwägbarkeiten des Lebens selbst. Tatsächlich realisierte Anda nur ein einziges, dafür aber umso gewichtigeres enzyklopädisches Projekt, nämlich die zwischen 1961 und 1968 ent-standene erste vollständige Schallplatteneinspielung sämtlicher Solo-Klavierkonzerte Mozarts, bei der er in Personalunion als So-list und Dirigent der Camerata Salzburg wirkte. Die Zahl interna-tionaler Wiederveröffentlichungen und Auskoppelungen von Kon-zerten dieser Serie – darunter insbesondere die Interpretation des Klavierkonzerts C-Dur KV 467, die 1967 als Filmmusik in dem Spielfilm Elvira Madrigan globale Bekanntheit erreichte – ist inzwi-schen unüberschaubar geworden.

Andas Diskografie zu Lebzeiten liegt inzwischen grössten-teils in Wiederveröffentlichungen auf CD vor. Nach seinem Tod und mit dem Anbruch des digitalen Zeitalters – das die Gründung

öffentlicht.) Sie umfasst nicht nur Solowerke von Beethoven, Schu-mann, Chopin, Liszt und Brahms sowie Klavierkonzerte Mozarts, Beethovens und Bartóks, sondern bietet auch die rare Begegnung mit dem Kammermusiker Géza Anda, der kongenial mit dem un-garischen Geiger Tibor Varga und dem Klarinettisten Paul Blöcher Bartóks Kontraste sowie mit seinem Budapester Studienkollegen George Solti die Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug spielt.

Ähnlich ambitioniert ist die von dem Stuttgarter Label Hänssler Classic seit 2009 aufgelegte vierteilige Edition der Zusam-menarbeit Andas mit dem SWR/SWF Baden-Baden mit Auf- nahmen und Konzertmitschnitten aus den Jahren 1951–1973. Hier kann man Anda als Interpreten von Werken Haydns, Ravels und Liebermanns hören, aber auch in der Zusammenarbeit mit Hans Rosbaud in Beethovens 5. Klavierkonzert, Brahms’ und Rachmani-nows 2. Klavierkonzert, Ravels Konzert für Klavier linke Hand so-wie unter Ernst Bour mit Chopins 1. Konzert op. 11 und Schu-manns Konzert op. 54. Bezeichnend für die damalige künstlerische Auffassung wurden die Aufnahmen in der Regel an einem einzi-gen Tag und in jeweils durchgespielten «Takes» einzelner Sätze re-alisiert. Kleinere Abstriche an der manuellen Perfektion nahmen die Beteiligten als Preis für die Lebendigkeit und Inspiration der Darstellung gelegentlich in Kauf.

Einen Schwerpunkt von Andas Aktivitäten bildeten seine Auftritte bei den Salzburger Festspielen, auf denen er von 1952 bis 1974 ununterbrochen verpflichtet war. Als bislang siebten Mit-schnitt der Salzburger Konzerte Andas veröffentlichte das Label Orfeo 2010 das Recital vom 27. Juli 1965 im Kleinen Festspielhaus in Salzburg mit Chopins Etüden-Zyklen op. 10 und op. 25 sowie den Préludes op. 28. Diese Aufnahme ist zusammen mit dem 2008 er-

neuer, auf historische Aufnahmen spezialisierter Labels nach sich zog – ist eine zweite Anda-Diskografie hinzugekommen, die aus der imposanten Liste der Rundfunk-Aufnahmen und Konzertmit-schnitte schöpfen kann. Dadurch wurden nicht nur empfindliche Repertoire-Lücken geschlossen, sondern neue, spannende Perspek-tiven eröffnet, die das Bild von Andas stilistischem Spektrum stetig erweitern. Anda war zwei Jahrzehnte für verschiedene westdeut-sche Rundfunkanstalten tätig: 1950 betrat er zum ersten Mal ein Tonstudio des Südwestfunks in Stuttgart, 1969 nahm er letztmalig das 1. Klavierkonzert Beethovens mit dem Sinfonie-Orchester des WDR Köln auf. Hinzu kommen bis 1975 zahlreiche Konzertmit-schnitte, unter denen das 2005 erstmalig veröffentlichte Konzert vom 26. April 1957 aus dem Münchner Herkules-Saal (im Rahmen der musica viva-Reihe des Bayerischen Rundfunks) einen Glanz-punkt setzt: Begleitet vom Sinfonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks unter Ernest Bour, spielte Anda zum einzigen Mal alle drei Klavierkonzerte Bartóks ensuite vor einem überwältigten Pu-blikum. Noch während des letzten Jahrzehnts der Schallplatten-Ära brachte Eurodisc eine sechs Platten umfassende Gedenk-Edi-tion heraus, die auf Material westdeutscher Rundfunkanstalten (BR, SWR, WDR) mit Anda basierte und durch den Live-Mit-schnitt des 1. Tschaikowsky-Konzerts mit seinem Freund Ferdi-nand Leitner aus der Stuttgarter Liederhalle aus dem Jahr 1973 ge-krönt wurde. Diese Initiative setzte zwei Jahrzehnte das Detmolder Label Audite in seiner vierteiligen Edition von Doppel-CDs fort, die Andas Aufnahmetätigkeit für den WDR Köln aus den Jahren 1952–1969 dokumentiert. (Audite hat 2011 im Rahmen von Fricsays Bartók-Einspielungen mit dem RSO Berlin eine weitere Aufnahme des zweiten Konzerts mit Anda und Fricsay aus dem Jahr 1953 ver-

schienenen Mitschnitt des letzten Salzburger Recitals Andas von 1972 (mit Werken Ravels, Schumanns und – erstmalig auf CD – der 2. Klaviersonate Chopins!) Höhepunkt einer Reihe musikali-scher Sternstunden, die Interpretationsgeschichte geschrieben haben.

Nicht vergessen darf man in diesem Zusammenhang die bewährte Zusammenarbeit mit Clara Haskil und Bernhard Paum-gartner sowie die künstlerische Begegnung mit Christa Ludwig im Jahr 1963: Anda begleitete die Sängerin in Mozarts Konzertarie mit obligatem Klavier Ch’io mi scordi di te (KV 505). Für ihn war dies auch eine Reminiszenz an seine Londoner Studio-Aufnahme des-selben Werks 1955 mit Elisabeth Schwarzkopf, die damals nicht freigegeben und erst im Jahr 2000 durch das englische Label Testa-ment veröffentlicht wurde. (Mit Ausnahme der Mozart/Bach-Dop-pelkonzerte mit Clara Haskil hat Testament zuvor alle von Colum-bia produzierten Aufnahmen Andas wiederveröffentlicht und ergänzt durch brillante Booklet-Kommentare Bryce Morrisons, der Anda zu Beginn der 1970er-Jahre noch kennengelernt hatte.) Auch die DGG hat zwei Orchesterkonzerte Andas mit Karajan und das Label Oehms eine weitere Mozart-Matinee mit Paumgart-ner veröffentlicht.

Damit stehen die Chancen nicht schlecht, dass das Salzbur-ger Vermächtnis Andas irgendwann einmal vollständig auf CD vorliegen wird – so auch der bewegende letzte Auftritt des Pianis-ten im Jahr 1974, als er zusammen mit Karl Böhm und den Wiener Philharmonikern eine grossartig verinnerlichte Deutung von Mo-zarts Klavierkonzert B-Dur KV 456 bot.

Durch die Veröffentlichung eines Mitschnitts des Hollän-dischen Rundfunks von 1967 mit dem 1. Klavierkonzert von Brahms unter Eugen Jochum und dem Concertgebouw Orkest Amsterdam

Das diskografische Erbe Géza Andas – Prof. Dr. Wolfgang Rathert

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Du-SondereditionDas diskografische Erbe Géza Andas – Prof. Dr. Wolfgang Rathert

bei dem französischen Label Tahra hat die Anda-Diskografie ge-wichtigen Zuwachs erhalten. Ein weiterer Konzertmitschnitt dieses Werkes mit dem NDR-Sinfonie-Orchester Hannover unter der Leitung von Willy Steiner aus dem Jahr 1963 ist indes bis heute lei-der ebenso unveröffentlicht geblieben wie die Interpretation des Schumann-Klavierkonzerts unter Hans Schmidt-Isserstedt und dem NDR-Sinfonie-Orchester Hamburg im Jahr 1959. In den nächsten Jahren sind also noch viele Entdeckungen zu machen.

Während Andas britische Konzertauftritte allmählich durch die Aufnahmen innerhalb der Reihe BBC Legends Kontur gewinnen, bilden seine amerikanischen Tourneen, auf denen er mit

Fritz Reiner und dem Chicago Symphony Orchestra oder George Szell und dem Cleveland Orchestra musizierte, noch eine disko-grafische terra incognita. Die Orchesterkonzerte wurden in der Re-gel von lokalen Rundfunksendern übertragen (zum Teil mit Inter-views mit Anda), doch bedarf es weiterer Anstrengungen, diese und andere wertvolle künstlerische Dokumente von Andas internatio-naler Konzerttätigkeit zugänglich zu machen. Hoffen wir also, dass die Bewunderer Géza Andas sie bald als weitere Beispiele seiner Kunst, den Menschen im Werk und das Werk im Menschen zur Darstellung zu bringen, werden hören können. <

Audite– Audite 23.407-410 [2008]: Edition «Géza Anda und

der WDR» (Aufn. 1952 –1969; Werke von Bartók, Beethoven, Brahms, Chopin, Liszt, Mozart und Schumann; 4 Doppel-CD)

– Audite 21.407 [2011]: Bartók, Klavierkonzert Nr. 2 (Aufn. 1953; Teil der Box «Ferenc Fricsay conducts Béla Bartók»)

BBC Legends– BBCL 4135-2 [2003]: Solo-Recital Edinburgh 1955

(Werke von Bartók, Beethoven und Brahms)– BBCL 4247-2 [2008]: Mozart, Klavierkonzerte KV 451 und

453; Bartók, Klavierkonzert Nr. 2 (Aufn. 1968–1975)

BriLLiAnt CLAssiCs– Brilliant Classics 93795 [2009]: The Art of Géza Anda

(Aufn. 1942–1966; Werke von Beethoven, Chopin, Liszt, Schubert und Schumann; 4 CD)

CoLLegno– Collegno WWE 20091 [2005]: Bartók, Klavierkonzerte

Nr. 1–3 (Aufn. 1957)

deutsChe grAmmophon (dgg)– DGG 447 666-2 [1995]: Bartók, 3. Klavierkonzert

(Aufn. Salzburger Festspiele 1972)– DGG 453 199-2 [1999]: Mozart, Klavierkonzert KV 467

(Aufn. Salzburger Festspiele 1957)– DGG 469 501-2 [2000]: Mozart, Sämtliche Klavier-

konzerte (Aufn. 1961–1968; 10 CD)– DGG 474 838-2 [2004]: Brahms, 2. Klavierkonzert; Grieg,

Klavierkonzert op. 16 (Aufn. 1963 ⁄1967) – DGG 477 5289 [2005]: Géza Anda – Troubadour of

the Piano (Aufn. 1943–1966; Werke von Bartók, Beethoven, Brahms, Chopin, Franck, Liszt und Schumann; 5 CD)

emi– EMI CDH 7 63492 2 [1990]: Bach, Konzert für zwei

Klaviere BWV 1061; Mozart, Konzert für zwei Klaviere KV 365 (mit Cl. Haskil; Aufn. 1956)

hänssLer CLAssiC– CD 94.208 [2009]: Edition «Géza Anda spielt ⁄Géza Anda

und der SWR» I (Aufn. 1952–1963; Werke von Brahms, Chopin, Rachmaninow und Schumann)

– CD 94.211 [2010]: Edition «Géza Anda spielt ⁄Géza Anda und der SWR» II (Aufn. 1950–1955; Werke von Brahms, Chopin, Haydn, Liebermann, Ravel und Schumann)

– CD 94.216 [2012]; Edition «Géza Anda spielt ⁄ Géza Anda und der SWR» III (Aufn. 1952–1963; Werke von Mozart und Ravel)

oehms– Oehms OC 578 [2006]: Mozart, Klavierkonzert KV 482

(Aufn. Salzburger Festspiele 1956)

orfeo – C 295 921 B [1992]: Schumann-Recital

(Aufn. Salzburger Festspiele 1956)– C 271 921 B [1992]: Beethoven, 1. Klavierkonzert;

Brahms, 2. Klavierkonzert (Aufn. 1962–1969) – C 330 931 B [1993]: Mozart, Klavierkonzert KV 451 und

Konzertrondo KV 505 (mit C. Ludwig; Aufn. Salzburger Festspiele 1963)

– C 572 011 B [2001]: Mozart, Konzert für zwei Klaviere KV 365 (mit C. Haskil; Aufn. Salzburger Festspiele 1957)

– C 773 084 L [2008]: Mozart, Klavierkonzert KV 467 (Aufn. Salzburger Festspiele 1957)

– C 742 071 B [2008]: Solo-Recital (Werke von Bach, Schumann, Chopin, Ravel; Aufn. Salz-burger Festspiele 1972)

– C 824 102 B [2010]: Chopin-Recital (Aufn. Salzburger Festspiele 1965)

– C 821 102 B [2011]: Beethoven, Klavierkonzert Nr. 1 (Aufn. Salzburger Festspiele 1963)

phiLips– Philips 456 772-2 [1999]: Edition «Great Pianists of the

Twentieth Century» Vol. 1 (Werke von Bartók, Chopin und Mozart; Aufn. 1959–1975)

tAhrA– TAH 536 [2004]: Brahms, 1. Klavierkonzert; Mozart,

Klavierkonzert KV 467 (Aufn. 1967–1970)– TAH 611-613 [2006]: Bartók, 3. Klavierkonzert; Brahms,

2. Klavierkonzert (Aufn. 1954)

testAment– SBT 1064-1070 [1995 ⁄ 96]: Columbia-Aufnahmen

1953–1959 (Werke von Bartók, Beethoven, Brahms, Chopin, Delibes, Liszt, Rachmaninow, Saint-Saëns, Schumann und Tschaikowsky; 7 Einzel-CDs)

– SBT 1178 [2000]: Mozart, Konzertrondo KV 505 (mit E. Schwarzkopf, Aufn. 1955)

Géza Anda: Die wichtigsten Veröffentlichungen auf CD

Anmerkung: Der Mitschnitt von Meisterkursen Géza Andas 1972–1974 im Zürcher Muraltengut (vgl. dritte Cover-Abb. auf S. 30) ist 1977 als LP Artemis 30-540 veröffentlicht worden und liegt bislang nicht auf CD vor.

Die Gesamtdiskografie der Aufnahmen Géza Andas ist abrufbar auf der Seite der Géza Anda-Stiftung www.gezaanda.ch.

Der Verfasser dankt Herrn Dr. med. Reinhard Sudholz (Westerstede ⁄ Niedersachsen) und Herrn Michael Waiblinger (Eriskirch ⁄Baden-Württemberg) sehr herzlich für ihre wertvolle Unterstützung durch diskografische Informationen und den Zugang zu bislang unveröffentlichten Rundfunkmitschnitten von Konzertauftritten Géza Andas.

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Du-SondereditionAndrás Schiff – im Gespräch mit Christian Berzins

«Mozart erträgt keine Geschmacklosigkeiten» Die Verantwortliche der Ittinger Pfingstkonzerte bittet um Geduld. Dass András Schiff noch am Üben ist, hört jeder, der im idyllischen Gelände der Kartause steht. Auch eine halbe Stunde nach offiziellem Probenende ist das noch so. Doch dann, rund 45 Minuten «zu spät», tritt der Meister seelenruhig aus dem Probesaal, geniesst den Blick ins Weite, streicht über eine Rose und schreitet dann langsam den Kiesweg hoch. Schiff spricht in einem perfekten Deutsch, gesüsst mit weichem ungarischen Akzent – und scharfen Gedanken zu seiner Heimat Ungarn, zu seinem Landsmann Géza Anda und zu Klavierwettbewerben im Allgemeinen.

András Schiff im Gespräch mit Christian Berzins Porträt Birgitta Kowsky

András Schiff, beeinflusste Ihr Heimatland Ungarn Ihre musikali-sche Entwicklung?Sehr stark sogar. Hätte ich in Frankreich oder Italien studiert, wäre ich vielleicht gar kein Musiker oder sicher ein ganz anderer gewor-den. Ungarn ist aufgrund seiner Sprache ein isoliertes Land, die Musik ist ein Ausweg aus dieser Isolation. Mit Musik versuchen wir uns zu behaupten: Folklore, Volkslieder und Volkstanz spielen eine grosse Rolle im ungarischen Alltag. Und wir haben eine wunder-bare Tradition der musikalischen Ausbildung. Ich schätze mich sehr glücklich, dass ich in Ungarn geboren wurde und dort studiert habe.

Wie war dort die Ausbildung in der Nachkriegszeit?Wir hatten wegen des Kommunismus sehr viele Nachteile zu ertra-gen, aber für die Musikausbildung war dieses Systems von Vorteil – und zwar nicht erst, als ich die berühmte Franz-Liszt-Musikaka-demie besuchte, sondern vor allem in der Grundschule. Schon mit vier oder fünf Jahren erhielt ich viel Musikunterricht. Ich hatte sehr gute Lehrer, die mich prägten. Hinzu kam noch: Das Nachkriegs-Ungarn war eine Wüstenlandschaft. Die älteren Pädagogen wur-den nicht pensioniert, da sonst niemand da gewesen wäre. Mein ers-ter Klavierlehrer war über 70 Jahre alt.

Ihnen wurde demnach trotz des vermeintlich modernen kommunistischen Systems viel von der alten ungarischen Tradition vermittelt?Nicht nur das, sondern auch viel von der k.u.k-Tradition. Die Kom-munisten wollten zwar, dass wir den Blick nach Moskau richteten, aber alle schauten nach Wien. Dort liegen die Wurzeln unserer Tradition.

Musste man heimlich nach Westen schauen?Ja, sehr heimlich. Aber die musikalische Tradition der ungarischen Musik war nun mal die Wiener Klassik, das ist sozusagen unsere

Muttersprache. Wir haben damals kaum russische Musik gespielt. Die ungarische Musik ist stark wienerisch-österreichisch geprägt. Alle älteren Menschen sprachen Deutsch.

Das zeigt, dass es offenbar ungarische Verbindungen zu Géza Anda gab – obwohl er Ungarn noch während des 2. Weltkriegs verliess und Sie einer anderen Generation angehörten. Durchaus! Ein Bindeglied war auch einer der bedeutendsten Päd-agogen Ungarns, Leó Weiner. Ich kenne kaum einen Musiker aus Ungarn, der nicht bei ihm Unterricht genossen hätte. Weiner hat in Budapest jahrzehntelang Kammermusik unterrichtet. Ob ich mit Antal Dorati, George Solti oder Sándor Végh spielte, sofort kam man auf Leó Weiner und seine Art des Musizierens zu sprechen.

Was für ein Musizieren war das genau?Ein sehr analytisches. Weiner arbeitete oft stundenlang an drei Tak-ten. Man meinte überhaupt nicht weiterzukommen. Ich habe ihn als Kind noch erlebt, war sogar bei seiner Beerdigung, konnte al-lerdings nicht mehr bei ihm studieren. Aber ich war zehn Jahre bei György Kurtág und Ferenc Rados, beide Weiner-Schüler. Es würde mich sehr wundern, wenn Géza Anda nicht auch bei ihm gelernt hätte. Anda muss auch viel von Ernst von Dohnányi mitbekommen haben. Er war damals neben Bartók die grösste ungarische musi-kalische Persönlichkeit.

Anda kehrte erst 1973 nach Ungarn zurück. Nahmen Sie seinen Namen dennoch wahr, als Sie dort aufwuchsen?Ich besuchte alle seine Konzerte, als er zurückkam. Und davor wa-ren mir seine Aufnahmen wohlbekannt. Aber das war gar nicht so einfach. Seine Schallplatten konnte man in Ungarn nicht kaufen, aber sie wurden manchmal im Radio gespielt. Man konnte sie le-diglich von jemandem bekommen, der in den Westen gefahren war. Die schlimmsten stalinistischen Jahre habe ich nicht miterlebt,

Rechts: Pianist András Schiff auf Schloss Reinhardsgrimma im Juli 2007.

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Du-Sonderedition

aber wir waren dennoch isoliert. Alle Ungaren, die das Land ver-lassen hatten, waren quasi tabu. Die kommunistische Propaganda vermied es, über diese Personen zu reden. Man wollte viel lieber zeigen, wie grossartig die Dagebliebenen waren.

Sie verübelten es Anda nicht, dass er weggegangen war?Überhaupt nicht! Anda ist geradezu der Beweis dafür, dass man aus Ungarn weggehen musste, um etwas zu erreichen. Ich habe Ungarn 1979 verlassen, war 25 Jahre alt, und es war das Beste, was ich in meinem Leben getan habe. Selbst heute, wo es keinen Eisernen Vor-hang mehr gibt, empfinde ich Ungarn als ein isoliertes Land. Es ist sehr schwer, sich dort zu entwickeln.

1973 erlebten Sie Anda endlich im Konzertsaal. Ein Erlebnis für Sie, den jungen Pianisten?Es war tatsächlich ein bleibendes Erlebnis! Wir hatten in unserer wunderschönen Musikakademie einen tollen Konzertsaal, Anda aber musste damals ins akustisch weniger gute Erker Theater aus-weichen, weil da doppelt so viele Menschen reinpassten. Der Saal war dennoch überfüllt.

Das war vor 38 Jahren!Ja, aber ich kann mich sogar noch an das Programm erinnern. Er spielte die frühe A-Dur-Sonate von Franz Schubert, die Davids-bündler-Tänze von Robert Schumann und schliesslich 12 Etüden von Fréderic Chopin. Er war fantastisch und beeindruckte mich sehr. Später gab er auch ein Orchesterkonzert, dirigierte die kleine g-Moll-Sinfonie von Mozart und spielte das D-Dur-Klavierkonzert KV 451. Und er führte das 2. Klavierkonzert von Bartók auf. Man könnte meinen, dass damals jeder in Ungarn diese Werke liebte, aber das war in den 60er- und 70er-Jahren überhaupt nicht der Fall. Bartók wurde in Ungarn sehr selten aufgeführt, viele Menschen lehnten seine Musik gar ab. Ich erinnere mich, wie die Leute bei ge-wissen Konzerten den Saal verliessen. Es war mutig von Anda, die Bartók-Konzerte aufs Programm zu setzen. Hinzu kam, dass un-sere Orchester damals schwach waren. Ich weiss, dass Anda mit dem Orchester sehr gelitten hat.

Schubert, Schuman, Bartók, Brahms, Beethoven, Chopin. Offen-bar hatte er damals eine breite Palette seiner Kunst gezeigt. Wer die LPs betrachtet, erkennt, dass Anda einen erstaunlichen Wandel durchgemacht hat: vom grossen dionysischen Virtuosen zum apollinischen Mozart-Interpreten. Die Begegnung mit Clara Haskil hat ihm bestimmt viel bedeutet. Die beiden haben oft zu-sammen gespielt, immer wieder das Doppelkonzert von Mozart. Und danach machte er sich an die erste Einspielung aller Mozart-Klavierkonzerte – eine Pionierarbeit.

Hat Sie Andas Mozart-Spiel beeinflusst?Beeinflussen würde ich nicht sagen, aber ich habe es gut gekannt und bewundere es noch heute.

Sie haben als junger Pianist an einigen bedeutenden Wettbewer-ben mit Erfolg teilgenommen …… aber ich habe nie einen ersten Preis gewonnen. Ich wurde beim Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb Vierter und in Leeds Dritter.

Sie tönen nicht begeistert.Es gab damals kaum andere Möglichkeiten vorwärts zu kommen. Zur Teilnahme beim Tschaikowsky-Wettbewerb wurde ich gera-dezu gedrängt. Von der Regierung hiess es: «Du gehst nach Mos-kau!» Als ich antwortete, dass mir das nicht liege, wiederholte man noch deutlicher: «Du fährst nach Moskau!».

Waren die zwei Wettbewerbe für Ihren Werdegang wichtig?Der Tschaikowsky-Wettbewerb überhaupt nicht. Da zählte nur der erste Preis: Andrej Gavrilow gewann und erhielt danach alles. Aber in Leeds war mein Auftritt insofern wichtig, da er von der BBC übertragen wurde und viele Menschen sehen konnten, wie wir spielten. Ich habe dort das d-Moll-Konzert von Bach gespielt, das auf Anklang stiess und mir viele Einladungen einbrachte.

Schicken Sie Ihre Schüler zu Wettbewerben?Einen besonders guten Wettbewerb, dessen Gewinn auch Konzerte nach sich zieht, kann ich natürlich empfehlen. Aber meinen guten Schülern rate ich im Allgemeinen davon ab, weil es heute andere Möglichkeiten gibt. Ich glaube, dass ganz oben immer Platz für gute Musiker ist. Aber ein junger Mensch muss etwas mitzuteilen haben. Sonst fällt er ins Mittelmass ab, und dort ist alles bereits voll besetzt. Viele Wettbewerbssieger gehören diesem Mittelmass an.

Gibt es denn typische Wettbewerbsspieler?Ja, sie spielen so, dass es keines der Jurymitglieder irritiert. Ich war ein Gegenbeispiel. Ich habe immer irritiert, bis heute. Es gibt Leute, die mich heiss und innig lieben, andere können mich nicht ausste-hen. Das ist gut so. Man kann nicht nur in der Mitte gehen. Zur In-terpretation gehören Werktreue und Respekt vor der Komposition, aber auch die Zivilcourage zu sagen, dass das Stück auf eine be-stimmte Art gespielt werden muss. Ich kann es nicht so spielen, dass es allen gefällt. Ich muss aufrichtig sein.

Fühlten Sie sich in jungen Jahren einem Pianisten persönlich verbunden?Die Ungarin Annie Fischer war eine solche Figur. Ihre natürliche Art zu musizieren, hat mich immer sehr berührt. Auf eine ganz andere Art hat mich Rudolf Serkin beeindruckt. Von ihm habe ich den fast religiösen Respekt für den Komponisten: Bevor ich ihn kennenlernte, dachte ich, ich würde ziemlich genau das spielen, was in den Noten steht. Das war aber nichts gegen Serkins Genauigkeit. Wenn in den Noten ein subito piano oder ein sforzando stand, wäre er lieber gestorben, als nicht so zu spielen. Er tat es aber nicht wie ein Sklave, sondern er ging hinter die Noten, um zu entdecken, was es bedeutet.

Sein Name lebt unter anderem im Concours Géza Anda weiter. Gibt es eine bestimmte Art, wie junge Pianisten heute Mozart spielen?Schwer zu sagen: Sicher ist – das sagte auch Anda selbst –, dass Mozart am schwersten zu spielen ist. Nicht im physischen Sinn, sondern im interpretatorischen. Mozart ist ein gnadenloser Kom-ponist. Er erträgt keine Übertreibungen oder keine Geschmack- losigkeiten. Alle anderen grossen Komponisten sind in diesen Punkten grosszügiger. Eine Bach-Fuge kann man in zehn verschie-denen Tempi spielen und ihr zehn verschiedene Charakteren geben. Das funktioniert bei Mozart nicht.

Was zeichnet einen grossen Mozart-Spieler aus?Das ist kaum zu definieren. Sie hören, dass der Pianist ein falsches Tempo oder einen falschen Tonfall wählt. Macht er ein zu starkes Rubato, revoltiert die Musik sofort. Ein musikalischer Zuhörer merkt, dass da etwas nicht stimmt. Und es ist nicht richtig, dass Mo-zarts Musik immer «wunderschön» sein muss: Mozart muss auch dramatisch klingen.

Wie kann ein junger Musiker, der am Concours Géza Anda antritt, das erreichen?Er soll nicht zu viel, sondern ökonomisch üben. Und in der Zeit, die er so gewinnt, sollte er Mozart-Opern studieren, so viele wie mög-lich! Die Klavierkonzerte sind kleine Opern – oder grosse Opern ohne Sänger. Wenn jemand die Zauberflöte, Don Giovanni oder Figaro nicht kennt, wird es schwer. Das d-Moll-Konzert ist ein Mini-Don-Giovanni. In den Klavierkonzerten spürt man den Drang nach der Bühne permanent: Jetzt kommt Donna Anna! Jetzt ein Liebesduett! Jetzt etwas Intrigantes! Das ist eine Bühne, die vor Leben sprudelt. Die heutigen Pianisten sind zu spezialisiert. Sie spielen ein bestimmtes Konzert und das nächste wollen sie gar nicht kennenlernen. Aber Mozarts 27 Klavierkonzerte bilden kon-zentrische Kreise: Eines führt ins andere. Dann kommen die Opern, die Sinfonien, dann noch die ganze Literatur und die bil-dende Kunst, schliesslich die Geschichte: Le nozze di Figaro ist ohne die Französische Revolution unvorstellbar. Ein junger Pianist, der umfassend denkt, hat mehr zu erzählen als einer, der zwölf Stun-den am Tag übt und nichts anderes tut, als sich zu spezialisieren.

Wie wichtig ist es, die pianistische Tradition zu kennen, die älteren Kollegen, gar die längst verstorbenen?Für mich ist das lebenswichtig. Was würde ich darum geben, wenn ich Mozart spielen hören könnte! Aber auch viel später gibt es Pia-nisten, die man einfach kennen muss: Edwin Fischer, Clara Haskil oder Alfred Cortot. Ich habe viel von ihnen gelernt. Doch spreche ich mit jungen Musikern, höre ich immer wieder, dass sie sich nicht mehr für diese grossen Pianisten interessieren. Es ist schrecklich, sie sind überhaupt nicht neugierig! Ich mag gar nicht Dinge sagen wie «zu meiner Zeit» und so weiter, aber Sie fragten, ob ich Geza Anda damals gehört habe. «Selbstverständlich!», war meine Antwort.

Wer Ihnen im Konzertsaal zuhört, erkennt Verbindungen zu ande-ren Grössen und merkt: Da sog einer viel auf, lässt aber völlig Neues entstehen. Suchen Sie sich in der grossen Musikwelt solche Charakterköpfe, um zusammen zu musizieren?Vielleicht. Heinz Holliger ist ein fantastisches Beispiel dafür, ein Jahrhundertgenie. Ein Musiker, der völlig offen ist und zu den we-nigen gehört, die in jedem Stil zuhause sind. Er kann Bach genauso gut spielen wie Neue Musik. Er ist auch ein bedeutender Kompo-nist mit einer brennenden Intensität. Musik ist für ihn nicht nur lebenswichtig, sie ist für ihn gar wichtiger als das Leben. Solche musikalischen Partner suche ich.

Sie haben vor 12 Jahren das Orchester Cappella Andrea Barca gegründet. Misstrauen Sie mit zunehmendem Alter den dirigieren- den Kollegen, fehlt Ihnen dort diese brennende Intensität?Ich misstraue niemandem, und es gibt hervorragende Dirigenten, auch wenn sie etwas dünner gesät sind als früher. Aber ein Géza Anda dirigierte seine Mozartkonzerte auch selbst, und hätte er län-ger gelebt, wäre er wohl noch viel öfter am Pult gestanden. Zurück zu meiner Cappella: Ich hatte das grosse Glück, Mozarts Klavier-konzerte mit dem Dirigenten Sándor Végh zu erarbeiten. Als er starb, rührte ich die Stücke jahrelang nicht an. Es hat mir zu sehr wehgetan. Aber dann fehlten sie mir, und ich gründete ein Orches-ter nach dem Vorbild Sándor Véghs. Im Orchester sitzen Musiker aus seinem Ensemble – oder deren Schüler.

Was dürfen wir von Ihnen und der Cappella in Zukunft erwarten?Ich bleibe in einem Repertoire, in dem ich mich sicherfühle – es soll von Bach über Haydn bis Brahms reichen. Wenn man Werke wie Die Schöpfung von Haydn oder Bachs h-Moll-Messe dirigiert, erweitert sich der pianistische Horizont.

Zum Schluss nochmals zurück zu Ungarn. Sie haben das Land verlassen und kritisierten vor Kurzem dessen politische Führung. Aber Sie fühlen sich diesem Land sehr verbunden?Natürlich! Die Leute beschimpfen mich zwar als Landesverräter, da ich die Regierung beziehungsweise Regierungschef Viktor Or-bán kritisiert habe. Ich kann mich damit nun mal nicht identifizie-ren. Aber mit dem Land, seiner Sprache und seiner Kultur sehr wohl: Spiele ich die Musik Bartóks, bin ich ganz zuhause in der ungarischen Kultur. Das ist eine Mission. <

András Schiff wurde 1953 in Budapest geboren. Er studierte an der dortigen Franz-Liszt-Musikakademie, verliess Ungarn 1979 und machte Weltkarriere. Er spielte an allen wichtigen Orten und nahm zahlreiche LPs und CDs auf. 1999 gründete er das Kammerorchester Cappella Andrea Barca, das er selbst dirigiert. Gemeinsam mit Heinz Holliger gründete er 1995 die «Ittinger Pfingstkonzerte» in der Kartause Ittingen. Schiff ist mit der Violinistin Yuuko Shiokawa verheiratet und lebt in Florenz.

András Schiff – im Gespräch mit Christian Berzins

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Du-SondereditionJonathan Nott – im Gespräch mit Dr. Bruno Rauch

«Technik ist nur dazu da, um bessere Musik zu machen» Jonathan Nott gehört zu den spannendsten Dirigenten der mittleren Generation. Der Engländer dirigiert ein ausserordentlich breitgefächertes Repertoire und seine Erfahrung, Offenheit und breite Vernetzung sind ideale Voraussetzungen für die Position als Jury-Präsident des Géza Anda Concours, welche er seit 2009 inne hat. 2004 gründete Nott den Gustav-Mahler-Dirigenten-Wettbewerb der Bamberger Symphoniker. Im September 2011 leitete er in Zürich ein Konzert der Orpheum-Stiftung, die junge Solisten fördert.

Jonathan Nott im Gespräch mit Dr. Bruno Rauch Porträt Thomas Müller

Woher dieses starke Engagement für die jungen Musiker, Jonathan Nott?Dafür gibt es zwei Gründe. Meine Karriere verdanke ich nicht zu-letzt Leuten, die mir eine Chance gaben, die Vertrauen in mich und meine Fähigkeiten hatten. Dafür bin ich sehr dankbar. Und es weckt in mir das Bedürfnis, das Rad des Kommens und Gehens weiterhin in Schwung zu halten. Konkret heisst das, mich auch für die kommende Generation von Musikern einzusetzen. Der andere Aspekt, der mich antreibt, ist ein didaktischer. Dirigieren ist ein re-lativ einsamer Beruf. Man vertieft sich gründlich in eine Materie und sammelt so im Lauf der Jahre einiges an Wissen, aber auch an praktischer Erfahrung. Früher oder später kommt der Wunsch auf, dieses Wissen weiterzugeben. Dazu sind der Kontakt und die Aus-einandersetzung mit jungen Musikern ein ideales Feld. Ausserdem sind diese Begegnungen auch für mich immer wieder überraschend und inspirierend. Man schöpft neue Energie und muss im Gegen-zug seine bisherigen Ideen hinterfragen oder sogar verteidigen. Das hat durchaus etwas Symbiotisches.

Sind Wettbewerbe eigentlich unerlässlich für den Karrierestart?Ich vermute, es kommt auf das Instrument an. Ich bin mit der Wett-bewerbsszene nicht so vertraut. Der Géza Anda-Wettbewerb ist ab-gesehen von meinem eigenen Dirigentenwettbewerb in Bamberg mein erster Wettbewerb als Jurymitglied. Eine schöne, interessante Erfahrung, aber ich habe keinen Überblick über die Szene und weiss nicht, wie die anderen Wettbewerbe ablaufen. Ich stelle lediglich fest, dass es erste Preisträger gibt, die irgendwie sang- und klanglos wie-

der verschwinden. Und dass andere, die «nur» einen 3. Preis gewon-nen haben, Weltkarriere machen. Man darf jedoch davon ausgehen, dass eine Auszeichnung an einem renommierten Wettbewerb ein hilfreicher Schritt für eine erfolgreiche Laufbahn ist, eine Art Tram-polin. Vorausgesetzt, man weiss, wie man es benutzt.

Was bringen Wettbewerbe aus künstlerischer Sicht?Ich will den Event nicht überbewerten, aber ich bin überzeugt, dass ein Wettbewerb den jungen Menschen die Gelegenheit bietet, ihre Grenzen auszuloten – künstlerisch und mental. Von den Teilneh-mern wird eine breitgefächerte Kenntnis der Literatur erwartet. Sie sind gefordert, über mehrere Runden hinweg ein Spitzenniveau zu halten. Das wiederum erfordert Konzentrationsfähigkeit, Musikali-tät und eine souveräne Technik. Aber: Technik ist nur dazu da, bes-sere Musik zu machen. Erst die Kombination aller Elemente bietet Aussicht auf Erfolg – ich sage bewusst nicht: garantiert den Erfolg.

Ein Ziel des Géza Anda-Wettbewerbs ist es, «Gegensteuer zu hal-ten gegen die Auswüchse einer marktorientierten und schrillen Publicity und des kurzlebigen Rising-Starkults». So steht es in den Richtlinien der Stiftung. Wie kann man das erreichen?Man kann es nicht erreichen. Weil man, sobald man diese neuen Schiffe zu Wasser gelassen hat, keine Kontrolle mehr über sie hat. Was hier formuliert wird, ist jedoch eine dezidierte Absichtserklä-rung gegen die oft verbreitete Tendenz, Karrieren zu vermarkten, die nichts mit Musikalität zu tun haben. Wir versuchen in diesem Wettbewerb also, auf nachhaltige Qualität und künstlerische Reife

Rechts: Der britische Dirigent Jonathan Nott.

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zu setzen. Mit anderen Worten: Eine musikalische Persönlichkeit drückt sich nicht durch stupende Technik aus, sondern dadurch, dass sie etwas zu sagen hat. Nur von solchen Persönlichkeiten kön-nen wir uns schliesslich erhoffen, dass sie dem Druck der kommer-ziellen Erfolgsmaschinerie widerstehen können. Dass sie sich Zeit nehmen für eine kontinuierliche Entwicklung und sich nicht durch den raschen Erfolg blenden lassen. Die Geigerin Lisa Batiashvili oder der Pianist Jinsang Lee sind gute Beispiele dafür.

Ist es heutzutage schwierig für junge Musiker, bekannt zu werden?Es ist unglaublich schwierig, obwohl – oder vielleicht gerade weil das Niveau so hoch ist. Ich kann eigentlich nur von meinem Metier als Dirigent sprechen. Ich werde täglich überflutet von Demo-CDs, Biografien und Anfragen von Musikern oder Agenturen, die ihre Künstler anpreisen. Was dabei oft überschätzt wird, ist die Freiheit des Dirigenten, Stücke zu programmieren, ganz zu schweigen von der Wahl der Solisten. Der heutige Kulturbetrieb gehorcht strengen Gesetzen: Jedes Festival, jeder Konzertzyklus, jede Tournee, jeder Markt hat eigene Anforderungen. Die Möglichkeiten, unbekannte Musiker – junge Instrumentalisten und noch vielmehr junge Diri-genten – ins Programm einzuschleusen, sind begrenzt, so sehr ich das bedauere. Wohl kann ich da und dort eine Empfehlung abge-ben oder die Funktion eines Promoters übernehmen. Beispielsweise pflegen die Bamberger Symphoniker eine erfreuliche Kooperation mit dem Bayerischen Rundfunk, mit dem wir mehrere Aufnahmen machen und dazu immer wieder junge Solisten einladen. Das bringt diesen einiges an Bekanntheit und ist ihrer Karriere zweifel-los förderlich.

Spielt die Zahl der jungen, guten Musiker – sie sind ja Legion – ebenfalls eine Rolle?Davon bin ich überzeugt. Über die Ausbildung selbst habe ich kei-nen Überblick, aber aufgrund dessen, was ich an den Wettbewer-ben höre, muss sie exzellent sein. Auch sind die Möglichkeiten, sich an verschiedenen Hochschulen auszubilden und zu reisen, zahlrei-cher und vielfältiger geworden: Die Welt ist in diesem Belang klei-ner geworden – die Konkurrenz dadurch allerdings umso grösser. Das sehe ich allein schon in meiner Branche: Da melden sich junge Dirigenten aus China, Russland und Osteuropa; Leute, an die man früher kaum herankam. Es ist jedoch eine Tatsache, dass ein abge-schlossenes Musikstudium noch lange keine Garantie ist, später von diesem Beruf leben zu können.

ten und schliesslich doch zu einem Entscheid zu kommen, hinter dem alle stehen können. Das ist nicht immer leicht, aber jemand muss es machen, und ich bin gern dazu bereit, wenn ich dadurch jungen Menschen ein paar Steine aus dem Weg räumen kann. Im übrigen bin ich der Meinung, dass sich eine Jury von Zeit zu Zeit erneuern sollte, damit sie frisch und unvoreingenommen bleibt.

Sie setzen sich vehement für zeitgenössische Musik ein. Der Concours Géza Anda blendet just diesen Bereich aus. Streben Sie eine Veränderung in dieser Richtung an? Grundsätzlich denke ich, für eine interessante Interpretation – egal ob eines Stücks von Bach, Mozart, Brahms, Ravel oder Stockhau-sen – braucht es Fantasie, Klangsinn, musikalische Intelligenz, Aus-sagekraft. Bei einem jungen Musiker, der am Anfang seiner Karri-ere steht, ist es sicher nicht falsch, sein Spiel aufgrund des etablierten Repertoires zu beurteilen. Um einzuschätzen, ob jemand ein Stück von Birtwistle gut spielt, muss man dessen Stücke sehr gut kennen und wissen, wie sie gespielt werden können. Wenn man sich nicht gezielt und intensiv mit moderner Musik auseinandersetzt, verfügt man mit dem klassisch-romantischen Repertoire über einen eindeu-tigeren, klaren Parameter bezüglich Klang und Technik. Das trifft natürlich auch auf die jungen Musiker selbst zu. Ich bin jedoch si-cher, in einem halben Jahrhundert wird man auch im Concours Géza Anda die Musik des späten 20. Jahrhunderts spielen; schliess-lich war ja auch Bartók zur Zeit Andas ein Moderner.

Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass – wie im Sport – die Stars immer jünger werden?Das ist in meinen Augen keine gute Entwicklung – aber bedenken Sie, auch Mozart war noch ein Kind, als ihm ganz Europa zuju-belte. Ich konstatiere an meinen eignen Söhnen – sie sind 15 und 11 –, dass sie früher erwachsen sind, als wir es waren. Aber sind sie auch reifer? Die Gefahr besteht sehr wohl, dass man mit 12 be-rühmt wird, mit 18 gerade noch dabei ist und mit 26 bereits dem nächsten 8-Jährigen Platz machen muss. Zweifellos ist eine genuine Musikalität schon im frühen Kindesalter bemerkbar, aber Musik interpretieren heisst auch, Lebenserfahrung und Gedanken in Tö-nen mitzuteilen. Und natürlich sagen wir bei Martha Argerich, wie fantastisch und wie genial die junge Martha gespielt hat. Aber es wäre doch schade, kennte man nicht auch die ältere Argerich! Was Musik über gelebtes Leben ausdrücken kann, was an Lebenserfah-rung in eine Interpretation einfliessen kann und soll, darüber kann

Wie sehr spielen das Internet und die CD eine Rolle, um bekannt zu werden?Beides hat enorm an Bedeutung gewonnen. Kaum ein junger Mu-siker, der nicht über eine eigene Website verfügt. Wichtig ist aber nach wie vor die CD …

… trotz des immer wieder zitierten Kollapses der CD-Branche?Ich habe da ein etwas anderes Bild. Es ist heute viel einfacher und kostengünstiger, eine CD in guter Qualität zu produzieren. Vom Zusammenbruch sind vor allem die grossen Labels betroffen. Da-gegen sind kleine Nischenlabels entstanden, die sehr sorgfältig und hochprofessionell produzieren – sowohl was die künstlerische Qua-lität als auch das Repertoire – oftmals echte Raritäten! – betrifft. Hier sehe ich auch eine Chance für die Jungen: Mit diesen handli-chen Tonträgern können sie sich bei Agenturen und Konzertveran-staltern bestens präsentieren.

Sie haben neben Musikwissenschaft und Dirigat auch Flöte und Gesang studiert. Sie präsidieren hier jedoch die Jury eines Klavierwettbewerbs. Klavier war mein erstes Instrument. Ich begann damit, als ich Vier war, und habe es immer gespielt. Als ich später Gesang in Cam-bridge studierte, spielte ich sogar häufiger als zuvor, weil ich alle meine Sängerkollegen begleitete und mir auf diese Weise sehr viel Repertoire aneignete. Zudem war ich ein Jahr im Opernstudio London Korrepetitor und nachher in Covent Garden und an der English National Opera. Auch wenn ich nie solistisch auftrat, kann ich doch sagen, dass ich mit dem Instrument vertraut bin. Als nicht professioneller Pianist habe ich dagegen den Vorteil, dass ich zu kei-ner pianistischen Schule gehöre. Ich habe also keine fixe Vorstellung davon, wie dieser oder jener Komponist zu klingen hat. Zwar habe ich wohl die meisten Klavierkonzerte dirigiert, aber als Dirigent ist man da ja eher eine Begleitfigur.

Man hört hin und wieder, dass in Wettbewerben der gleiche Filz herrsche wie im übrigen Kulturbetrieb. Besteht diese Gefahr?Ich habe, wie gesagt, nicht allzu viel Erfahrung in der Wettbe-werbsszene und kann nur für mich sprechen. Ich jedenfalls erlebte in der Jury heftige Diskussionen. Das finde ich ausgezeichnet. Eine Jury aus lauter Kopfnickern ist für mich fragwürdig. Zu viel Neu-tralität führt zwangsläufig zu Mainstream. Es gehört zur Aufgabe des Jurypräsidenten, schwierige und lange Diskussionen auszuhal-

ein junger Mensch beim besten Willen noch nicht verfügen – mag er noch so gut sein. Grosse Werke haben eine Tiefe, die nie ausge-schöpft werden kann, da wäre es doch schade, wenn sie nur von 10-Jährigen gespielt würden.

Haben Sie denn selbst als junger Musiker auch an Wettbewerben teilgenommen?Nein, nie. Gerade deswegen beobachte ich dieses Phänomen mit grossem Interesse. Und durchaus auch mit ein bisschen Skepsis. Ei-nerseits eröffnet ein Wettbewerb aufstrebenden Musikern die Chance zu zeigen, was sie können. Je angesehener und internatio-naler der Wettbewerb ist, desto grösser das Renommee der erfolg-reichen Teilnehmer. Andererseits birgt ein Wettbewerb auch die Gefahr, dass die weltweit beachteten Preisträger dann vor die durch-aus schwierige Aufgabe gestellt werden, den plötzlichen Ruhm und die Auszeichnung zu verdauen und sogar sinnvoll einzusetzen. Zum richtigen Zeitpunkt ja oder nein zu sagen ist für junge Men-schen nicht einfach. Unter dem Druck von Medien und Agenturen sind sie gefordert, den heiklen Spagat zwischen schnellem Erfolg und künstlerischem Gewissen zu bewältigen. Ich denke, es ge- hört zur Aufgabe der Jury, die Jungen bei diesem Schritt ins Ram-penlicht zu unterstützen. Der Géza Anda-Wettbewerb, der die Preisträger nach dem grossen Triumph auch im Berufsalltag über 3 Jahre lang betreut und sich um eine Kontinuität ihrer Laufbahn bemüht, macht das mit vorbildlicher Sorgfalt. Das ist vielleicht so-gar noch wichtiger als das Preisgeld! <

Jonathan Nott wurde 1962 im englischen Solihull geboren. Er studierte Musik-wissenschaft in Cambridge sowie Gesang und Flöte in Manchester, entschied sich aber schliesslich fürs Dirigieren. 1988 debütierte er am Pult des Opernfestivals von Batignano. Ein Jahr später wurde er Kapellmeister an der Frankfurter Oper, wechselte dann nach Wiesbaden, wo er ab 1995⁄96 interimistisch als GMD tätig war. Zwischen 1997 und 2002 war er in Luzern, einerseits am dortigen Theater, andererseits als Chefdirigent des Sinfonieorchesters. Gleichzeitig leitete er das von Pierre Boulez gegründete Ensemble intercontemporain in Paris. Im Januar 2000 wurde er Chef der Bamberger Symphoniker, mit denen er an den Festivals von Edinburgh, Salzburg, St. Petersburg und Luzern auftrat, im letztgenannten sogar als Orchestra in Residence. Aus dieser künstlerischen Partnerschaft resul-tiert eine Vielzahl vielbeachteter Einspielungen sowohl der grossen Sinfonik als auch zeitgenössischer Werke von Ligeti, Henze, Rihm, Reimann oder Lachenmann, darunter auch etliche Uraufführungen, beispielsweise von Bruno Mantovani und Mark-Anthony Turnage.

Jonathan Nott – im Gespräch mit Dr. Bruno Rauch

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«Junge Pianisten, auf die Bühne!»Hortense Anda-Bührle, die Witwe des Pianisten, rief 1979 den Concours Géza Anda ins Leben, der seither alle drei Jahre stattfindet. Die Stifterin spricht über Entstehung und Entwicklung des Klavierwettbewerbs und natürlich auch über ihren Gatten, der bei ihrer Heirat im Jahr 1964 bereits ein hochgeschätzter Pianist und Vorbild für eine Generation junger Pianisten war. Géza Anda gab Meisterkurse, zuerst in Luzern, dann im Zürcher Muraltengut; zudem war er Jurymitglied des Concours Clara Haskil.

Hortense Anda-Bührle im Gespräch mit Dr. Bruno Rauch Porträt Ursula Markus

Waren die beiden Pianisten Clara Haskil und Géza Anda Seelen-verwandte in der Kunst?Géza Anda gehörte von der Gründung 1963 bis 1969 zur Jury des alle zwei Jahre stattfindenden Concours Clara Haskil. Später war dafür die Zeit zu knapp. Ich habe Clara Haskil oft gehört, schon bevor ich meinen Mann kennenlernte, später dann seltener und weiss, dass zwischen ihnen eine intensive musikalische Freund-schaft bestand. Zweifellos hat er von Clara Haskil wichtige Impulse bekommen, vor allem bezüglich der Mozart-Interpretation, selbst wenn die beiden im Charakter völlig verschieden waren. Sie war damals schon eine betagte Dame, und durch ihre Behinderung hatte sie nicht diese Vitalität und Überschwänglichkeit, die Géza auszeichnete. Sie war kein Vulkan wie er.

Die Förderung junger Künstler lag Géza Anda offenbar schon immer am Herzen?Sicher! Zum einen, weil auch er es als junger Musiker selbst nicht leicht gehabt hatte. Der drohenden Einberufung als Soldat nach der Mobilmachung Ungarns konnte er sich entziehen, indem er als 19-Jähriger erst nach Deutschland und von dort in die Schweiz emi-grierte. Die Anfangszeit in Genf war schwer, er kannte niemanden, hatte keine Unterstützung. Und später wurde er nach den Konzer-ten immer von jungen Leuten belagert, die ihn baten, seine Kon-takte und Beziehungen zu Dirigenten und Konzertveranstaltern einzusetzen, um ihnen zu einem Auftritt zu verhelfen. Dadurch hat er realisiert, wie wichtig es ist, eine Plattform zu bekommen, und half, wo er konnte, wenn er vom Talent überzeugt war.

Er übernahm also eine gewisse Mentorenfunktion für die Jungen?Er wollte immer wissen, was sie können. Und er war sehr offen und direkt in seinem Urteil, nicht um sie zu entmutigen, sondern damit sie sich realistisch einzuschätzen lernten.

Hat er als sensibler Künstler unter dem Druck gelitten, beurteilen zu müssen? Kann man Musik überhaupt benoten?Tatsächlich keine leichte Aufgabe! Es gibt da jedoch glücklicher-weise viele Ohren in der Jury, die mithören, und letztlich entschei-

det die Mehrheit. Man hat seine eigene professionelle Meinung und unterliegt dann doch, weil andere anders urteilen oder einen ande-ren Geschmack haben. Das spielt immer mit. Jedenfalls waren diese Dinge nicht immer einfach für ihn. Ich kann deshalb auch nach-vollziehen, dass es mitunter schwer ist, fähige Leute als Juroren zu gewinnen; wir erleben das manchmal selbst mit unserer Jury. So hätte ich beispielsweise Bernard Haitink gerne dabei gehabt, aber er winkte ab, was ich zwar bedauere, aber, wie gesagt, verstehe.

Die Besetzung einer Jury ist also mühsam?Es gehört mit zum Schwierigsten. In einer Jury muss eine gewisse Homogenität bestehen. Man kann nicht grundsätzlich verschiedene Mentalitäten zusammenbringen. Interessiert sich jemand aus-schliesslich für zeitgenössische Musik, hat es wenig Sinn, ihn ins Gremium eines klassisch-romantischen Wettbewerbs zu holen. An-liegen meines Mannes war es immer, durch emotionale Wärme und geistige Durchdringung den Zuhörer unmittelbar anzusprechen. Das Technische und die Virtuosität waren nur die Mittel dazu, nicht das Ziel. Diesem Ideal müssen auch unsere Juroren verpflich-tet sein. Ein solcher Künstler ist beispielsweise Oleg Maisenberg, der schon lange dabei ist – eine seltene, von mir hoch geschätzte Kons-tante in der Jury und auch menschlich sehr integer. Skandale oder Juroren, die sich zerfleischen, sind mir zuwider. Neben Pianisten versuche ich auch immer einen Dirigenten ins Gremium zu holen, da uns dieser mehr Möglichkeiten für Auftritte verschaffen kann. Ich persönlich würde es ausserdem begrüssen, Streicher dabei zu haben, die nach meiner Erfahrung der Musikalität, der Intensität, der Spannung besonderen Wert beimessen.

Wie ist die Idee zum Concours entstanden? Von Géza Anda selbst?Nein, wir haben nie darüber gesprochen. Nach seinem Tod habe ich mir überlegt, wie ich diesen jungen Pianisten helfen könnte, die nach den Konzerten immer auftauchten. Da ich nicht mehr in der Garderobe der Musiker war, kamen diese Anwärter auch nicht mehr zu mir. Wie also konnte ich sie erreichen? Ich suchte nach einem nachhaltigen Förderinstrument, obwohl es schon damals

Hortense Anda-Bührle – im Gespräch mit Dr. Bruno Rauch

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einige Klavierwettbewerbe gab. Wir hätten auch drei, vier Talent-sucher losschicken können. Das schien mir zu aufwändig und zu kostspielig. Zudem ist der Name Géza Anda ein Magnet, um Pia-nisten zu motivieren. Kurz: Ich entschloss mich für die Form des Wettbewerbs. Dabei sollte nicht nur die Preissumme zählen, son-dern auch die Vermittlung von Konzertauftritten, die wir den er-folgreichen Teilnehmern ermöglichen. Wir wollen sie bekannt ma-chen. Und das geht nur durch Auftritte. Das war immer auch die Überzeugung von Géza.

Offenbar pflegte er seine Kommentare in Meisterklassen auf Band aufzunehmen. Auch das Urteil der Jurymitglieder wird auf-gezeichnet und den Teilnehmern übergeben. Géza Anda hat gern unterrichtet, es war ihm ein Anliegen. Er be-mühte sich um nachhaltige Förderung und war der Ansicht, man müsse die Jungen auch weiterhin begleiten; die Aufzeichnung auf CD war ein Mittel dazu. Das hat ihn viel Zeit und Energie gekos-tet, und er geriet mitunter auch an seine Grenzen, aber die Passion war dann doch stärker. Auch heute wird der Vortrag beim Wettbe-werb aufgezeichnet. Danach haben die Teilnehmer die Möglichkeit, bei den Jurymitgliedern detailliertes Feedback zu bekommen. Es geht also weniger um Klassifizierung, weniger um Wettbewerb als um Förderung!

Wie nahmen Sie als seine Frau den Künstler und Pianisten wahr?Es war wunderbar, mit jemandem zusammenzuleben, der das Haus acht Stunden am Tag mit Musik erfüllte. Das Leben mit ihm war reich, bunt und spannend. Ein typisches Merkmal seiner Mu-sik war, dass das Klangvolumen – oder besser: die Klangintensität – aus dem ebenerdigen Musikzimmer bis zu mir ins Arbeitszimmer im ersten Stock drang. Die Wände waren wie von Musik erfüllt.

Aber er bat Sie nicht um eine Beurteilung oder eine Stellung-nahme?Nein, das haben wir ganz zu Beginn so festgelegt. Ich konnte ihn in vielen Dingen unterstützen. Aber, so habe ich gesagt, Klavier spielen musst du selber. Das war unsere Abmachung, und er schätzte es. Ich habe zwar als Kind auch Klavier gespielt, gab es aber mit fünfzehn auf, weil ich ein Bewegungsmensch und gern draussen in der Natur bin. Wir waren jedoch beide grosse Opernliebhaber. Abends sind wir oft ganze Opernklavierauszüge durchgegangen – er am Flügel, ich daneben – und sind so in die Komposition und ins Libretto eingetaucht.

Begleiteten Sie ihn auch auf Tournee?Bis zur Geburt unseres Sohnes Gratian war ich immer dabei und habe da, wie gesagt, auch die Bedürfnisse der jungen Pianisten mit-erlebt. Auf einer Tournee hat man allerdings nicht viel voneinan-der: Er war bei den Proben oder musste sich ausruhen, ich besuchte Museen und Ausstellungen. Selbstverständlich habe ich das Koffer-packen übernommen – und brachte es darin zu grosser Meister-

rigent und Pianist in einer Person zu wirken, ganz nach dem Vorbild seines Mentors Edwin Fischer – was ja bei den Mozart-Konzerten mit ihrer kleinen Besetzung ausgezeichnet funktioniert. In Mann-heim hat er sogar einmal mit grosser Begeisterung eine Brahms-Sym-phonie geleitet. Dirigieren empfand er auch als menschlich berei-chernd, sein Herzenswunsch war es, einmal die Tosca zu dirigieren.

Anda war zweifellos ein gefeierter, berühmter Musiker, aber allzu populär war er nicht. Ist er dem vielleicht bewusst ausgewichen?Im Gegenteil. Er hat mitunter sogar etwas irritiert festgestellt, dass die Leute in seinen Konzerten nicht ausser Rand und Band gerie-ten und auf die Stühle stiegen. Ich dagegen fand immer, genau das zeigte, dass er eben nicht zur Sorte der Tastenlöwen zählte, die laut-hals bejubelt werden.

Ich habe einmal das Schlösschen Raymontpierre im Jura be-sucht, das Sie Ihrem Mann als Rückzugsort zugedacht hatten. War er einer, der manchmal von der Welt genug hatte?Durchaus nicht. Aber er hatte, wie auch ich, eine sehr enge und ur-sprüngliche Beziehung zur Natur – ob Berge, Meer, Tiere, Pflan-zen. Wir beabsichtigten eher aus diesem Landgut unseren Alters-sitz zu machen. Er spielte sogar mit dem Gedanken, Schweine zu züchten …

… Borstenvieh und Schweinespeck wie der Zigeunerbaron?Genau. Diese Schweine der Sorte Mangalica haben eine dicke Speckschicht und ein dichtes wollenes Haarkleid. Man kann sie gut im Freien halten. Solche Schweine wollte er haben.

schaft! Er liebte den Beruf, aber er hasste die Reiserei. Er war im Grunde genommen ein häuslicher Mensch. Aber es war nicht etwa so, dass er mich zum Abschotten gebraucht hätte. Er konnte sich sehr gut abgrenzen. Gleichzeitig liebte er es nicht, wenn man viel Aufhebens um seine Person machte.

Gab es für ihn so etwas wie ein künstlerisches Credo?Oh ja. Der Salzburger Kulturjournalist Max Kaindl-Hönig hat das gut beschrieben. In einem Rezital konnte er ein ganzes Universum von Geschöpfen – Menschen, Fabelwesen, bildhaften Gestalten – vorüberziehen lassen. Er war ein ungeheuer imaginativer Musiker und liebte auch die Bildende Kunst, die Malerei sehr. Ein anderer wichtiger Aspekt war ihm der Atem als Ausdruck des Lebendigen. Er liess seine Studenten oft einzelne Phrasen singen, damit sie kör-perlich empfänden, wie der Atembogen verläuft …

Hat er eigentlich je Sänger begleitet?Er wäre wohl gerade auf dem Weg dazu gewesen. Er hat mit Gwy-neth Jones, die damals als Studentin bei uns wohnte, gearbeitet. Sie hatten sogar die Absicht, die «Vier letzten Lieder» aufzunehmen, aber es scheiterte an der unterschiedlichen Auffassung bezüglich der Diktion der englischsprachigen Sängerin. Zudem war mein Mann damals schon von der Krankheit gezeichnet. Ich denke auf jeden Fall, dass er sich zunehmend auf Kammermusik und Lied-begleitung konzentriert hätte.

Furtwängler hat Anda einmal als «Troubadour des Klaviers» be-zeichnet. Der Ausdruck «trobador» stammt aus dem Altprovenza-lischen und bezeichnet einen, der Verse erfindet und Musik dazu, und sie dann vorträgt. Inwiefern traf die Bezeichnung auf ihn zu?Der Kern von Furtwänglers Aussage bezieht sich meines Erachtens eindeutig auf sein Klangideal. Gézas Spiel kam direkt aus dem Ge-sang. Das ist etwas, das mir bei manchen virtuosen Pianisten – ich nenne jetzt keine Namen! – fehlt: das Aussingen, das Atmen, das Nachklingen, die poetische Ausdeutung. Erst dann kann mich die Musik wegtragen. Nicht gemeint ist der zweite Aspekt, den Sie an-sprechen: Géza ging mit dem Notentext nicht frei um. Auch wenn er nicht strikt einer historischen Aufführungspraxis folgte, versuchte er immer, der Aussage des Komponisten möglichst nahe zu kom-men. Letzte Instanz war für ihn immer der Notentext. Dennoch hat er – gerade bei Mozart – eine sehr persönliche Sicht eingebracht.

Er hat mit der Camerata Salzburg vom Flügel aus die Aufnah-men der mozartschen Klavierkonzerte selbst geleitet. Entsprach ihm diese doch eher extravertierte Facette des Dirigenten?Und wie! Er war ein ausgesprochen extravertierter Mensch, ein Vollblut-Ungar. Das Dirigieren hat ihn sehr fasziniert. Oft hat er auch unter Dirigenten spielen müssen, mit denen er nicht warm wurde. Selbst wenn man sich gut absprach und grundsätzlich glei-cher Meinung war, fand er, dass sich doch einer nach dem anderen richten müsse. Für ihn war es viel befriedigender, gleichzeitig als Di-

Wie präsent ist Géza Anda in Ihrem Alltag: Hören Sie regelmässig seine Aufnahmen, oder ist das eine zu schmerzliche Erinnerung? Ich tue es dennoch. Oft auch, wenn ich ein Klavier-Recital besuche. Doch meistens erst nachher, weil ich mich nicht beeinflussen lassen will – aber ganz kann ich es natürlich nicht ausschalten. Die Labels Hänssler und Audite bringen immer mal wieder fast verschollene Radiomitschnitte heraus, etwa mit Ernest Bour oder Hans Rosbaud – das sind schon ganz besonders starke Momente, emotional wie musikalisch.

Zurück zum Concours Géza Anda: Ist er überhaupt nötig? Werden junge Künstler nicht bereits anderweitig genügend gefördert?Entschieden nein! Und immer weniger! Zurzeit ist es schwierig, weil es weniger Geld gibt. Vor allem aber fehlt jungen Menschen das Netzwerk. Sie sind darauf angewiesen, dass man sie einlädt, da-mit sie gehört werden. Professionelle Sponsoren setzen in meinen Augen zu sehr auf berühmte Namen und renommierte Auftritts-orte. Uns geht es aber eben auch darum, Auftritte zu vermitteln, und darum laden wir pro Wettbewerb rund hundertfünfzig Konzertver-anstalter ein, und zwar auch kleinere, ausserhalb der grossen Zent-ren. Das gehört wesentlich mit zum Konzept. Die jungen Leute brauchen vorerst Auftrittsmöglichkeiten in der Provinz, um sich zu entwickeln; Orte, an denen sie sich erproben können, wo sie nicht der internationalen Kritik ausgesetzt sind. Dank langjähriger Kon-takte und sorgfältiger Aufbauarbeit sagt uns rund die Hälfte der Veranstalter bereits im Vorfeld ein Engagement zu und entscheidet sich aufgrund ihres Eindrucks am Schlusskonzert für einen Künst-ler – ob für Recital oder Solistenkonzert bleibt ihnen überlassen.

Hortense Anda-Bührle – im Gespräch mit Dr. Bruno Rauch

Oben links: Géza Anda (l.) mit Hortense Bührle in der Garderobe der Internationalen Musikfestwochen in Luzern im August 1964. Oben rechts: Hortense Anda-Bührle mit Sohn Gratian im Jahr 1975.

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Nicht alle Wettbewerbe haben einen guten Ruf. Einige dienen dazu, Stars zu produzieren, die hochgespült werden und bald wieder verschwinden. Wie will der Concours Géza Anda dem ent-gegenwirken?Wir machen keinen Riesenwirbel um den einen oder andern Teil-nehmer. Sie sind ja noch keine Stars. Wir versuchen lediglich, ihnen auf ihrem Karriereweg behilflich zu sein. Auch glauben wir, dass diese Aufbauarbeit ein langwieriger, behutsamer Prozess des Rei-fens ist. Wir unterstützen nur, bestätigen und bewähren müssen sich die Künstler selbst. Unser Ziel ist es nicht, die Leute sofort in die Wigmore Hall oder in die Salle Pleyel zu bringen.

Sie haben durch den Concours manche Generation von jungen Künstlern erlebt und gehört. Stellen Sie Veränderungen fest im Lauf dieser 30 Jahre – künstlerische, menschliche?Am Anfang hatte der Wettbewerb noch kein Renommee, dement-sprechend waren auch die Teilnehmer. Darunter gab es einige, die heute kaum eine Chance hätten, eingeladen zu werden. Später, als der Concours an Prestige gewonnen hatte, änderte sich das massiv. Ein wesentlicher Unterschied ist ausserdem die Herkunft der Be-werber. Sie stammen fast ausschliesslich aus dem Osten; Europa ist praktisch inexistent. An erster Stelle stehen die Russen, dann kom-men die Japaner, dann Musiker aus dem asiatischen Raum – es sind kaum Amerikaner dabei, die eher auf Virtuosität ansprechen.

Und das persönliche Auftreten der jungen Pianisten?Das ist nach wie vor sehr individuell, von bescheiden bis selbstbe-wusst. Was sich indessen verändert hat, ist das technische Niveau – ein bisschen wie beim Sport, höher, schneller, besser. Aber da hal-ten wir uns noch immer an Géza Andas Maxime: Die Technik muss so selbstverständlich, so ausgefeilt sein, dass man sie vergessen und sich nur noch auf den Ausdruck konzentrieren kann.

Der Concours verlangt von den Teilnehmern ein ganz bestimmtes, immer gleiches Repertoire: Mozart, Beethoven, Schubert, Schu-mann, Brahms, Chopin oder Liszt, Debussy und Ravel. Was ist die Idee dahinter?Wir wollen keinen musikalischen Supermarkt. Wir wollen Teilneh-mer, die das Repertoire spielen, an dem auch Géza Anda gearbeitet hat und das bis Bartók reicht. Bach entsprach ihm weniger, sein mu-sikalisches Zentrum war die Romantik, und da ist das Repertoire ja wahrlich gross genug.

Eine Besonderheit ist, dass die Künstler für die Zeit des Wettbe-werbs bei Familien wohnen und nicht im Hotel. Warum?Sie sollen sich nicht allein überlassen sein. Wir möchten, dass sie in einer Gastfamilie aufgehoben sind, dass sie ein – wenn auch befris-tetes – Zuhause haben. Ein schöner Nebeneffekt ist es, dass sie un-ser Land, unsere Kultur kennenlernen. Oft entstehen so lebenslange Freundschaften mit den Gastfamilien, bei denen sie mitunter sogar bei späteren Auftritten immer wieder wohnen.

Und warum nur alle drei Jahre? Ist der administrative Aufwand sonst zu gross?Pianisten, die diesen hohen Anforderungen genügen, lassen sich nicht jedes Jahr finden. Früher luden wir die Bewerber – rund vier-zig pro Wettbewerb – aufgrund ihres Lebenslaufs ein, für den nächsten Concours jedoch erstmals aufgrund eines Vorspiels. Die-ser Dreijahresrhythmus ist auch notwendig, um den Preisträgern entsprechende Auftritte zu ermöglichen. Wir funktionieren diesbe-züglich wie eine Künstleragentur, die ohne Provision arbeitet; die Gagen gehen vollumfänglich an die Musiker.

Hortense Anda, Sie sind die treibende Kraft des Concours. Was ist Ihre persönliche Motivation für diese Aufgabe?Es muss nicht jeder eine Weltkarriere machen, aber wenn er sich sein Leben mit Musik verdienen kann, ist das doch bereits eine tiefe Befriedigung. Da ich das Glück habe, von materiellen Sorgen be-freit zu sein, erachte ich es als meine Aufgabe, anderen Menschen einen Weg, zumindest eine Möglichkeit zu eröffnen, dies dank ihres Einsatzes und Talents ebenfalls zu tun. <

Hortense Anda-Bührle wurde 1926 als Tochter des deutschen Industriellen Emil Georg Bührle und seiner Frau Wilhelmine Charlotte in Zürich geboren. Sie wurde am Hochalpinen Töchterinstitut Ftan und anschliessend an der St. George’s School in Clarens ausgebildet. 1964 heiratete sie den Pianisten Géza Anda. Aus dieser Ehe ging der 1969 geborene Sohn Gratian Anda hervor. 1978 rief sie die Géza Anda-Stiftung ins Leben, der sie bis heute als Präsidentin vorsteht. Weiter ist sie Präsidentin der Stiftung Sammlung E.G. Bührle sowie des Verwaltungsrates des Hotels Storchen. Sie ist Mitglied von verschiedenen Gremien (Kunsthisto-risches Institut in Florenz – Max-Planck-Institut) und wirkte lange Jahre im Stif-tungsrat der Kartause Ittingen und in der Goethe-Stiftung für Kunst und Wissen-schaft Zürich mit.

Hortense Anda-Bührle – im Gespräch mit Dr. Bruno Rauch

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Das Erbe eines grossen Pianisten Hortense Anda-Bührle gründete 1979 den Concours Géza Anda, um den pianisti-schen Nachwuchs im musikalischen Geiste ihres 1976 verstorbenen Mannes ge- zielt zu fördern. Wer den Concours Géza Anda gewinnt, darf sich über den Sieg in einem künstlerisch und technisch höchst anspruchsvollen, weltweit anerkannten Klavierwettbewerb freuen. Die Porträts auf den folgenden Seiten zeigen, was aus ehemaligen Preisträgern geworden ist.

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Du-SondereditionDas Konzertmanagement

Die Géza Anda-Stiftung vergibt nicht nur Geldpreise und Aus-zeichnungen und vermittelt zahllose Konzerte, sondern garantiert auch das provisionslose Konzertmanagement über 3 Jahre. Dank dieser Unterstützung und Betreuung der jungen Pianisten ist es vie-len Géza Anda-Preisträgern gelungen, sich als Solisten, Kammer-musiker und Pädagogen in der internationalen Musik- und Kon-zertwelt einen Namen zu machen.

Das Wettbewerbssekretariat, das von Ruth Bossart geführt wird, kann immer wieder engagierte Musik- und Wettbewerbs-freunde, Stiftungen und Firmen zur Finanzierung von Sonderpro-jekten gewinnen wie Privatkonzerte, CD-Einspielungen und De-but-Auftritte in London, Paris, Frankfurt und anderen wichtigen Metropolen. Dazu gehören auch Géza Anda-Festivals im In- und Ausland. Als jüngstes Projekt entstand der Film «Der Concours Géza Anda – Erbe eines Pianisten».

Die Géza Anda-Stiftung verzichtet bewusst auf eine heute oft praktizierte agressive Vermarktung und Hochstilisierung ihrer Pianisten. Sie vertraut vielmehr darauf, dass die Preisträger dank ihrer künstlerischen Leistungen, ihrer Persönlichkeit, Konstanz und Bühnenpräsenz auch den Ruf des Concours Géza Anda in die Welt hinaustragen. <

Die bisherigen Preisträger des Concours Géza Anda

1979 1. Georges Pludermacher, Frankreich

1982 1. Heidrun Holtmann, Deutschland 2. Hung-Kuan Chen, Taiwan 3. Laurent Cabasso, Frankreich

1985 2. Yukino Fujiwara, Japan 2. Hüseyin Sermet, Türkei 3. Michael Endres, Deutschland

1988 1. Konstanze Eickhorst, Deutschland 2. Yukino Fujiwara, Japan 3. Ricardo Castro, Brasilien

1991 1. Dénes Várjon, Ungarn 2. Konstantin Scherbakov, Russland 3. Matthias Kirschnereit, Deutschland

1994 1. Pietro De Maria, Italien 2. Yoshiko Iwai, Japan 3. Luca Ballerini, Italien

1997 1. Corrado Rollero, Italien 2. Roustem Saitkoulov, Russland 3. Yuka Imamine, Japan

2000 1. Filippo Gamba, Italien 2. Henri Sigfridsson, Finnland 3. Andrew Shibko, Russland

2003 1. Alexei Volodin, Russland 2. Sergey Kuznetsov, Russland 3. Hisako Kawamura, Japan

2006 1. Sergey Koudriakov, Russland 2. Nikolai Tokarev, Russland 3. Tomomi Okumura, Japan

2009 1. Jinsang Lee, Südkorea 2. Alexej Zuev, Russland 3. Tatjana Kolesova, Russland

Konzertveranstalter, die regelmässig auf Vermittlung der Géza Anda-Stiftung Konzerte vergeben:

Aargauer Symphonie OrchesterSettimane Musicali di AsconaAthens State OrchestraMuseum Langmatt, BadenSäckinger Kammermusikabende, Bad SäckingenAssociazione Il Coretto, BariInternationale Meisterkurse und -konzerte, BaselCircolo Culturale Bellunese, BellunoKonzerthausorchester BerlinBerner Symphonie Orchester Bernische Chopin-Gesellschaft/Paul-Klee-ZentrumSociété philharmonique de BienneInternationales Pianistenfestival, BöblingenBodensee-FestivalBusoni-Klavierfestival, BozenMusikwoche BraunwaldAmici della Musica, CampobassoFestival di CervoBrandenburgisches Staatsorchester Frankfurt a.O.Société des concerts, FribourgKulturbüro FriedrichshafenKonzertzirkel EggMusikdorf ErnenGlarner Konzert- & TheatergesellschaftGrazer PhilharmonikerMenuhin-Festival, GstaadSteinway & Sons, Hamburg, in Kooperation mit verschiedenen Konzertveranstaltern, wie z.B. Bamberger Symphoniker und Gewandhaus LeipzigChopin-Gesellschaft HannoverPro Musica/Konzertdirektion Schmid, HannoverNordwestdeutsche Philharmonie, HerfordStaatsorchester Rheinische Philharmonie, KoblenzKulturamt der Kreisstadt KorbachInternational Festival Piano Stars, Liepaja Kulturamt LindauLucerne FestivalBASF-Kulturelle Veranstaltungen, LudwigshafenOrchestra della Svizzera Italiana, LuganoAssociation Chopin/Salle Molière, LyonFondation Pierre Gianadda, Martigny

Festival de Musique de MentonSeptembre Musical, MontreuxTschaikowsky Symphony Orchestra, MoskauConcerto Winderstein GmbH, MünchenSinfonieorchester MünsterCompact Artists Management/Volker Schmidt-Gertenbach, Nörten-HardenbergNomus Festival, Novi SadMährische Philharmonie, OlmützStadttheater OltenConcerts Remarquables, OsnabrückSocietà del Teatro e della Musica, PescaraFestival du Jura, PorrentruyNeue Philharmonie Westfalen, RecklinghausenWürttembergische Philharmonie, ReutlingenRuhr-KlavierfestivalVirtuoses da Musica, São José dos Campos/BrasilienMusik-Collegium und Kulturelle Begegnungen der Stadt SchaffhausenArt et Musique, SierreFragart, SolothurnKulturzentrum/Hotel Laudinella, St. MoritzFestival Musical Olympus, St. PetersburgRadio-Sinfonieorchester StuttgartAssociazione Musicale di SulmonaVilla Schindler, TelfsFestival Primoriccitelli, TeramoLinea d’Ombra, TrevisoCHT goes Classic, TübigenKulturamt ViersenLudwig van Beethoven Association, WarschauKartause Ittingen, WarthWiener KammerorchesterOrchester Musikkollegium WinterthurSaalkonzerte WorbArtist Concert Management, ZürichTonhalle-Orchester/Tonhalle-Gesellschaft ZürichTheaterclub, ZürichMusik an der ETH, ZürichMusik Hug, Zürich und LuzernPrivatbank IHAG Zürich AG

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«Wir spielen, was wir sind» Als Aristokrat des Klavierspiels, als lyrischer Virtuose und Poet des Pianos wird Pietro De Maria gerühmt. Der Venezianer gewann 1994 den Concours Géza Anda und ist vor allem mit seinen Chopin-Einspielun-gen aufgefallen.

Von Reinmar Wagner Porträts Fabian Unternährer

Welcher lebende Pianist kann sich schon rühmen, Held von zwei Sonetten – seit Petrarca und Shakespeare Inbegriff für höchste Dichtkunst – zu sein? Pietro De Maria wurde vom polnischen Ly-riker Jan Stanislaw Skorupski in dieser dichterischen Form besun-gen. Auf Polnisch natürlich, aber einer der vielen Freunde Pietros hat ihm die Zeilen ins Italienische übersetzt. «Nichts Weltbewegen-des», lächelt Pietro De Maria. Ein Fan eben. Natürlich fühlt er sich geschmeichelt, aber er kommt auch gleich auf Grundsätzliches zu sprechen: «Künstler werden überall mit Lob und Bewunderung überschüttet. Das ist nett gemeint, aber wir können dabei nur allzu leicht die Bodenhaftung verlieren. Ein Geiger oder Cellist hat min-destens noch einen Klavierpartner mit auf Tournee, wir Pianisten aber sind mit unseren Gedanken allein.»

Für Pietro De Maria ist das nach 20 Jahren Karriere-Er-fahrung, dekoriert mit Preisen und einem klingenden Namen in der Klassik-Welt, nicht wirklich ein Problem. Aber junge, bei wich-tigen Wettbewerben frisch gekürte Pianisten tappen nur allzu schnell in diese Falle. Doch dagegen gibt es seiner Meinung nach ein Mittel: Eine Ausbildung, die kritisches Denken fördert, ein Ho-rizont, der über das Instrument, über die Technik und das Üben hinaus reicht.

Ein weiterer Anker ist seine Familie. Schwierig sei es zwar manchmal, Karriere und Familie unter einen Hut zu bringen. «Aber noch schwieriger ist es für meine Frau, die oft lang mit den Kindern allein ist und viele Entscheidungen selbst treffen muss. Auf der anderen Seite ist es für mich als Künstler auch sehr wichtig, den Kontakt zum ganz normalen Leben nicht zu verlieren. Das relati-viert meine eigenen kleinen Probleme. Und vor allem ist es sehr er-holsam, zuhause zu sein. Eine Erholung für die Seele. Ein bisschen wie bei Peter Pan: Damit er fliegen kann, braucht er ein positives Gefühl, un pensiero felice. Und das ist für mich meine Familie.» Eine Familie ist für ihn aber auch die Gemeinschaft der Géza Anda-Preisträger geworden. Selbst jetzt, 17 Jahre nach seinem Sieg, kommen für Pietro De Maria noch ab und zu Konzertverpflichtun-gen über die Stiftung zustande. Auch mit anderen Preisträgern er-

gaben sich in dieser Zeit manche Freundschaften. Als mittlerweile hoch geschätzter Lehrer legt Pietro De Maria grössten Wert auf umfassende Bildung: «Man kann nicht Beethoven-Sonaten spielen, ohne mindestens die Themen seiner Sinfonien zu kennen. Wenn man Schumann spielt, muss man auch ein wenig E. T. A. Hoff-mann oder Jean Paul lesen. Man sollte die Geschichte, Kunst und Literatur kennen und Museen besuchen. Ich rate meinen Studenten immer, nach dem Diplom weiter zu studieren, eine Universität zu besuchen.» Selbstverständlich sollte die musikalische Bildung möglichst breit sein: Ganz klar gehört das kammermusikalische Spiel dazu, als Kontrast zur Einsamkeit des Recitals oder der Solis-ten-Position im Scheinwerferlicht des Klavierkonzerts. Und ganz wichtig für Pietro De Maria: die Beschäftigung mit der Musik un-serer Zeit. Sein eigenes Repertoire reicht von Bach bis Ligeti, er spielt Uraufführungen und Kammermusik.

Wann immer möglich taucht er ein ins kulturelle Leben seiner Tourneestationen, versucht mehr zu erfahren von Ländern und Städten, von denen andere Künstler oft nicht viel mehr als Ho-telzimmer und Konzertsäle sehen. Er ist überzeugt davon, dass das alles auch in sein Klavierspiel einfliesst: «Wir spielen, was wir sind. Natürlich stehen da zuerst die Noten und die Ideen des Komponis-ten. Aber wenn wir spielen, dann öffnen wir unsere Seele, und da ist alles drin, was wir an Erfahrungen gesammelt haben. Ich kann nicht sagen, wie es genau geschieht, aber ich bin sicher, dass es so ist.»

Was spüren wir, wenn wir Pietro De Maria zuhören? Zum Beispiel seinen Chopin, den er – komplett – für das renommierte CD-Label Decca eingespielt hat. De Marias Chopin ist natürlich, ehrlich, insgesamt eher lyrisch als dramatisch, eher elegant als dä-monisch. De Maria kommt ohne pianistische Extravaganzen aus und ist auf wohltuende Weise unspektakulär, gerade in den Scherzi, die sonst gerne für pianistische Extrovertiertheiten herhalten müs-sen. Aber es gibt auch Spezialitäten in De Marias Chopin-Totale, etwa in den Mazurken, die er rhythmisch fein variiert und dabei Chopins Sehnsucht nach der polnischen Heimat vielfältig und be-redt Ausdruck verleiht. Natürlich legt er Chopin auch nach Ab-schluss der Gesamtaufnahme nicht beiseite. Aber das nächste grosse Projekt steht an: Bach. Mit dem Wohltemperierten Klavier und den Goldberg-Variationen will sich Pietro De Maria nun intensiv be-schäftigen. Und zwar von Grund auf: «Ich habe bisher nicht viel Bach gespielt. Deswegen will ich mir Zeit nehmen und möglichst tief in diese grossen Werke eindringen.» Das ist auch nötig, denn die Konkurrenz in diesem Repertoire ist riesig und gewichtig. Aber kein Grund zur Besorgnis: Das war sie bei Chopin auch. <

Géza Anda Preisträger – Porträts

Pietro De Maria wurde 1967 in Venedig geboren, wo er auch seine erste pianis-tische Ausbildung genoss. Später studierte er in der Meisterklasse von Prof. Maria Tipo am Genfer Conservatoire. Nach der Auszeichnung des Kritikerpreises beim Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb 1990 gewann er im gleichen Jahr den Mai-länder Dino Ciani-Wettbewerb und 1994 den Concours Géza Anda. Seither wid-met er sich einer intensiven Konzerttätigkeit und unterrichtet u.a. an der Scuola di Fiesole. Seine Einspielung von Chopins Gesamtklavierwerk bei Decca ⁄ Universal findet bei Presse und Musikfreunden grossen Anklang. www.pietrodemaria.com

Links: Der italienische Pianist Pietro De Maria, Gewinner im Jahr 1994.

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«Ich war kein fertiger Künstler» Dénes Várjon war 1991 mit 23 Jahren der bisher jüngste Gewinner des Concours Géza Anda. Kaum ein anderer Mitbewerber lebt und spielt so sehr im Geist der ungarischen Klavierlegende.

Von Christian Berzins

Das Porträt des Meisters hängt ganz hinten im Raum. Davor sein Flügel – Géza Andas Flügel. Wie gelöst er doch den 3. Satz von Mozarts letztem Klavierkonzert anstimmte … Die Ölbilder an den Wänden, die schweren Teppiche, das dunkle Holz, der Geruch nach alten Büchern – wohin führt diese Reise in die Vergangenheit? Der junge Pianist neben uns, der plötzlich nur noch im Pianissimo spricht und deswegen unsere Aufmerksamkeit noch mehr fesselt – ein alter musikalischer Trick –, hat diese Reise oft unternommen. Hat er diesem Géza Anda, der hier in Zürich wohnte und wirkte, alles zu verdanken? Dénes Várjon sagt: «Nein, aber sehr, sehr viel.»

Seine Laufbahn hätte wohl auch ihren Lauf genommen, hätte sich Várjon vor 20 Jahren nicht zum Concours Géza Anda an-gemeldet. Die ungarischen Beziehungen halfen: Dénes Várjons Lehrer an der Budapester Liszt-Akademie hiessen György Kurtág und Ferenc Rados; bei ihnen hatte auch schon Meisterpianist An-drás Schiff studiert. Als Schiff nun aber in Wien einen Meisterkurs gab, wurde der damals 17-jährige Várjon von Rados empfohlen – und prompt in die Musikmetropole eingeladen. Dank Schiff lernte Várjon alsbald den Dirigenten Sándor Végh und später in Ittingen Heinz Holliger kennen. Zusammen spielte man schliesslich CDs ein. Schon 1991 sollte der junge Ungar den Concours gewinnen – ein Ereignis, das Várjons Leben veränderte und ihn unter anderem an die Salzburger Festspiele führte. «Ohne den Wettbewerbssieg hätte ich diese Konzerte nicht gekriegt», so Várjon.

Für ihn, der gerade noch sein Konzertdiplom erspielt hatte, stimmte alles – der Karriereweg zeigte himmelwärts. Doch Várjon wurde nie nach oben geschossen, liess sich nicht nach oben schiessen. Für Várjon zählte schon damals nicht die Quantität der Angebote: «Ich musste nie 100 Konzerte pro Jahr haben. Es ‹Mit-telweg› zu nennen, klingt abwertend. Aber ich wollte immer Zeit haben, um über das Leben und die Musik nachzudenken. Und es galt, das Repertoire auszubauen.» Nicht nur Solo-Recitals und Kon-zerte wolle er geben, wie es die Agenturen von jungen Genies ver-langen, sondern auch viel Zeit der Kammermusik widmen.

Das Umfeld des Concours unterstützte ihn in diesem Stre-ben. «Man sorgte sich 4 Jahr lang um mich, forcierte nie etwas. Das

war natürlich ideal. Später war es dann nicht immer ganz einfach, das richtige Verhältnis zwischen Geschäft und ernster Musik- ausübung zu finden.» Dank des Wettbewerbs war nicht nur seine professionelle Karriere lanciert, er war auch Mitglied einer grossen Familie geworden – der Familie Anda und der ihr zugewandten Künstler.

Im Konzertsaal hatte Várjon Géza Anda nie spielen hören. Aber bezeichnenderweise ist er ein Pianist, den die Meister der Ver-gangenheit ebenso interessieren wie jene der Gegenwart. Und schon schwärmt er wieder von der ungarischen Klavierlinie, ausgehend von Ernst von Dohnányi und Béla Bartók, hinführend zu Géza Anda, Annie Fischer oder György Cziffra. «Das war die goldene Zeit des Klaviers. Ich wusste ziemlich viel über Andas Spiel. Auch sein Repertoire und sein Ruf waren sehr wichtig für mich, deswe-gen bewarb ich mich auch beim Wettbewerb: Anda war ein sehr sensibler, überaus menschlicher, humanistischer Künstler. Er las viel, hatte einen weiten Kunst-, ja Kulturbegriff. Das alles floss in sein Musizieren ein – das alles steckt nun in diesem Wettbewerb.» Und so fühlte sich Várjon, der sich eigentlich vor Wettbewerben scheute, beim Zürcher Concours überaus wohl: «Die Jury sucht Pi-anisten, die Andas Linie entsprechen. Und ehrlich gesagt, das ist zum Teil gegensätzlich zu dem, was der heutige Markt von jungen Pianisten fordert.»

Die Kunst beim Concours sei es, so wie immer zu spielen. Den Einwand, dass da nun mal eine Jury sitze, schwächt er ab: «Klar, sie hören mit wachen Ohren zu. Aber beim Anda-Wettbe-werb herrscht eine andere Art von Druck, da man nicht in eine Richtung gedrängt wird. Die meisten Wettbewerbe suchen den per-fekten Pianisten. Aber wie kann man mit 23 Jahren perfekt sein? Ich war bei Weitem kein fertiger Künstler. Aber vielleicht hat die Jury gehört, dass in mir Potenzial für die Zukunft steckt.» Beson-ders hellhörig wurde diese Jury, als er am Wettbewerb zusammen mit dem Tonhalle-Orchester das 3. Klavierkonzert von Béla Bartók spielte: «Der Tonhalle-Saal und das Orchester inspirierten mich so sehr, dass mir dieser Bartók wirklich gelang.» Doch auch sein Mo-zart-Spiel fiel auf. Dass 1991 ein Mozart-Jahr gefeiert wurde, ja,

dass sich die Mozart-Interpretation im 200. Todesjahr des Kompo-nisten im Umbruch befand, bewegte Várjon weniger. «Man muss die Ohren offen halten, die neuen Wege erkennen, die historische Aufführungspraxis studieren und möglichst viele Inspirationsquel-len nutzen – das kann zum Beispiel auch das Spiel auf dem Ham-merflügel sein. Aber am Ende sitzt man vor einem modernen Flü-gel und muss auf diesem Instrument Mozart spielen. Ich weiss noch, dass ich damals sehr viele Mozart-Opern hörte, und mir daraus viele Anregungen holte.»

Genauso wie einst Anda ist Várjon längst nicht nur bei Mozart oder Bartók zu Hause, auch die Liebe zu Franz Liszt ver-bindet die beiden Pianisten. Mit Überzeugung sagt Várjon: «Liszt braucht dieselbe Transparenz wie Mozart. Liszt aber wird sehr oft schlecht gespielt, weswegen so viele glauben, er sei ein zweitklassi-ger Komponist.» Und so spielt er dessen Musik in Solo-Recitals, Or-chesterkonzerten und mit seinen hochkarätigen Kammermusik-freunden. Es erübrigt sich fast anzufügen: So wie Géza Anda einst.

In Zürich kam Várjon der verstorbenen Legende immer näher. «Spiele ich hier in der Stadt, wohne ich immer bei Frau Anda. Ich bin eng mit ihr befreundet. Hier kann ich alle Anda-Auf-nahmen hören, sehen, wo und wie er gelebt hat, was ihn umgeben hat. Bald schien es, als hätte ich ihn getroffen, so gut kenne ich ihn.» Und tatsächlich: Das Haus Richtung Seefeld verlassend, sehen wir nicht nur das Anda-Porträt vor uns, sondern nun beginnt diese Welt schon nachzuklingen. <

Géza Anda-Preisträger – Porträts

Dénes Várjon wurde 1968 in Budapest ⁄ Ungarn geboren. Kurz nach dem Sieg beim Concours Géza Anda 1991 schloss er sein Studium bei Prof. Ferenc Rados und Prof. György Kurtág an der Franz-Liszt-Musikakademie ab. Várjon ist in den grossen Konzertsälen sowohl als Solist als auch als Kammermusiker – mit Partnern wie Heinz Holliger, Steven Isserlis, Miklós Perényi, András Schiff, Carolin Widman – zuhause. Neben seiner Konzerttätigkeit unterrichtet er an der Franz- Liszt-Akademie. CD-Einspielungen erschienen u.a. bei den Labels ECM, Capriccio, Hungaroton, Hyperion, Teldec, Sony Classical, Pan Classics und Naxos.

Der ungarische Pianist Dénes Várjon, Gewinner im Jahr 1991.

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«Ich wollte keinen fremden Einfluss»Im Solistenzimmer der Zürcher Tonhalle: Intendant Elmar Weingarten schaut kurz herein, begrüsst den Solisten, der hier zusammen mit dem Tonhalle-Orchester das dritte Klavierkonzert von Sergej Prokofiew aufführen wird. Alexei Volodin freilich ist nicht zum ersten Mal in diesen Räumlichkeiten. Im Gegenteil: Sie haben eine grosse Bedeutung für ihn. Acht Jahre ist es her, dass er 2003 den ersten Preis beim Concours Géza Anda gewann. Seither kehrt er regelmässig hierher zurück, um als Solist aufzutreten.

Von Thomas Meyer

Zürich wurde für Alexei Volodin, wie er erzählt, fast zu einem zweiten Zuhause: «Ich bin hier glücklich und fühle mich sehr wohl.» Speziell mit dem Tonhalle-Orchester, dessen Qualität er sehr schätzt, arbeitet er gern. Sein erstes Zuhause freilich ist noch immer Moskau, wo der aus St. Petersburg stammende Pianist seine Ausbildung erhielt und wo er noch heute wohnt.

Ziemlich spontan entschied er sich damals zur Teilnahme am Concours. Seine Vorbereitungszeit war dadurch kurz – und doch lang. «Dieser Wettbewerb ist sehr seriös, er verlangt vom Pianisten ein riesiges klassisches und romantisches Repertoire. Und das muss er sehr genau kennen, wenn er hier auftreten will. So eine Menge Stücke lernt man natürlich nicht in zwei bis drei Monaten. Ich hatte sie damals mit 25 alle schon im Repertoire. Andererseits wurde mir erst im allerletzten Moment klar, dass ich am Concours teilnehmen wollte, und ich musste mir in dieser kurzen Zeit alle Stücke wieder ins Gedächtnis rufen. Es war also eine ebenso lang- wie kurzfristige Vorbereitung.»

Volodin konzentrierte sich deshalb beim Wettbewerb ganz auf seine Auftritte: «Ich war vollkommen damit beschäftigt, mein Repertoire aufzufrischen und es gut vorzutragen.» Den anderen Pianisten hörte er deshalb gar nicht erst zu. «Bei Wettbewerben nie. Ich hätte sicherlich viel von ihnen gelernt, aber ich wollte keinen fremden Einfluss, ich wollte mich auf meine Arbeit konzentrieren und meine Sache möglichst gut machen.» Und das funktionierte. Eine kurze Vorbereitung muss kein Nachteil sein – was Alexei Volodin bestätigt: Frische und gute Stimmung, das helfe, aber natürlich müsse man dann auch eine optimale Basis mitbringen.

Die Wurzeln dieser Basis allerdings reichen sehr tief, hin-ab in die Tradition der berühmten russischen Klavierschule. Alexei Volodins letzte Lehrerin in Moskau war die georgische Pianistin Elisso Virsaladze, die ihrerseits einst beim grossen Heinrich Neu-haus studierte, dem Lehrer von Swjatoslaw Richter, Emil Gilels, Alexej Ljubimow und Radu Lupu. Volodin relativiert diesen weit-reichenden Einfluss allerdings ein wenig. «Ich werde häufig auf die russische Schule angesprochen, und jedes Mal weiss ich weniger da-rüber zu erzählen. Natürlich ist es eine grosse Tradition: ich hatte

gute Lehrer, und diese hatten wiederum gute Lehrer. Diese Linie geht zurück auf Heinrich Neuhaus, Sergej Rachmaninow, Anton Rubinstein. Gewiss ist es wunderbar, sich in diese Tradition stel- len zu dürfen. Auf der anderen Seite sind all diese Pianisten doch höchst unterschiedlich.» Da sei es schwer, eine Einheitlichkeit auszumachen.

Seit dem Ende der Sowjetunion hat sich zudem in seiner Heimat vieles verändert, und nicht nur zum Guten, wie Volodin meint: «Viele der grossen Lehrer sind gestorben, andere eilen dem Geld hinterher, sind im Ausland unterwegs, geben Meisterklassen und konzentrieren sich nicht mehr auf den eigentlichen Unter-richt.» Doch gerade das, findet er, wäre so wichtig. Man könne gu-ten Unterricht nicht mit etwas anderem kombinieren. «Entweder verdient man sein Geld im Konzertsaal oder man widmet sich völ-lig dem Unterricht. Dann wird auch das Resultat grossartig sein.» Konsequenterweise hat Volodin nach drei, vier Jahren, in denen er am Moskauer Konservatorium tätig war, das Unterrichten aufgege-ben. Als Lehrer habe man eine Verantwortung den Studenten ge-genüber. «Die jungen angehenden Musiker sind in einer sehr ent-scheidenden Phase ihres Lebens, sie nehmen alle Mühen auf sich, um sich zu entwickeln. Das können sie nicht ganz allein, dafür brauchen sie einen Lehrer, der ihnen beisteht, und keinen Konzert-pianisten, der um die Welt rast und einmal im Monat vorbeischaut.» Er persönlich wolle seine Zeit nicht zersplittern. «Ich gehe nur einer Sache nach, und so ist es für mich besser, meine Zeit nicht dem Unterrichten zu widmen: Ich beschloss also, ganz und gar Konzertpianist zu sein.»

Auf diesen Weg hat ihm der Concours Géza Anda stark geholfen. Wie andere Preisträger betont auch Volodin den enormen Wert der zahlreichen Engagements: «Man bekommt nicht einfach Preis und Geld und wird vergessen, nein: man spielt danach in Eu-ropa sehr häufig.»

Volodin ist längst ein Meister. Sein Spiel ist gereift, er durchdringt die verschiedenen Ebenen einer musikalischen Struk-tur, spielt aber mit enormer Emotionalität, und er kann sich den Stilen anpassen, egal, ob es sich nun um Beethoven, Rachmaninow

oder Prokofiew handelt. Womit muss er noch kämpfen? «Jedes neue Stück bedeutet wieder Auseinandersetzung und Kampf – egal, wie weit man persönlich fortgeschritten ist. Darüber denke ich eigentlich nicht nach. Wenn ein Pianist sein Ziel erreichen und sich als Persönlichkeit entwickeln möchte, muss er lange kämpfen. End-los. Je mehr er erreicht, desto mehr entdeckt er, was noch zu tun wäre. Deshalb sagte Sokrates einst, er wisse nur, dass er nichts wisse. Er konnte das nur sagen, weil er eben viel wusste und so auch wusste, wie viel es noch zu entdecken gab.»

Die Selbstreflexion ist zwar immer noch stark, aber Volo-din ist es überdrüssig, über sein Image und sein Renommee nach-zudenken. Wozu sich überlegen, ob man ein Meister ist oder nicht? Das war früher anders: «Als Teenager war ich sehr selbstbewusst. Ich glaubte, ich wüsste alles und hatte meine eigene Konzeption, aber allmählich merkte ich, dass das ziemlich dumm war, dass ich in vielen Dingen falsch lag und andere Leute, die ich nicht so gut fand, recht hatten. Das gab mir den Anstoss, meine Arbeit zu über-prüfen. Diese Selbstkritik war extrem wichtig, aber sie nahm mir zum Glück nicht mein Selbstvertrauen.» Aus diesem Grund war auch die Begegnung mit Géza Andas Aufnahmen inspirierend: «Sein Spiel war extrem natürlich, frisch und stark, tief und virtuos in einem. Er spielte das ganze Repertoire – alles gleichermassen gut. Er hat sich nie spezialisiert. Das bewundere ich, das strebe ich selbst auch an: diese Vielseitigkeit.»

Er möchte ein Stück aus verschiedenen Blickwinkeln be-trachten und die originellen und verborgenen Seiten kennenlernen. Diese Erfahrung sei wichtig für die Interpretation, und nicht irgendeine gesuchte Originalität. Es werde heute überhaupt zu viel Aufhebens darum gemacht, ob jemand ein Genie sei oder nicht. «Das langweilt mich. Es klingt banal, ein Pianist soll sich dem Komponisten und der Musik widmen. Ist es gut, was ich mache? Was kann ich tun, um es zu verbessern, so dass es frischer, tiefer und wirkungsvoller klingt? Dann erst können wir über Talent spre-chen. Es gibt so viele Talente, die nicht gut spielen.» Manchmal sitzt er in einem Konzert und fragt sich: «Warum nur spielt dieser Pia-nist dieses Stück? Ich höre darin nichts Frisches und nichts Persön-liches, nichts, das mich berührt.» Diese Frische ist zentral: «Ich bin glücklich, wenn eine einzelne Phrase frisch klingt. So versteht man, worum es in einem Stück geht.» <

Alexei Volodin wurde 1977 in St. Petersburg geboren. Seine Ausbildung erhielt er in Moskau an der Gnessin-Spezial-Musikschule und am Tschaikowsky Konserva-torium bei Prof. Elisso Virsaladzé. Er belegte danach Meisterkurse an der Inter- national Piano Academy in Como. Der 1. Preis beim Concours Géza Anda 2003 stand am Anfang seiner bemerkenswerten internationalen Karriere als Konzert- pianist und als Solist in Begleitung grosser Orchester und Dirigenten. CDs sind bei Live-Classics und bei Challenge Classics erschienen. www.alexeivolodin.com

Géza Anda-Preisträger – Porträts

Der russische Pianist Alexei Volodin, Gewinner im Jahr 2003.

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«Nur in Tönen zu denken ist zu wenig» Im Gespräch mit Hisako Kawamura

Von Prof. Dr. Wolfgang Rathert

Begegnet man Hisako Kawamura zum ersten Mal, so lässt nichts erahnen, wie schnell sich diese zierliche, durch Freundlichkeit und Natürlichkeit ihr Gegenüber gleich einnehmende junge Frau in eine ziel- und selbstbewusste Künstlerin verwandelt. Das Gespräch geht ohne Umschweife in medias res: um die Frage der Beziehung zum Publikum und um den Druck, dem Musiker – und Pianisten wohl in ganz besonderer Weise – auf dem Podium ausgesetzt sind. Die Erwartungen an technische Perfektion oder vorgefasste Mei-nungen über die erklingenden Werke gehören ebenso dazu wie die Unwägbarkeiten von Zwischenfällen und den Schwierigkeiten, sich auf immer wieder andere Bedingungen des jeweiligen Instruments und Raums einzustellen. Bevor sie über die vielfältigen körperli-chen, psychischen und mentalen Voraussetzungen ihres Berufs spricht, die für die Meisterung solcher Situationen nötig sind, sagt sie jedoch etwas für sie sehr Charakteristisches: «Wenn es jeman-dem gefällt, wie ich gespielt habe, dann gefällt es ihm – wenn nicht, dann haben wir uns missverstanden.» Dies ist nicht Überheblich-keit, sondern Ausdruck eines hart erarbeiteten Selbstbewusstseins.

Sie hat sogar schon erlebt, dass sie nach einem Konzert ge-fragt wurde, was sie denn «hauptberuflich» mache – eine absurde, von Naivität oder Ignoranz (wenn nicht gar Hinterhältigkeit) ge-kennzeichnete Frage, von der sie sich indessen nicht hat irritieren oder provozieren lassen. Vielmehr zeigen ihr solche Reaktionen, wie wenig manche Hörer vom Beruf des Pianisten wissen, ganz zu schweigen von den verwickelten Problemen der musikalischen In-terpretation, die Géza Anda in das Zentrum seiner Unterrichtstä-tigkeit stellte. Kawamura teilt Andas Auffassung, dass der Interpret im Konzertsaal nichts Unfertiges, Unausgereiftes vorstellen, sich aber genauso wenig vom Publikum und der Kritik abhängig ma-chen dürfe.1 Die musikalische Interpretation ist zwar ein Akt, des-sen Ge- oder Misslingen jeder Hörer aufgrund seines individuellen Wertekanons zu beurteilen glaubt, den aber letztlich der Musiker verantwortet. Seine innere Unabhängigkeit basiert auf der Bereit-schaft zu steter Selbstkritik und Reflexion des eigenen Tuns, ande-rerseits aber auf der Fähigkeit, im rechten Moment «loszulassen» und der Darstellung die notwendige Spontaneität zu verleihen. Selbstkritik heisst für Kawamura nicht Selbst-Kasteiung: Das Mass des Musizierens bleibt der Mensch, und dies schliesst die Möglich-keit des Fehlers ein. Kawamura versteht den Fehler sogar als unab-

mura durch die Bemerkung, dass für sie künstlerische Freiheit nur auf der Grundlage einer souveränen Metierbeherrschung bestehen könne, ergänzt und weiterführt.

Den Concours Géza Anda sieht Kawamura als eine unge-heuer anspruchsvolle, aber unbestechliche Möglichkeit an, den Stand der eigenen Metierbeherrschung in diesem umfassenden Sinn einzuschätzen. Die Anforderungen des Concours zwängen die Pia-nisten dazu, sich realistisch auf die Bedingungen einer angestrebten Karriere vorzubereiten, wozu die Bereitschaft gehöre, in jungen Jahren so viel Repertoire wie möglich kennenzulernen, was natür-lich seine Zeit braucht. Kawamura meint, dass viele Pianisten zu früh in Wettbewerbe geschickt würden, wenn sie weder psychisch noch intellektuell dafür reif wären. Ihr eigenes Curriculum sieht an-ders aus: Im Jahr 2003 gewann sie den 3. Preis im Concours Géza Anda, danach folgten Preise in so renommierten Wettbewerben wie dem Internationalen Musikwettbewerb der ARD in München und dem Concours Reine Elisabeth in Brüssel. 2007 schliesslich gewann Kawamura den ersten Preis im Concours Clara Haskil. Aber ist sie nicht bereit, eine Karriere um jeden Preis erzwingen zu wollen. Die Balance zwischen künstlerischer und Lebenspraxis ist ihr wichtiger; beide Sphären sollen sich idealerweise gegenseitig befruchten. Ob-gleich sie bereits mit 5 Jahren mit dem Klavierspiel begonnen hat, hat Kawamura eine normale Kindheit und Jugend gehabt, in der Basketball und sogar Fussball nicht fehlten.

Auch was ihre künftigen künstlerischen Ziele betrifft, ist Kawamura unbefangen: Sie scheut sich nicht, zeitgenössische Werke in ihre Programme einzubeziehen, wenn sie lebendiger Widerhall unserer Erfahrungs- und Empfindungswelt sind, und steht auch umgekehrt den Erkenntnissen der historischen Aufführungspraxis offen gegenüber, um sich von den Farben und Anschlagsmöglich-keiten alter Instrumente Anregungen für die Gestaltungmöglich-keiten des modernen Flügels geben zu lassen. Ihr Wunsch ist es, sich in den nächsten Jahren das Wohltemperierte Klavier Bachs zu er-arbeiten, ohne dem Trend zu enzyklopädischen Aufführungen zu folgen. Stattdessen möchte sie ein Konzertprogramm durch ein-zelne Präludien und Fugen anreichern, um den Hörern Wert und Besonderheit des jeweiligen Stückes besser zu vermitteln.

Der Schluss des Gesprächs führt noch einmal auf den Anda-Wettbewerb zurück. Er ist für Hisako Kawamura nicht nur

dingbare Korrekturinstanz jeder künstlerischen Entwicklung. Wer keinen Fehler macht, kann eben nicht erkennen, an welchem As-pekt er arbeiten muss, um sich zu entwickeln. Der Fehler kann da-rüber hinaus eine psychologisch wichtige Identifikation zwischen dem Publikum und dem Interpreten herstellen, die ihn vom Status des unfehlbaren und unnahbaren Halbgottes befreit. Denn das «Übermenschliche» des perfekten Virtuosen erzeugt eine Distanz, die sich zwischen das Werk und den Hörer stellt. In diesem Sinn spart Kawamura auch nicht mit der Kritik an der Tonträger-Indus-trie, die durch die technischen Möglichkeiten des digitalen Schnitts allzu leicht eine «heile», aber sterile und illusionistische musikali-sche Scheinwelt erzeugen kann.

Die Verhältnisse des heutigen Musikbetriebs mit seiner Glorifizierung falsch verstandener Perfektion und einem (oft kom-merziell) forcierten Novitätendruck schränken für Kawamura den Interpreten zudem bei der Entwicklung einer differenzierten Sicht auf komplexe musikalische Werke ein: «Man hat keine Zeit mehr – man darf nicht zweimal dasselbe spielen!» Doch ist es nicht so, dass der Künstler mit dem Stück wächst und umgekehrt? Kawa-mura versucht dies dadurch umzusetzen, dass sie in ihren Konzer-ten Erprobtes und neu Erarbeitetes miteinander verbindet. So kann sie ein Werk über längere Zeit verinnerlichen und sich damit auch der für sie grössten Herausforderung gelungenen Klavierspiels wid-men, der Kunst des leisen, dynamisch differenzierten Spiels und des Legato. Der Rolle des Notentexts steht Kawamura gelassen gegen-über: Texttreue sei zwar selbstverständlich, dürfe jedoch kein leerer Selbstzweck werden, der den Vortrag austauschbar macht. Inter-pretiert man nicht den Notentext bereits im Moment des Lesens, indem man ihn mit einer Fülle von Empfindungen und Assoziati-onen verknüpft? Dieser Gedanke ist Ausdruck des weiten intellek-tuellen und geistigen Horizonts, der Kawamura wesentlich durch ihren – in diesem Jahr überraschend verstorbenen – Lehrer vermit-telt wurde, den russischen, in Hannover lehrenden Pianisten Vla-dimir Krajnev (1944 – 2011), der selber Schüler des legendären Heinrich Neuhaus und seines Sohnes Stanislav war. Durch Krajnev habe sie gelernt, Musik in grössere Zusammenhänge zu bringen, sich von Literatur und Bildender Kunst inspirieren zu lassen und ihrer Fantasie zu vertrauen. «Nur in Tönen zu denken ist zu we-nig», ist die Quintessenz dieser Erfahrung – ein Satz, den Kawa-

ein Karriere-Impuls gewesen, sondern hat ihr etwas vermittelt, was sie im Rückblick als das Wesentliche erachtet: die Erfahrung des Zusammenhalts einer künstlerischen Familie von Preisträgern, der von gemeinsamen Visionen und Überzeugungen getragen wird und sich von den heute vorherrschenden Konkurrenz- und Ver-marktungsprinzipien fernhält. Die Dankbarkeit, die Kawamura für die Förderung der Géza Anda-Stiftung noch heute empfindet, gibt sie an ihre eigenen Schüler – seit diesem Jahr als Dozentin an der renommierten Folkwang Universität der Künste in Essen, an der auch der 2. Preisträger des Concours Géza Anda von 2000, Henri Sigfridsson, eine Professur bekleidet – und als Kern ihres künstlerischen Credos an ihr Publikum weiter.

Géza Anda-Preisträger – Porträts

Die japanische Pianistin Hisako Kawamura, Preisträgerin im Jahr 2003.

Hisako Kawamura wurde 1981 in Osaka ⁄ Japan geboren und zog als 5-jährige mit ihren Eltern nach Deutschland. Ihre pianistische Ausbildung verdankt sie Magorzata Bator-Schreiber und Prof. Vladimir Krajnev (Hochschule für Musik und Theater Hannover). Die Drittpreisträgerin beim Concours Géza Anda 2003 hat 2007 auch den Concours Clara Haskil gewonnen. Neben zahlreichen Förderprei-sen ist sie Trägerin des Idemitsu Musik-Preises und des Nippon Steel Fresh Artist Award. In ihrer Heimat ist Kawamura auf den Podien aller grossen Konzertsäle anzutreffen. Soeben feierte sie Erfolge auf ihrer Japan-Tournee mit dem RSO Berlin. CD-Einspielungen erschienen bei den Labels DiscAuvers, Audite und RCA Red Seal. Seit 2011 hat sie einen Lehrauftrag an der Folkwang Universität der Künste in Essen. www.hisakokawamura.com

1 Vgl. dazu die Bemerkungen Géza Andas im Gespräch mit Robert Bachmann, in: Ders., Grosse Interpreten im Gespräch, München 1978, S. 40

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«Diese Kraft, die aus dem Innern kommt» «Die Musik genügt zum Existieren, aber Existieren genügt nicht für die Musik», sagte Sergej Rachmaninow. Der Pianist und Komponist Hüseyin Sermet im Angesicht der Ewigkeit.

Von Michel Le Naour Übersetzung Irène Fasel

Internationale Anerkennung kam dem türkischen Pianisten Hüs-eyin Sermet 1985 zuteil, als er den 2. Preis beim Concours Géza Anda ex aequo erhielt (der 1. Preis wurde nicht vergeben); in der prominent besetzten Jury unter dem Vorsitz des berühmten unga-rischen Dirigenten Antal Dorati sassen u. a. auch die Pianisten Ma-ria João Pires und Nikita Magaloff. Im Alter von 30 Jahren war dies die Krönung einer beeindruckenden Reihe von Wettbewerbserfol-gen (u. a. Concours Maurice Ravel in Paris, Paloma O’Shea in Santander, Ferruccio Busoni in Bozen, Premio de Jaén, Ettore Poz-zoli in Seregno, Reine Elisabeth in Brüssel). Insbesondere die dama-lige Begegnung in Zürich mit Maria João Pires beeinflusste mass-geblich seine weitere Karriere; kurz darauf konnte er mit ihr zusammen bei Erato eine CD mit Klavierwerken von Schubert zu 4 Händen einspielen.

Hüseyin Sermet wurde in eine Musikerfamilie hineinge-boren. Sein Vater war Jazz-Kontrabassist und Musikwissenschaft-ler. Mit 10 Jahren begann er sein Klavierstudium am Konservato-rium von Ankara, wo westliche Musik eine lange Tradition hat. In der türkischen Hauptstadt traten stets renommierte Pianisten wie Cortot, Gieseking, Rubinstein und Kempff auf. Auch Hindemith unterrichtete dort Komposition. Hüseyins Lehrer Ahmet Adnan Saygun, ein legendärer Schüler Bartóks, brachte ihm das Werk des grossen ungarischen Komponisten näher, der die türkischen Volks-lieder liebte, weil ihn deren rhythmische Strukturen inspirierten. Besonders wichtig für Hüseyins künstlerische Entwicklung war ausserdem die Begegnung mit dem Pädagogen Sun Muanner, der ihn mit der westlichen Musik vertraut machte. 1968 gewährte ihm der türkische Staat ein Stipendium, damit der Hochbegabte mit sei-ner Familie nach Paris ziehen konnte, um dort sein Studium fort-zusetzen. An diese Zeit denkt er mit gemischten Gefühlen zurück. Wie soll man als Heranwachsender nicht in Traurigkeit verfallen, wenn man die südländische Sonne der Türkei gegen das neblige Pa-ris eintauschen muss – fernab von Freunden und in der Einsamkeit eines Lebens am Klavier?

Doch diese für ihn schwierigen Jugendjahre sollten am An-fang seiner Laufbahn als Interpret und Komponist stehen. Er gab seinen Traum, Architekt zu werden, auf. Am Ende seines Musik-studiums in Paris bei Pierre Sancan holte er sich Preise in den Fä-chern Klavier, Kammermusik und Musiktheorie. Nebenbei stu-dierte er Komposition bei Olivier Messiaen.

Prägend für sein ganzes Leben sollte der Unterricht an der Ecole Normale de Musique bei Thierry de Brunhoff – einem Schü-ler Edwin Fischers und Alfred Cortots – bleiben. Auf diesen Dich-ter-Musiker, der leider während Sermets Studium in einen Orden eintrat und seinen Studenten verliess, bezieht er sich auf intellektu-eller und geistiger Ebene auch heute noch. Mit 19 Jahren erwarb er das Konzertdiplom und besuchte die letzten Kurse von Nadia Bou-langer. In London wurde er von Maria Curcio unterrichtet, welche in der Tradition von Artur Schnabel und Benjamin Britten lehrte. Diese ereignisreiche Zeit wurde von den bereits erwähnten Erfolgen begleitet; sie zwang ihn aber auch zum Innehalten und zum Nach-

denken über sein Leben, das er als unreal empfand und an ihm vor-beizuziehen sah.

Dem Concours Géza Anda 1985 – auf den er sich während 3 Monaten vorbereitete – und seiner Auszeichnung in Zürich ver-dankte er die Wiederentdeckung seiner Freude am Beruf des Pia-nisten und an den Vorzügen einer Karriere. Es folgten Einladungen von den besten Orchestern und die Anerkennung grosser Dirigen-ten; er spielte u. a. in den Vereinigten Staaten, in Japan, Korea und Mexiko. Er war sozusagen ständig unterwegs, als müsste er das alte arabische Sprichwort umsetzen, wonach «der Reisende, auch wenn er angebunden ist, nicht auf der Stelle bleiben kann».

Als anerkannter Pädagoge unterrichtete er von 1980 bis 1988 an der Akademie Prince Rainier III. in Monaco und widmete sich gleichzeitig auch dem Komponieren. Als Konzertpianist erar-beitete er sich damals ein breit gefächertes Repertoire. Sein Spiel wird immer wieder als poetisch, musikalisch-singend, virtuos und äusserst farbenreich beschrieben.

Seine zahlreichen CD-Einspielungen, die in der ganzen Welt Preise einheimsten, bezeugen seine Neugier für selten gespielte Werke, darunter zum Beispiel jene für 2 Klaviere und zu 4 Händen von Reynaldo Hahn, die Symphonie Concertante von Florent Schmitt, Florilège de pages von Charles-Valentin Alkan und Ludus tonalis von Paul Hindemith. Im Weiteren sind die Sonate Nr. 2 und Etudes tableaux von Sergej Rachmaninow oder die in Japan erfolgte Einspielung von Bartóks Klavierkonzert Nr. 2 zu nennen. Seine In-terpretation von Liszts h-Moll-Sonate findet im Classica Magazine viel Beachtung und wird als eine der allerbesten gerühmt.

Bei allem Künstlerdasein behält er seine Echtheit. In Herz und Geist Franzose geworden, blieb Hüseyin Sermet trotzdem im-mer seinen türkischen Wurzeln treu. Das Porträt von Mustafa Ke-mal, dem Erneuerer der Türkei, hängt über dem Klavier in seiner Pariser Wohnung. Die Universitäten von Istanbul und Marmara verliehen ihm die Ehrendoktorwürde, und 1991 wurde er mit dem begehrten Titel «Künstler des Staates» ausgezeichnet.

Sermets Pläne sind vielfältig. Zurzeit arbeitet er im Auf-trag der Is Bank an einer Komposition mit dem Titel Sculptures II, welche zusammen mit Sculptures I als Diptychon angelegt ist. In Verbindung mit einer Choreographie nimmt diese Partitur einen Platz zwischen klassischer Musik und Jazz ein. Hinzugefügte Per-kussionsinstrumente lassen Erinnerungen an den Orient aufkom-men. Diese Kraft, nur weiter der Musik zu dienen, kommt ganz aus seinem Innern und lässt ihn unentwegt den von ihm gewählten Weg weitergehen. <

Géza Anda-Preisträger – Porträts

Hüseyin Sermet wurde 1955 in Istanbul geboren. Ein Stipendium führte den Pianisten früh ans Conservatoire National de Paris, wo er bei Thierry de Brunhoff, Olivier Messiaen und Nadia Boulanger studierte. Seine Ausbildung vervoll- ständigte er bei Prof. Maria Curcio in London. Neben dem 2. Preis beim Concours Géza Anda 1985 in Zürich wurde er mit weiteren Preisen, u.a. in Santander und Brüssel ausgezeichnet. Sermet ist heute international ein gefragter Pianist, Pädagoge und Komponist. Zahlreiche preisgekrönte CDs sind bei Naive, Harmonia Mundi und Erato erschienen.

Der türkische Pianist Hüseyin Sermet, Preisträger im Jahr 1985.

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«Der Concours war ein Wendepunkt»Im Jahr 2000 gewann der finnische Pianist Henri Sigfridsson den zweiten Preis beim Concours Géza Anda und zudem den Publikumspreis. Sein natürliches Auftreten und Musizieren zogen die Zuhörer unmittelbar in ihren Bann. Eine Begegnung in Zürich.

Von Thomas Meyer

Als Henri Sigfridsson kürzlich einen Meisterkurs an der Zürcher Hochschule der Künste gab, bot sich die Gelegenheit, ihn an einem für seine Karriere wichtigen Ort zu treffen. Sein natürliches Auf-treten und Musizieren zogen die Zuhörer unmittelbar in ihren Bann. Er sei kein Selbstdarsteller, aber ein hoch begabter Solist, schrieb damals Olivier Senn vor dem Finale im Zürcher Tages-An-zeiger. Sigfridsson sagte dazu: «Ich weiss, wenn man ein Solist ist, dann ist man der Star und darf die Diva sein. Mir ist aber die Mu-sik wichtig.» Damals meinte er noch, sich entscheiden zu müssen, ob er den Weg einer glamourösen Solokarriere einschlagen sollte oder vielleicht doch die stillere Laufbahn eines Kammermusikers.

Beides gelang. Und wenn man hinzufügen möchte, Sigfridsson tendiere ein wenig zur zweiten Alternative, so nur, weil ihm die Welt des Glamours auch heute noch fern liegt. Sigfridsson vereint beides: Als Solist wird er hochgeschätzt, gleichzeitig ist er ein hervorragender Kammermusiker, der zum Beispiel mit Musi-kerinnen wie Patricia Kopatchinskaja und Sol Gabetta auftritt. Zü-rich war auf diesem Weg eine entscheidende Station. «Der Con-cours war ein Wendepunkt: Ich begann aktiv Konzerte zu spielen. Es spricht für diesen Wettbewerb, dass ich als Zweitpreisträger eine Karriere anfangen konnte. Durch diesen Preis bekam ich viele Konzerte, Connections und schliesslich auch eine Agentur.» Sigfridsson hatte damals schon einige Wettbewerbe hinter sich mit diversen Auszeichnungen. «Es müssen innerhalb von fünfzehn Jah-ren so um die zehn gewesen sein», meint er und wägt ab: «Also an sich nicht so viele. Damit bin ich wohl eher an der unteren Grenze. Wenn ich sehe, wie die jungen Leute vom einen zum nächsten Wettbewerb fahren, manchmal fast gleichzeitig an zweien auftre-ten, frage ich mich, wie sie das schaffen.»

Wie für viele andere Teilnehmer wurde für ihn der Geist Géza Andas selbst spürbar. Intensiv erinnert sich Sigfridsson an die Schilderungen des englischen Musikwissenschaftlers Bryce Morri-son, der in der Jury sass und den jungen Musikern Anda näher-brachte. «Anda war ein einmaliger Künstler: Er hatte Persönlich-keit. Es gibt so viele Leute, die gut, aber nur wenige, die einmalig und persönlich spielen und die einem wirklich in Erinnerung blei-ben.» Sigfridsson wollte mehr erfahren, fragte alle Dirigenten aus, die einmal mit Anda zusammengespielt hatten, und hörte seine Platten. «Ich bewundere seine Aufnahmen. Immer ist dort Seele zu spüren. Die Virtuosität steht nicht im Vordergrund, sondern die

goletto-Paraphrase unterrichtet. Die junge Dame, die sie spielte, ist sehr begabt und hat phänomenale Finger, und doch habe ich mich dabei immer wieder gefragt: Warum hat Liszt diesen Lauf ge-schrieben? Der arme Komponist musste ihn ja irgendwie nieder-schreiben, und wir müssen ihn wieder zum Leben erwecken. Wir müssen nicht nur die Töne, sondern die Musik reproduzieren.»

Musik ist eine Sprache, eine Art der Kommunikation. Sigfridsson ist ein Musiker des Dialogs, er hört zu, geht auf die Part-ner ein – daher erstaunt es nicht, dass er gern unterrichtet: «Ich habe gemerkt, dass ich die Arbeit mit anderen Menschen geniesse und helfen kann. Dass die Schüler dadurch etwas entdecken können, ist eine grosse Freude. Das ist fast genauso schön, wie wenn jemand nach einem Konzert mit Tränen in den Augen kommt und sagt, wie schön es war.» Seit 2011 ist er Professor an der renommierten Folkwang Universität der Künste in Essen. Diese Tätigkeit berei-chert ihn auch als Pianist ungemein: «Der Lehrer ist eigentlich ein Profizuhörer. Das klärt die eigenen Gedanken und bringt auch mir selbst technisch enorm viel, wenn ich Probleme lösen muss. Wenn ich so gut spielen könnte, wie ich es von meinen Schülern verlange,

Seele und eine Musikalität, wie ich sie selten auf CDs höre. Phäno-menal. Zudem war er unglaublich vielseitig. Das zeigt eben auch, wie er seine Seele in jedem Stil entfalten konnte.»

Sigfridsson wurde vor allem davon geprägt, wie Anda Mu-sik vergeistigen konnte. «Es ist immer wahrhaftig musiziert – und das ist das Grösste. Es ist auf jeden Fall mein Ziel, irgendwann ein-mal so zu werden, dass ich, selbst wenn für niemanden anderen, so doch wenigstens für mich selbst, eine persönliche Note habe. Letzt-lich berührt das auch den Hörer. Ich freue mich, und ich kann wohl auch sagen, dass ich heute viel einmaliger spiele als damals vor elf Jahren.» So hat Zürich und der Concours für Henri Sigfridsson in vielerlei Hinsicht Bedeutung bekommen. Positive Wettbewerbs- erfahrungen also. Was davon gibt er nun seinen eigenen Schülern mit, wenn sie an einem grossen Wettbewerb teilnehmen möchten? Wie bereitet er sie vor? Zuerst einmal reagiere er zurückhaltend und eher streng, weil er das Niveau der grossen Wettbewerbe kenne. «Viele denken: Jetzt habe ich mein Repertoire zusammen, ich kann diese Stücke einigermassen gut spielen, also nehme ich am Wettbe-werb teil. Da sage ich: Halt! Das reicht überhaupt nicht! Will man gut vorbereitet sein, muss man sich auf ein altes Repertoire stützen können, das man in jedem Zustand problemlos inspiriert spielen kann. Man soll diese Stücke möglichst oft vorspielen. Dabei bin ich ganz ehrlich: Wenn ich feststelle, dass es nicht gut genug ist, rate ich ab. Wenn ich sie aber gehen liess, haben sie normalerweise auch gut gespielt und einen Preis gewonnen.»

Ist es dabei ratsamer, auf Nummer sicher zu gehen oder auf Risiko zu spielen? «Einige meiner asiatischen Schüler haben, besonders am Anfang, als sie zu mir kamen, auf Nummer sicher gespielt. Damit bin ich überhaupt nicht einverstanden. Für mich ist das Musizieren viel zu wichtig. Es ist mir egal, ob ein paar falsche Töne vorkommen. Wenn sie sich dann nach einiger Zeit Unterricht in die Musik werfen und fantastisch musizieren, bin ich wirklich stolz auf sie. Doch oft beginnen sie aber genau in dem Moment falsch zu spielen. Einige meiner Schüler sind deshalb nun in einer Phase, in der sie lernen, trotz des Musizierens, technisch sicher zu werden. Eine Argerich oder ein Kissin können ja auch wunderbar musizieren und trotzdem sauber spielen. Es ist also möglich.» Und er lacht. Blanke Virtuosität freilich steht für Henri Sigfridsson nicht im Vordergrund. Dazu kommt ihm ein Beispiel aus seinem Zür-cher Meisterkurs in den Sinn: «Gerade heute habe ich hier die Ri-

wäre ich echt super.» Der Unterricht lasse sich für ihn auch prob-lemlos mit dem Konzertieren verbinden. Es gebe da höchstens ein Organisationsproblem: «Am meisten kämpfe ich um meine Übe-zeiten.» Nach etlichen Stunden Meisterkurs und einem Interview würde man doch gern noch den Abend in Zürich ein wenig genies-sen … Aber nichts da! «Da muss ich mit mir knallhart sein und sa-gen: Egal, wie müde du bist oder wie schön es wäre, mit Freunden auszugehen, jetzt musst du üben. Nachher bist du nicht zufrieden, wenn du es nicht gemacht hast.» Und so verabschiedet er sich von mir und zieht sich in ein Klavierzimmer zurück. <

Henri Sigfridsson wurde 1974 im finnischen Turku geboren, wo er sein Studium am Konservatorium begann. Weitere Studien führten ihn in die Klasse von Prof. Erik T. Tawaststjerna an die Sibelius-Akademie Helsinki und nach Köln in die Meisterklasse von Prof. Pavel Gililov an der dortigen Musikhochschule. Von 1995 bis 1997 studierte er auch in der Klasse von Lazar Berman in Weimar. Sigfridsson tritt solistisch auf, ist aber auch oft Kammermusikpartner von Sol Gabetta und Patricia Kopatchinskaja. Er lehrte in Graz und an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin, bevor er 2011 eine Professur an der Folkwang Universität der Künste in Essen annahm. www.henrisigfridsson.com.

Géza Anda-Preisträger – Porträts

Der finnische Pianist Henri Sigfridsson, Preisträger im Jahr 2000.

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«Den Flügel zum Singen zu bringen» Concours Géza Anda 2009: Ein denkwürdiges Finale mit einer gewissen Dramatik. Zwei Finalisten aus Russland hatten zuvor gespielt, Beethoven, gekonnt und mit vollem Einsatz. In der Hoffnung, die Spannung möge erhalten bleiben, ging man in die Pause – und tatsächlich: Danach sollte ein junger koreanischer Pianist mit dem schwierigen und unberechenbaren 1. Brahms-Klavierkonzert antreten: Jinsang Lee.

Von Thomas Meyer

europäischen Musiktradition aufgewachsen. Und das bestimmt auch sein Repertoire, das von Bach bis ins 20. Jahrhundert reicht.

Dennoch würde er gern einen Bogen zu seiner Heimat schlagen und sich die Klavierwerke von Isang Yun (1917–1995) an-eignen, dem grossen koreanischen Komponisten, der lange im Exil lebte und der wie kaum ein anderer westliche und fernöstliche Mu-siken verbunden hat. Jinsang Lee schätzt nicht nur seine Werke, er fühlt sich ihm auch in gewisser Weise seelenverwandt. «Ich bin in einer ähnlichen Situation, denn ich lebe als Koreaner in Europa, weit weg von meiner Heimat.» Dahinter verbirgt sich durchaus eine tiefe Nostalgie. Sehnsucht sei nach der Liebe die zweite grosse Emo-tion für die Musik, meint Lee. Vielleicht spielt er deshalb so gern Chopin, der wie auch Rachmaninow oder Albéniz von seiner Hei-mat träumte. Das drückt sich musikalisch zum Beispiel in der Ge-sanglichkeit aus, die Jinsang Lee auf dem Klavier zu erzeugen ver-sucht. Wie viele Pianisten vor ihm strebt er an, auf dem Instrument den Atem, die Schwingung, das Belcanto der menschlichen Stimme nachzuempfinden. «Ich denke, dass es mir noch nicht immer gelin-gen will», sagt er, wieder äusserst selbstkritisch. «Es ist ein perma-nentes Versuchen. Technisch ist es natürlich unmöglich, auf dem Klavier zu singen, aber es geht um den Willen, geistig dorthin zu gelangen. Das ist faszinierend. Nicht in der Realität zu bleiben, son-dern zu träumen …» Deshalb arbeitet Jinsang Lee, seit er in Europa lebt, gerne mit Sängern zusammen – wie er auch Kammermusik besonders liebt. «Meine ganze Freude war es von Anfang an, zu-sammen zu musizieren, nicht allein. Das ist wie ein Gespräch. Ich brauche es für meine Ernährung.»

Beim Spiel versenkt er sich in den Klang. Jinsang Lee ist ein Perfektionist (obwohl er bei diesem Begriff abwägt, ob er denn stimmt) oder sagen wir lieber: Er richtet sein Ohrenmerk genau auf Details. Man höre sich einmal an, wie er in Mozarts G-Dur-Kon-zert KV 453 das Klavierthema in der linken Hand begleitet – und spürt gleichsam die Liebe zu den Hämmern, die hier auf die Saiten schlagen. Er scheint ins Innere des Instruments hineinlauschen zu wollen. Das Klavier ist eine Erkundungsreise wert. <

Erinnerungen tauchten auf: Hatte nicht der Namensgeber des Wettbewerbs, Géza Anda, einst hier mit dem Tonhalle-Orchester unter Ferdinand Leitner dieses Stück aufgeführt, leidenschaftlich, ja draufgängerisch, aber auch stellenweise etwas unbeherrscht? Und nun spielte dieser junge Musiker, als ob ihm dies alles keine Mühe bereiten würde, kraftvoll, aber nie hart, mit einer wunderbaren Mu-sikalität, ausbalanciert, überzeugend und ungemein locker, wie es schien. Kein Wunder, dass er nicht nur den Hauptpreis gewann, sondern auch den Publikumspreis sowie jene für die beste Mozart- und Schumann-Interpretation. Seine Konzerte haben seither diesen Eindruck bestätigt: Jinsang Lee begeistert das Publikum und die Kritiker.

Der Concours und Zürich hätten ihn damals stark moti-viert, sagt er. Und er habe hier viel Unterstützung erfahren für sein weiteres Musikerleben, vor allem durch die zahlreichen Konzerte, die vermittelt würden. «Der Concours steht am Anfang einer sehr persönlichen Beziehung.» Das gerade schätzt Jinsang Lee.

1981 kam er in Seoul zur Welt. Er stammt nicht aus einer musikalischen Familie, und doch scheinen sich in seinen pianisti-schen Fähigkeiten noch jene der Eltern zu spiegeln: die Gestal-tungskraft des Vaters, eines Architekten, und die Behändigkeit und Geschmeidigkeit der Mutter, einer professionellen Pingpongspiele-rin. «Pingpong ist eine sehr musikalische Sportart. Ich kenne viele Musiker, die es gern spielen.» Zur Musik kam Jinsang Lee eher durch Zufall: Er begleitete seine Schwester zum Klavierunterricht und war sofort Feuer und Flamme. Zunächst studierte er in Korea, ab 2003 setzte er seine Studien in Deutschland fort. Bevor er nach Zürich gekommen war, hatte er bereits mehrere Wettbewerbe ge-wonnen. So selbstverständlich das alles klingen mag, so ist doch an-zufügen, dass Jinsang Lee nicht eine geradlinige Karriere verfolgt. Er ist eher der Typ des ständigen Zweiflers, er hinterfragt seine Ar-beit, bastelt an bestimmten Problemen, sucht weiter – und träumt auch ein bisschen.

Für den Concours Géza Anda habe er sich nicht aus Kar-rieregründen angemeldet. Er weiss selbst, wie seltsam das klingt, sagt er bei unserem Gespräch, denn jeder gehe zu einem Wettbe-werb, um zu gewinnen. Aber sein Antrieb sei es eher gewesen, zur Selbstdisziplin zurückzufinden und sein Spiel in den Griff zu be-kommen – was ihm auf eindrückliche Weise gelang. Er sei damals zunächst sehr nervös gewesen, erinnert sich Jinsang. «Doch nach drei Runden hatte ich das Gefühl, das Publikum freue sich auf mein Spiel.» Und das motivierte ihn ungemein. So wagte er sich an das leidenschaftlich aufgeladene Brahms-Konzert, ein Stück, das er erst kurz zuvor einstudiert und noch nie öffentlich gespielt hatte. «Ich wollte es unbedingt einmal spielen und habe es ganz mutig ausge-wählt. Und ich glaube: Ohne Risiko entsteht keine grosse Musik.»

Die bei Musikern aus dem Fernen Osten von Kritikern häufig argwöhnisch vermutete Glattheit der Interpretation wird man bei Lee nicht hören. Sein Spiel ist sehr persönlich geprägt. Schwierigkeiten mit der europäischen Kultur kannte er nicht; wie andere bekannte koreanische Musiker ist auch er in der klassisch-

Jinsang Lee wurde 1981 in Seoul ⁄ Südkorea geboren. Nach Abschluss der Ausbil-dung bei Prof. Daejin Kim an der Korean National University of Arts führten ihn seine Studien dank eines Stipendiums nach Europa an die Hochschule für Musik Nürnberg (Prof. Wolfgang Manz und Julia Goldstein) und später an die Hoch-schule für Musik Köln (Prof. Pavel Gililov). Auf seinen 1. Preis beim Concours Géza Anda 2009 folgt eine rege Konzerttätigkeit in Europa und Asien, welche zu zahl-reichen Wiedereinladungen führt. Jinsang Lee ist ausserdem ein passionierter Kammermusiker. www.jinsanglee.com

Géza Anda-Preisträger – Porträts

Links: Der südkoreanische Pianist Jinsang Lee, Gewinner im Jahr 2009.

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«Man bekommt eine gewisse Weisheit und Übersicht»Aus Sibirien stammt er, in Moskau wurde er ausgebil-det, heute lebt er in Zürich: Konstantin Scherbakov gilt als Grossmeister des virtuosen und vollgriffigen Klavierspiels. Aber langsam verabschiedet er sich von diesem Repertoire und begibt sich auf die Suche nach Einfachheit, Tiefe und Wahrheit.

Von Reinmar Wagner

Wo man auch hinhört, eine Eigenschaft wird Konstantin Scherba-kov von allen Seiten attestiert: Mut. Keine Angst vor furchterregen-den Klavierkonzerten wie etwa Rachmaninows berühmter Num-mer Drei. Im Gegenteil: Für Scherbakov war dieser Komponist die Tür zur grossen Karriere: 1983 gewann er in Moskau den Rachma-ninow-Wettbewerb, 1990 spielte er an vier Abenden beim Festival im italienischen Asolo das gesamte Solo-Klavierwerk vor den wohl-wollenden Ohren des grossen Swjatoslaw Richter.

Keine Angst kennt Scherbakov aber auch vor markanten Meinungen: Wettbewerbe zum Beispiel seien «reine Lotterie: Ob du einen ersten, zweiten oder keinen Preis gewinnst, darüber ent-scheidet nicht dein Klavierspiel allein. Manchmal fallen die Karten so, manchmal so. Und am Ende zählt eh nur der erste Preis.» Dass er beim Concours Géza Anda 1991 auch «nur» Zweiter war und dennoch eine grosse Karriere gemacht hat, tut er mit einem Schul-terzucken ab: «Es hat mir geholfen. Ich erhielt einige Auftritte, konnte mich zeigen und wichtige Kontakte knüpfen.»

Wettbewerbe sind wichtig. Aber sind sie unverzichtbar für eine Karriere? «Sicher nicht! Gib mir zehn Millionen Euro, und ich sorge dafür, dass du wahrgenommen wirst. Wenigstens zwei, drei Jahre lang kann man mit Geld eine Karriere anschieben. Später ist man aber doch auf sich allein gestellt.» Heute sitzt Scherbakov selbst in den Jurys wichtiger Wettbewerbe, und seine Schüler kehren als strahlende Sieger heim, wie 2010 Yulianna Avdeeva vom renom-mierten Chopin-Wettbewerb in Warschau. Umso mehr Gewicht hat seine Einschätzung des Concours Géza Anda: «Es ist ein traditio-neller, ernsthafter Wettbewerb mit einer seriösen Jury, die Wert legt auf die bleibenden, echten und ewigen Werte der klassischen Mu-sik, und nicht, wie andere, auf Show und Entertainment setzt. Ich hoffe, dass das so bleiben wird.»

Für Scherbakov hatte der Wettbewerb noch eine weitere Konsequenz: Als die Sowjetunion zerfiel, zog er mit seiner Familie nach Zürich. Nach dem Gewinn des Rachmaninow-Wettbewerbs hatte er neun Jahre lang kreuz und quer in Russland gespielt, in Konzertsälen und Fabrikhallen: «Ich bekam Anfang des Jahres ei-nen Plan mit meinen Konzerten. Das war in Ordnung für mich. Wichtig war, dass ich spielen konnte. Manchmal an unmöglichen Orten zwar, auf Instrumenten, die weit entfernt davon waren, brauchbar zu sein, vor einem Publikum, das wenig Kenntnisse hatte, aber gerne zuhörte.»

All das aber brach zusammen: «Spielen konnte ich beinahe nur noch, wenn ich auf eine Gage verzichtete und die Reise selbst bezahlte.» Unhaltbare Zustände, also blieb nur der Sprung in den Westen. Der Kulturschock in Zürich war allerdings weniger gross als derjenige 1978, als der 15-jährige von der sibirischen Provinzstadt Barnaul, wo er schon mit elf Jahren Solist im ersten Klavierkonzert von Beethoven war, nach Moskau kam. Denn das war unverzicht-bar: Wer in der Sowjetunion etwas werden wollte, musste weg aus der Provinz. Konstantin Scherbakov wurde Schüler des berühmten Lev Naumov, der einst bei Heinrich Neuhaus ausgebildet wurde.

Im Westen war es dann vor allem die Hochphase der CD, die Scherbakovs Karriere vorantrieb. Beim Wettbewerb Long-Thi-baut in Paris schied er zwar in der ersten Runde aus, aber im Pub-likum sass ein Agent, den er überzeugt hatte, und der ihm eine CD-Produktion beim Label Marco Polo vermittelte: Carte blanche, einzige Bedingung: Musik, die noch nicht auf CD verfügbar war. Scherbakov wählte die Etudes d’exécution transcendente des russi-schen Komponisten Sergej Lyapunov. Schnell folgten weitere CDs: Konzerte von Medtner und Respighi, von Tschaikowsky und Rach-maninow, Solo-Klavierstücke von Beethoven bis Schostakowitsch. Bald 40 CDs tragen den Namen Scherbakov, darunter auch die kürzlich vollendete Einspielung von Beethovens Sinfonien in den kongenialen Arrangements von Franz Liszt und die ersten acht Fol-gen einer Gesamtaufnahme des horrend schweren Klavierwerks des polnischen Komponisten Leopold Godowsky.

Scherbakov legte damit den Grundstein für seinen Ruf als Meister des schweren spätromantischen Klavier-Repertoires. Aber wie so oft mit solchen quasi sportiven Herausforderungen, deren

Beherrschung man irgendwann zur Genüge bewiesen hat: Es be-ginnt zu langweilen. «Ich sage nicht, dass das schlechte Musik ist», meint Scherbakov, «und es ist ohne Frage sehr wichtig, dass sie ge-spielt und aufgenommen wird. Aber für mich persönlich ist diese Phase des Pianistenlebens nun langsam vorbei.»

Gibt man ein Markenzeichen so einfach ab? Nicht über Nacht, sagt Scherbakov. Die Godowsky-Totale wird er vollenden. Aber er möchte sich in Zukunft auf die «ewigen» Werke der Klavierliteratur konzentrieren. «Ich habe eine sehr ausführliche Reise durch viele Facetten des Repertoires gemacht. Ich habe über zwanzig Jahre lang unzählige Stunden gearbeitet, um neue Stücke zu lernen. Ich habe das mit viel Enthusiasmus und grosser Faszi-nation getan. Aber nun möchte ich mit dieser Erfahrung auf die grossen Werte des Repertoires zurückkommen, auf Schubert, auf Mozart. Ich möchte meine Zeit darauf verwenden, Kostbarkeiten zu finden, in die Tiefe zu gehen, das Gramm Gold in der Tonne Schlamm zu finden.»

Ganz klar, dass die Erfahrung dabei hilft: «Man spielt viel fokussierter, konzentrierter. Es ist wie im Leben: Man bekommt eine gewisse Weisheit und Übersicht.» Scherbakovs jüngste CD gibt die Richtung vor: «Me – On wings of song»: vom virtuosen Beherr-scher des Instruments zum lyrischen Sänger auf dem Klavier. «Dass ich schnell spielen kann, habe ich in den letzten dreissig Jahren zur Genüge bewiesen. Jetzt möchte ich zeigen, dass ich mit einfachen Mitteln etwas erreichen kann, das neben pianistischer Meisterschaft sehr viel Erfahrung und Geschmack erfordert.» <

Konstantin Scherbakov wurde 1963 im sibirischen Barnaul geboren. Sein Studium brachte ihn ans Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium zu Prof. Lev Naumov. 1983 gewann er den 1. Rachmaninow-Wettbewerb. Kurz nach Erhalt des 2. Preises und des Fernsehpreises beim Concours Géza Anda 1991 siedelt er mit seiner Familie in die Schweiz über. Seit Jahren hat er eine Professur an der Hochschule der Künste Zürich. Weltweit ist er auf Konzert-podien mit einem breit gefächerten Repertoire zu hören. Viel Beachtung finden auch seine zahlreichen CD-Einspielungen bei EMI-Classics, Naxos und Marco Polo. www.konstantinscherbakov.com

Géza Anda-Preisträger – Porträts

Der russische Pianist Konstantin Scherbakov, Preisträger im Jahr 1991.

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Impressum

Gründer Arnold Kübler (1890 – 1983)

Verleger und Chefredaktor Oliver Prange [email protected]

Verlagsleiter Oliver Burger [email protected]

Autoren Christian Berzins, Michel Le Naour Dr. Martin Meyer, Thomas Meyer Prof. Dr. Wolfgang Rathert, Dr. Bruno Rauch, Reinmar Wagner

Art Director Matthias Frei [email protected]

Photo Director Lars Willumeit [email protected]

Abschlussredaktion Roy Spring

Lektorat Marion Hertle

Druck gdz AG Spindelstrasse 2 CH-8041 Zürich Telefon +41 (0)44 488 81 11

Herausgeberin Du Kulturmedien AG Stadelhoferstrasse 25 CH-8001 Zürich

Redaktion und Verlag Telefon +41 (0) 44 266 85 55 Telefax +41 (0) 44 266 85 58 [email protected] [email protected]

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Géza Anda

BILDNACHWEIS:Werner Neumeister: Cover, Seite 3 und 19 r. o.; Privatarchiv Géza Anda: S. 2, 7 l., 10  – 11( 4), 13 (2),  16 o., 25, 27– 30, 43 r., 46 ⁄ 47; Monika Müller: S. 6, 14 ⁄ 15, 16 u.; Ursula Markus: S. 7 r.; John Ardoin: S. 9; Siegfried Lauterwasser, Überlingen: S. 16 M., 24; Anthony Altaffer: S. 17; Klaus Hennch: S. 18; J. Laubacher jr. : S. 19 l., András Borgo,:  S.  19  r. u.;  Brigitta  Kowsky:  S.  33;  Thomas  Müller ⁄ Agentur  Focus:  S.  37;  Ursula Markus: S.  40; Photopress-Archiv ⁄ Keystone: S. 43 l.; Endre Schwanner: S. 45; Fabian Unternährer für Du: S. 50 – 65

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