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Durch die wilde Durch die wilde Ganz klein wird der Mensch in der Areuse-Schlucht. In diesem wildromantischen Jura-Einschnitt gibt es die wohl vielfältigste Fauna der Schweiz. Dem Wanderer begegnen im Val de Travers, fern der Alpen, Steinböcke, Gämsen und Murmeltiere. Text und Fotos: Andreas Krebs

Durch die wildeDurch die wilde - natuerlich-online.ch · dem Auto angereist ist, wählt besser den Weg über die Brücke und wandert von hier in 30 Minuten zur Bahnstation Bôle,

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Page 1: Durch die wildeDurch die wilde - natuerlich-online.ch · dem Auto angereist ist, wählt besser den Weg über die Brücke und wandert von hier in 30 Minuten zur Bahnstation Bôle,

Durch die wilde Durch die wildeGanz klein wird der Mensch

in der Areuse-Schlucht. In diesem

wildromantischen Jura-Einschnitt

gibt es die wohl vielfältigste Fauna

der Schweiz. Dem Wanderer

begegnen im Val de Travers, fern

der Alpen, Steinböcke, Gämsen

und Murmeltiere.

Text und Fotos: Andreas Krebs

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Wanderung NATUR

Der Lokalzug «Nina» fährt losvom Bahnhof hoch über derStadt Neuenburg. Der See ist ver-schwunden im hartnäckigen Ne-

bel, der die Unterländer schon so langenervt. Ein grüner Zauberlehrling klebt an«Nina», der weissen Lok; aus dem Grausoll er wohl Familien in die TransportsRegionaux Neuchâtelois (TRN) zaubern.

TRN «Nina» bringt Familien, fremdeWanderer und heimische Teenager durchWeinberge via Champ du Moulin vorbeian herrschaftlichen Anwesen und Reb-häuschen des Neuenburger Landes. Allesist nebelverhangen, bis «Nina» nachNorden abbiegt und der See hinter Waldverschwindet, auch an nebelfreien Tagen.

In Bôle steigt eine alte Frau zu. Munterredet sie drauflos, und «Nina» fährt in einTal, wo die Sonne immer mehr durch dieimmer dünner werdende Nebeldeckedrückt. Der Himmel sieht aus wie mitMilch übermalt. Durch kurze Tunnelsfährt «Nina» bis nach Noiraigue und ohnedie Wanderer weiter bis nach Travers.

Rousseau und die BärentatzeIn Noiraigue startet die Wanderung unddie in Bôle zugestiegene Frau ruft zumAbschied aus dem Abteilfenster: «Alors,une belle ballade!» Ach ja, auf Französischist eine Wanderung eine Ballade, alsoetwas Dramatisches. Dramatisch wird esaber erst später in der engen Schlucht.Zuerst erfreut man sich der Sonne, diehier hinten im Tal über den Nebel end-gültig gesiegt hat, zumindest für heute.

Vom Bahnhof geht es auf der Strassetalabwärts Richtung Creux-du-Van undFerme Robert, einem skurrilen Gasthof,über dessen Eingang verwitterte Bären-tatzen hängen; angeblich die Prankendes letzten Petzes, der in einem helden-haften Kampf Mann gegen Bär im 18.Jahrhundert getötet wurde. Tatsächlichaber gehörten die Tatzen einem Bären,der sehr viel später häppchenweise denGästen serviert wurde. Im Speisesaal, indem eine ausgestopfte Eule schwebt, hat

auch der Naturromantiker Jean-JacquesRousseau gegessen.

Friedliche, ruhige AreuseDie Ferme Robert ist aber noch fern, manwandert erst vorbei an einer alten Laiteriebis zum Bahnübergang. Ohne die Geleisezu überschreiten, folgt man ihnen weiterabwärts im vorerst recht weiten Tal. Linksrauscht die Areuse, rechts donnert eineLok vorbei. Dann ist es ruhig. Sehr ruhig.

Erst beim blauen Haus überquert derWanderer die Geleise, die Areuse unter-quert sie und ein Teil des Flusses wirdzu einem Kraftwerk geleitet. Die Areuseentspringt auf 799 Meter über Meer inder Klus von Saint-Sulpice und mündet31 Kilometer später an der Gemeinde-grenze zwischen Boudry und Cortaillodauf 431 Meter in den Neuenburgersee.Die Areuse ist der bedeutendste Fluss desKantons Neuenburg: Sie versorgt 70 Pro-zent der Bevölkerung mit Trinkwasser.

Nach dem blauen Haus kommt eineBrücke, von der man die Areuse zumersten Mal richtig zu sehen bekommt:Zehn Meter tiefer fliesst sie, gurgelt undplätschert über grün bemooste Steine,gleitet durch eine kleine Schlaufe, bevor

sie links wegfliesst und sich vorüber-gehend des Wanderers Blick entzieht –friedliche, ruhige Areuse.

Ein wütender Riese mit gewaltiger AxtDirekt nach der Brücke steigt der Wandererschnaufend ab zur Areuse, und diesesteigt schäumend noch weiter ab über diezwei künstlichen Stufen des Saut de Brotund verschwindet in einem 100 Metertiefen Felsspalt, dessen gewaltige, überhän-gende Flanke Wanderer schier erdrückt.Die wildromantische Gorge de l’Areuseist seit 1875 durch ein Wegnetz zugänglichund steht seit 1972 unter Naturschutz.An den Felsen über der Schlucht warentausende Jahre früher steinzeitlicheHöhlensiedlungen bewohnt.

Der Wanderer überquert eine Stahl-brücke und tritt ein in eine andere Welt.Ein Riese hat hier mit einer gewaltigenAxt seinem Ärger Luft verschafft. Oderwar es die Areuse, die in Jahrhundertendie imposante Landschaft gestaltet hat?Der Creux-du-Van rechterhand auf 1463Meter Höhe ist eines der beeindruckend-sten Naturphänomene im Jurabogen: einegewaltige, 500 Meter hohe Felsarena. Von

Areuse-WanderungBeste Wanderzeit: Frühling bis Herbst. Im

Winter ist der schmale Pfad oft vereist, und

die Wanderung gefährlich. Schnee und Eis

bleiben in der tiefen Schlucht an schattigen

Stellen lange liegen. An schönen Sonntagen

sind Wanderungen auf den Creux-du-Van

sehr beliebt, ruhiger ist es dort unter der

Woche. Dann haben Wanderer gute Chancen,

Steinböcke und Gämsen zu entdecken.

Ausrüstung: Trekkingschuhe, Wanderkarte

1:50 000, Blätter 241T und 242T

Anreise: Noiraigue liegt an der Strecke

Neuenburg–Vallorbe

Rückreise: Boudry liegt an der SBB-Strecke

Neuenburg–Yverdon; der Bahnhof liegt eine

halbe Stunde ausserhalb des Städtchens.

Regelmässiger fahren Trams nach Neuen-

burg.

Wanderzeit: Von Noiraigue bis Boudry gut

drei Stunden, in umgekehrter Richtung etwa

dreieinhalb Stunden.

Schutzstatus: Der Creux-du-Van und die

Gorge de l’Areuse stehen seit 1972 unter

Naturschutz. Es hat sich eine prächtige Flora

entwickelt und eine der vielfältigsten Faunen

der Schweiz.

Areuse-Schlucht

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der 1200 Meter breiten, hufeisenförmigenKrone fallen die Felswände bis zu 200Meter senkrecht ab. Dieser einmalige Ero-sionszirkus barg zeitweise sogar eigene,lokale Gletscher, eine Serie von Endmorä-nen weist darauf hin. Im isolierten Kesselhat der einzige natürliche Buchen-Tannen-Wald der ganzen Gegend überlebt.

Kraftort an der FriedensmauerGanz unten im Kessel herrscht Perma-frost, obwohl er dazu eigentlich zu tiefgelegen ist (siehe Kasten unten). Hierentspringt auch die Quelle Fontainefroide, deren Wasser während des ganzenJahres zirka vier Grad kalt ist. Die Sohledes Kessels ist mit Moränen- und Berg-

sturzmaterial bedeckt, was darauf schlies-sen lässt, dass der mächtige Kessel nachder letzten Eiszeit infolge Erosion ent-standen ist. Eine zwei Kilometer langeTrockenmauer säumt die Arena. Eineinternationale Gruppe hat sie währenddes Zweiten Weltkrieges unentgeltlichgebaut und Friedensmauer genannt.

Esoteriker beschreiben den Creux-du-Van als Kraftort mit 26 000 Bovis-Ein-heiten. Die kann man wissenschaftlichnicht messen, deutlich spüren aber kannman die Glücksgefühle, die diese gran-diose Landschaft in einem auslöst.

Jede Schlucht hat ihren ganz spezifi-schen Charakter. Die Gorge de l’Areuseist vor allem unbeständig. Sie empfängtWanderer mit einem regelrechten Pau-kenschlag, eben dem Saut de Brot.

Gut gesicherter, vereister WegDer gut gesicherte, an Schattenstellenjedoch auch im Frühling noch vereisteWeg führt an der Wand der Schlucht

Die Felsarena Creux du VanDer Beginn seiner Entstehung geht in die Zeitder Jurafaltung zurück: Wo heute der Creuxdu Van in die Tiefe abfällt, lag ursprünglichdie Spitze einer Falte. Durch eine tektonischeVerschiebung des Geländes quer zur Faltunggelangten die inneren, zum Teil weicherenSchichten an die Oberfläche. An diesen wei-chen Lias-Schichten wirkte die Erosion beson-ders stark. Zusätzlich verstärkt wurde siedurch einen lokalen Gletscher, der sich in derEiszeit im Creux du Van bildetet, und das Halb-rund weiter auskratzte. Die Moränen diesesGletschers sind noch heute vorhanden. Nachder Eiszeit vergrösserte sich der Creux du Vandurch weitere Erosion ständig. Das hält bisheute an. Schutthalden unten an den praktischsenkrechten Wänden zeugen davon. Genaue Beobachter werden feststellen, dassan einigen Stellen im Innern der Felsarena dieBäume sehr viel kleiner wachsen als in derUmgebung, und auf der Karte ist eine Quellenamens «Fontaine froide» zu entdecken.Beides sind Anzeichen dafür, dass hier derBoden stark unterkühlt ist, auch wenn sichdie Gegend in einer Höhenlage befindet, diefür richtigen Permafrost viel zu tief liegt. EinProjekt des Eidgenössischen Instituts für

Schnee- und Lawinenforschung (SLF) erforschtdie Mechanismen dieser Unterkühlung, ihreWirkung auf die Pflanzenwelt sowie eventuelleEinflüsse der Klimaerwärmung.Übrigens: Auf älteren Karten wurde gelegent-

lich auch «Creux du Vent» geschrieben – dasist angesichts des oft herrschenden Windesverständlich. Heute glaubt man aber, dass dieSchreibweise mit «Van» sprachgeschichtlichkorrekter ist: Van bedeutet auf Keltisch Fels.

Langer Winter in der Areuse-Schlucht: Kälte und Wasser formen immer wieder eisige Stillleben

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über Treppenstufen zu einem Felsvor-sprung hoch über dem Flusslauf. Übereine alte Steinbogenbrücke führt er aufdie andere Flussseite.

Das Rauschen, Tosen, Gurgeln undPlätschern ist fast das einzige Geräuschhier unten in der Schlucht. Manchmalist hoch oben der lange Pfiff eines Raub-vogels zu hören – für alle Mäuse einWarnruf. Dann frische Wildspuren. Undkurz darauf verschwindet auf der anderenFlussseite der weisse Spiegel eines Rehsbergaufwärts im Unterholz.

Furchtlose Gämse und geduldiger SteinbockWenig später überquert eine Gämse denWeg. Just daneben bleibt sie stehen undblickt die Wanderer an, als könne siesich nicht entschliessen, sie gefährlichzu finden. Wie die Spuren im Schneebeweisen, gibt es hier auch Hirsche.Fuchs, Marder, Dachs und Iltis sind indieser Gegend ebenfalls zu Hause. Undhoch oben in der steilen Felswand

klettern die von Pro Natura zum Wildtierdes Jahres 2006 gemachten Steinböcke.Hier sind die Tiere gezwungen, in mittle-ren Lagen zu bleiben; ihre Genossen inden Alpen steigen selten unter 2000Meter über Meer ab.

Im Winter brauchen die bis zu 140Kilogramm schweren Tiere nur hundertGramm Nahrung am Tag. Den Restziehen sie von den Fettvorräten aufihren Buckeln ab. Moos und Flechtenfressen sie, dürres altes Holz auch, undwenn sie Harz an einem Arvenzweigriechen, kauen sie diesen Zweig so lange,bis das Harz flüssig wird und sie esschlucken können. Das dauert manchmaleine ganze Stunde. Geduldige, wildeTiere. Die Wanderer haben es einfacher:Nach eineinhalb Stunden Wanderungkönnen sie in Champ de Moulin eineRösti essen.

Hier orientieren sonnengebleichteInformationstafeln bildlich, jedoch nurmehr schwer leserlich über die reich-haltige Fauna und Flora im Naturschutz-gebiet des Creux-du-Van und der Areuse-

Schlucht. Hier kann man auch das Rous-seau-Haus besuchen, wo der berühmtePhilosoph einen Teil seines Lebens ver-brachte. In Champ de Moulin besteht

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Reh, Dachs und Fuchs: Drei Bewohner der artenreichen Schlucht im Jurabogen

Wasserkraft: Seit der Eiszeit formt

die Areuse unermüdlich ihr Bett

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Wanderung NATUR

für die, die nicht mehr mögen, dieMöglichkeit, den Weg abzukürzen undden Zug nach Neuenburg oder zurücknach Noiraigue zu nehmen.

Banger Blick in die TiefeDie Wanderung geht weiter auf der rech-ten Seite des Flusses, vorbei am einsamstehenden Hotel de la Truite, in stetemAuf und Ab über nah an den Fluss ge-baute Treppenstufen. Vorbei an über-hängenden Felsen gelangt man so zurengsten Stelle der Schlucht. Der Pfadist in die Felswand gehauen und durch

Brücken ergänzt, die wie Schwalben-nester an der Wand kleben. Er führtimmer weiter hinauf, bis 40 Schwindelerregende Meter über den Bach.

Rehspuren führen so plötzlich vomWeg den steilen Abhang hinunter, dassdem Wanderer ein «Jesses Gott» entfährtund er mit bangem Blick in die tiefeSchlucht schaut, wo er gottlob keinenKadaver sieht. Auch Rehe sind guteKletterer.

Bald erreicht man die Pont des Fées.Von hier aus gibt es zwei Möglichkeiten,die Wanderung fortzusetzen: Wer mitdem Auto angereist ist, wählt besser den

Weg über die Brücke und wandert vonhier in 30 Minuten zur BahnstationBôle, von wo der Regionalzug den Aus-gangspunkt Noiraigue in 15 Minuten er-reicht. Wer mit dem Öffentlichen Verkehrreist, kann den Weg durch die Schluchtfortsetzen und der Areuse entlang in 30Minuten nach Boudry wandern.

Dort gibt es ein Weinmuseum, dasMusée de l’Areuse (siehe Kasten oben)und viele schmucke, farbige Häuschen.Von Boudry nach Neuenburg fährt manam besten mit dem Tram, das im Zentrumunterhalb der schönen und reinlichenAltstadt fährt. ■

Zeitreise ins Musée de l'AreuseDas Musée de l’Areuse ist in seiner Art einmalig.

Während andere Lokalmuseen aus der Zeit des

späten 19. Jahrhunderts ihren ursprünglichen

Charakter verloren haben, ist hier die Zeit stehen

geblieben. Es handelt sich um ein Zeitzeugnis im

Sinne eines «Museums im Museum» und kann als

solches etwa mit der Hallwyl-Sammlung im Schwei-

zerischen Landesmuseum verglichen werden.

Entsprechend wird seine Förderung auch von allen

Fachleuten des Museumswesens unterstützt. Der

Bau, der 1884 für das Museum konzipiert wurde, ist

kürzlich sanft renoviert worden. Geöffnet von April

bis November, Dienstag bis Samstag, 14 bis 18 Uhr.

Infos: www.le-musee.zonez.ch

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