19
Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane Urheberrechtlich geschtztes Material

Dzogchen Der Weg des Lichts - windpferd.de … · Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane 8UKHEHUUHFKWOLFKJHVFK W]WHV0DWHULDO

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Dzogchen Der Weg des Lichts - windpferd.de … · Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane 8UKHEHUUHFKWOLFKJHVFK W]WHV0DWHULDO

Chögyal Namkhai Norbu

DzogchenDer Weg des Lichts

Sutra, Tantra und Atiyoga

Herausgegeben von John Shane

Urheberrechtlich geschutztes Material

Page 2: Dzogchen Der Weg des Lichts - windpferd.de … · Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane 8UKHEHUUHFKWOLFKJHVFK W]WHV0DWHULDO

Titel der englischen Originalausgabe: The Crystal and the Way of Light

erschienen bei Routledge & Kegan Paul, London 1986 Überarbeitet 2000

Die erste Auflage des Buches erschien unter dem Titel Der Kristallweg – Die Lehre über Sūtra, Tantra und Dzogchen.

Die zweite überarbeitete Auflage des Buches erschien unter dem Titel Dzogchen, der Weg des Lichts – Die Lehren von Sūtra, Tantra und Ati-Yoga.

Dritte Auflage herausgegeben von John Shane, aus dem Englischen von Georgios Arvanitidis, Günther Frosch, Christian Storch, Jakob Winkler und Eva Pampuch.

Die Neuauflage wurde überarbeitet von Jakob Winkler.

Die Übersetzung ist autorisiert von dem Internationalen Publikationskomitee der Dzogchen Gemeinschaft, gegründet von Chögyal Namkhai Norbu.

IPC-Nummer: 653GE11; für das IPC von Saadet Arslan und Jakob Winkler geprüft.

Published and arranged with Shang Shung Edizioni, Arcidosso, Italy © 2011© 2000, 2011 Namkhai Norbu und John Shane

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2012© 2011 Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, Oberstdorf

Alle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: KplusH, Agentur für Kommunikation und Design, CH-Amden

Bildquelle Cover: ThinkstockLayout und Grafik: Marx Grafik und ArtWork

Korrektorat: Sylvia LuetjohannGesetzt aus der Times

Druck: Himmer AG, Augsburg

Printed in Germany ISBN 978-3-89385-671-8

www.windpferd.de

Urheberrechtlich geschutztes Material

Page 3: Dzogchen Der Weg des Lichts - windpferd.de … · Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane 8UKHEHUUHFKWOLFKJHVFK W]WHV0DWHULDO

Inhalt

Vorwort 9Die Sechs Vajra-Verse 11

Anmerkung zu den Sechs Vajra-Versen 11

1. Ka p i t e l

Meine Geburt, Kindheit und Erziehung, und wie ich meinem Hauptlehrer begegnete 15

2. Ka p i t e l

Eine einführende Darstellung: Die Dzogchen-Lehren und die Kultur Tibets 25

Der Ursprüngliche Zustand 26

3. Ka p i t e l

Wie mir mein Meister Changchub Dorje die wirkliche Bedeutung der Direkten Einführung zeigte 29

Das Leben von Garab Dorje 34Die Drei Grundsätze Garab Dorjes, die Drei Serien der Dzogchen-Lehren und andere Dreiergruppen 37

4. Ka p i t e l

Die Beziehung von Dzogchen zu den verschiedenen Ebenen des buddhistischen Pfades 39

5. Ka p i t e l

Mit meinen beiden Onkeln, zwei Dzogchen-Meistern 57Der Urgrund, der Pfad und die Frucht 66

6. Ka p i t e l

Der Urgrund 83Das Lied des Vajra 85Wie sich die Energie manifestiert: Dang, Rolpa und Tsal 93

7. Ka p i t e l

Der Pfad 103Tawa: Die »Sicht« oder »Vision« der wirklichen Beschaffenheit der Individuen und Phänomene 103

Urheberrechtlich geschutztes Material

Page 4: Dzogchen Der Weg des Lichts - windpferd.de … · Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane 8UKHEHUUHFKWOLFKJHVFK W]WHV0DWHULDO

Gompa: Die Praxis 106Chöpa: Die Lebensführung oder das Verhalten 137

8. Ka p i t e l

Die Frucht 143Die völlige Integration von Subjekt und Objekt 151Vollkommene Verwirklichung 157

an h ä n g e 163

Anhang IA. Garab Dorjes Drei Grundsätze der Dzogchen-Lehren 164B. Aufschlüsselung der Dreiergruppen in den Dzogchen-Lehren 165C. Zusammenfassung der Methoden der verschiedenen Pfade von Sūtra, Tantra und Dzogchen gemäß der Nyingma-Tradition 168D. Hauptpraktiken der Drei Serien der Dzogchen-Lehren 171

Anhang IIKurzbiographie des Autors 175

Anhang IIIKommentar zu den Tafeln 179

Anhang IVLeitfaden zur Schreibweise und Aussprache des Tibetischen und Sanskrit 184

Informationen zu Veranstaltungen mit Chögyal Namkhai Norbu und autorisierten Lehrern 188

Ausgewählte Veröffentlichungen von Chögyal Namkhai Norbu auf Deutsch und Englisch 189

Endnoten 190Stichwortverzeichnis 201Tibetisch- und Sanskrit-Termini sowie Namen 203

Urheberrechtlich geschutztes Material

Page 5: Dzogchen Der Weg des Lichts - windpferd.de … · Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane 8UKHEHUUHFKWOLFKJHVFK W]WHV0DWHULDO

Urheberrechtlich geschutztes Material

Page 6: Dzogchen Der Weg des Lichts - windpferd.de … · Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane 8UKHEHUUHFKWOLFKJHVFK W]WHV0DWHULDO

Für meinen Meister Changchub Dorje und meine Onkel Ugyen Tendzin und Khyentse Chökyi Wangchug

und zum Wohle aller fühlenden Wesen– Chögyal Namkhai Norbu –

Urheberrechtlich geschutztes Material

Page 7: Dzogchen Der Weg des Lichts - windpferd.de … · Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane 8UKHEHUUHFKWOLFKJHVFK W]WHV0DWHULDO

9

Vorwort

Die Essenz aller tibetischen Weisheitslehren ist Dzogchen, zu Deutsch die „Große Vollkommenheit“. Seitdem der Autor, Chögyal Namkhai Norbu, als Erster in der westlichen Hemisphäre damit begonnen hat, Dzogchen zu lehren, hat das Interesse an diesem Weg der Erkenntnis fortwährend zugenommen.

Das vorliegende Buch ist eine vollständig überarbeitete Neuausgabe von „Der Kristallweg – Die Lehre über Sutra, Tantra und Dzogchen“ von 1989 und der überarbeiteten Auflage „Dzogchen, der Weg des Lichts – Die Lehren von Sutra, Tantra und Atiyoga“ von 1998. In der vorliegenden Ausgabe wurden unter Mitwirkung des Autors und von autorisierten Lektoren inhaltliche Fehler der früheren Ausgaben beho-ben und sämtliche Ergänzungen, Überarbeitungen und Veränderungen der englischsprachigen Neuauflage „The Crystal and the Way of Light“ aus dem Jahr 2000 eingearbeitet.

John Shane, der Herausgeber des Buches, schreibt in seinem Vor-wort:

„Für dieses Buch wurden mehrere Quellen benutzt: einmal die Trans kriptionen und Aufnahmen von den mündlichen Lehren, die Namkhai Norbu Rinpoche zwischen 1979 und 1986 Jahre in Seminaren und Vorlesungen in verschiedenen Teilen der Welt übermit-telt hat; zudem meine eigenen Notizen und schließlich das Material, das aus Privatgesprächen mit Rinpoche stammt. Obwohl Rinpoche gut Englisch kann, zog er es bis Ende 1984 vor, in Italienisch zu leh-ren, der westlichen Sprache, mit der er am meisten vertraut ist. Alle paar Sätze macht er eine Pause, um eine Übersetzung in die Sprache der Mehrheit seiner Zuhörer zu ermöglichen.

Ohne die hingebungsvolle Mühe all derer, die Rinpoches Lehren übersetzt, aufgenommen und aufgeschrieben haben, hätte dieses Buch nicht entstehen können. Aber auch wenn die spontane Übersetzung oft sehr inspiriert ist, ist ihre wörtliche Niederschrift unzureichend. Eine der Hauptaufgaben des Herausgebers war es deshalb auch, das

Urheberrechtlich geschutztes Material

Page 8: Dzogchen Der Weg des Lichts - windpferd.de … · Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane 8UKHEHUUHFKWOLFKJHVFK W]WHV0DWHULDO

10

gesamte Material flüssig lesbar zu machen. Aber vor allem musste für das Buch aus den vielen Abschriften, die sich einzeln mit verschie-denen Themen befassen, eine Gesamtform ersonnen werden, die die innere Struktur der Lehre als Ganzes deutlich machen würde, ohne dass dabei die sehr individuelle Qualität vom mündlichen Lehrstil Rinpoches verloren ging. Um das Problem zu lösen, wird zwischen der Lehre an sich und unterhaltsamen und erhellenden Geschichten Rinpoches abgewechselt, sodass die Lehren wirkungsvoll illustriert werden. Da sich das Buch sowohl an Laien wie an Fachleute in der Leserschaft richtet, wurde versucht, soweit wie möglich auf Fußnoten zu verzichten.“

Im Anhang finden sich Erläuterungen zur Aussprache und Schreibung der tibetischen und sanskritischen Namen und Begriffe. Zudem enthält zum ersten Mal eine deutsche Ausgabe Indizes zum einfachen Nachschlagen. Die hier vorliegende neue Ausgabe des in-ternational bekanntesten Buches von Chögyal Namkhai Norbu beruht auf der Zusammenarbeit von vielen, wobei besonderer Dank Saadet Arslan, Georgios Arvanitidis, Günther Frosch und Christian Storch gilt.

Jakob Winkler, Januar 2012

Urheberrechtlich geschutztes Material

Page 9: Dzogchen Der Weg des Lichts - windpferd.de … · Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane 8UKHEHUUHFKWOLFKJHVFK W]WHV0DWHULDO

11

Die Sechs Vajra-Verse

Auch wenn die sichtbaren Phänomenesich vielfältig manifestieren,

ist diese Vielfalt nicht-dual,und von der Vielzahl der einzelnen Phänomene

kann keines durch die Begrenztheit von Begriffen erfasst werden.

Wenn man nicht in Versuchung gerät,zu sagen: »Es ist so« oder »so«,wird klar, dass alle sich manifestierenden FormenAspekte des unendlich Formlosen sind,

und davon unteilbar,von selbst vollkommen.

Wenn man sieht, dass alles von selbst vollkommen istseit Anbeginn,

wird die Krankheit jeglichen Strebens nach einem Zielvon selbst überwunden.

Und indem man einfach in dem natürlichen Zustand verweilt,so wie er ist,entsteht beständig und spontandie Gegenwärtigkeit der nicht-dualen Kontemplation.

Anmerkung zu den Sechs Vajra-VersenDie Sechs Vajra-Verse oder wörtlicher die »Sechs Vajra-Zeilen«, da das tibetische Original aus nur sechs Zeilen besteht, enthalten eine perfekte Zusammenfassung der Dzogchen-Lehren. Diese Übersetzung von Brian Beresford und John Shane folgt ziemlich frei der mündli-chen Erläuterung von Chögyal Namkhai Norbu. Die Illustration zeigt die sechs Verse in der tibetischen Ume-Handschrift, die Kalligraphie ist von Namkhai Norbu. Der gesamte Text dieses Buches kann als

Urheberrechtlich geschutztes Material

Page 10: Dzogchen Der Weg des Lichts - windpferd.de … · Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane 8UKHEHUUHFKWOLFKJHVFK W]WHV0DWHULDO

12

Kommentar zu diesen Sechs Versen betrachtet werden, dem Inhalt des Tashipe Pal Rigpe Khujug-Tantra, dem Tantra mit dem Titel: »Glücksbringender Kuckuck des nicht-dualen Gewahrseins (Rigpa)«. So wie der Kuckuck der erste Bote des nahenden Frühlings ist, so sind dieses Tantra und diese Verse die Boten des herannahenden spirituel-len Erwachens.

– Kalligraphie von Chögyal Namkhai Norbu –

Urheberrechtlich geschutztes Material

Page 11: Dzogchen Der Weg des Lichts - windpferd.de … · Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane 8UKHEHUUHFKWOLFKJHVFK W]WHV0DWHULDO

13

* Die Bezeichnung »die Siegreichen«, ein Synonym für Buddhas, bezieht sich auf diejeni-gen, die den Zustand der Dualität besiegt haben.

Ehrerbietung an die Drei Wurzeln

Nāmo Gurubhyaḥ!

Nāmo Devabhyaḥ!

Nāmo Ḍākinībhyaḥ!

Widmung

Möge sich der geheime Schatz aller Siegreichen,*

die unübertreffliche Dzogchen-Lehre,

gleich der Sonne, die den ganzen Himmel erhellt,

überall verbreiten und entfalten!

– Padmasambhava–

Urheberrechtlich geschutztes Material

Page 12: Dzogchen Der Weg des Lichts - windpferd.de … · Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane 8UKHEHUUHFKWOLFKJHVFK W]WHV0DWHULDO

Der weiße tibetische Buchstabe »A«, Symbol des Ursprünglichen Zustands

Urheberrechtlich geschutztes Material

Page 13: Dzogchen Der Weg des Lichts - windpferd.de … · Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane 8UKHEHUUHFKWOLFKJHVFK W]WHV0DWHULDO

15

1. Kapitel

Meine Geburt, Kindheit und Erziehung, und wie ich meinem Hauptlehrer begegnete

Ich und all die unendlich vielen Wesensind von Anfang an erleuchtet.Im Bewusstsein, dass dem so ist,verspreche ich, das höchste Bodhicitta zu verwirklichen.

Dieser Bodhicitta-Vers verdeutlicht den Begriff des Urgrundes im Anuyoga.

Als ich am 17. Tag des 10. Monats im Jahr des Erd-Tigers (8. 12. 1938) im Dorf Ge‘ug im Bezirk Changra im Königreich Derge in Osttibet zur Welt kam, sollen die Rosenbäume vor dem Haus meiner Eltern ge-blüht haben, obwohl es Winter war. Meine Onkel kamen zugleich, um meine Familie zu besuchen. Sie waren Schüler des großen Meisters Adzom Drugpa gewesen, der ein paar Jahre zuvor gestorben war, und nun waren beide selbst Dzogchen*-Meister. Sie waren der festen Überzeugung, dass ich die Reinkarnation ihres Meisters war, zum ei-nen aufgrund von Äußerungen, die er ihnen gegenüber gemacht hat-te, bevor er starb, und zum anderen, weil er bestimmte ausgewählte Besitztümer einem Sohn vermacht hatte, den meine Eltern, wie er vo-rausgesagt hatte, nach seinem Tod zur Welt bringen würden. Als ich zwei Jahre alt war, wurde ich offiziell als die Reinkarnation eines ho-hen Tulku der Nyingma-Schule1 anerkannt und erhielt einige Kleider als Geschenk. Ich erinnere mich nicht an allzu viele Einzelheiten von dem, was dann geschah, aber ich weiß, dass ich danach furchtbar viele Geschenke bekam.

Später, als ich fünf war, wurde ich auch von dem XVI. Karmapa und dem damaligen Situ Rinpoche als die geistige Inkarnation eines anderen großen Meisters erkannt, die Reinkarnation des Gründers des

* sprich: Zock-tschenn

Urheberrechtlich geschutztes Material

Page 14: Dzogchen Der Weg des Lichts - windpferd.de … · Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane 8UKHEHUUHFKWOLFKJHVFK W]WHV0DWHULDO

16

heutigen Staates Bhutan. Zu dessen Linie gehörten die Dharmarājas oder Chögyals2, der Titel der weltlichen und geistigen Herrscher die-ses Staates bis zum frühen 20. Jahrhundert. Als ich heranwuchs, sollte ich daher ziemlich viele Namen und Titel erhalten, von denen sehr viele sehr lang waren und großartig klangen. Aber ich habe sie nie benutzt, sondern stets den Namen bevorzugt, den mir meine Eltern bei meiner Geburt gaben. Sie nannten mich Namkhai Norbu, ein auf seine Art ziemlich außergewöhnlicher Name. Norbu heißt Juwel, und Namkhai bedeutet »des Himmels« oder »des Alls«. Die Verwendung des Genitivs in tibetischen Namen ist unüblich. Meine Eltern be-schlossen jedoch, mich so zu nennen, weil sie sich schon jahrelang einen Sohn wünschten, obgleich sie vier wohlgeratene Töchter hatten.

Ihre Sehnsucht war so stark, dass sie tatsächlich die Dienste eines Mönches in Anspruch nahmen, der für sie ein ganzes Jahr lang die Anrufung der Tārā ausführte (siehe Abb. Seite 18), um für die Erfüllung ihres Wunsches zu bitten. Dieser Mönch wurde auch der Lehrer mei-ner Schwestern. Schließlich hatte er einen Traum, den er als günsti-ges Zeichen deutete. Er träumte, dass genau vor dem Herd meines Elternhauses eine wunderschöne Pflanze wuchs. Die Pflanze brachte eine schöne gelbe Blume hervor, die sich öffnete und sehr groß wurde. Der Mönch war sicher, dass das die Geburt eines Sohnes anzeigte. Als ich dann später geboren wurde, waren meine Eltern so glücklich, dass sie das Gefühl hatten, ich sei ein Geschenk des Himmels. Darum nann-ten sie mich »Juwel des Alls«, und bei diesem Namen bin ich geblieben.

Meine Eltern waren immer sehr gut zu mir, und ich wuchs zu einem kleinen Jungen heran, der genauso übermütig war wie jeder andere. Lesen und Schreiben lernte ich zu Hause. Als Kind träumte ich oft, dass ich in etwas saß, das mir wie ein Tiger vorkam, eine seltsame brüllende Bestie, die mit großer Geschwindigkeit dahinraste. Ich hatte noch nie ein Motorfahrzeug gesehen, denn zu dieser Zeit gab es das in unserem Teil von Tibet nicht. Später fuhr ich natürlich in vielen Autos, und dann wusste ich, dass es Autos gewesen waren, die ich in meinen Träumen gesehen hatte. Als ich als Teenager zum ersten Mal einen Lastwagen sah, ritt ich gerade auf einem Pferd nachts durchs Gebirge und sah auf die Fahrzeuge hinunter, die auf der neuen chinesischen Straße unten im Tal vorbeifuhren.

Die Rücklichter der riesigen vorbeidonnernden Laster glühten rot, und ich dachte, sie wären aus Feuer. Ich träumte auch von seltsam feu-rigen fliegenden Gegenständen, die explodierten und eine furchtbare

Urheberrechtlich geschutztes Material

Page 15: Dzogchen Der Weg des Lichts - windpferd.de … · Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane 8UKHEHUUHFKWOLFKJHVFK W]WHV0DWHULDO

17

Zerstörung verursachten. Ich weiß jetzt, dass ich Raketen gesehen hat-te, die weit weg in anderen Teilen der Welt entwickelt worden waren.

In unserer Nachbarschaft spielte ich unseren Nachbarn manchmal Streiche, so dass ich als Folge davon in ernsthafte Schwierigkeiten geriet, wenn mein Vater von seinen Reisen zurückkam, die sein Beruf häufig mit sich brachte. Er schlug mich, und ich wurde sehr böse und versuchte, es den Nachbarn heimzuzahlen, die mich verraten hatten, indem ich ihnen noch mehr Streiche spielte. Daraufhin geriet ich na-türlich in noch größere Schwierigkeiten. Unter dem Einfluss meiner Großmutter wurde ich allmählich im Großen und Ganzen rücksichts-voller. Sie war eine Schülerin von Adzom Drugpa gewesen und nahm großen Anteil an mir. Manchmal brachte sie es fertig, mich vor einer Bestrafung zu bewahren, indem sie verhinderte, dass meine Eltern he-rausbekamen, was ich angestellt hatte. Ich erinnere mich, wie ich ein-mal die Leiche eines großen Murmeltiers gefunden hatte. Ohne dass es jemand bemerkte, verbrachte ich einen glückseligen Nachmittag da-mit, mit dem toten Tier zu spielen, indem ich die Leiche zum Beispiel mit Wasser füllte und sie um meinen Kopf schwenkte. Als ich aber mein Spielzeug mit ins Bett nahm, erwischte mich meine Großmutter. Sie wusste, dass sich meine Mutter sehr aufregen würde, wenn sie davon erfuhr, und sich Sorgen machen würde, ob ich mich nicht mit ir-gendeiner Krankheit infiziert hätte. Darum erzählte meine Großmutter niemandem etwas. Ich fand das sehr gütig von ihr und liebte sie wirk-lich sehr. Als ich sie dann beobachtete, wie sie leise für sich über mein Verhalten weinte, als sie mich schlafend glaubte, war ich tief betroffen und beschloss, mich zu bessern. Aber ich kann nicht behaupten, dass ich je einen völligen Sieg über meinen Übermut errungen habe.

Einmal, als ich fünf Jahre alt war, spielte ich vor unserem Haus, als zwölf sehr elegant gekleidete Mönche auftauchten. Der Ort, an dem wir wohnten, war sehr abgelegen, und es kamen kaum je Reisende vorbei; daher war ich sehr überrascht, sie zu sehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum sie gekommen waren. Sie gingen ins Haus, und etwas später wurde ich zu ihnen hereingerufen. Ich wurde in das kleine Zimmer mit dem Schrein geführt, und sie zogen mir feine seide-ne Kleider an. Ich verstand nicht, warum ich so verkleidet wurde, aber ich freute mich trotzdem darüber. Ich saß auf einem hohen Thron, den sie extra für mich gebaut hatten. Dort saß ich stundenlang, während sie ein Ritual durchführten, und dann gingen sie wieder. Ich dachte: »Gut, jetzt ist es vorbei.« Aber alle erinnerten mich immer daran, dass

Urheberrechtlich geschutztes Material

Page 16: Dzogchen Der Weg des Lichts - windpferd.de … · Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane 8UKHEHUUHFKWOLFKJHVFK W]WHV0DWHULDO

18

Grüne Tārā. Es gibt einundzwanzig verschiedene Sambhogakāya-Manifestationen von Tārā, einer weiblichen Emanation des uranfänglichen Dharmakāya-Buddha Amitābha. Jede Form von Tārā verkörpert einen besonderen Aspekt des Mitgefühls. Die Grüne Tārā repräsen-tiert den aktiven energetischen Aspekt des Mitgefühls. Sie ist die Beschützerin von Tibet, während zum Beispiel die Weiße Tārā den fruchtbaren, mütterlichen Aspekt des Mitgefühls

verkörpert. (Zeichnung von Nigel Willings)

Urheberrechtlich geschutztes Material

Page 17: Dzogchen Der Weg des Lichts - windpferd.de … · Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane 8UKHEHUUHFKWOLFKJHVFK W]WHV0DWHULDO

19

ich eine Reinkarnation sei, indem sie mir mit großem Respekt begeg-neten, und bald fand ich heraus, dass gar nichts zu Ende war, sondern alles gerade erst anfing.

Ein paar Wochen später kamen Mönche und brachten mich in das Kloster Derge Gönchen, einen sehr bedeutenden Ort in dieser Gegend: Der König von Derge lebte dort. Mein Vater arbeitete in der könig-lichen Administration, zuerst in offizieller Funktion, vergleichbar etwa mit einem Bürgermeister oder einem Provinzgouverneur im Westen. Später stand er wegen seiner großen Tierliebe an der Spitze einer Abteilung, die das Jagen außerhalb der Saison und das exzessive Jagen überhaupt in diesem Teil Tibets verhindern sollte. Ich wurde zum König gebracht, und da ich nun als Reinkarnation angesehen wur-de, stellte er mir ein ganzes Gebäude innerhalb des Klostergeländes zur Verfügung. Bis ich neun Jahre alt war, lebte ich dort mit einem Meister, einem Lehrer, der dafür sorgte, dass ich Tag und Nacht fleißig lernte. Es gab viel zu lernen, einschließlich aller Regeln und Gebete des Klosters. Normalerweise beendet ein Mönch mit 19 Jahren das Studium. Ich aber vollendete es mit acht Jahren, weil mein Meister streng war und ich überhaupt keine Freizeit hatte. Außerdem besaß ich die natürliche Gabe eines guten Gedächtnisses.

Dennoch kamen meine schlechten Eigenschaften von Zeit zu Zeit an die Oberfläche. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Begebenheit, bei der der König an einer militärischen Zeremonie teilnahm. Dabei musste er lange ruhig auf einem Pferd unten im Hof sitzen, genau ge-genüber vom Fenster im ersten Stock meines Hauses. Ich beugte mich über das Fensterbrett und lenkte mit einem Spiegel die Sonnenstrahlen in seine Augen, um ihn zu blenden. Meine recht unschuldige Absicht war, für den König etwas Leichtigkeit in die übertrieben ernsthafte Veranstaltung zu bringen. Glücklicherweise kannte mich der König zu diesem Zeitpunkt schon sehr gut, und nachdem er seine Fassung wiedererlangt hatte, freute er sich sogar über den Streich.

Dann lernte ich ein Jahr lang alle Regeln für das Zeichnen und Üben von Maṇḍalas. Danach ging ich fort auf eine Klosterschule. Eine solche Schule hat immer eigene Regeln und Bestimmungen, und an meiner galt die Regel, dass man dort fünf Jahre studierte. Da ich bei meinem Eintritt in die Schule viel jünger war als üblich, blieb ich dort sechs Jahre. Das übliche Eintrittsalter lag bei mindestens 13 Jahren, ich war erst neun Jahre alt, als ich dorthin kam. Das erste Jahr wurde daher nicht gezählt, sondern als eine Art Test betrachtet, um zu sehen,

Urheberrechtlich geschutztes Material

Page 18: Dzogchen Der Weg des Lichts - windpferd.de … · Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane 8UKHEHUUHFKWOLFKJHVFK W]WHV0DWHULDO

20

ob ich in der Lage war, das Lehrprogramm durchzuhalten. Nun ging es nicht mehr um ein gutes Gedächtnis: Wir studierten Philosophie, was die Fähigkeit klaren, logischen Denkens erfordert, und viele fan-den diesen Weg zu schwer und stiegen aus.

Nachdem ich so viel jünger war als all die anderen Schüler, war das Schulleben auch für mich nicht immer einfach, und wie die anderen litt ich unter dem strengen Leben in dieser Art Institution. Ich musste sehr schnell einige sehr konkrete Lektionen lernen. Als mich mein Vater für das erste Semester in die Klosterschule brachte, versorgte er mich mit ausreichenden Vorräten für die ganzen drei Monate des Semesters, die vergehen würden, bevor ich während der Ferien wieder nach Hause zurückkehrte. Aber ich hatte noch nie über eigene Mittel verfügen müssen, und so verbrauchte ich alle Vorräte in der Hälfte der Zeit, für die sie reichen sollten, da ich in meiner Gastfreundschaft meinen neuen Kameraden gegenüber viel zu großzügig war. Als ich kein eigenes Essen mehr besaß, schaffte ich es etwa eine Woche lang, nur von salzigem Yak-Buttertee zu leben, dem Einzigen, das von der Schule angeboten wurde. Dann aber wurde mein Hunger größer als mein Stolz, und ich hatte endlich den Mut, mich der Erniedrigung zu stellen, die es bedeutete, zu meinem Lehrer gehen zu müssen und ihn um Hilfe zu bitten. Netterweise organisierte er für mich, dass ich jeden Abend einen Teller Suppe erhielt. Im nächsten Semester ging ich mit meinen Vorräten natürlich wesentlich vorsichtiger um.

Die Vorschriften an der Klosterschule waren sehr streng. Jede Nacht mussten wir in unseren kleinen Zimmern bleiben und üben und studieren. Butterlampen und Heizkohle wurden gestellt, aber nicht in großzügigen Mengen. Ich erinnere mich, dass einmal mei-ne Lampe ausging, bevor ich meine vielen Praktiken beendet hatte, die ich jeden Abend rezitieren musste, damit ich die Verpflichtungen erfüllen konnte, die ich bei den vielen Ermächtigungen eingegangen war, die ein Tulku wie ich erhielt. Es war uns nicht gestattet, zu dieser Uhrzeit die Zimmer zu verlassen, und es gab einen Mönch, der in den Korridoren Kontrollgänge machte, um das Einhalten der Regeln zu überwachen. Ich traute mich also nicht, einen Nachbarn zu fragen, ob ich mir seine Lampe leihen könnte, sondern ich versuchte, mei-ne Übungen im Schein des Kohlenfeuers zu lesen. Einige von ihnen konnte ich so gut, dass ich es fertigbrachte, sie sogar dann noch auf-zusagen, als die Glut heruntergebrannt war. Aber schließlich erlosch auch der letzte Schimmer, und ich saß da, im Dunkeln, vor einem Stoß

Urheberrechtlich geschutztes Material

Page 19: Dzogchen Der Weg des Lichts - windpferd.de … · Chögyal Namkhai Norbu Dzogchen Der Weg des Lichts Sutra, Tantra und Atiyoga Herausgegeben von John Shane 8UKHEHUUHFKWOLFKJHVFK W]WHV0DWHULDO

21

langer tibetischer Seiten, die noch gelesen werden mussten, wenn ich meine Samaya-Verpflichtungen erfüllen wollte. Damals wusste ich nicht, dass man seine Verpflichtungen erfüllt, indem man sich auf das Wesentliche konzentriert, und ich nahm alle Anweisungen sehr wört-lich.

In meinen Ferien hatte ich Zeit, meine zwei Onkel zu besuchen. Diese Besuche waren sehr wichtig für mich, denn beide waren Praktizierende des Dzogchen. Der eine Onkel war ein Abt, der andere ein Yogin, und in den späteren Kapiteln dieses Buches will ich von meinen Erlebnissen mit ihnen berichten, die die Dzogchen-Lehren für den Leser lebendig werden lassen, wie ich hoffe. Meine Beziehungen zu ihnen waren während meiner gesamten Schulzeit sehr bedeutsam für mich. Ihr Vorbild als Praktizierende war für mich ein lebendiger Ausgleich gegenüber der Betonung intellektueller Studien, die im Alter von neun bis sechzehn Jahren den größten Teil meiner Zeit in Anspruch nahmen.

1954, mit 16 Jahren, beendete ich mein Studium und verließ die Schule. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich eine Menge über alle Formen der buddhistischen Lehre und galt als gebildet, auch in tibetischer Medizin und Astrologie. Ich hatte fleißig mit vielen Meistern studiert. Einige von ihnen fanden sogar, ich hätte die Fachbereiche so weit ge-meistert, dass sie mich damit beauftragten, andere an der Schule zu unterrichten. Ich konnte ganze philosophische Texte und Rituale aus-wendig rezitieren, und deshalb schien es mir zu dem Zeitpunkt, als ich mein Studium abschloss, dass ich eine ganze Menge gelernt hatte. Erst später erkannte ich, dass ich in Wirklichkeit gar nichts begriffen hatte.

Obwohl ich es noch nicht wusste, führten mich die Ereignisse zu dem besonderen Meister, der alles, was ich gelernt und erfahren hat-te, in einen neuen und tieferen Zusammenhang brachte. Durch den Kontakt mit ihm sollte ich zu einem Wiedererwachen gelangen und ein wirkliches Verständnis der Dzogchen-Lehren entwickeln. Durch seine Inspiration kam ich dazu, die Bedeutung dieser Lehren zu er-fassen und sie schließlich selbst im Westen zu lehren. Dieser Meister war keine hochgestellte Persönlichkeit. Im Allgemeinen sind die Tibeter daran gewöhnt, die Lehren durch berühmte Lehrer von hohem Rang verkörpert zu sehen, die sich selbst in großem Stil präsentieren. Tatsächlich können die Menschen ohne solche äußeren Zeichen die Fähigkeit eines Meisters gewöhnlich nicht erkennen, und ich war da vermutlich nicht anders.

Urheberrechtlich geschutztes Material