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E. A. Poe: Drei Fälle für Dupin

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E. A. Poe: Drei Fälle für Dupin

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Edgar Allan Poe

Drei Fälle für DupinDie Morde in der Rue Morgue

Das Geheimnis der Marie Rogêt

Der entwendete Brief

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IMPRESSUM

Copyright © 2016ebooknews press

Verlag Dr. Ansgar WarnerRungestr. 20 (V)

10179 BerlinISBN: 9783944953472

Herausgegeben &mit Nachwort versehen

von Ansgar Warner

Überarbeitete Neuausgabe,basierend auf:

Poe, Seltsame GeschichtenÜbersetzt v. Alfred Mürenberg

Verlag W. SpemannStuttgart 1890

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Die Mordein der

Rue Morgue

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What song the Syrens sang, or what name Achilles assumed

when he hid himself among women, although puzzling questions

are not beyond all conjecture.

SIR THOMAS BROWNE.

Die geistig-analytischen Fähigkeiten sind selbst der Analy-se durch den Geist nur schwer zugänglich. Wir beurteilensie ausschließlich über ihre Effekte. Stehen sie in einem un-gewöhnlich hohem Maße zur Verfügung, sind sie für ihrenBesitzer eine Quelle außerordentlicher Genüsse. So wie sichein physisch starker Mensch an seiner Tüchtigkeit berauschtund sich an Übungen erfreut, die seine Muskeln in Tätig-keit versetzen, so hat der Analytiker Freude an geistiger Tä-tigkeit, die die Dinge entwirrt. Das gilt selbst für die ein-fachsten Beschäftigungen, so lange sie ihm nur ermöglichen,seine Talente ins Spiel zu bringen. Er liebt Rätsel, Geheim-nisse und Hieroglyphen, und zeigt bei der Lösung eine Artvon Scharfsinn, die gewöhnlichen Menschen übernatürlicherscheinen muß. Tatsächlich haben die Resultate, wenn sieauch auf methodischem Vorgehen beruhen, einen Anscheinvon Intuition.

Die Begabung zur Problemlösung wird durch mathemati-sche Studien gefördert, insbesondere durch das Studium derhöchsten Mathematik, die man, wenn auch zu unrecht, we-gen ihres rückwärts gerichteten Vorgehens Analysis nennt,gleichsam als sei es eine Analyse par excellence. Jedoch istbloßes Rechnen noch nicht gleichbedeutend mit dem Ana-lysieren. Ein Schachspieler zum Beispiel tut das eine, ohnesich im anderen Bereich zu bemühen. Demzufolge wird dasSchachspiel, was seine Wirkungen auf den Intellekt betrifft,vollkommen falsch eingeschätzt.

Nun schreibe ich hier keine Abhandlung, sondern stellelediglich einer merkwürdigen Erzählung einige eher zufäl-lige Beobachtungen voran. Und so möchte ich allenfalls hin-zufügen, daß die höheren Kräfte des reflektierenden Geistesdurch das bescheidene Damespiel weitaus entschiedener wieauch gewinnbringender angestrengt werden als durch die

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anspruchsvollen Nichtigkeiten des Schachspiels.Nehmen wir als Beispiel eine Partie Dame, bei der die

Spielsteine sich bereits auf auf vier Könige reduziert haben,so daß kein Mangel an Überblick herrscht. Ganz offensicht-lich kann hier der Sieg nur durch einen sehr geschicktenZug davongetragen werden, der auf einer besonderen geis-tigen Anstrengung beruht. Seiner üblichen Ressourcen be-raubt, versetzt sich der Analytiker in sein Gegenüber, identi-fiziert sich mit ihm, und erkennt nicht selten auf einen Blickdie einzige Methode (nicht selten eine absurd einfache), mitder er seinen Gegner in die Irre führen oder zu einem Fehl-schluß verleiten kann.

Lange Zeit war das Kartenspiel Whist wegen seines Ein-flusses auf die Fähigkeit der Berechnung berühmt, und mankennt Männer von höchster Intelligenz, die ein scheinbarnicht zu erklärendes Vergnügen an diesem Spiel fanden,das Schachspiel jedoch als kleinlich verschmähten. Zwei-fellos gibt es nichts Ähnliches in der Art, was die analy-tischen Fähigkeiten so gründlich in Bewegung bringt. Derbeste Schachspieler der gesamten Christenheit muß nichtsweiter sein als eben der beste Schachspieler, die Tüchtig-keit beim Whist jedoch beinhaltet Fähigkeiten in allen ande-ren und wichtigeren Bereichen des Kampfes von Geist gegenGeist.

Mit „Tüchtigkeit“ meine ich das umfasssende Verständnisaller Quellen, aus denen legitime Vorteile gezogen werdenkönnen. Diese sind nicht nur zahlreich, sondern auch äu-ßerst vielfältig und verbergen sich in gedanklichen Gegen-den, die dem durchschnittlichen Verstand kaum zugänglichsind.

Aufmerksam beobachten heißt, sich einzelner Details guterinnern zu können, und diesbezüglich wird ein konzentrier-ter Schachspieler sich beim Whist sehr wohl hervortun, zu-mal die Regeln in ausreichendem Maße verständlich sind.Tatsächlich werden ein gutes Gedächtnis und die Einhal-tung von Regeln im Allgemeinen sogar als die Summe allerErfordernisse zu gutem Spiel angesehen.

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Die Kunst des analytisch Denkenden erweist sich dagegenbei all jenem, was außerhalb der Regel liegt. Ganz in Ru-he macht er Beobachtungen und zieht daraus seine Schlüs-se. Die Mitspieler werden es ihm gleichtun, und der Unter-schied im Ausmaß der erhaltenen Informationen liegt nichtso sehr in der Gültigkeit der Schlußfolgerungen, als in derQualität der Beobachtungen. Es geht darum zu wissen, wasman beobachten soll. Unser Spieler legt sich hier keine Be-schränkungen auf – nur weil das Spiel das Objekt seinerBeobachten darstellt, heißt das nicht, daß er seine Schluß-folgerungen nicht auch aus Dingen ziehen würde, die außer-halb des reinen Spiels liegen.

Er studiert den Gesichtsausdruck seines Vis-à-Vis, undvergleicht es sorgfältig mit dem der beiden Gegner. Er be-trachtet sehr genau, wie die anderen ihre Karten in derHand anordnen, nicht selten zählt er Trumpf um Trumpf,Honneur um Honneur allein über die einzelnen Blicke, diederen Besitzer darauf richten. Er verzeichnet jede Verände-rung im Gesichtsausdruck, während das Spiel voranschrei-tet, und gründet seine Gedankengänge auf den vom Ge-sicht ablesbaren Ausdruck von Sicherheit, Überraschung,Triumph oder Bedauern.

Wie jemand einen Stich aufnimmt, verrät ihm, ob die-se Person noch einen anderen in der selben Farbe aufneh-men kann. An der Mimik beim Abwerfen der Karten erkennter zudem, ob ein Mitspieler eine Finte spielt. Ein zufälli-ges oder unabsichtlich hingeworfenes Wort, das versehent-liche Ablegen oder Umdrehen einer Karte, zusammen mitder begleitenden Reaktion, das Zählen der Stiche, deren An-ordnung, sowie Verlegenheit, Zögern, Eile, Bestürzung, allesdient der scheinbar intuitiven Erfassung des Spielzustan-des.

Nachdem zwei oder drei Runden ausgespielt wurden,weiß er genau, was die anderen in der Hand haben, undlegt von nun an seine Karten mit einer absoluten, so zielge-richteteten Präzision ab, als hätten die Mitspieler ihr Blattoffengelegt.

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Die Befähigung zur Analyse sollte nicht mit schlichterKlugheit gleichgesetzt werden, denn während der Analyti-ker notwendigerweise klug sein muß, ist der kluge Menschnicht selten in hohem Maße unfähig zur Analyse. Die kon-struierende, kombinatorische Kraft, durch welche sich Klug-heit normalerweise zeigt, und der die Phrenologen (meinerMeinung nach irrigerweise) ein bestimmtes Organ zuord-nen, da sie diese für eine angeborene Fähigkeit halten, istso oft an Menschen beobachtet worden, deren Verstand anSchwachsinnigkeit grenzte, daß diese Tatsache bereits zahl-reichen Schriftstellern als Gleichnis gedient hat.

Der Unterschied zwischen Klugheit und der Fähigkeit zurAnalyse ist weitaus größer als der zwischen Phantasie undEinbildungskraft, obwohl er zugleich einer strikten Analo-gie folgt. Man wird in der Tat immer finden, daß die klugenMenschen viel Phantasie besitzen, und die mit wirklicherEinbildungskraft begabten stets Analytiker sind.

Die nun folgende Erzählung dürfte dem Leser inmancherlei Hinsicht als ein Kommentar zu den geradevorgebrachten Behauptungen erscheinen.

Während meines Aufenthalts in Paris im Frühjahr undSommer 18 . . lernte ich dort einen gewissen C. Auguste Du-pin kennen. Dieser junge Herr gehörte einer guten, ja einerhochberühmten Familie an, war aber durch allerlei Mißge-schick derartig verarmt, daß er alle Energie, alles Strebenverloren hatte. Durch die Nachsicht seiner Gläubiger bliebihm noch ein kleiner Rest seines Erbes, und seine außeror-dentliche Sparsamkeit machte es ihm möglich, von den Zin-sen zu existieren. Sein einziger Luxus bestand in Büchern,und diese sind ja in Paris leicht und billig zu beschaffen.Wir trafen uns zum erstenmal in einer obskuren Leihbi-bliothek der Rue Montmartre, woselbst uns der Zufall, daßwir beide nach einem und demselben seltenen und wertvol-len Buche fragten, näher zusammenführte. Seitdem sahenwir uns häufiger. Ich nahm warmen Anteil an der kleinenFamiliengeschichte, welche er mir mit all der Offenherzig-

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keit eines Franzosen erzählte. Seine außerordentliche Bele-senheit setzte mich in Erstaunen, und was die Hauptsachewar, ich fühlte, wie an der lebendigen Frische, an der wildenGlut seiner Phantasie meine eigene Seele sich entflamm-te — ich fühlte, daß die Gesellschaft eines solchen Mannesfür mich ein Schatz von unberechenbarem Wert sein wür-de, und gestand ihm dies offen ein. Schließlich kamen wirdahin überein, daß wir, so lange ich noch in der Stadt ver-weilte, zusammen wohnen wollten, und da meine Finanzensich in besserer Ordnung befanden als die seinigen, so mie-tete ich in einem sehr abgelegnen Teile des Faubourg St.Germain ein altes, verfallenes Haus von groteskem Ausse-hen und möblierte dasselbe in einer Weise, wie sie unsrerphantastisch-düstern Gemütsstimmung zusagte.

Hätte die Welt erfahren, welche Art von Leben wir dortführten, sie würde uns für ein paar — allerdings harmlose— Verrückte gehalten haben. So aber bewahrten wir diestrengste Abgeschiedenheit. Niemand besuchte uns; selbstmeinen alten Bekannten blieb unser Wohnort unbekannt,und was Dupin betrifft, so war er schon seit Jahren für diePariser verschollen. Kurz, wir lebten nur für uns selbst.

Zu den phantastischen Grillen meines Freundes — dennwie sollte ich es sonst nennen? — gehörte auch seineSchwärmerei für die Nacht, und ich, der ich mich mit voll-ständigem ,abandon’ all seinen bizarren Launen hingab,teilte dieselbe bald mit ihm. Wollte die dunkle Göttin nichtaus freien Stücken allezeit bei uns weilen, so konnten wirsie doch auf künstlichem Wege herbeirufen. Beim erstenMorgengrauen schlossen wir sämtliche schwere Fensterlä-den des alten Bauwerks, zündeten ein paar parfümierteKerzen an, welche nur ein mattes, geisterhaftes Licht ga-ben, und versenkten unsre Seelen in Träumereien — lasen,schrieben oder plauderten, bis die Uhr uns verkündete, daßdie wirkliche Nacht gekommen sei. Dann schlenderten wirArm in Arm hinaus auf die Straßen, wo wir die Gesprächedes Tages fortsetzten oder stundenlang weit umherstreif-ten, um inmitten der gespenstischen Schatten und Lichter

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der Riesenstadt jene endlose Fülle geistiger Anregung zusuchen, welche ruhige Beobachtung zu bieten vermag.

Bei derartigen Ausflügen hatte ich wiederholt Gelegen-heit, Dupins außerordentliches Analysier-Talent zu bewun-dern. Es schien ihm große Freude zu machen, wenn er das-selbe üben konnte, und er machte aus dieser Freude kei-nen Hehl. Unter leisem Kichern rühmte er sich, daß er denmeisten Menschen, wie durch ein Fenster, in ihr Inneresblicken könne, und dann pflegte er alsbald den Beweis hier-für in der überraschendsten Weise zu liefern, indem er dieGeheimnisse meines eigenen Herzens enthüllte. Zu solchenZeiten schien er in tiefes Grübeln verloren — sein Blickwar starr ins Innere gerichtet, seine sonst so vollklingendeTenorstimme verflog sich zu einem Diskant, welcher einenAnflug voll Mutwillen gehabt hätte, wenn die Worte nichtso bedächtig, so klar und deutlich gesprochen worden wä-ren. Wenn ich ihn in solcher Stimmung beobachtete, dannkam mir oft die alte Philosophie von der zweiteiligen Seelein den Sinn, und ich ergötzte mich durch die Idee von einemdoppelten Dupin — dem schaffenden und dem auflösenden.Ein Beispiel wird hier den Charakter, welchen seine Äuße-rungen zu solchen Zeiten trugen, am besten deutlich ma-chen. Eines Nachts wandelten wir durch eine schmutzigeGasse in der Nähe des Palais Royal, und da wir beide un-sern eigenen Gedanken nachhingen, so hatte während ei-ner vollen Viertelstunde keiner von uns eine Silbe gespro-chen. Da platzte Dupin ganz urplötzlich mit den Wortenheraus:

«Es ist wahr, der Kerl hat eine sehr winzige Figur undwürde besser auf das Théâtre des Variétés passen.»

«Ganz gewiß», antwortete ich unwillkürlich; denn in mei-ner Zerstreutheit war mir anfänglich die wunderbare Art,in welcher seine Bemerkung zu meinen Grübeleien stimm-te, gar nicht ausgefallen. Um so größer war mein Erstau-nen, als ich mich einen Moment später gesammelt hatte.

«Dupin», sagte ich sehr ernst, «das übersteigt meine Fas-sungskraft. Ich gestehe, daß ich starr bin vor Staunen und

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kaum meinen Ohren trauen mag. Wie in aller Welt konntenSie wissen, daß meine Gedanken gerade in diesem Augen-blick bei —»

Hier hielt ich inne, um über allen Zweifel festzustellen,ob er wirklich wisse, an wen ich gedacht hatte.

«Bei Chantilly waren», sagte er. «Weshalb stocken Sie?Sie sagten sich soeben, daß seine kleine Gestalt ihn für dieTragödie untauglich mache.»

Das war genau mein Gedanke gewesen. Chantilly warein ehemaliger Flickschuster aus der Rue St. Denis, derden Theatersparren bekommen und den Xerxes in Crebil-lons gleichnamiger Tragödie gespielt hatte, wofür er nunöffentlich verhöhnt wurde.

«Erklären Sie mir», rief ich aus, «um des Himmels wil-len, welche Methode Sie anwenden, um derartig in meinInnerstes zu blicken!»

«Es war der Obsthändler», versetzte mein Freund; «wel-cher Sie zu dem Schluß brachte, daß der einstige Flickerder Sohlen nicht die genügende Körperhöhe für Xerxes etid genus omne besitze.»

«Der Obsthändler? — ich verstehe Sie nicht; ich kennegar keinen Obsthändler —»

«Der Mann, welcher gegen Sie rannte, als wir in dieseStraße einbogen; es kann vor etwa einer Viertelstunde ge-wesen sein.» Jetzt besann ich mich in der Tat, daß ich beimEinbiegen aus der Rue — in die Gasse, wo wir uns eben be-fanden, von einem Obsthändler, welcher einen großen Korbmit Äpfeln auf dem Kopfe trug, beinahe umgerannt wordenwar. Was dies jedoch mit Chantilly zu tun haben sollte, ver-mochte ich nicht zu begreifen.

Dupin war jeder Art von Charlatanerie abhold. «Ich willes Ihnen erklären», sagte er sofort; «und damit Sie allesganz deutlich verstehen, wollen wir zuerst Ihren Gedan-kengang von dem Moment, in welchem ich zu Ihnen sprach,bis zu dem Rencontre mit dem Obsthändler rückwärts ver-folgen. Die Hauptstationen desselben sind folgende: Chan-tilly — Orion — Dr. Nichols — Epikur — die Stereotomie

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— die Pflastersteine — der Obstmann.»— Es dürfte wenige Personen geben, die sich niemalsdas

Vergnügen gemacht haben, eine bestimmte GedankenreiheSchritt für Schritt rückwärts zu verfolgen. Diese Bestäti-gung ist oft hochinteressant, und wer sich ihr zum ersten-mal hingibt, staunt über die anscheinend maßlose Entfer-nung zwischen Ausgangs- und Endpunkt und über derenscheinbare Unvereinbarkeit. So war auch meine Verwun-derung eine außerordentliche, als ich meinen Freund obigeWorte sprechen hörte und mir doch eingestehen mußte, daßsie Wahrheit enthielten. Er fuhr fort:

«Wenn ich mich recht entsinne, hatten wir in der Rue— zuletzt über Pferde geplaudert. Dann bogen wir hier-ein, und ein Obsthändler mit einem großen Korbe auf demKopf, der hastig an uns vorübereilte, stieß Sie gegen einenHaufen Pflastersteine, die man, um den Fahrdamm an je-ner Stelle zu reparieren, dort zusammengetragen hatte. Sietraten auf einen der lose daliegenden Steine, rutschten aus,vertraten sich den Fuß ein wenig, machten ein verstimmtesGesicht, murmelten etwas, sahen sich nach dem Haufen umund gingen dann schweigend weiter.

«Im Fortschreiten blieb Ihr Blick auf den Boden geheftetund Sie betrachteteten die Löcher und ausgefahrenen Stel-len noch immer mit trotziger Miene, bis wir an der kleinen,nach Lamartine benannten Seitengasse anlangten, welcheman versuchsweise mit den neuen Blöcken gepflastert hat,die Übereinandergreifen und sich so gegenseitig festhalten.Hier klärte Ihre Miene sich auf — ich sah, daß Ihre Lip-pen sich bewegten, und war überzeugt, daß Sie das Wort,Stereotomie’ murmelten, denn diesen Namen hat man jaunberechtigterweise der neuen Pflasterung gegeben.

«Nun wußte ich, daß Sie das Wort ,Stereotomie’ nichtaussprechen könnten, ohne von diesem auf ,Atome’ und da-durch auf die Atomenlehre des Epikur zu kommen — um soweniger, als wir erst unlängst über dessen Theorien debat-tiert hatten. Damals nun hatte ich Sie darauf aufmerksamgemacht, in wie hohem Maße die Vermutungen jenes edeln

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Griechen durch die neuere Kosmogenie, namentlich durchdie Untersuchungen des Dr. Nichols über Nebelflecke, ihreBestätigung gefunden, und ich erwartete jetzt, daß Sie denBlick alsbald zu dem großen Ihnen bekannten Nebelfleckim Orion aufschlagen würden. Das taten Sie denn auchwirklich, und ich sah, daß ich bis dahin Ihrem GedankenSchritt für Schritt gefolgt war. In jener bitterbösen Rezen-sion aber, welche im gestrigen Musée über Chantilly erschi-en, hatte der Kritiker einige boshafte Anspielungen daraufgemacht, daß der Schuhmacher, als er selbst den Kothurnanzog, seinen Namen verändert habe, und bei der Gelegen-heit einen lateinischen Vers zitiert, über welchen wir mehr-fach miteinander gesprochen haben. Ich meine den Vers:

,Perdidit antiquum litera prima solum’«Ich hatte Ihnen damals erzählt, daß mit diesem ersten

Buchstaben, der seinen alten Laut verlor, das erste O inOrion gemeint sei, weil man anfänglich Urion geschriebenhabe. Somit stand es für mich fest, daß Sie die Begriffe Ori-on und Chantilly miteinander verbinden mußten, und daßSie es wirklich taten, ersah ich aus dem Lächeln, welchesIhre Lippen umspielte — Sie dachten an die literarischeAbschlachtung des armen Schusters.

«Bisher waren Sie nachlässig und gebückt einherge-schritten; jetzt aber richteteten Sie sich in Ihrer ganzen Hö-he empor, und nun wußte ich sofort, daß Sie an die zwerg-hafte Gestalt Chantillys dachten, und weckte Sie durch dieÄußerung aus Ihren Grübeleien, daß er allerdings ein sehrkleiner Kerl sei und sich besser für das Théâtre des Variétéseignen würde.»

— Bald nach diesem Vorfall fesselte beim Durchlesen desAbendblattes der „Gazette des Tribunaux“ der hier folgen-de Artikel unsere Aufmerksamkeit: „Ein Doppelmord unterganz außergewöhnlichen Umständen. — Diesen Morgen ge-gen drei Uhr wurden die Bewohner des Quartier St. Rochdurch anhaltendes, entsetzliches Geschrei aus dem Schla-fe geschreckt, welches anscheinend aus dem vierten Stockeines Hauses in der Rue Morgue drang, das nur von einer

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Madame L’Espanaye und deren Tochter, Fräulein CamilleL’Espanaye, bewohnt wird.

Nachdem man zuerst vergeblich versucht hatte, auf demgewöhnlichen Wege Einlaß zu erlangen, wurde die Haustürmittelst eines Brecheisens erbrochen, und acht bis zehn vonden Nachbarn drangen, von zwei Gendarmen begleitet, ein.Inzwischen hatte jenes Geschrei aufgehört; während aberdie Leute die unterste Treppenflucht hinaufstürzten, konn-ten sie zwei oder mehrere rauhe, anscheinend mit einan-der streitende Stimmen unterscheiden, die gleichfalls vonoben kamen. Sobald das zweite Stockwerk erreicht war,verstummten auch diese und alles blieb ruhig. Nun ver-teilten sich die Leute und eilten von Zimmer zu Zimmer.Als sie schließlich in einem geräumigen, nach hinten hin-ausliegenden Schlafgemach des vierten Stockes anlangten,dessen Tür von innen mittelst Schlüssels verschlossen warund ebenfalls aufgesprengt werden mußte, bot sich ihnenein ebenso entsetzlicher wie staunenerregender Anblick.

„Das Zimmer befand sich in der wildesten Unordnung.Die Möbel waren zerbrochen und nach allen Richtungenumhergeworfen. Es stand nur eine einzige Bettstelle dar-in; das Bett war herabgerissen und mitten auf den Flurgeworfen. Auf einem Stuhl lag ein mit Blut beschmiertesRasiermesser. Im Kamin lagen zwei oder drei lange Sträh-nen grauen menschlichen Haares, die gleichfalls mit Blutbefleckt und mit den Wurzeln ausgerissen worden waren.Auf den Dielen fand man vier Napoléons, einen Ohrringvon Topas, drei große silberne Löffel, drei kleinere von Me-tall d’Alger, und zwei Beutel, die nahezu viertausend Fran-cs in Gold enthielten. Die Schubfächer einer in der Eckestehenden Kommode waren herausgezogen und allem An-schein nach teilweis geplündert, obwohl sich noch viele Ge-genstände darin vorfanden. Unter dem Bette — nicht unterder Bettstelle — entdeckte man einen kleinen Kasten vonEisen; er war offen und der Schlüssel steckte noch darin;das Kästchen enthielt jedoch nichts weiter, als einige alteBriefe und andere wertlose Papiere.

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„Von Madame L’Espanaye war keine Spur zu finden; daman aber auf der Feuerstelle eine ungewöhnliche Quanti-tät von Ruß gewahrte, so untersuchte man den Schornsteinund — entsetzliche Entdeckung! — zog den Leichnam derTochter aus demselben hervor, welcher mit dem Kopf nachunten eine ziemliche Strecke weit in die enge Öffnung hin-eingezwängt worden war. Die Leiche war noch warm, dieHaut, ohne Zweifel durch das gewaltsame Hinaufzwängenund Herabreißen, vielfach zerschunden. Das Gesicht warstark zerkratzt, und am Halse fanden sich dunkle Fleckeund tiefe Eindrücke von Fingernägeln, als ob eine Erwür-gung vorhergegangen sei.

„Nachdem die Leute, ohne mehr entdecken zu können,das ganze Haus durchsucht hatten, gelangten sie in einenkleinen gepflasterten Hof an der Rückseite des Gebäu-des und fanden hier die Leiche der älteren Dame, wel-cher der Hals so vollständig durchschnitten war, daß beimersten Versuch, sie aufzuheben, der Kopf abfiel. Kopf undRumpf waren in so fürchterlicher Weise verstümmelt, daßsie kaum noch einen menschenähnlichen Anblick boten.

Bis jetzt fehlt, so viel uns bekannt, noch jeder Schlüsselzu diesem entsetzlichen Geheimnis.“

Die nächste Nummer des Blattes brachte noch folgendeEinzelheiten: „Das Trauerspiel in der Rue Morgue. — VieleZeugen sind bezüglich dieses außerordentlichen Vorfallesvernommen worden, ohne daß dadurch mehr Licht in dasrätselhafte Dunkel desselben gekommen wäre. Wir lassenhier die Aussagen im wesentlichen folgen:

PAULINE DUBOURG, Wäscherin, erklärt, beide Verstorb-nen seit drei Jahren gekannt zu haben, da sie währenddieser ganzen Zeit die Wäsche für dieselben besorgt hat.Die alte Dame und ihre Tochter lebten im besten Einver-ständnis und waren einander herzlich zugetan. Bezahltengut und pünktlich. Weiß nicht, wie, noch wovon sie lebten.Glaubt, daß Madame L. für Geld wahrsagte. Dieselbe standin dem Rufe, Geld beiseite gelegt zu haben. Zeugin ist indem Hause niemals einer dritten Person begegnet. Weiß be-

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stimmt, daß kein Dienstbote dort war. Nur das vierte Stock-werk des Hauses schien möbliert zu sein.

PIERRE MOREAU, Tabakhändler, sagt aus, daß er beiMadame L’Espanaye seit nahezu vier Jahren kleine Quan-titäten von Rauch- und Schnupftabak verkauft habe. Istin der Nachbarschaft geboren und hat beständig dort ge-wohnt. Die Verstorbene und ihre Tochter hatten das Hausseit länger als sechs Jahren inne; vorher bewohnte es einJuwelier, welcher die oberen Räume zu vermieten pflegte.Das Haus war das Eigentum der Madame L. Ärgerlich übermancherlei durch den Mieter verursachte Beschädigungen,bezog sie es später selbst und wollte keinen Teil desselbenmehr vermieten. Die alte Frau war bereits kindisch. Zeugehat die Tochter während der sechs Jahre etwa fünf- odersechsmal gesehn. Beide lebten außerordentlich zurückge-zogen und galten für wohlhabend. Zeuge hat die Nachbarnmunkeln hören, Madame L. sei eine Wahrsagerin, hat diesaber nicht geglaubt. Hat nie einen Fremden das Haus be-treten sehn, ausgenommen ein- oder zweimal einen Last-träger, und acht- oder zehnmal einen Arzt.

Ganz ähnlich lauteten viele Aussagen von Nachbarn.Niemand wußte, ob Verwandte oder Bekannte von Madameund Fräulein L. existierten. Die Läden der vorderen Fens-ter wurden nur selten geöffnet; diejenigen nach hinten her-aus waren, mit Ausnahme jenes großen Schlafzimmers imvierten Stock, beständig verschlossen. Das Haus war in gu-tem Zustand und nicht allzu alt.

ISIDORE MUSÈT, Gendarm, gibt an, daß er gegen dreiUhr morgens nach dem Hause gerufen wurde und hieranzwanzig oder dreißig Personen antraf, welche einzudringenversuchten. Sprengte schließlich die Tür mittelst eines Ba-jonetts — nicht einer Brechstange — auf, was ihm nicht all-zuschwer wurde, da die Tür eine doppelte und weder obennoch unten der Riegel vorgeschoben war. Das Geschrei dau-erte fort, bis die Tür offen war, und verstummte dann plötz-lich. Es waren laute, langgezogene Töne, die wie Schmer-zensrufe klangen und von einer oder mehr Personen her-

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rühren konnten. Zeuge ging die Stiege hinauf voran. Imersten Stockwerk angelangt, hörte er zwei Stimmen, diesich laut und heftig zu zanken schienen — die eine rauh, dieandere viel höher, gellender — eine ganz fremdartige Stim-me. Konnte von der ersteren, welche diejenige eines Fran-zosen war, einige Worte verstehen. Weiß bestimmt, daß eskeine Frauenstimme war. Verstand die Worte: ,sacré’ und,diable’. Die gellende Stimme gehörte einem Ausländer an.Weiß nicht sicher, ob einem Manne oder einer Frau. Konn-te das Gesagte nicht verstehen, hielt die Sprache aber fürspanisch.

HENRI DUVAL, einer der Nachbarn, seines Zeichens Sil-berschmied, bezeugt, daß er einer der ersten war, wel-che das Haus betraten. Bestätigt im ganzen die Aussa-ge Musèts. Sobald sie eingedrungen waren, schlossen siedie Haustür wieder, um die Menschenmenge zurückzuhal-ten, welche sich trotz der Nachtzeit schnell angesammelthatte. Dieser Zeuge hält die gellende Stimme für diejeni-ge eines Italieners. Ist überzeugt, daß es nicht französischwar. Kann nicht bestimmt behaupten, daß es eine männli-che Stimme gewesen. Die italienische Sprache ist ihm un-bekannt. Konnte keine Worte unterscheiden, schließt abermit Sicherheit aus dem Accent, daß der Sprecher ein Ita-liener war. Kannte Madame L. und ihre Tochter; hatte sichwiederholt mit beiden unterhalten. Weiß mit Bestimmtheit,daß die gellende Stimme keiner der beiden Verstorbenenangehörte.

ODENHEIMER, Restaurateur. — Dieser Zeuge stellte sichfreiwillig. Da er nicht französisch spricht, muß ein Dolmet-scher herbeigerufen werden. Ist in Amsterdam geboren.Ging gerade am Hause vorüber, als die Schreie ertönten.Dieselben hielten wohl zehn Minuten lang an. Sie warenlanggedehnt und laut — klangen schrecklich und herzzer-reißend. Gehörte ebenfalls zu denen, welche in das Hauseindrangen. Bestätigt die vorige Aussage in allen Punkten,ausgenommen, daß er bestimmt behauptet, die gellendeStimme sei diejenige eines Mannes und zwar eines Franzo-

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sen gewesen. Konnte keine einzelnen Worte unterscheiden.Dieselben wurden jedoch laut, schnell und ungleichmäßigausgestoßen. Konnten ebensowohl Angst ausdrücken, wieZorn. Die Stimme klang harsch — viel weniger gellend, alsharsch, kann dieselbe nicht als „gellend" bezeichnen. Dierauhe Stimme sagte mehrmals: ,sacré’, ,diable’, und einmal,mon dieu’.

JULES MIGNAUD, Bankier, von der Firma Mignaud &Fils, Rue Deloraine. — Zeuge ist der ältere Mignaud. Ma-dame L. Espanaye besaß einiges Vermögen. Hatte seit achtJahren ein Konto in seinem Geschäft. Deponierte häufigkleine Summen. Hatte früher nie darauf gezogen, bis siedrei Tage vor ihrem Tode persönlich 4000 Francs entnahm.Dieselben wurden ihr in Gold ausgezahlt und einem Sekre-tär mitgegeben, welcher das Geld trug.

ADOLPHE LE BON, Sekretär bei Mignaud & Fils, bekun-det, daß er an dem genannten Tage, gegen Mittag, MadameL’Espanaye mit den 4000 Francs, welche sich in zwei Beu-teln befanden, nach Hause begleitete. An der Hanstür kamihnen Fräulein L. entgegen und nahm ihm den einen Beu-tel ab, die alte Dame den anderen. Dann empfahl er sichund ging. Sah zur Zeit niemand in der Straße. Es ist eineSeitengasse und sehr menschenleer.

WILLIAM BIRD, Schneider, erklärt, daß er sich unter denLeuten befand, welche in das Haus drangen. Ist ein Englän-der. Hat zwei Jahre in Paris gelebt. Hörte die sich zanken-den Stimmen. Die rauhe Stimme war diejenige eines Fran-zosen. Verstand mehrere Worte, hat dieselben aber jetztzum Teil wieder vergessen. Hörte deutlich ,sacré’ und ,mondieu’. Vernahm gleichzeitig ein Geräusch, als wenn mehre-re miteinander rängen — ein Gebalge und Gescharre. Diegellende Stimme war sehr laut, lauter als die rauhe. Weißbestimmt, daß es nicht die Stimme eines Engländers war.Dieselbe klang mehr wie deutsch. Kann eine Frauenstim-me gewesen sein. Zeuge versteht nicht deutsch.

Vier von den oben genannten Zeugen werden nochmalsaufgerufen und sagen aus, daß die Tür des Zimmers, in

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welchem Fräulein L’s. Leiche sich befand, von innen ver-schlossen gefunden wurde. Alles war still, als sie eintraten— kein Stöhnen, kein Geräusch irgendwelcher Art zu hö-ren — niemand zu sehen. Die Fenster, sowohl im Hinter-wie im Norderzimmer, waren zu und von innen fest ver-schlossen. Es waren keine Flügel-, sondern Schiebefens-ter. Die Tür, welche beide Gemächer miteinander verbindet,war zu, aber nicht verschlossen. Diejenige, welche vom Vor-derzimmer nach dem Flur führt, war gleichfalls von innenverschlossen. Der Schlüssel steckte auch hier, wie in derje-nigen des Schlafgemaches. Ein kleineres Zimmer in dem-selben Stockwerk, nach vorn heraus, stand offen. Dasselbewar mit alten Betten, Kisten und Kasten voll gepackt. Je-der Zollbreit des ganzen Hauses wurde auf das sorgfältigstedurchforscht, jeder Schornstein mit Fegern untersucht. DasHaus hatte vier Stockwerke und darüber eine Mansarde.Eine auf dem Dache befindliche Falltür war fest vernageltund allem Anschein nach seit Jahren nicht mehr geöffnetworden. Die Zeit, welche zwischen dem Gezänk und demErbrechen der Stubentür verstrich, wird von den Zeugenverschieden angegeben; einige meinen, es seien drei, ande-re, es seien fünf Minuten gewesen. Die Tür ging schwer zuöffnen.

ALFONSO GARCIO, Leichenbesorger, bezeugt, daß er inder Rue Morgue wohne. Ist Spanier von Geburt. War eben-falls mit den übrigen im Hause. Ging nicht die Treppe hin-auf. Ist nervenschwach und fürchtete die Folgen der Aufre-gung. Hörte die zankenden Stimmen. Die rauhe war dieje-nige eines Franzosen. Konnte keine einzelnen Worte un-terscheiden. Die gellende Stimme war bestimmt diejeni-ge eines Engländers. Versteht die englische Sprache nicht;schließt nur aus dem Accent.

ALBERTO MONTANI, Konditor, bekundet, daß er sich un-ter den vordersten befand, welche die Treppen hinaufeilten.Hörte die Stimmen. Die rauhe Stimme sprach französisch.Verstand mehrere Worte. Es klang, als ob der Sprecher je-mand heftige Vorwürfe machte. Konnte den anderen — mit

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der gellenden Stimme — kein Wort verstehn. Dieser sprachschnell und ungleichmäßig. Glaubt, daß es ein Russe gewe-sen sein muß. Bestätigt im ganzen das Zeugnis der ande-ren. Zeuge ist Italiener und hat sich noch nie mit einemRussen unterhalten.

Nach nochmaligem Aufruf erklären mehrere Zeugen, daßsämtliche Schornsteine des vierten Stockwerks zu eng sei-en, um ein menschliches Wesen hindurchzulassen. UnterFegern verstehen sie cylindrisch geformte Bürsten, wie sol-che von den Schornsteinkehrern benutzt werden. JederRauchabzug im ganzen Hause wurde mittelst dieser Kehr-besen untersucht. Ein zweiter Flur oder Ausgang, durchwelchen irgend jemand hätte entkommen können, währenddie Leute die Treppen hinaufdrangen, ist nicht vorhanden.Die Leiche des Fräulein L’Espanaye war so fest in den Ka-min eingekeilt, daß sie erst herabgeholt werden konnte,nachdem vier oder fünf Männer gleichzeitig daran zogen.

PAUL DUMAS, Arzt, erklärt, daß er gegen Tagesanbruchzur Besichtigung der Leichen herbeigerufen wurde. Beidelagen auf dem Strohsack in der Bettstelle des Schlafgema-ches, in welchem Fräulein L. gefunden worden war. DerKörper der jungen Dame zeigte viele Beulen und Hautab-schürfungen, die sehr wohl bei dem gewaltsamen Hinauf-zwängen in den Kamin entstanden sein konnten. Der Halswar vielfach verletzt. Gerade unterhalb des Kinns zeigtensich tiefe Kratzwunden, sowie eine Anzahl schwarzblauerStellen, augenscheinlich Fingereindrücke. Die Gesichtsfar-be war entsetzlich entstellt und die Augäpfel traten hervor.Die Zunge war zum Teil durchbissen. An der Magengru-be entdeckte er eine umfangreiche Beule, dem Anscheinenach durch den Druck eines Kniees erzeugt. Nach Ansichtdes Zeugen war Fräulein L. erwürgt worden. Die Leicheder Mutter war entsetzlich verstümmelt. Sämtliche Kno-chen des rechten Armes und Beines waren zerschmettert.Das linke Schienbein und alle Rippen der linken Seite wa-ren zersplittert, der ganze Körper war auf das schrecklichs-te mit Beulen bedeckt und entfärbt. Kann nicht sagen, in

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welcher Weise die Verletzungen beigebracht wurden. Einewuchtige Holzkeule, eine breite Eisenstange — ein Stuhloder irgend sonst ein großes, schweres, stumpfes Werkzeugkönne, von einem starken Mann geführt, ähnliche Wirkun-gen Hervorbringen. Eine Frau könne solche Schläge un-möglich geführt haben. Der Kopf der Verstorbenen war,als Zeuge ihn sah, ebenfalls zerschmettert und total vomRumpfe getrennt. Die Kehle mußte mittelst eines scharfenInstrumentes, wahrscheinlich eines Rasiermessers, durch-schnitten worden sein.

ALEXANDRE ETIENNE, Wundarzt, wurde mit Herrn Du-mas gleichzeitig zur Leichenschau gerufen. Bekräftigt dasZeugnis des vorigen. Obgleich noch mehrere andere Perso-nen verhört wurden, stellte sich weiter nichts von Belangheraus. Noch nie ist in Paris ein so mysteriöser, ein so nachallen seinen Einzelheiten rätselhafter Mord verübt worden— wenn überhaupt ein Mord vorliegt. Die Polizei tappt voll-ständig im Dunkeln.“

Das Abendblatt brachte die Meldung, daß im Quartier St.Roch noch immer die größte Aufregung herrsche, daß mandie Lokalität nochmals sorgfältig untersucht, neue Zeugenvernommen, aber nicht das Geringste dadurch zu Tage ge-bracht habe. Eine Nachschrift fügte dann noch hinzu, daßAdolphe Le Bon verhaftet worden sei, obwohl außer dembereits Bekannten weiter nichts gegen ihn vorliege.

Dupin schien sich ungemein für diese Angelegenheit zuinteressieren; doch schloß ich dies nur aus seinem Beneh-men, denn er enthielt sich aller Bemerkungen über diesel-be. Erst nachdem die Verhaftung Le Bons bekannt wurde,fragte er mich nach meiner Meinung.

Ich antwortete ihm, daß ich nur mit ganz Paris überein-stimme, indem ich die Sache für ein unlösbares Rätsel hal-te, denn ich sähe keine Möglichkeit, dem Mörder nachzu-spüren.

«Man darf die Möglichkeit nicht nach einer oberfläch-lichen Untersuchung, wie eine solche hier vorliegt, beur-teilen», erwiderte Dupin. «Die wegen ihres Scharfsinns so

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hochgepriesne Pariser Polizei ist verschlagen, aber weiterauch nichts. Sie geht nicht methodisch vor, sondern han-delt lediglich, wie es der Moment ihr eingibt. Sie machtviel Wesens von ihren Maßnahmen, aber diese passen oft soschlecht zu dem vorgesetzten Zweck, daß sie einen an Mon-sieur Jordain erinnern, wenn er nach seinem Schlafrockverlangt — ,pour mieux entendre la musique’ Sie gelangtnicht selten zu staunenerregenden Resultaten, aber in denmeisten Fällen nur durch Eifer und Unermüdlichkeit. Wodiese Eigenschaften nicht ausreichen, bleiben ihre Pläne er-folglos. Vidocq z. B. hatte einen richtigen Treffer und großeAusdauer. Aber da er nicht logisch zu denken gelernt hat-te, irrte er fast beständig, und zwar gerade durch sein all-zuheftiges Darauflosforschen. Er schädigte seine Sehkraft,indem er sich das Objekt zu dicht vor die Augen hielt. Ersah vielleicht diesen oder jenen Punkt mit außerordentli-cher Klarheit, aber indem er so tat, verlor er die Angele-genheit als Ganzes aus den Augen. Er war in der Tat allzuverschmitzt, allzu gründlich. Die Wahrheit liegt nicht im-mer auf dem tiefsten Grunde — im Gegenteil, insofern essich um Sachen von Wichtigkeit handelt, suche ich sie sogarstets auf der Oberfläche. Durch übertriebne Gründlichkeitverwirren und schwächen wir nur unsre Gedanken.

«Was nun den vorliegenden Fall betrifft, so wollen wir ihnvorerst selber prüfen, ehe wir uns eine Ansicht darüber bil-den. Die Untersuchung wird uns Vergnügen bereiten» (—ich hielt diesen Ausdruck für nicht ganz passend, sagte je-doch nichts davon —) «und zudem hat Le Bon mir einmaleinen Dienst erwiesen, für den ich ihm gern dankbar wäre.Lassen Sie uns die Lokalität einmal selbst in Augenscheinnehmen. Ich kenne G—, den Polizei-Präfekten, und werdedie nötige Erlaubnis ohne Mühe erhalten.»

Dies geschah, und wir brachen alsbald nach der RueMorgue auf. Sie gehört zu jenen elenden Gassen, welchezwischen der Rue Richelieu und der Rue St. Roch liegen. Eswar schon nahezu Abend, als wir dort anlangten. Das Hauswar nicht zu verfehlen, denn noch immer standen müßige

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Gaffer auf dem gegenüberliegenden Seitenwege und starr-ten die geschlossnen Fensterläden an. Ehe wir eintraten,gingen wir durch ein Nebengäßchen um das Gebäude her-um nach dessen Rückseite, und Dupin untersuchte allesmit einer mir völlig zwecklos erscheinenden Sorgfalt. Wie-der an der Haustür angelangt, klingelten wir, zeigten unsreErlaubniskarte und wurden von den beaufsichtigenden Be-amten eingelassen. Wir stiegen die Treppen hinauf und be-gaben uns in das Zimmer, in welchem die Leiche des jungenMädchens gefunden worden war. Beide Opfer lagen nochdort, und auch die Unordnung war, wie in solchen Fällenüblich, genau dieselbe geblieben. Ich konnte nichts sehen,als was ich bereits durch den Artikel in der „Gazette des Tri-bunaux" erfahren hatte. Dupin untersuchte alles, auch dieKörper der Ermordeten, auf das genaueste. Dann betratenwir, stets von einem Gendarmen begleitet, die übrigen Ge-mächer und schließlich den Hof. Als wir mit allem fertigwaren und uns entfernten, war es bereits dunkel. Auf demHeimwege trat mein Begleiter in die Expedition einer täg-lich erscheinenden Zeitung ein, wo er nur wenige Minutenverblieb.

Ich sagte bereits, daß der Launen meines Freundes Le-gion war und daß ich — daß je les menageais — ich kennein unserer Sprache kein entsprechendes Wort. Diesmal nunbeliebte es ihm, einstweilen jede den Mord betreffende Un-terhaltung abzulehnen. Erst am folgenden Mittag fragte ermich ganz plötzlich, ob ich an dem Schauplatz des Verbre-chens nicht etwas Eigentümliches bemerkt habe.

Das Wort „eigentümlich" betonte er so seltsam, daß ichunwillkürlich zusammenschauderte, ohne recht zu wissen,warum.

«Nein, nichts Eigentümliches», entgegnete ich; «wenigs-tens nicht mehr, als was wir beide in der Zeitung gelesenhaben.»

«Ich fürchte, der ,Gazette’ ist das Entsetzliche, Grauen-hafte dieses Ereignisses nicht genügend klar geworden»,gab er zurück. «Doch genug von den müßigen Betrachtun-

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gen dieses Blattes. Mir kommt es vor, als halte man diesesRätsel gerade aus demjenigen Grunde für unlösbar, welcherdasselbe erst recht leicht lösbar macht — ich rede von demoutrierten Charakter, welchen alles trägt. Die Polizei ist be-stürzt, weil anscheinend das Motiv fehlt — nicht sowohl zudem Morde selbst, als zu der scheußlichen Weise, in wel-cher der Mord vollbracht wurde. Sie zerbricht sich fernerden Kopf, weil es ihr unmöglich erscheint, die im Streit be-griffenen Stimmen mit der Tatsache zu vereinbaren, daßaußer dem ermordeten Mädchen niemand oben gefundenwurde und es dennoch keinen Ausgang gab, durch welcheein Mensch hätte entkommen können, ohne von den Ein-dringenden bemerkt zu werden. Die wüste Unordnung imZimmer, der mit dem Kopf nach unten in den Rauchfanggezwängte Körper, die gräßliche Verstümmelung der ande-ren Leiche — alles das kommt hinzu, um ihre Geisteskräftetotal zu lähmen, weil es ihren so hochgepriesnen ,Scharf-sinn’ zuschanden werden laßt. Sie ist in den groben, aberalltäglichen Irrtum verfallen, das Ungewöhnliche mit demUnbegreiflichen zu verwechseln. Aber eben durch diese Ab-weichungen von der gewöhnlichen Bahn wird es dem Ver-stande möglich, den Weg zur Wahrheit zu finden. Bei der-artigen Nachforschungen sollte man nicht sowohl fragen:Was ist geschehen?’, als: ,Was ist geschehen, das vordemnoch niemals geschah?’ Glauben Sie mir, die Leichtigkeit,mit welcher ich zur Lösung dieses Rätsels gelangt bin, stehtim direkten Verhältnis zu der Unlösbarkeit, welche es inden Augen der Polizeibeamten kennzeichnet.»

Sprachlos vor Verwunderung starrte ich ihn an.«Ich erwarte soeben jemand», fuhr er mit einem Blick

auf unsre Stubentür fort, «der, obwohl er mutmaßlich jeneSchlächterei nicht selbst ausführte, dennoch bis zu einemgewissen Grade in dieselbe verwickelt sein muß. An demschlimmsten Teil der begangnen Greueltat trägt er allerWahrscheinlichkeit nach keine Schuld. Ich hoffe, daß die-se Mutmaßung richtig ist, denn auf sie baue ich die Erwar-tung, bald das ganze Geheimnis enthüllen zu können. Ich

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erwarte den Mann hier in diesem Zimmer — er kann jedenAugenblick eintreten. Mag sein, daß er nicht kommt, aberdie Wahrscheinlichkeit ist, daß er kommt. Im letztem Fallemüssen wir ihn festhalten. Hier sind Pistolen — wir wis-sen ja beide sie zu gebrauchen, wenn die Notwendigkeit eserheischen sollte.»

Kaum wissend was ich tat, noch was ich von dem Gehör-ten denken sollte, nahm ich die Pistolen, während Dupinwie in einem Selbstgespräch fortfuhr. Ich erwähnte bereitsdas zerstreute Wesen, welches ihm bei solchen Gelegenhei-ten eigen war. Seine Rede schien an mich gerichtet, unddoch klangen die Worte, ohne im geringsten laut gespro-chen zu werden, als seien sie aus eine große Entfernungberechnet. Sein Blick heftete sich ausdruckslos an die Zim-merwand.

«Die Zeugenaussagen haben zur Genüge bewiesen», sag-te er, «daß jene mit einander hadernden Stimmen nicht die-jenigen der beiden Frauen waren. Damit fällt gleichzeitigdie Annahme, Madame L’Espanaye könne ihre Tochter ge-tötet und darauf Selbstmord begangen haben. Ich erwähnedies lediglich der Methode halber, denn die alte Frau hättenimmermehr die Kraft besessen, den Leichnam der Tochterin der uns bekannten Weise den Rauchfang hinaufzuschie-ben, und die Natur der an ihrem eigenen Körper gefundnenWunden schließt die Möglichkeit eines Selbstmordes aus.Folglich hat eine dritte Partei den Mord begangen, und diezankende Stimme dieser dritten Partei war es, welche manbeim Hinaufeilen hörte. Ich komme jetzt — nicht etwa zudem ganzen, jene Stimmen betreffenden Zeugnis, sondernzu dem, was bei diesem Zeugnis eigentümlich war. Ist Ih-nen nichts Eigentümliches darin aufgefallen?»

Ich bemerkte, daß allerdings die Meinungen in Bezug aufdie gellende, oder wie einer sie bezeichnet hatte, die har-sche Stimme sehr geteilt gewesen seien, während doch alledarin übereingestimmt hätten, daß die rauhe Stimme ei-nem Franzosen gehört habe.

«Das war das Zeugnis selbst, nicht aber seine Eigentüm-

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lichkeit.» entgegnete Dupin. «Sie haben nichts Auffallen-des bemerkt, und doch liegt etwas derartiges vor. Wie Sierichtig sagen, waren die Zeugen sämtlich einig über dierauhe Stimme. Die Eigentümlichkeit ihrer Aussagen überdie gellende Stimme jedoch liegt nicht darin, daß sie un-eins waren, sondern darin, daß ein Italiener, ein Englän-der, ein Spanier, ein Holländer und ein Franzose diesel-be für ausländisch erklärten — daß jeder von ihnen be-stimmt behauptete, dieselbe habe keinem Landsmann vonihm gehört, vielmehr alle aussagten, sie habe eine ihnenunbekannte Sprache gesprochen. Der Franzose hält sie fürdie Stimme eines Spaniers, kennt aber selbst die spanischeSprache nicht. Der Holländer besteht darauf, sie sei dieje-nige eines Franzosen gewesen; wir hören aber gleichzeitig,daß ein Dolmetscher herbeigerufen werden muß, weil die-ser Zeuge nicht französisch spricht’ Dem Engländer klanges wie deutsch, aber ’Zeuge versteht nicht deutsch’. DerSpanier erklärt es ’bestimmt für englisch, ,versteht aberdie englische Sprache nicht und schließt nur aus dem Ac-cent’ Der Italiener glaubt, daß es ein Russe gewesen seinmuß, hat sich aber ’noch nie mit einem Russen unterhal-ten’. Noch mehr: ein zweiter Franzose behauptet, abwei-chend von dem ersteren, es sei italienisch gewesen; ,da ihmaber die italienische Sprache unbekannt, schließt er — wieder Spanier — nur aus dem Accent’. Wie seltsam, wie unge-wöhnlich muß nun jene Stimme geklungen haben, in derenTönen fünf Vertreter der Hauptnationen Europas nichtsBekanntes finden konnten! Sie werden sagen: ’Es wird einAsiat gewesen sein oder ein Afrikaner’. Nun sind zwar Asia-ten und Afrikaner in Paris sehr selten, indes lassen Siemich hiervon absehen und vorerst Ihre Aufmerksamkit aufdrei verschiedne Punkte richten:

«Der eine Zeuge nennt die Stimme ’harsch — viel we-niger gellend als harsch’. Zwei andere bezeichnen diesel-be als ’schnell und ungleichmäßig’. Kein einziger von allenvermag irgend ein Wort oder auch nur einen wortühnlichklingenden Laut zu unterscheiden. «Ich weiß nicht», fuhr

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Dupin fort, «welchen Eindruck ich bis dahin auf Ihr Ver-ständnis gemacht habe, aber ich stehe nicht an zu behaup-ten, daß die aus diesem Teil der Zeugenaussagen gezoge-nen berechtigten Schlußfolgerungen schon an und für sichgenügen, um einen Verdacht zu erwecken, der allen wei-tern Nachforschungen eine bestimmte Richtung gibt. Wennich von ’berechtigten Schlußfolgerungen’ sprach, so meinteich damit jene einzig richtigen, aus welchen der erwähn-te Verdacht unvermeidlich entspringen muß. Welcher Artdieser ist, bleibe vorläufig noch unausgesprochen; ich woll-te Sie nur darauf aufmerksam machen, daß er stark genugwar, um meinen Untersuchungen im Zimmer selbst eine be-stimmte Tendenz zu verleihen.

«Kehren wir nun im Geiste noch einmal zu jenem Zim-mer zurück. Wonach haben wir dort zuerst zu suchen? Nachden Auswegen, welche die Mörder benutzten. Keiner vonuns glaubt an übernatürliche Erscheinungen — Madameund Fräulein L’Espanaye können nicht durch Geister um-gebracht worden sein. Die Täter waren materielle Wesenund entkamen auf materielle Weise. Aber wie? Glücklicher-weise gibt es hier nur einen einzigen Weg, auf welchem wirfolgern können, und dieser muß uns zu einer bestimmtenEntscheidung führen. Untersuchen wir nun die möglichenAuswege im einzelnen. Es steht fest, daß die Mörder sichin diesem, oder mindestens doch im anstoßenden Zimmerbefanden, als die Leute die Treppe heraufdraugen; wir ha-ben somit nur allein nach den Auswegen aus diesen beidenPiècen zu suchen.

«Die Polizei hat Dielen, Zimmerdecken und Zimmerwän-de geprüft — ein geheimer Ausgang würde ihrer Aufmerk-samkeit nicht entgangen sein. Trotzdem traute ich ihrenAugen nicht, sondern untersuchte mit meinen eigenen undfand wirklich, daß keine geheimen Auswege vorhanden wa-ren. Beide aus diesen Zimmern auf den Hausflur führendeTüren waren von innen fest verschlossen und die Schlüsselsteckten. Wir kommen jetzt zu den Schornsteinen. Diesel-ben bieten, obwohl im untern Teile von gewöhnlicher Wei-

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te, oben nicht Raum genug für eine größere Katze. Da alsohier ein Entkommen absolut unmöglich war, bleiben unsnur noch die Fenster. Durch diejenigen der vorderen Stu-be konnte niemand entschlüpfen, ohne von der inzwischenauf der Straße versammelten Volksmasse gesehen zu wer-den. Die Mörder müssen also diejenigen des Hinterzim-mers benutzt haben. Sind wir aber einmal in so unzwei-deutiger Weise zu diesem Schluß gelangt, so dürfen wir ihnnicht angesichts der scheinbaren Unmöglichkeit verwerfen,sondern haben einfach nachzuweisen, daß diese scheinbareUnmöglichkeit in Wirklichkeit gar nicht vorliegt.

«In dem Schlafgemach befinden sich zwei Fenster. Das ei-ne ist nicht durch Möbel verstellt und in allen Teilen sicht-bar. Der untere Teil des andern wird durch die kolossa-le Bettstelle verdeckt, welche mit ihrem hohen Kopfendedicht an dasselbe herangeschoben ist. Das erstere fand manvon innen fest verwahrt; die Leute wendeten vergebens ih-re ganze Kraft an, um die untere Hälfte — Sie entsinnensich, daß es Schiebefenster sind — in die Höhe zu heben.An seiner linken Seite war mit einem großen Bohrer einLoch in den Rahmen gebohrt worden, und in diesem steck-te, beinahe bis an den Kopf hineingeschoben, ein Nagel vonungewöhnlicher Stärke. Als man darauf das andere Fensteruntersuchte, sah man einen eben solchen Nagel in ähnli-cher Weise darinstecken, und ein kraftvoller Versuch, das-selbe in die Höhe zu schieben, schlug gleichfalls fehl. DiePolizei war nun überzeugt, daß auch auf diesem Wege anein Entrinnen nicht zu denken sei, und hielt es deshalb fürüberflüssig, die Nägel herauszuziehen und die Schieber zuöffnen.

«Meine Untersuchung war nun etwas schärfer, denn ichfolgerte so — a posteriori: Die Mörder sind aus einem dieserbeiden Fenster entkommen, mithin können sie dieselbennicht von innen befestigt haben. Die Schieber waren aberdennoch in dieser Weise befestigt, folglich muß eine Vor-richtung vorhanden sein, mittelst welcher dieselben sichvon selbst schließen; dieser Schluß war unvermeidlich. Ich

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trat also an das freiliegende Fenster, zog mit einiger Müheden Nagel heraus und versuchte die untere Hälfte hochzu-schieben. Wie ich erwartet hatte, widerstand sie allen mei-nen Allstrengungen. Ich wußte jetzt, daß eine geheime Fe-der existieren müsse, und diese Bekräftigung meiner An-nahme überzeugte mich, daß meine Prämissen zumindes-tens richtig seien, so unerklärlich auch die Sache mit denNägeln mir noch immer blieb. Nach sorgfältigem Suchenfand ich denn auch die verborgene Feder, drückte darauf,und unterließ, mit meiner Entdeckung zufrieden, das Öff-nen dieses Fensters.

«Nun tat ich den Nagel wieder an seine Stelle und be-trachtete ihn nachdenklich. Eine durch dieses Fenster hin-aussteigende Person konnte dasselbe wieder hinter sichzufallen lassen. Dann würde allerdings die Feder einge-schnappt sein, aber der Nagel konnte unmöglich wiederin die Öffnung gesteckt werden. Dadurch verengerte sichabermals das Feld meiner Nachforschungen — die Mördermußten durch das andere Fenster entkommen sein. Ange-nommen nun, daß die Feder dort dieselbe war, was dochwahrscheinlich erschien, so mußte sich ein Unterschied inden Nägeln oder doch in der Art ihrer Befestigung vorfin-den. Ich stieg auf die Bettstelle, betrachtete, mich über de-ren Kopfende beugend, den zweiten Fensterrahmen genauund entdeckte dort die nämliche Feder. Dann sah ich nachdem Nagel. Er erschien ebenso stark wie der erstere undallem Anschein nach ganz wie dieser bis nahe an den Kopfin die Öffnung gesteckt.

„Wenn Sie etwa glauben, ich sei nun verblüfft geworden,dann haben Sie den Charakter meiner Induktionen völligmißverstanden. Ich hatte dem Geheimnis bis zur letztenStation nachgespürt, und diese letzte Station war eben derNagel. Ich sagte, daß derselbe ganz genau so aussah, wiesein Gegenstück in dem andern Fenster; aber diese Tat-sache war, so entscheidend sie auch scheinen mochte, fürmich absolut wertlos, wenn ich sie mit der Überzeugungzusammenhielt, daß hier der Schlüssel zum Rätsel steckte.

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Mit diesem Nagel muß etwas nicht in Ordnung sein’, sagteich mir. Ich berührte ihn und behielt den Kopf samt einemwenige Linien langen Stückchen Schaftes in den Fingern,während der Rest des letztern in dem Bohrloche blieb, woer schon vor lüngrer Zeit abgebrochen sein mußte, denn dieBruchstäche war zum Teil verrostet. Nun steckte ich dasvordere Stück wieder sorgfältig an seinen Platz, drückteauf die Feder und schob den Fensterrahmen mitsamt demNagelkopf in die Höhe.

«Soweit war also das Geheimnis aufgeklärt. Der Mörderwar durch dasjenige Fenster entkommen, vor welchem dasBett stand, hatte es dann — absichtlich oder nicht — zufal-len lassen, und der Halt, welchen die Feder dem Schieberverlieh, war von der Polizei irrtümlich für eine Wirkung desNagels angesehn worden.

«Die nächste Frage dreht sich um die Art und Weise desHinuntersteigens. Hierüber war ich mir bereits bei unsermUmschreiten des Gebäudes klar geworden. Etwa fünf Fußvon dem Fenster entfernt läuft ein Blitzableiter. Von die-sem aus konnte niemand das Fenster erreichen, geschwei-ge denn einsteigen. Ich bemerkte jedoch, daß die Läden desvierten Stockwerks die Form einer einfachen Tür — nichtwie gewöhnlich, einer Doppel- oder Flügeltür — haben undim untern Teile mit Jalousien versehen sind, welche einenbequemen Halt für die Hände bieten. Die Breite eines sol-chen Fensterladens beträgt mindestens drei und einen hal-ben Fuß. Bei unserer Besichtigung waren beide nur halbgeöffnet, das heißt, sie bildeten mit der Wand selbst etwaeinen rechten Winkel. Ohne Zweifel hat die Polizei die Au-ßenseite des Gebäudes gleichfalls untersucht; da sie abervon dem Vorurteil befangen war, daß niemand hier entkom-men sein könne, achtete sie auch nicht aus die beträchtlicheBreite des Ladens. Ich hingegen sah deutlich, daß dieser,wenn bis an die Mauer zurückgeschwungen, dem Blitzab-leiter auf anderthalb Fuß nahekommen mußte. Ebenso wares mir klar, daß ein Individuum von außerordentlicher Ge-wandtheit und großem Mute auf diese Weise vom Blitzab-

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leiter aus in das Zimmer gelangen konnte. Nehmen wir ein-mal an, der Laden sei völlig geöffnet gewesen, so brauchtees nur die Hände etwa zwei Fuß nach der einen Seite auszu-strecken, um sich fest an die Jalousien zu klammern, dannden Blitzableiter fahren zu lassen, sich kräftig mit den Fü-ßen von der Mauer abzustoßen und so bis an das Fensterselbst herumzuschwingen, durch welches — vorausgesetztdaß es offen stand — es dann leicht in das Zimmer einstei-gen konnte.

«Ich betone nochmals, daß eine ganz außergewöhnlicheGewandtheit erforderlich war, um ein so schweres Kunst-stück auszuführen. Und nun bitte ich Sie, diese ganz au-ßerordentliche Behendigkeit mit jener ganz fremdartigenStimme in Verbindung zu bringen, über deren Nationalitätkeine zwei Zeugen einig waren und in deren Lauten kei-nerlei Silbenbildung wahrgenommen werden konnte. «Siebemerken», fuhr mein Freund fort, «daß ich von der Fra-ge des Hinauskommens zu derjenigen des Hineingelangensübergesprungen bin. Dies geschah, um Sie zu überzeugen,daß beides in der nämlichen Weise und an der nämlichenStelle ausgeführt wurde. Kommen wir nun zu dem Inne-ren des Gemachs. Die Kommodenfächer, heißt es, warengeplündert, obwohl sich noch viele Gegenstände in densel-ben vorfanden. Hier ist die Schlußfolgerung geradezu ab-surd und nichts als eine Vermutung, und zwar eine rechtalberne. Woher wissen wir, daß außer den vorgefundenennoch mehr Gegenstände in der Kommode gewesen waren?

«Madame L’Espanaye und ihre Tochter lebten sehr zu-rückgezogen, empfingen keine Besuche, gingen selten aus,brauchten also keine große Garderobe. Das Gefundene warvon so guter Qualität, wie man sie überhaupt bei diesenFrauen erwarten konnte. Hätte ein Räuber irgendetwasmitgenommen, würde er viertausend Francs in Gold liegengelassen und sich ein Bündel Kleider aufgepackt haben?Und das Gold war da — beinahe die ganze vom BankierMignaud erwähnte Summe, lag in Beuteln auf dem Fußbo-den. Ich bitte Sie deshalb, die nichtige Idee von einem Mo-

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tiv, welche durch den Zufall, daß drei Tage vorher Geld ander Haustür abgeliefert wurde, in dem Hirnschädel der Po-lizisten entstanden ist, gänzlich fallen zu lassen. Derlei Zu-fälligkeiten können wir täglich erleben, und niemand ach-tet auch nur einen Augenblick darauf. Wäre das Gold ver-schwunden gewesen, dann würde allerdings die Tatsache,daß es drei Tage zuvor abgeliefert wurde, dieser Annahmeeines Motivs Nachdruck verliehen haben. Wie jedoch dieSachen hier stehen, müßten wir den Verbrecher für einenIdioten halten, der sein Gold mitsamt seinem Motiv verges-sen hätte.

«Halten Sie nun diese drei Punkte fest: die fremdartigeStimme — die außerordentliche Gewandtheit — das Feh-len eines Motivs bei einem so gräßlichen Morde, und lassenSie uns dann diesen selbst näher ansehen. Eine Frau wirdmit den Händen erwürgt, und dann, die Füße nach oben, ineinen Rauchfang gezwängt. Gewöhnliche Mörder tun der-gleichen nicht. Sie wirst zugeben, daß etwas außerordent-lich Übertriebenes in diesem Vorgehen liegt — etwas, daswir mit unsern Erfahrungen nicht in Einklang bringen kön-nen, selbst wenn wir uns die allerverderbtesten Menschenals die Täter denken. Bedenken Sie ferner, welche Kraft da-zu gehörte, um die Leiche derartig in die Öffnung hinaufzu-zwängen, daß es der vereinten Anstrengung mehrerer be-durfte, um dieselbe wieder herabzuziehn.

«Sehen wir uns nun nach weiteren Anzeichen von demVorhandensein einer geradezu staunenswerten Kraft um.Vor dem Herd lagen dicke Strähnen grauen Menschenhaa-res, die samt Wurzeln und Partikelchen der Kopfhaut aus-gerissen worden waren. Der alten Dame war nicht bloß dieKehle durchschnitten, sondern der ganze Kopf vom Rumpfgetrennt, und zwar mit einem einfachen Rasiermesser. Manbeachte die tierische Wildheit, welche das ganze Verfah-ren bekundet. Von den Beulen am Körper der MadameL’Espanaye rede ich nicht. Herr Dumas und sein würdigerKollege Etienne haben erklärt, dieselben seien durch einestumpfes Instrument beigebracht worden, und sie haben

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recht — jenes stumpfe Instrument war offenbar das Stein-pflaster des Hofes, auf welches die Unglückliche fiel.

«Fügen Sie noch die im Zimmer herrschende Unordnunghinzu, so sind wir dazu gelangt, folgende Annahmen mit-einander zu verbinden: Erstaunliche Gewandtheit — über-menschliche Kraft — tierische Wildheit — blutige Metzeleiohne Motiv — eine entsetzensvolle ’grotesquerie’, die nichtsMenschliches mehr hat, und eine Stimme, welche allen Oh-ren fremdartig klingt und jeglicher Silbenbildung entbehrt.Was folgt also hieraus? Welchen Eindruck habe ich auf IhrePhantasie gemacht?»

Mich durchschauderte es eiskalt, als Dupin diese Fragestellte. «Ein Irrer hat die Tat getan», sagte ich, «irgend einin Tobsucht verfallener Wahnsinniger, der aus einem be-nachbarten ’maison de santé’ entsprang.»

«Diese Annahme wäre in mancher Hinsicht nicht un-statthaft», entgegnete er, «allein die Stimme eines, wennauch noch so rasenden, Wahnsinnigen muß immerhin ei-ne wahrnehmbare Silbenbildung zeigen. Zudem sieht dasHaar eines Verrückten niemals so aus, wie dasjenige, wel-ches ich eben in der Hand halte. Ich habe diesen einzigenBüschel ans den zusammengekrallten Fingern der Mada-me L’Espanaye gezogen — sagen Sie mir, was Sie davonhalten?»

«Dupin!» rief ich, vor Schrecken halb ohnmächtig, «diesist kein Menschenhaar.»

«Das habe ich auch nicht behauptet», versetzte er. «Dochehe wir uns hierüber entscheiden, bitte ich Sie, einen Blickauf diese kleine Zeichnung zu werfen, welche ich zu Papiergebracht habe. Es ist ein Facsimile dessen, was die Zeu-genaussagen einmal als ,dunkle Flecke und tiefe Eindrückevon Fingernägeln’, ein andermal als ’eine Anzahl schwarz-blauer Stellen, augenscheinlich Fingereindrücke’, bezeich-nen.

«Sie werden finden», fuhr Dupin, das Papier auf demTisch ausbreitend, fort, «daß jeder dieser Finger — vermut-lich bis zum Tode des Opfers — genau an derjenigen Stelle

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verblieben ist, wo er sich ursprünglich einkrallte. Nirgendsist ein Ausgleiten ersichtlich. Hier ist ein Holzscheit vonder Dicke und cylindrischen Form des menschlichen Hal-ses. Wickeln Sie nun das Papier um dasselbe herum undversuchen Sie, alle fünf Finger gleichzeitig in die Eindrückezu legen.»

Ich machte den Versuch, aber er mißlang. «Das sind nichtdie Spuren einer Menschenhand», sagte ich. «So lesen Siediesen Abschnitt aus Cuvier», erwiderte Dupin.

Derselbe enthielt eine ausführliche Beschreibung desrotbraunen Orang-Utan des ostindischen Archipels. Diefurchtbare Kraft, die Gewandtheit, die Wildheit dieses Tie-res sind allbekannt — das ganze Schrecknis des Mordeswurde mir auf einmal klar.

«Die Schilderung der Finger stimmt genau mit dieserZeichnung überein» sagte ich, als ich mit Lesen fertig war.«Ich sehe ein, daß nur ein Orang-Utan von der hier be-schriebenen Spezies jene Eindrücke hervorgebracht habenkann. Auch dies Haar entspricht der Beschreibung Cuviers.Trotzdem vermag ich die Details dieses furchtbaren Ge-heimnisses noch nicht zu begreifen; zudem vernahm manja auch zwei zankende Stimmen, und eine davon gehörteeinem Franzosen.»

«Ganz richtig. Sier erinnern sich aber auch, daß fastsämtliche Zeugen erklärten, den Ausruf: ,mon dieu’ ausdem Munde dieses Mannes vernommen zu haben, und daßeiner derselben — der Italiener Montani — aussagte, es ha-be geklungen, als ob der Sprecher jemand heftige Vorwür-fe machte. Deshalb baue ich auf diese beiden Worte mei-ne Hoffnung, das Rätsel endgültig lösen zu können. EinFranzose weiß um den Mord. Es ist möglich, ja sogar wahr-scheinlich, daß er an der Bluttat selbst keinen Anteil hat.Der Orang-Utan kann ihm entflohen sein; er kann densel-ben auch bis nach dem Schlafgemach verfolgt, aber in derAufregung über dasjenige, was nun geschah, nimmermehrwieder eingefangen haben. Das Tier befindet sich also nochin Freiheit. Dies alles sind freilich nur Mutmaßungen; sind

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sie aber richtig, dann wird diese Annonce, welche ich ges-tern Abend auf dem Heimwege in der Expedition von ,LeMonde’, einem Blatte, das vielfach von Seeleuten gelesenwird, aufgab, den Mann hierher bringen.»

Damit überreichte er mir eine Zeitung und ich las:„Eingefangen — im Bois de Boulogne am Morgen des —

dieses Monats (— Datum des Mordes—) ein sehr großerrotbrauner Orang-Utan von der bornesischen Spezies. DerEigentümer, von welchem man weiß, daß er Matrose aufeinem maltesischen Schiffe ist, kann denselben gegen ge-nügenden Ausweis und Bezahlung der geringen Kosten imHause No. —, Rue —, Faubourg St. Germain, au troisième,abholen.“

«Wie in aller Welt können Sie wissen, daß der Mann Ma-trose ist und einem maltesischen Schiffe angehört?» fragteich.

«Ich weiß es ja auch nicht», sagte Dupin, «wenigstens binich dessen nicht gewiß. Aber hier ist ein ganz kleines End-chen Band, das, nach seiner Form und dem Fette zu ur-teilen, welches daran klebt, unbedingt dazu benützt wur-de, einen jener Zöpfe festzubinden, wie sie Matrosen sogern tragen. Zudem ist es mit einem Matrosenknoten zu-geknüpft, und zwar mit einem maltesischen. Ich habe dasBand am Fuß des Blitzableiters gefunden. Einer der beidenVerstorbenen kann es nicht gehört haben. Sollte ich michnun auch wirklich in meiner Schlußfolgerung irren, daß derFranzose Matrose auf einem maltesischen Schiff war, so tutdas weiter nichts zur Sache. Habe ich jedoch recht, dann isthiermit außerordentlich viel gewonnen. Als Mitwisser desMordes wird der Franzose natürlich schwanken, ob er dieAnnonce beantworten und seinen Affen reklamieren soll,oder nicht. Er wird aber so denken: ,Ich bin ja schuldlos;ich bin arm; mein Orang-Utan hat für mich großen Wert —weshalb soll ich ihn also aus törichter Furcht vor einer mirdrohenden Gefahr aufgeben? Man hat ihn in Bois de Boulo-gne gefunden — in weiter Entfernung von dem Schauplatzjener Schreckenstat. Wer sollte auf die Idee kommen, daß

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ein Tier der Täter war! Die Polizei hat keinerlei Spur fin-den können. Und was die Hauptsache ist: der Annoncieren-de weiß, wer ich bin — vielleicht ist er genauer unterrich-tet, als ich ahne. Es könnte und müßte Verdacht erregen,wenn ich es unterließe, das wertvolle Tier zurückzufordern.Ich werde hingehen, den Orang-Utan abholen und ihn danneinsperren, bis die Sache in Vergessenheit gerät!»

In diesem Augenblick vernahmen wir Schritte auf derTreppe.

«Machen Sie sich fertig», sagte Dupin; «aber zeigen Siedie Pistolen erst, wenn ich Ihnen ein Zeichen gebe.»

Die Haustür war von Dupin offengelassen worden, undder Besucher hatte nicht nötig gehabt, zu klingeln. Jetztstieg er die Treppe zum Teil hinan; dann schien er un-schlüssig zu werden, und zuletzt hörten wir ihn wieder hin-absteigen. Schon eilte Dupin nach der Tür, als der Fremdeabermals zurückkam. Jetzt klopfte es an unsre Stubentür.

«Herein!» rief Dupin im jovialsten Tone.Ein Mann trat ein. Er war offenbar ein Matrose, von

hohem, kräftigem Wuchs, und hatte etwas Keckes in sei-nem Gesichtsausdruck, das sofort für ihn einnahm. Er trugeinen wuchtigen Eichenknittel, war aber im übrigen unbe-waffnet. Er grüßte unbeholfen und wünschte uns im Pari-ser Dialekt einen «guten Abend».

«Nehmen Sie Platz, mein Freund», sagte Dupin. «Siekommen vermutlich wegen ihres Orang-Utan. MeinerTreu, ich beneide sie fast um ihn. Es ist ein außerordent-lich schönes und ohne Zweifel höchst wertvolles Exemplar.Für wie alt halten sie ihn?»

Der Matrose holte tief Atem, wie jemand, der sich plötz-lich sehr erleichtert fühlt, und antwortete dann mit festererStimme:

«Ich weiß es nicht genau; doch kann er schwerlich übervier oder fünf Jahre alt sein. Haben sie ihn hier?»

«Oh nein; ich konnte ihn ja hier nirgends unterbringen.Er befindet sich in einem Leihstall der Rue Dubourg, hierganz in der Nähe. Sie können ihn morgen früh bekommen.

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Sie sind doch imstande, sich als sein Besitzer auszuwei-sen?»

«Gewiß, mein Herr.» «Ich trenne mich nur schwer vonihm —»

«Ich verlange auch nicht, daß sie all ihre Mühe umsonstgehabt haben sollen, mein Herr», sagte der Mann. «Bingern erbötig, eine entsprechende Belohnung für das Auf-finden des Tieres zu bezahlen.»

«Schon gut», versetzte mein Freund. «Aber was gebührtmir denn eigentlich dafür? Warten sie einmal — — oh, ichwill ihnen sagen, welche Belohnung ich verlange: sie sollenmir alles erzählen, was sie von — von diesem Doppelmordin der Rue Morgue wissen.»

Dupin hatte die letzten Worte sehr leise und ruhig ge-sprochen. Ebenso schritt er jetzt zur Tür, verschloß diesel-be und steckte den Schlüssel in die Tasche. Dann zog er einPistol hervor und legte es behutsam vor sich auf den Tisch.Der Matrose wurde dunkelrot im Gesicht, sprang auf undfaßte nach seinem Stock, sank aber schon im nächsten Mo-ment heftig zitternd und totenbleich in den Stuhl zurück.Er sprach kein Wort.

«Mein Freund», fuhr Dupin im gütigsten Tone fort, «sieängstigen sich ohne allen Grund. Ich gebe ihnen mein Eh-renwort, daß wir nichts gegen sie im Schilde führen. Ichweiß sehr wohl, daß sie all den in der Rue Morgue began-genen Untaten schuldlos sind; allein Sie können ebensowe-nig leugnen, daß sie in gewisser Beziehung zu denselbenstehn. Sie haben einerseits nichts verbrochen, ja sich nichteinmal des Diebstahls schuldig gemacht, während sie un-gestraft hätten rauben können, brauchen also auch nichtszu verheimlichen. Andererseits aber sind sie als ehrlicherMann verpflichtet, alles zu bekennen, was sie von der Sa-che wissen, denn man hat einen Unschuldigen wegen des-selben Verbrechens verhaftet, dessen Täter sie kennen.»

Während Dupin so sprach, hatte der Matrose seine Fas-sung wiedergewonnen; aber seine ursprüngliche Keckheitwar verschwunden. «So wahr Gott mir helfe», begann er

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nach einer kurzen Pause; «ich will ihnen alles sagen, wasich von der Geschichte weiß, obgleich sie mir gewiß nichtdie Hälfte davon glauben werden. Aber ich bin ja unschul-dig, und so will ich denn mein Herz erleichtern.»

Nun erzählte er im wesentlichen folgendes:Unlängst im ostindischen Archipel angelangt, hatte er

während eines Ausfluges auf Borneo in Gemeinschaft miteinem Kameraden den Orang-Utan eingefangen, welcherdurch den Tod jenes Mannes sein ausschließliches Eigen-tum wurde. Das Tier hatte ihm unterwegs durch seine un-bezähmbare Wildheit viel Ungemach bereitet, und hier inParis eingetroffen, hatte er dasselbe sorgfältig eingesperrt,um es schließlich, sobald es von einer auf dem Schiff erhalt-nen Fußwunde geheilt sein würde, zu verkaufen.

Spät in der Nacht jener Schreckenstat von einem Matro-sengelage heimkehrend, fand er den Affen aus seinem Ge-fängnis ausgebrochen in seiner eigenen Schlafkammer. Erhatte sich das ganze Gesicht eingeseift und saß, ein Rasier-messer in der Hand und die oftgesehne Operation des Bar-bierens nachahmend, vor dem Spiegel. Höchlich erschro-cken, eine so gefährliche Waffe im Besitz dieses unbändi-gen Tieres zu finden, hatte er einige Sekunden lang nichtgewußt, was er beginnen sollte, schließlich aber nach derPeitsche gegriffen. Da war der Orang-Utan plötzlich durchdie Tür entsprungen und durch ein unglücklicherweise of-fenstehendes Fenster auf die Straße entkommen.

Der Mann verfolgte ihn und sah, daß der Affe, welchernoch immer das Rasiermesser in der Hand hielt, häufig ste-hen blieb und sich nach ihm umsah, um seine Flucht erstfortzusehen, wenn sein Herr ihn beinahe erreicht hatte. Sodauerte die Jagd eine ganze Weile fort. Da es gegen dreiUhr morgens war, begegnete er niemand. Als sie durch einhinter der Rue Morgue entlanglaufendes Gäßchen kamen,muß der Lichtschimmer, welcher aus dem offenstehendenFenster der Madame L’Espanaye drang, die Aufmerksam-keit des Flüchtlings erregt haben. Er stürzte darauf zu, ge-wahrte den Blitzableiter, kletterte mit unbegreiflicher Be-

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hendigkeit daran empor, erfaßte den gegen die Mauer ge-lehnten Laden, schwang sich mittelst desselben direkt aufdas hohe Kopfende der Bettstelle und stieß dann den Fens-terladen mit den Füßen wieder in seine vorige Lage zurück.Dies alles geschah in weniger als einer Minute.

Der Matrose freute sich einerseits, daß die Bestie selbstin eine Falle gegangen war, aus welcher sie nur mittelstdes Blitzableiters wieder entkommen und unterwegs leichteingefangen werden konnte; andrerseits aber hegte er auchdie schlimmsten Befürchtungen, da er nicht wissen konnte,was der Affe im Innern des Hauses anstellen werde, unddies bewog ihn, die Verfolgung fortzusetzen. Den Blitzab-leiter zu erklimmen, wurde ihm als Matrose nicht schwer;als er aber in der Höhe des Fensters angelangt war, konnteer nicht weiter, und es gelang ihm nur, sich soweit hinüber-zubeugen, daß er einen Teil des Zimmers zu überblickenvermochte. Beinahe wäre er im Übermaß seines Entsetzenshinabgestürzt. Madame L’Espanay und ihre Tochter warenaugenscheinlich mit dem Ordnen von Papieren beschäftigtgewesen, welche sich in der früher erwähnten kleinen Ei-senkiste befanden. Letztere stand offen mitten im Zimmerund ihr Inhalt lag ringsumher verstreut. Die beiden Frauenmußten mit dem Rücken gegen das Fenster gesessen undvielleicht das Anschlägen des Ladens für die Wirkung einesWindstoßes gehalten haben, denn es vergingen Sekunden,ehe sie jene grausigen Angstschreie ertönen ließen, welchedie Bewohner der Rue Morgue aus denm Schlafe weckten.

Als der Matrose nun in das Zimmer blickte, hatte derOrang-Utan die alte Frau bei den Haaren erfaßt und fuch-telte, die Bewegungen eines Barbiers nachahmend, mitdem Messer um ihr Gesicht herum. Die Tochter war inOhnmacht gesunken. Das Geschrei und Sträuben der Mut-ter brachte den Affen, der bisher ganz friedliche Absichtengehabt zn haben schien, in Wut. Er riß sie heftig herumund trennte dann mit einem einzigen Schnitt den Kopf vomRumpfe. Der Anblick des Blutes machte ihn nur noch wil-der. Zähneknirschend und mit funkelnden Angen sprang er

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auf das Mädchen ein nnd hielt ihren Hals fest umkrallt, bissie tot war. Da fiel sein Blick auf den Kopf seines Herrn au-ßerhalb des Fensters; augenblicklich schien er sich der sogefürchteten Peitsche zu erinnern, und seine Wut verwan-delte sich in Angst. Als ob er sich bewußt sei, eine Züchti-gung verdient zu haben, sprang er im Zimmer umher, stürz-te dabei die Möbel um und zerbrach sie, und zerrte das Bettvon der Bettstelle herunter. Schließlich packte er, als wollteer die Spuren seiner blutigen Tat verbergen, zuerst die Lei-che der Tochter und schob sie in den Rauchfang, und danndiejenige der alten Dame, welche er kopfüber zum Fensterhinauswarf.

Als das Tier sich mit seiner furchtbar verstümmeltenBürde dem Fenster näherte, preßte der Matrose sich vollEntsetzen an den Blitzableiter, glitt in großer Hast an die-sem herab und eilte, die Folgen der Metzelei fürchtend undin seiner Angst völlig unbekümmert um das weitere Schick-sal des Orang-Utan, direkt nach Hause. Was die Leute aufder Treppe gehört hatten, waren die Ausrufe des Franzo-sen, untermischt mit dem höllischen Geschnatter der Bes-tie, gewesen.

Mir bleibt nur noch weniges hinzuzufügen übrig. DerOrang-Utan muß unmittelbar vor dem Aufbrechen der Türauf demselben Wege entkommen sein, auf welchem er ein-gedrungen war, und beim Hindurchschlüpfen das Fensterangestoßen haben, so daß dieses niederfiel. Er wurde spä-ter durch den Besitzer selbst eingefangen, welcher ihn umeinen hohen Preis an den Jardin des plantes verkaufte. So-bald wir im Bureau des Polizeipräfekten Bericht erstattet,wurde Le Bon in Freiheit gesetzt. Der erwähnte Beamtekonnte sich, trotzdem er meinem Freunde sehr zugetanwar, nicht enthalten, einige boshafte Bemerkungen fallenzu lassen und unter anderem zu äußern, daß es besser wä-re, wenn sich jeder um seine eigenen Angelegenheiten küm-merte.

«Lassen Sie ihn reden», sagte Dupin, welcher ihn keinerAntwort gewürdigt hatte. «Lassen Sie ihn schwatzen — es

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wird sein Gewissen erleichtern. Mir genügt es, ihn in seinereigenen Burg besiegt zu haben. Mich wundert es gar nicht,daß ihm die Lösung dieses Rätsels mißlang, denn er ist vielzu gerieben, um tiefer in die Dinge eindringen zu können.Seine Weisheit hat lauter Kopf und keinen Körper, wie dieBilder der Göttin Laverna. Er ist trotz alledem doch einguter Kerl. Mir gefällt er wegen seiner Meisterschaft — dieihm auch den Ruf eines scharfsinnigen Mannes eingebrachthat — de nier ce qui est, et d’expliquer ce qui n’est pas»*

*Rousseau: ’La nouvelle Héloise’.

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Das Geheimnisum Marie Rogêt

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Vorbemerkung des Übersetzers:Zu Anfang der 1840er Jahre wurde in der Nähe New Yorks ein

junges Mädchen namens Mary Rodgers ermordet, und obwohl ihrTod außerordentliches und dauerndes Aufsehen erregte, war den-noch das Geheimnis desselben noch unaufgeklärt, als der folgen-de Aufsatz erschien. Der Dichter hat sich in demselben bis in diekleinsten Details hinein im wesentlichen streng an die ihm aus je-nem Fall durch die Tagesblätter bekannt gewordenen Tatsachengehalten und lediglich die Namen der Personen, Lokalitäten, Zei-tungen u. s. w. fingiert. Sein Zweck war die Erforschung der Wahr-heit, und diesen Zweck hat er erreicht; denn lange Zeit nach derVeröffentlichung von „Marie Rogêt“ ergab sich aus den Geständ-nissen zweier Verhafteter, daß nicht nur das Schlußresultat seinerFolgerungen vollkommen richtig war, sondern auch ausnahmslosjede der einzelnen Prämissen, durch welche er zu jenem Resultatgelangte.

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Es gibt eine Reihe idealischer Begebenheiten, die der Wirklichkeit

parallel läuft. Selten fallen sie zusammen. Menschen und Zufälle

modifizieren gewöhnlich die idealische Begebenheit, so daß sie

unvollkommen erscheint und ihre Folgerungen gleichfalls

unvollkommen sind. So bei der Reformation — statt des

Protestantismus kam das Luthertum hervor.

NOVALIS: Moral-Ansichten

Als ich vor etwa einem Jahre den Versuch machte, in derErzählung „Die Morde in der Rue Morgue“ eine eigentüm-liche geistige Veranlagung meines Freundes, des Cheva-lier Auguste Dupin, zu schildern, ahnte ich nicht, daß ichjemals wieder auf denselben Gegenstand zurückkommenwerde. War doch diese Schilderung selbst mein einzigerZweck, und hätte ich auch noch mehr Beispiele angeführt,ich würde ihn dadurch nicht vollkommener erreicht, würdenichts Neues geboten haben. Ereignisse neueren Datumsjedoch haben mir so ganz eigentümliche Seiten seines ana-lysierenden Geistes aufgeschlossen, daß ich nicht länger zuschweigen vermag. Nachdem jenes Trauerspiel seinen Ab-schluß erreicht hatte, verfiel der Chevalier wieder in sei-ne vorige träumerische Stimmung, welche ich alsbald mitihm teilte. Wir behielten unsere einsame Wohnung im Fau-bourg St. Germain bei, gaben die Zukunft den Winden undschlummerten, die abgeschmackte Welt ringsum in unsreTräume verwebend, friedvoll in der Gegenwart weiter.

Aber diese Träume sollten nicht ohne Unterbrechungbleiben. Man kann sich leicht denken, daß die Rolle, wel-che mein Freund in jenem Drama gespielt, Eindruck aufdie Pariser Polizei gemacht haben mußte, und so geschahes oft, daß die Präfektur ihn um seinen Beistand ersuchte.Einer der merkwürdigsten Fälle, in welchen dies geschah,war die Ermordung eines jungen Mädchens namens Ma-rie Rogêt. Marie war die einzige Tochter der Witwe Estel-le Rogêt. Schon in ihrer Kindheit hatte sie den Vater ver-loren, und von seinem Tode an bis etwa anderthalb Jahrevor ihrem eigenen Ende hatten Mutter und Tochter in der

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Rue Pavée St. Andrée gewohnt, woselbst erstere eine Pen-sion betrieb. Das Mädchen hatte eben ihr zweiundzwan-zigstes Jahr erreicht, als ein Parfümeur, dessen Laden sichin einem der Souterrains des Palais Royal befand, auf ih-re große Schönheit aufmerksam wurde. Monsieur Le Blancsagte sich ganz richtig, daß ein Ladenmädchen wie die schö-ne Marie seinem Geschäfte, welches hauptsächlich von denvielen verwegenen Abenteurern jener Gegend frequentiertwurde, von wesentlichem Vorteil sein mußte, und das Mäd-chen nahm trotz der Bedenken der alten Frau seine liberaleOfferte freudig auf.

Der Krämer hatte richtig spekuliert, denn bald erlangtesein Geschäft durch die Reize des munteren Fräuleins ei-ne gewisse Berühmtheit. Diese mochte ungefähr ein Jahrin seinem Brote gestanden haben, als ihr plötzliches Ver-schwinden aus dem Laden die zahlreichen Bewunderer inAufregung versetzte. Herr Le Blanc wußte keinen Grundfür ihre Abwesenheit anzugeben, und Madame Rogêt waraußer sich vor Angst und Sorge. Sogar die Zeitungen nah-men Notiz von dem Vorfall, und die Polizei war eben draufund dran, ernstlichere Nachforschungen anzustellen, alsMarie sich eines Morgens, nach Ablauf einer Woche, gesundund wohlbehalten, aber mit etwas trübseliger Miene wie-der an ihrem Verkaufstisch einfand. Die amtliche Untersu-chung wurde natürlich sofort niedergeschlagen; Le Blancblieb bei seiner Behauptung, daß er von nichts wisse, undMarie sowohl wie ihre Mutter antworteten auf alle bezüg-lichen Fragen, daß es sich lediglich um einen Besuch beieiner auf dem Lande wohnenden Verwandten gehandelt ha-be. So wurde die Angelegenheit um so schneller vergessen,als das junge Mädchen, offenbar um zudringlicher Neugieraus dem Wege zu gehn, den Dienst bei Herrn Le Blanc balddarauf verließ und zu ihrer Mutter zurückkehrte.

Ungefähr fünf Monate später wurden ihre Bekanntenzum zweitenmale durch ihr plötzliches Verschwinden in Be-sorgnis versetzt. Drei Tage verstrichen, ohne daß man ir-gend etwas von ihr hörte. Am vierten fand man ihre Leiche

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nahe demjenigen Ufer, welches dem von ihrer Mutter be-wohntem Stadtviertel gegenüberliegt, und unfern von derabgelegenen Gegend der Barrière du Roule in der Seineschwimmend.

Das Abscheuliche dieses Mordes (— denn daß ein solchervorlag, war sofort klar —), die Jugend und Schönheit desOpfers und vor allem ihre ehemalige öffentliche Beliebtheitwirkten zusammen, um die Gemüter der leicht entzündli-chen Pariser in eine ungeheure Aufregung zu versehen. Wo-chenlang vergaß man über der ausschließlichen Diskussiondieses Themas sogar die politischen Tagesfragen. Der Prä-fekt machte die außerordentlichsten Anstrengungen, undalle Kräfte der gesamten Pariser Polizei wurden selbstver-ständlich auf das äußerste angespannt. Anfänglich glaubteman des Mörders binnen ganz kurzer Zeit habhaft werdenzu können, und erst nach Verlauf einer Woche wurde die ge-ringe Belohnung von eintausend Francs dafür ausgesetzt.Inzwischen nahm die Untersuchung ihren Fortgang, vielePersonen wurden verhört, ohne daß man zu einem Resul-tat gelangt wäre, und die Aufregung wuchs. Am zehntenTage hielt man es für geraten, jenen Betrag zu verdoppeln,und als schließlich auch die zweite Woche verstrichen war,ohne daß man irgend etwas entdeckt hatte, und das in Pa-ris allezeit gegen die Polizei existierende Vorurteil sich so-gar in mehreren ernstlichen Emeuten Luft machte, bot derPräfekt die Summe von zwanzigtausend Francs „für dieÜberführung des Mörders“, oder, falls mehrere Personendabei beteiligt sein sollten „für die Überführung eines derMörder“. In der betreffenden Bekanntmachung war jedemMitschuldigen, der als Staatszeuge auftreten würde, volleStraflosigkeit zugesagt, und außerdem erklärte eine An-zahl von Bürgern, aus Privatmitteln weitere zehntausendFrancs zu dem gleichen Zwecke hergeben zu wollen. Somitbetrug die Belohnung im ganzen dreißigtausend Francs —eine enorme Summe, wenn man die niedere Stellung desMädchens und das häufige Vorkommen derartiger Verbre-chen in einer so großen Stadt bedenkt.

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Nun zweifelte niemand mehr, daß das Geheimnis alsbaldaufgeklärt werden müsse. Aber obgleich mehrere Indivi-duen verhaftet wurden, sah man sich doch genötigt, die-selben wegen der Grundlosigkeit des auf ihnen ruhendenVerdachtes wieder frei zu lassen. Drei Wochen waren seitdem Auffinden der Leiche vergangen, ehe Dupin und ich,die wir weder die Tagesneuigkeiten lasen, noch in öffent-liche Lokale gingen, noch Besucher empfingen, etwas vondem Vorgefallenen erfuhren. Diesmal war es der Polizei-präfekt in eigener Person, welcher uns die erste Mitteilungdavon machte. Er besuchte uns am Nachmittage des 13. Ju-li 18— und blieb bis in die späte Nacht hinein. Sein Ruf,ja selbst seine Ehre stehe auf dem Spiele, sagte er. AlleWelt blicke auf ihn, und kein Opfer sei ihm zu groß, wennes zur Entschleierung des Geheimnisses führe. Er schloßseine etwas komische Rede mit einem Kompliment für Du-pins „Takt" und machte diesem direkt ein höchst liberalesAnerbieten. Mein Freund wies das Kompliment so gut erkonnte zurück, ging aber auf den Vorschlag bereitwillig ein.Hierauf setzte uns der Präfekt seine eigenen Ansichten inder umständlichsten Weise auseinander und kommentierteauch die uns bis dahin unbekannten Zeugenaussagen. Du-pin saß unterdessen regungslos in seinem gewohnten Arm-stuhl und schien die verkörperte Aufmerksamkeit. Er trugan diesem Abend seine grün verglaste Brille, und ein gele-gentlicher Seitenblick überzeugte mich, daß er während dersieben oder acht Stunden, welche der Vortrag des Beamtenin Anspruch nahm, selig schlummerte.

Am Morgen verschaffte ich mir in der Präfektur einenausführlichen Bericht über die Zeugenaussagen und sam-melte außerdem alle diejenigen Zeitungen, welche beleh-rende Artikel bezüglich des Vorfalls gebracht hatten. Wennich alles fortlasse, was sich als unrichtig oder unwesentlichherausgestellt hatte, so ergab sich folgendes:

Marie Rogêt verließ die Wohnung ihrer Mutter in derRue Pavée St. Andrée am Sonntag den 22. Juni 18 — mor-gens gegen neun Uhr. Beim Fortgehen teilte sie einem ge-

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wissen Herrn Jaques St. Eustache — und nur diesem allein— mit, daß sie den Tag bei einer in der Rue des Drâmeswohnenden Tante zubringen wolle. Diese Rue des Drâmesist eine kurze und enge, aber sehr stark bevölkerte Straßeunfern des Flusses, und man braucht mindestens drei Vier-telstunden, um sie von der Pension der Madame Rogêt auszu erreichen. St. Eustache war Maries Bräutigam und lo-gierte in der Pension. Er sollte gegen Dunkelwerden seineBraut abholen. Am Nachmittage jedoch begann es heftigzu regnen, und da er annahm, daß dieselbe, wie bei frü-heren Gelegenheiten, wohl die Nacht über bei der Tantebleiben würde, unterließ er es, seinem Versprechen nach-zukommen. Nach Einbruch der Nacht äußerte Madame Ro-gêt, eine altersschwache, siebzigjährige Frau, sie fürchte,sie werde ihre Tochter niemals wiedersehen, ohne daß ihreWorte zur Zeit besonders beachtet wurden.

Am Montag stellte sich heraus, daß das Mädchen garnicht in der Rue des Drâmes gewesen war, und als auchdieser Tag zu Ende ging, ohne Kunde von ihr zu bringen,begann man in der Stadt und deren Umgebung nach ihr zuforschen. Doch erst am vierten Tage nach ihrem Verschwin-den sollte man wieder von ihr hören. Am Mittwoch den 25.Juni nämlich hatte ein Herr Beauvais in Begleitung einesFreundes am andern Ufer der Seine, der Rue Pavée St. An-drée gegenüber und in der Nähe der Barrière du Roule, Er-kundigungen nach dem Mädchen einziehen wollen und da-bei erfahren, daß soeben eine Leiche von Fischern all denStrand gezogen worden sei. Er begab sich an Ort und Stelleund erklärte nach einigem Besinnen den Körper für denje-nigen Marie Rogêts, während sein Freund keinen Augen-blick über die Identität im Zweifel war.

Das Gesicht war dunkel mit Blut unterlaufen. Auch ausdem Munde drang Blut hervor und nicht Schaum wie beiErtrunkenen. Das Zellengewebe zeigte keinerlei Entfär-bung. An der Kehle fanden sich Beulen und Fingerein-drücke. Die Arme waren über die Brust gebogen und starr.

Die linke Hand war geballt, die rechte halb geöffnet.

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Am linken Handgelenk gewahrte man zwei Ausschürfun-gen, anscheinend wie von Seilen oder doch einem mehr-fach um dieselbe herumgeschlungenen Seil. Auch das rech-te Handgelenk war teilweise zerschunden und ebenso derganze Rücken, besonders an den Schulterblättern. Als dieSchiffer die Leiche ans Ufer schafften, hatten sie zwar einTau um dieselbe geschlungen, aber dieses konnte jene Aus-schürfungen nicht bewirkt haben. Das Fleisch am Halsewar stark angeschwollen. Weder Wunden noch Beulen, wel-che von Schlägen herrühren konnten, waren zu entdecken.Um den Hals war eine Schnur derartig fest geschlungen,daß man sie anfänglich gar nicht bemerkte, weil sie sichtief in das Fleisch eingeschnitten hatte. Diese Schnur al-lein würde imstande gewesen sein, den Tod herbeizufüh-ren. Das ärztliche Zeugnis ließ die Moralität Marie Rogêtsim reinsten Lichte erscheinen. Ihm zufolge war brutale Ge-walt an dem Mädchen verübt worden. Die Leiche befandsich bei der Auffindung noch in einem so gut erhaltenenZustande, daß sie von Bekannten mit Leichtigkeit identifi-ziert werden konnte.

Der Anzug war vielfach zerrissen und in Unordnung. Indas Kleid war vom untern Saume bis zum Gürtel ein et-wa fußbreiter Streifen eingerissen, dann, ohne oben losge-trennt zu sein, dreimal um die Taille selbst geschlungenund am Rücken mittelst einer Art von Schlinge befestigtworden. Der zweite Rock war von feinem Musselin, undaus diesem war ein andrer, anderthalb Fuß breiter Streifenvollständig und mit großer Vorsicht herausgerissen, denner zeigte überall die gleiche Breite. Dieser Streifen lag lo-se um den Hals und war mit einem festen Knoten zuge-knüpft. Darüber waren die Bänder eines Damenhütchensbefestigt; der Hut befand sich noch an denselben, aber dieBänder selbst waren nicht durch einen gewöhnlichen, son-dern durch einen losen oder Seemannsknoten zugeknüpft.

Der Leichnam war nach der Identifizierung nicht erstnach der Morgue gebracht, sondern unfern der Stelle, woman ihn ans Land geschafft, in aller Eile begraben worden.

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Den Bemühungen Beauvais’ war es gelungen, die Sachemöglichst geheim zu halten, und mehrere Tage vergingen,ehe dieselbe allgemein bekannt wurde. Schließlich nahmein wöchentlich erscheinendes Blatt Notiz davon, die Lei-che wurde ausgegraben, aber außer dem schon Bekanntennichts weiter zu Tage gefördert, nur daß man diesmal dieKleider der Verstorbenen ihrer Mutter und ihren Bekann-ten vorlegte, die einstimmig erklärten, es seien dieselben,welche sie an jenem Sonntag Morgen angehabt habe.

Inzwischen wuchs die Aufregung von Stunde zu Stunde.Mehrere Personen wurden verhaftet und wieder entlassen.Auch auf Herrn St. Eustache fiel Verdacht, und es gelangihm erst nach längerer Zeit, sein Alibi für den ganzen inFrage kommenden Tag genügend nachzuweisen. Tausendeinander widersprechende Gerüchte waren im Umlauf, unddie Journalisten ergingen sich in Vermutungen, unter wel-chen diejenige, daß Marie Rogêt noch am Leben und die inder Seine gesundne Leiche diejenige einer anderen sei, dievielseitigste Beachtung fand.

Zur besseren Klarstellung mögen hier einige Stellen aus„L’Étoile“ folgen — wörtliche Übersetzungen aus diesemim allgemeinen mit großem Geschick redigierten Blatte.„Fräulein Rogêt verließ das Haus ihrer Mutter am SonntagMorgen den 22. Juni, angeblich um ihre Tante in der Ruedes Drâmes zu besuchen. Seitdem ist sie nicht wiedergese-hen worden, und es fehlt jede Spur von ihr. . . Es steht alsofest, daß sie zu jener Stunde noch lebte. Am Mittwoch gegenMittag nun wird die Leiche einer Frau in der Seine schwim-mend gefunden — das war, selbst wenn wir annehmen woll-ten, Marie Rogêt sei innerhalb drei Stunden nach dem Fort-gehen in den Fluß geworfen worden, genau drei Tage später— nur drei Tage. Aber es ist gar nicht daran zu denken, daßder Mord — wenn ein solcher an ihr begangen wurde — sofrüh ausgeführt ward, daß die Mörder den Leichnam nochvor Mitternacht in die Seine werfen konnten. Wer ein sol-ches Verbrechen begangen hat, flieht das Licht des Tages.. . . Wir sehen somit, daß, wenn jene im Wasser gefundene

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Leiche wirklich diejenige Marie Rogêts war, dieselbe nurzwei und einen halben Tag — allerhöchstens drei Tage —darin gelegen haben konnte. Nun ist es aber Erfahrungs-sache, daß die Leichen von Ertrunknen, oder von solchen,die unmittelbar nach der Ermordung ins Wasser geworfenwurden, sechs bis zehn Tage gebrauchen, ehe die Zerset-zung so weit vorgeschritten ist, daß sie an die Oberflächekommen. Selbst wenn der Körper infolge Abfeuerns einesGeschützes emporsteigt, so sinkt er von selbst wieder un-ter, wenn er nicht mindestens fünf bis sechs Tage im Was-ser lag. Wir fragen: Warum sollte gerade in diesem Falledie Natur von ihrem gewöhnlichen Laufe abgewichen sein?. . . Wäre aber andererseits die Leiche bis Dienstag Abendam Ufer geblieben, so würde irgendwelche Spur der Mör-der zu entdecken gewesen sein; und zudem bleibt es immernoch zweifelhaft, ob dieselbe so bald geschwommen habenwürde, wenn sie wirklich erst zwei Tage nach erfolgtem To-de hineingeworfen wäre. Schließlich aber ist es höchst un-wahrscheinlich, daß die Schurken, welche das Verbrechenbegingen, den Körper ins Wasser geworfen haben sollten,ohne demselben ein Gewicht anzuhängen, das ihn sinkenmachte, was doch mit leichter Mühe hätte bewerkstelligtwerden können.“

Alsdann stellt das Blatt die Behauptung auf, die Leichemüsse „nicht drei, sondern mindestens vierzehn Tage“ imWasser gelegen haben, weit die Zersetzung so weit vorge-schritten sei, daß Beauvais dieselbe nur mit großer Schwie-rigkeit rekognoszieren konnte — ein Punkt, der übrigenslängst widerlegt war. Ich fahre nun mit der Übersetzungfort:

„Welches sind denn nun die Tatsachen, die Herrn Beau-vais überzeugt haben, daß es die Leiche der Marie Rogêtwar? Er streifte den Ärmel auf, sagt er, und fand Kennzei-chen, welche die Identität bewiesen. Das große Publikumdachte dabei an Narben von bestimmter Form; Herr Beau-vais aber fand nur Haar an dem Arm — er hätte ebensogutversichern können, er habe einen Arm in dem Ärmel ge-

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funden. Herr Beauvais kehrte an dem Tage nicht zurück,sondern ließ Madame Rogêt am Mittwoch Abend um sie-ben Uhr Bescheid sagen, daß die Totenschau im Gange sei.Wollten wir nun auch wirklich zugeben, daß die Mutter vonAlter und Schmerz zu sehr gebeugt war, um hinzugehen, sohätte es doch irgend jemand anders der Mühe für wert hal-ten müssen, der Untersuchung beizuwohnen, wenn sie dieLeiche für diejenige Maries hielten. Niemand ist hingegan-gen. Selbst die Bewohner des Hauses in der Rue Pavée St.Andrée hörten nicht, daß von dem Vorfall gesprochen wur-de. Herr St. Eustache, der Bräutigam des Mädchens, sagtaus, daß er erst am folgenden Morgen von dem Auffindender Leiche gehört habe, als Herr Beauvais zu ihm kam undihm davon erzählte.“

In dieser Weise suchte die Zeitung den Eindruck hervor-zubringen, daß die Verwandten Maries eine Gleichgültig-keit an den Tag gelegt hätten, welche sich nicht mit derAnnahme vertrüge, dieselben hätten den Leichnam für denihrigen gehalten. Ihre Insinuationen kamen darauf hinaus:Marie habe sich aus Gründen, welche ihren Ruf als keu-sches Mädchen gefährdeten, mit Wissen ihrer Bekanntenaus der Stadt entfernt, und letztere hätten dann, als inder Seine ein weiblicher Leichnam gefunden wurde, wel-cher einige Ähnlichkeit niit der Verschwundnen hatte, dieGelegenheit benutzt, um die Leute glauben zu machen, die-selbe sei tot. Aber L’Étoile hatte sich übereilt. Es wurdezur Evidenz bewiesen, daß die vermeintliche Apathie nichtexistiert hatte — daß die alte Frau außerordentlich hinfäl-lig und viel zu angegriffen war, um einem öffentlichen Aktbeizuwohnen — daß Herr Eustache, weit entfernt davon,die Sache kühl aufzunehmen, vor Schmerz ganz außer sichwar und dermaßen raste, daß Beauvais einen seiner Ver-wandten bat, über ihn zu wachen und ihn nicht der Ausgra-bung beiwohnen zu lassen. Ja noch mehr: L’Étoile behaup-tete auch, die Leiche sei schließlich auf Stadtkosten beer-digt, weil die Familie ein wohlwollendes Anerbieten, diesel-be aus Privatmitteln zu bestatten, entschieden abgelehnt

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habe — und auch dies alles wurde gründlich widerlegt. Ineiner spätern Nummer versuchte dasselbe Blatt Verdachtauf Beauvais selbst zu werfen. Die Stelle lautet:

„Die Angelegenheit gewinnt jetzt eine ganz neue Gestalt.Wir erfahren, daß Herr Beauvais eines Tages beim Fortge-hen einer Madame B— welche sich im Hause der Mada-me Rogêt befand sagte, es werde ein Gendarm kommen, sieaber solle nicht mit diesem sprechen, sondern alles ihm —Beauvais — selbst überlassen. . . Es scheint, als hätte HerrBeauvais die ganze Angelegenheit in seine Hand genom-men — man kann keinen Schritt in irgendwelcher Richtungtun, ohne auf ihn zu stoßen. . . Aus unbekannten Gründenduldete er nicht, daß irgendjemand außer ihm selbst sichum die Sache kümmerte, und nach der Darstellung der Ver-wandten hat er dieselben überall in sehr auffallender Weisezurückgedrängt. Es scheint ihm viel daran gelegen gewe-sen zu sein, daß sie die Leiche nicht zu Gesicht bekommensollten.“

Dieser auf Beauvais geworfene Verdacht wurde nochdurch folgende Tatsache verstärkt. Einige Tage vor demVerschwinden des Mädchens war jemand während Be-auvais’ Abwesenheit in dessen Bureau gekommen undhatte im Schlüsselloch eine Rose, auf einer nahe der Türhängenden Tafel aber den Namen „Marie“ bemerkt. Nachallem, was wir aus den Zeitungen ersehen konnten, schienim allgemeinen die Ansicht vorzuherrschen, Marie sei dasOpfer einer Bande von Strolchen geworden, welche sie andas andre Ufer des Flusses verschleppt, mißhandelt unddann ermordet hätten. „Le Commerciel“ aber, ein einfluß-reiches Blatt, bestritt diesen letztem Teil der Annahmeaus das entschiedenste. Ich zitiere hier einige Stellen:„Nach unsrer Überzeugnng ist man bisher, insofern mandie Aufmerksamkeit auf die Barrière du Roule lenkte, aufvöllig falscher Fährte gewesen. Es ist unmöglich, daß diesvon Tausenden gekannte junge Mädchen auch nur dreiStraßen weit gegangen sein kann, ohne gesehen zu wer-den, und jeder, der ihr begegnet wäre, würde sich bei dem

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allgemeinen Interesse, welches sie erregte, dessen erinnerthaben. Zur Zeit als sie ausging, wimmelten die Straßen vonLeuten . . . Es ist unmöglich, daß sie nach der Barrière duRoule oder der Rue des Drâmes gelangen konnte, ohne voneinem Dutzend Leuten erkannt zu werden, und doch hatsie niemand außerhalb des Hauses ihrer Mutter gesehen.Es fehlt an jedem Beweise, daß sie überhaupt ausgegangenist, denn das Zeugnis besagt lediglich, daß sie erklärt habe,ausgehen zu wollen. Ihr Kleid war zerrissen und um denLeib geschlungen, um sie wie ein Bündel forttragen zukönnen. Wäre die Tat an der Barrière du Roule geschehen,dann war dies überflüssig. Die Tatsache, daß man den Kör-per in der dortigen Gegend schwimmend vorfand, beweistnicht, daß er auch dort ins Wasser geworfen wurde. . . EinStück des Unterkleides war herausgerissen und unter demKinn hindurch um den Kopf geschlungen, vermutlich, umsie am Schreien zu verhindern. Das müssen solche Kerlegetan haben, die keine Taschentücher bei sich führen.“

Kurz vor dem Besuche des Präfekten erhielt jedochdie Polizei eine wichtige Mitteilung, welche die Annahmedes „Commerciel“ im wesentlichen umzustoßen schien.Zwei kleine Knaben, Söhne einer Madame Deluc, warenbeim Durchstreifen des Waldes nahe bei der Barrière duRoule in ein Dickicht eingedrungen, worin sich drei odervier große Steine befanden, welche eine Art von Sitz mitRücklehne und Fußbank bildeten. Auf dem obersten Steinlag ein weißer Unterrock, auf dem andern ein seidnesUmhängetuch. Auch fanden sie dort einen Sonnenschirm,Handschuhe und ein Taschentuch mit dem Namen „MarieRogêt“. An den Dornbüschen, welche die Stelle umgaben,hingen Kleiderfetzen. Die Erde war zertrampelt, Zweigewaren abgebrochen und überall Spuren eines Kampfes.Zwischen dem Dickicht und dem Fluß waren die Gehegeniedergelegt, und man sah deutlich, daß eine schwereBürde in dieser Richtung fortgeschleift worden war.

„Le Soleil“, ein Wochenblatt, kommentierte im Einklang

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mit der ganzen Pariser Presse diese Entdeckung in folgen-der Weise:

„Die Gegenstände müssen offenbar mindestens drei bisvier Wochen dort gelegen haben, denn sie waren infolge desRegens so stark mit Mehltau überzogen, daß sie aneinan-der klebten. Das Gras war über einige derselben hinweg-gewachsen. Die starke Seide des Sonnenschirms war zu-sammengeschnurrt und der obere, enger znsammengefalte-te Teil total verschimmelt und verfault, so daß er beim Auf-machen zerriß. . . Die von den Dornen abgeriffenen Stückeihres Gewandes waren gegen drei Zoll breit und sechs Zolllang. Eins davon war der Saum, das andere ein Teil desRockes ohne den Saum. Sie sahen wie herausgerisseneStreifen aus und hingen etwa einen Fuß von der Erde ent-fernt an dem Strauche. . . Es kann somit keinem Zweifelmehr unterliegen, daß man den Ort, wo dieses entsetzlicheVerbrechen begangen wurde, gefunden hat.“

Die Entdeckung hatte eine neue Zeugenaussage zur Fol-ge. Madame Deluc erklärte nämlich vor Gericht, daß sieunfern des Flußufers, der Barrière du Roule gegenüber, ander Landstraße ein Wirtshaus halte. Die Gegend ist außer-ordentlich abgelegen und pflegt nur des Sonntags von demLumpengesindel der Stadt besucht zu werden, welches inKähnen über den Fluß setzt. Gegen drei Uhr an dem be-treffenden Sonntage langte in dem Wirtshause ein jungesMädchen in Begleitung eines jungen Mannes von dunklemTeint an. Beide verweilten dort längere Zeit und schlugenbeim Fortgehen die Richtung nach dem benachbarten Wal-de ein. Das Kleid des Mädchens fiel der Wirtin auf, weil eseinige Ähnlichkeit mit demjenigen einer verstorbenen Ver-wandten hatte. Des Umhängetuches entsann sie sich ge-nau. Bald nachdem das Pärchen sich entfernt, kam eineBande von wüsten Gesellen, welche sich sehr lärmend be-trug, die genossenen Speisen und Getränke nicht bezahlte,dann denselben Weg einschlug, welchen der junge Mannund das Mädchen genommen hatten, um die Dämmerungnoch einmal wiederkam und anscheinend in großer Eile

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über den Fluß zurückfuhr.An demselben Abend, bald nach Dunkelwerden, hörte so-

wohl Madame Deluc wie deren ältester Sohn in der Nach-barschaft des Wirtshauses das Geschrei eines Frauenzim-mers. Das Schreien war heftig, dauerte jedoch nur ganzkurze Zeit. Madame D. erkannte nicht nur das Umhänge-tuch wieder, sondern auch das Kleid. Nun trat auch nochein Omnibuskutscher auf, welcher bezeugte, daß er Ma-rie Rogêt an dem betreffenden Sonntag in Begleitung ei-nes jungen Mannes von dunklem Teint auf einem Fährboothabe über die Seine fahren sehen. Der Kutscher kannteMarie und erklärte mit Bestimmtheit, daß von einem Irr-tum seinerseits nicht die Rede sein könne. Die im Dickichtgefundenen Gegenstände wurden von den Verwandten desMädchens als diesem gehörig erklärt. Zu diesem von mirauf Dupins Veranlassung gesammelten Material kam nochdie, anscheinend hochwichtige, Tatsache hinzu, daß mankurz nach der Entdeckung der Kleider in der Nähe jenesWäldchens den beinahe leblosen Körper St. Eustaches, desBräutigams der Ermordeten, vorfand. Neben ihm lag einFläschchen mit der Etikette: „Laudanum“. Er starb ohneein Wort gesprochen zu haben. In seiner Tasche steckte einBrief, worin er mitteilte, daß seine Liebe zu Marie ihn zumSelbstmord getrieben habe.

«Ich brauche Ihnen wohl kaum erst zu sagen», begannDupin, nachdem er meine Aufzeichnungen gelesen, «daßdies ein viel verwickelterer Fall ist, als jener in der RueMorgue, von welchem er insofern wesentlich abweicht, daßhier ein gewöhnlicher, wenn auch entsetzlicher Mord vor-liegt, der nicht den eigentümlichen, outrierten Charakterjenes andern zeigt. Sie werden bemerkt haben, daß manaus diesem Grunde das Geheimnis für leicht lösbar hielt,während gerade das Gegenteil hätte der Fall sein müssen.Darum setzte man auch anfangs gar keine Belohnung aus.Das Myrmidonen-Fußvolk G—s vermochte sofort zu begrei-fen, wie und warum ein derartiges Verbrechen möglicher-weise begangen werden könnte. Ihre Phantasie konnte sich

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nicht eine, sondern viele Arten und Weisen, in welchen dieSache vor sich gegangen — nicht ein Motiv, sondern vie-le Motive zu der Tat ausmalen; und da es nicht unmöglichwar, daß eine dieser Legion von Arten und Weisen einer-seits, und eins von den Motiven andererseits der Wahrheitentsprach, so nahmen sie es für ausgemacht, daß es so seinmüsse. Ich habe aber schon früher darauf hingewiesen, dieeinzig passende Frage bei derlei Gelegenheiten sei — nichtetwa: Was ist geschehen?’ sondern: ’Was ist geschehen, dasvordem noch nie geschah?’

«Wie im Fall der Madame L’Espanaye und ihrer Tochterfällt auch hier die Annahme eines Selbstmordes fort. DerZustand, in welchem die Leiche an der Barrière du Roulegefunden wurde, läßt keinen Zweifel darüber, daß wirklichein Mord vorliege. Nun hat man aber die Behauptung auf-gestellt, jene Leiche sei gar nicht diejenige der Marie Rogêt;wir haben somit vor allen Dingen die Identität dieser bei-den festzustellen.

«Auf das große Publikum haben die Argumente des ’Étoi-le’ entschieden Eindruck gemacht, und das Blatt weiß dies,denn es beginnt einen späteren Artikel mit den Worten:,Verschiedene Morgenblätter sprechen von dem endgülti-gen Charakter unserer Behauptungen’ Ich für meinen Teilkann nichts Endgültiges darin finden. Wir dürfen nicht ver-gessen, daß unsern Zeitungen im allgemeinen mehr daranliegt, Sensation zu erregen, als die Wahrheit an den Tag zubringen. Nach letzterem Ziele streben sie nur, wenn gleich-zeitig das erstere dadurch erreicht wird. Was lediglich dieallgemeine Ansicht — gleichviel, wie wohlbegründet diesesein mag — widerspiegelt, hat für die Masse keinen Wert;sie hält nur denjenigen für grundweise, welcher dieser An-sicht schroff widerspricht. Im vorliegenden Falle ist es nachmeiner Meinung nicht sowohl die Wahrscheinlichkeit, alsder halb epigrammatische, halb melodramatische Charak-ter der Idee, daß Marie Rogêt noch lebe, welcher dieselbedem Étoile eingab und bei den Lesern eine günstige Auf-nahme finden ließ. Prüfen wir einmal die Argumente dieses

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Blattes der Hauptsache nach.«Zuerst sucht es aus der Kürze des Zeitraums, welcher

zwischen dem Verschwinden Maries und dem Auffinden desschwimmenden Leichnams verfloß, zu beweisen, daß die-ser Leichnam nicht derjenige Maries sein könne. Zu die-sem Zwecke bemüht es sich, jenen Zeitraum auf die denk-bar engsten Grenzen zu beschränken, und verfällt dadurchgleich zu Anfang in haltlose Hypothesen. ,Es ist gar nichtdaran zu denken’ sagt L’Étoile, ,daß der Mord — wenn einsolcher vorliegt — so früh ausgeführt wurde, daß die Mör-der den Leichnam noch vor Mitternacht in die Seine wer-fen konnten.’ Wir fragen naturgemäß: Warum? Warum istgar nicht daran zu denken, daß sie innerhalb fünf Minu-ten nach dem Verlassen des mütterlichen Hauses ermordetwurde? Warum ist gar nicht daran zu denken, daß es zuirgend einer Tageszeit geschah? Mordtaten fallen zu allenStunden vor. Wäre aber das Verbrechen zu irgend einer Zeitzwischen nenn Uhr morgens und ein Viertel vor zwölf Uhrnachts geschehen, so hätten die Täter immer noch Zeit ge-nug gehabt, ,den Leichnam vor Mitternacht in die Seine zuwerfen’.

«Die eigentliche Absicht des Journalisten war, es als un-wahrscheinlich hinzustellen, daß die Verbrecher gewagt ha-ben sollten, die Leiche vor Mitternacht an den Fluß zu tra-gen, und hier stoßen wir wiederum auf eine jener Hypo-thesen, die mir nicht gefallen wollen. Er setzt voraus, derMord müsse an einem Orte begangen worden sein, welcheres notwendig machte, daß das Opfer nach dem Flusse ge-tragen wurde. Die Tat konnte aber auch dicht am Uferran-de oder auf der Seine selbst ausgeführt werden, und dannmußte das Hineinwerfen der Leiche als einfachstes Mittel,sich derselben zu entledigen, sofort und ohne Rücksicht aufdie Tageszeit folgen. Ich beabsichtige weder, dies als wahr-scheinlich, noch als mit meiner Ansicht übereinstimmenddarzustellen, sondern Sie lediglich darauf aufmerksam zumachen, wie einseitig L’Étoile verfährt.

«Nachdem das Blatt dergestalt seiner vorgefaßten Mei-

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nung zuliebe die erwähnten Zeitgrenzen möglichst eng ge-steckt hat und dadurch zu dem Schluß gelangt ist, daß dieLeiche, wenn es diejenige Maries war, nur sehr kurze Zeitim Wasser gelegen haben konnte, fährt das Blatt fort:

,Nun ist es aber Erfahrungssache, daß die Leichen vonErtrunkenen, oder von solchen, die unmittelbar nach derErmordung ins Wasser geworfen wurden, sechs bis zehnTage gebrauchen, ehe die Zersetzung so weit vorgeschrit-ten ist, daß sie an die Oberfläche kommen. Selbst wenn derKörper infolge Abfeuerns eines Geschützes emporsteigt, sosinkt er von selbst wieder unter, wenn er nicht mindestensfünf bis sechs Tage im Wasser lag.’

«Sämtliche Pariser Zeitungen, mit Ausnahme des ,Mo-niteur’, haben diese Behauptungen als richtig akzeptiert,und das genannte Blatt greift den Satz nur insoweit an,als es sich auf ’Leichen von Ertrunkenen’ bezieht, indemsie ein halbes Dutzend Fälle anführt, wo solche nach einerkürzeren Spanne Zeit, als ,L’Etoile’ angibt, auf der Oberflä-che schwimmend gefunden wurden. Es liegt etwas außer-ordentlich Unphilosophisches in diesem Versuch des Mo-niteurs die ganz allgemein aufgestellte Behauptung des’Étoile’ durch Ausnahmen, und wären ihrer auch ein halb-es Hundert, widerlegen zu wollen. Das letztgenannte Blattwill es ja nur als unwahrscheinlich nachweisen, daß derKörper nach weniger als drei Tagen emporgestiegen seinsolle, und diese Unwahrscheinlichkeit bleibt, so lange mannicht eine genügende Anzahl von Fällen anführen kann,um die Regel umzustoßen.

«Will man überhaupt argumentieren, so muß dies ge-gen die Regel selbst geschehen; unterwerfen wir also ein-mal diese einer genauern Kritik. Der menschliche Körperist im allgemeinen weder um vieles leichter, noch um vie-les schwerer, als das Wasser der Seine, d. h., das spezifi-sche Gewicht desselben ist unter gewöhnlichen Umstän-den demjenigen des Wassers annähernd gleich. Der Kör-per einer fetten, fleischigen Person mit feineren Knochen,ganz besonders derjenige eines Frauenzimmers ist leich-

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ter, als derjenige einer magern, starkknochigen — alsoeines Mannes. Andererseits wird das spezifische Gewichtdes Flußwassers einigermaßen durch den Wechsel von Eb-be und Flut des Meeres bedingt. Doch abgesehen von derEinwirkung der Flut kann man behaupten, daß selbst inreinem Flußwasser nur sehr wenige menschliche Körpervon selbst untergehen. Beinahe jeder, der ins Wasser fällt,wird schwimmen, wenn er das spezifische Gewicht dessel-ben nach Möglichkeit ausnutzt, d. h., wenn er sich ganzeinsinken und nur Mund und Nasenlöcher über dem Ni-veau läßt. Die richtige Lage für einen des Schwimmens Un-kundigen ist die ausgestreckte mit nach hinten gebognemKopfe, wobei Mund und Nase allein außerhalb des Wassersbleiben. In dieser Stellung wird er schwimmen, ohne daßes der mindesten Anstrengung dazu bedürfte. Da aber nachphysikalischen Gesetzen das Gewicht des Körpers und desdurch denselben verdrängten Volumens Wasser einanderganz genau gleich sind, so reicht schon die kleinste Kleinig-keit hin, um eins oder das andre überwiegen zu machen.Ein aus dem Wasser erhobener Arm z. B. genügt, um denganzen Kopf eintauchen zu machen, während man anderer-seits mit Hilfe des kleinsten Stückchens Holz den Kopf weitgenug erheben kann, um sich umzuschauen. Bei den hefti-gen Bewegungen eines Nichtschwimmers werden nur stetsdie Arme in die Höhe geworfen, und der Kopf wird, anstattnach hinten gebogen zu werden, gerade zu halten versucht.Die Folge hiervon ist das Eintauchen von Mund und Na-se und das Eindringen des Wassers in dieselben. Auch derMagen nimmt dann viel Wasser auf, und der Körper wirdum die Differenz schwerer, welche zwischen dem Gewichtder früher in jenen Höhlungen vorhandenen Luft und derdieselben jetzt ausfüllenden Flüssigkeit besteht. Diese Dif-ferenz genügt in den meisten Fällen, um den Körper unter-sinken zu machen, reicht aber nicht aus bei fetten Personenmit zartem Knochenbau. Diese bleiben selbst nach dem Er-trinken auf der Oberfläche.

«Die bis zum Grund hinabgesunkene Leiche bleibt dort

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bis auf irgendwelche Weise ihr spezifisches Gewicht gerin-ger wird, als dasjenige des Wassers. Dies geschieht meis-tens durch Zersetzung, welche Gas erzeugt, die Zellengewe-be und sämtliche Höhlungen aufspannt und dadurch demKörper jenes entsetzliche aufgedunsne Ansehen verleiht.Allein diese Zersetzung wird durch eine Unzahl von Um-ständen modifiziert, als da sind: Wärme und Kälte, mi-neralische Bestandteile. Tiefe und Seichtheit des Wassers,und Eigentümlichkeiten des Körpers selbst. Man kann so-mit keinen bestimmten Zeitraum angeben, nach welchemdieser infolge solcher Zersetzung emporsteigt — es kanndies unter gewissen Bedingungen schon nach einer Stun-de geschehen, unter andern auch ganz ausbleiben. Auchdie säuerliche Gärung der im Magen befindlichen vegeta-bilischen Bestandteile kann, abgesehen von der Zersetzungdes Körpers, eine hinreichende Masse von Gasen erzeugen,um diesen zu heben. Ein abgefeuertes Geschütz wirkt le-diglich durch die Vibration. Diese kann die Leiche aus demSchlamm lösen, von welchem sie umgeben ist, oder auch,indem sie die geringe noch vorhandne Zähigkeit des be-reits in Verwesung übergehenden Zellengewebes überwin-det, die innern, gaserfüllten Höhlungen weiter ausdehnen.

«Nachdem wir solchergestalt unsern Gegenstand wissen-schaftlich beleuchtet haben, laß uns nun die Behauptun-gen des ’Étoile’ prüfen. ,Es ist Erfahrungssache’, sagt diesesBlatt, .daß die Leichen von Ertrunknen oder von solchen,die unmittelbar nach der Ermordung ins Wasser geworfenwurden, sechs bis zehn Tage gebrauchen, ehe die Zerset-zung so weit vorgeschritten ist, daß sie an die Oberflächekommen. Selbst wenn der Körper infolge Abfeuerns einesGeschützes emporsteigt, so sinkt er von selbst wieder un-ter, wenn er nicht mindestens fünf bis sechs Tage im Wasserlag’. Diese ganze Stelle muß uns nun als ein Gewebe von In-konsequenz und Zusammenhangslosigkeit erscheinen. Esist nicht Erfahrungssache, daß die Leichen von Ertrunke-nen sechs bis zehn Tage bedürfen, ehe die Zersetzung soweit vorangeschritten ist, daß sie an die Oberfläche kom-

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men. Wenn ferner der Körper durch Abfeuern eines Ge-schützes gehoben ist, so ,sinkt er nicht von selbst wiederunter’, wenigstens nicht eher, als bis die Auflösung aber-mals weit genug vorgeschritten ist, um die erzeugten Gaseentweichen zu lassen. Hier möchte ich aber Ihre Aufmerk-samkeit auf die Unterscheidung von ,Ertrunknen’ und vonsolchen, ,die unmittelbar nach der Ermordung ins Wassergeworfen wurden’, hinlenken. Obgleich der Verfasser einenUnterschied zugibt, wirft er doch beide in dieselbe Katego-rie. Ich habe nachgewiesen, wie der Körper eines Ertrun-knen spezifisch schwerer wird und daß er überhaupt garnicht sinken würde, wenn er nicht durch seine Versuche,unter der Oberfläche zu atmen, die Lungen mit Wasser, an-statt mit Luft, gefüllt hätte. Diese Versuche fallen aber fortbei ’solchen, die unmittelbar nach der Ermordung ins Was-ser geworfen wurden’. Daher pflegt der Regel nach die Lei-che im letzteren Falle überhaupt nicht zu sinken — eineTatsache, von welcher ,L’Etoile’ nicht das mindeste weiß.

«Was also haben wir von der Behauptung zu halten, daßdie aufgefundene Leiche nicht diejenige der Marie Rogêtsein könne, weil dieselbe schon nach drei Tagen auf derOberfläche schwamm? War sie ertrunken, so brauchte sie,als eine Frauenleiche, gar nicht zu sinken, oder konnte dochbereits innerhalb vierundzwanzig Stunden wieder zum Vor-schein kommen. Es fällt aber keinem Menschen ein, sie fürertrunken zu halten, und wenn sie tot ins Wasser geworfenwurde, so blieb sie aller Wahrscheinlichkeit nach beständigauf der Oberfläche.

’Aber,’ fährt L’Étoile fort, ,wäre andererseits die Leichebis Dienstag Abend am Ufer geblieben, so würde irgend-welche Spur der Mörder zu entdecken gewesen sein.’ Hierwird es uns anfänglich schwer, die Absicht dieser Schluß-folgerung zu verstehen. Der Verfasser gedenkt einen Ein-wand zu widerlegen, welchen man seiner Theorie gegen-über erheben könnte — nämlich den, daß die Leiche zweiTage am Lande geblieben und dort einer rapideren Zerset-zung unterworfen gewesen sein könnte. Er nimmt an, daß

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sie nur unter dieser Voraussetzung am Mittwoch schwim-mend gefunden werden konnte, und deshalb bemüht er sichnachzuweisen, daß dies nicht möglich war, denn ,dann wür-de irgendwelche Spur der Mörder zu entdecken gewesensein’. Sie lächeln über diese Folgerung. Sie begreifen nicht,inwiefern das längere Verbleiben des Leichnams am Uferdie Spuren der Mörder vermehren sollte — ich begreife dasebensowenig.

,Schließlich aber ist es höchst unwahrscheinlich’ sagt dasBlatt weiter, ’daß die Schurken, welche das Verbrechen be-gingen, den Körper ins Wasser geworfen haben sollten,ohne demselben ein Gewicht anzuhängen, das ihn sinkenmachte, was doch mit leichter Mühe hätte bewerkstelligtwerden können.’

«Beachten Sie einmal die geradezu lächerliche Unklar-heit der Gedanken. Niemand bezweifelt — auch L’Étoileselbst nicht — daß an der aufgefundnen Leiche ein Mordbegangen wurde; die Spuren äußerer Gewalt sind unver-kennbar. Nun ist der einzige Zweck unseres Klüglers, zubeweisen, daß diese Leiche nicht diejenige der Marie Rogêtsei. Er will uns klarlegen, daß Marie, nicht aber, daß dieim Fluß gefundene Frauensperson nicht ermordet wurde —und trotzdem weist er nur das letztere nach. Ein Leichnamwird gefunden, welchem kein Gewicht angehängt ist — hät-ten Mörder ihn hineingeworfen, so würden sie nicht ver-säumt haben, denselben zu beschweren — wurde er nichtvon Mördern hineingeworfen. Das ist, wenn wir überhauptden Beweis als solchen gelten lassen wollen, alles, was erbewiesen hat. Die Identitätsfrage wird gar nicht berührt,und L’Étoile hat nichts weiter getan, als sich die größteMühe gegeben, dasjenige zu bestreiten, was er kurz vorherselbst zugab, denn das Blatt sagt an einer früheren Stelle:’Wir sind überzeugt, daß die aufgefundene Leiche diejenigeeiner Ermordeten war.’

«Dies ist aber keineswegs der einzige Fall, in welchemunser Klügler unbewußt gegen sich selbst zu Felde zieht.Wie schon gesagt, ist seine offenkundige Absicht, den Zeit-

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raum zwischen Maries Verschwinden und der Auffindungjener Leiche möglich kurz darzustellen — und dessenunge-achtet legt er auf den Umstand Nachdruck, daß das Mäd-chen ,seit Sonntag Morgen nicht wiedergesehen wurde undjede Spur von ihr fehle.’ Das hätte er, umsomehr da es anEinseitigkeit leidet, nicht erwähnen sollen; denn wäre Ma-rie etwa noch am Montag oder Dienstag von jemand gese-hen worden, so würde der in Rede stehende Zeitraum undmit diesem zugleich — seinem eignen Kalkül gemäß — dieWahrscheinlichkeit, daß es die Leiche dieses Mädchens war,welche man fand, ganz bedeutend verringert worden sein.

«Gehen wir nun einmal denjenigen Teil der Argumentedurch, welcher sich auf die Identifizierung der Leiche be-zieht. Was das ,Haar am Arme’ betrifft, so hat L’Étoile sichoffenbar eine Unredlichkeit zu schulden kommen lassen.Da Herr Beauvais nicht blödsinnig ist, konnte er unmög-lich das bloße Vorhandensein desselben als Erkennungszei-chen gelten lassen. Es gibt keinen Arm ohne Haar. Die Zei-tung hat also einfach die Aussage dieses Zeugen entstellt.Er muß von besondern Kennzeichen dieses Haares — vondessen Farbe, Länge, Masse oder dem Orte, wo es sich vor-fand, gesprochen haben.

,Ihre Füße,’ fährt die Zeitung fort, ,waren klein — manfindet aber Tausende von kleinen Füßen. Ihre Strumpfbän-der sind ebensowenig ein Beweis, wie ihre Schuhe, dennStrumpfbänder und Schuhe von ganz gleichem Aussehenwerden ja kistenweise verkauft. Dasselbe gilt von den Blu-men am Hute. Herr Beauvais legt großes Gewicht darauf,daß die Schnallen an den Strumpfbändern zurückgesetztwaren. Dies beweist gar nichts, denn die meisten Frauenwerden ihre Strumpfbänder nicht im Laden anprobierenund dort ihrer Beinweite anpassen.’ Spricht der Journalisthier wirklich in vollem Ernst? Sobald Herr Beauvais jenenLeichnam gefunden und sich überzeugt hatte, daß derselbenach seiner Größe und seinem Aussehen im allgemeinender Vermißten ähnelte, würde er, ganz abgesehen von derFrage der Bekleidung, ein Recht gehabt haben, sein Bemü-

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hen für erfolgreich zu halten. Kommt nun aber gar nochhinzu, daß er am Arm der Leiche eigentümliche Kennzei-chen entdeckte, welche ihm an der lebenden Marie aufge-fallen waren — daß die Füße von derselben auffallendenKleinheit, daß die Schuhe die nämlichen waren, so steigtdie Wahrscheinlichkeit, daß es die Leiche Maries war, nichtin bloß arithmetischer, nein, in geometrischer Progression,und was an und für sich gar nichts bewiesen haben wür-de, wird durch seine Stelle in dem Rechenexempel — ichmeine durch seinen bekräftigenden Charakter — ein be-stimmter Beweis. Nehmen wir noch die Blumen am Hut da-zu — nicht eine, sondern mehrere Blumen — die Strumpf-bänder, welche in derselben Weise enger gemacht wordenwaren, wie Marie es kurz vor dem Verlassen des Hausesmit den ihrigen getan, und wir haben, um die mathema-tische Bezeichnung beizubehalten, nicht mehr eine Addi-tion von Beweisen — nein, Beweise multipliziert mit Be-weisen, die zu einem ungeheueren Produkt angewachsensind. Noch nach weiterem suchen zu wollen, wäre Torheit,wäre geradezu Wahnsinn. Wenn L’Étoile behauptet, jenesVerkürzen der Strumpfbänder komme häufig vor, so be-weist das nur, wie starrsinnig dieses Blatt an seinen Irrtü-mern festhält. Schon die Elastizität derartiger Bänder mitSchnallen und Krampen spricht gegen die Behauptung, daßdas Kürzermachen derselben ein gewöhnliches Vorkomm-nis sei. Was sich von selbst dem Körper anpaßt, bedarf nuräußerst selten hierzu einer Nachhilfe. Ein ganz besonde-rer Zufall muß die Veranlassung gewesen sein, und darumbeweisen schon diese Strumpfbänder allein die Identität.Hier aber dreht es sich nicht mehr darum, daß die Leichedie Strumpfbänder des vermißten Mädchens an sich trug,oder ihren Hut, oder die Blumen an ihrem Hut, oder ihreSchuhe, oder das besondere Kennzeichen an ihrem Arme —sondern darum, daß dieselbe dies alles insgesamt aufwies.Was ferner die gegen Beauvais gerichteten Verdächtigun-gen anlangt, so werden Sie sich dieselben alsbald aus demSinne schlagen, wenn Sie diesen guten Mann seinem wah-

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ren Charakter nach durchschaut haben. Er ist ein Hansin allen Gassen, ein Mensch, der sich überall aufdrängt,hat einen beschränkten Verstand und liebt das Abenteu-erliche. Ein derartig veranlagtes Individuum wird sich beiähnlichen Vorkommnissen stets so benehmen, wie er, unddadurch bei Superklugen oder Übelwollenden Verdacht er-wecken. Alle jene verdächtigen Umstände vertragen sichweit besser mit meiner Hypothese von Abenteuersucht undZudringlichkeit, als mit der Annahme einer Schuld. Gehenwir von dieser meiner Erklärung aus, so kann es uns nichtschwer fallen, alles zu begreifen: die Rose im Schlüsselloch— den Namen ’Marie’ auf einer Tafel — das ,Zurückdrän-gen der Verwandten’ — sein Interesse daran, ’daß sie dieLeiche nicht zu Gesicht bekommen sollten’ — seine Äuße-rung gegen Madame B. — ’sie solle dem Gendarmen nichtssagen, sondern alles ihm selbst überlassen’, und endlichseinen Wunsch, ’daß niemand außer ihm sich um die Sa-che kümmern möchte’. Für mich steht es über allen Zweifelfest, daß Beauvais in Marie verliebt war, daß diese mit ihmkokettiert, hat und daß der eitle Mensch sich den Anscheingeben wollte, mit dem Mädchen in näheren Beziehungengestanden zu haben. Doch genug hiervon. Die Behauptungdes ’Étoile’, daß die Mutter und die übrigen Verwandten ei-ne Gleichgültigkeit an den Tag gelegt hätten, welche sichnicht mit der Annahme vertrüge, dieselben hätten an dieIdentität geglaubt, ist durch die Zeugenaussagen genügendwiderlegt worden. Betrachten wir somit die Identitätsfrageals erledigt und fahren wir fort.»

«Und wie denken Sie über die Ansichten des ,Commer-ciel’?» warf ich ein. «Diese verdienen, insofern die Schlußfol-gerungen streng logisch sind, weit mehr Beachtungals allesübrige, was über die Sache geschrieben worden ist. Aberdie Prämissen, voir denen jene Schlußfolgerungen ausgehn,beruhen — in zwei Fällen wenigstens — auf mangelhaf-ten Beobachtungen. ,Le Commerciel’ will nachweisen, daßMarie in unmittelbarster Nähe ihrer Wohnung einer Bandevon Strolchen in die Hände gefallen sei. ,Es ist unmöglich’,

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sagt das Blatt, ,daß dies von Tausenden gekannte jungeMädchen auch nur drei Straßen weit gegangen sein konn-te, ohne gesehen zu werden? Das ist die Ansicht eines Man-nes, welcher lange in Paris gelebt hat — eines Mannes derÖffentlichkeit, der fast niemals aus der Umgebung der Bu-reaux und Geschäftslokale herausgekommen ist. Er weißsehr wohl, daß er selten ein Dutzend Straßen weit von sei-nem Bureau wegkommt, ohne erkannt und gegrüßt zu wer-den. Nun vergleicht er seine Notorität mit derjenigen desLadenmädchens, findet zwischen beiden keinen großen Un-terschied, und gelangt alsbald zu dem Schlusse, daß auchsie ebenso oft erkannt werden müßte. Er würde hierin auchrecht haben, wenn ihre Ausgänge ebenso regelmäßig undebenso auf eine gewisse Peripherie beschränkt gewesen wä-ren, wie die seinigen, auf welchen er überdies der Naturder Sache gemäß häufig Kollegen oder doch Angestelltenund Arbeitern der andern dort so zahlreichen Offizinen be-gegnet, die sich für ihn als einen Berufsgenossen interessie-ren. Das alles fällt aber bei den verschiedenartigen Ausgän-gen Maries fort, die man im allgemeinen als umherschwei-fend, als unstet bezeichnen kann. Sie werden später zuge-ben müssen, daß sie gerade in diesem besonderen Falle al-ler Wahrscheinlichkeit nach eine ganz neue Richtung ein-geschlagen hat. Ich halte es daher nicht nur für möglich,sondern sogar für höchst wahrscheinlich, daß sie zunächstmit keinem einzigen zusammentraf, der sie kannte.

«Aber die Annahme des ,Commerciel’ verliert noch mehran Gewicht, wenn wir die Stunde ins Auge fassen, zu wel-cher das Mädchen sein Daheim verließ. ,Le Commerciel’sagt: ,Zur Zeit, als sie ausging, wimmelten die Straßen vonLeuten’? Das ist falsch. Es war neun Uhr morgens. DieStraßen von Paris wimmeln allerdings an jedem Wochen-tage um neun Uhr morgens von Leuten, aber nicht amSonntage. Um diese Zeit pflegen die meisten zu Hause zusein und sich zum Kirchgang anzukleiden. Niemandem, dereinige Beobachtungsgabe besitzt, kann das auffallend ödeAnsehn der Stadt am Sonntag morgen zwischen acht und

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zehn Uhr entgangen sein.«Nun zu der zweiten Stelle, welche auf die mangelhaften

Beobachtungen des ,Commerciel’ hinweist. ,Ein Stück desUnterkleides war herausgerissen’, sagt er, ,und unter demKinn hindurch um den Kopf geschlungen, vermutlich, umsie am Schreien zu verhindern. Das müssen solche Kerlegetan haben, die keine Taschentücher bei sich führen.’ Obder Zweck jenes Streifens richtig bezeichnet ist oder nicht,wollen wir später untersuchen; mit ,Kerlen, die keine Ta-schentücher bei sich führen’ aber meint er die niedrigsteKlasse von Strolchen. Gerade diese führen jedoch in Parisstets ein Taschentuch bei sich, selbst wenn sie kein Hemdauf dem Leibe haben.»

«Und was haben wir von dem Artikel in ,Le Soleil’ zu hal-ten?» fragte ich.

«Daß es ewig schade ist, daß der Verfasser nicht als Papa-gei auf die Welt kam. Er würde unbedingt der berümtestePapagei aller Papageien geworden sein. Er hat lediglich dasbereits Gesagte nachgeplappert, indem er es mit lobens-wertem Fleiße aus allen möglichen Zeitungen zusammen-trug. ’Die Gegenstände müssen offenbar mindestens dreibis vier Wochen dort gelegen haben,’ sagt er, ,und es kannsomit keinem Zweifel mehr unterliegen, daß man den Ort,wo das entsetzliche Verbrechen begangen wurde, gefundenhat.’ Die in ,Le Soleil’ wiedergekäuten Tatsachen sind weitdavon entfernt, meine Zweifel zu bannen. Doch wir wollendieselben später genauer prüfen.

«Vorderhand haben wir uns noch mit anderen Unter-suchungen zu beschäftigen. Es kann Ihnen nicht entgan-gen sein, wie nachlässig man bei der Leichenschau ver-fahren ist. Die Identität war allerdings festgestellt, aberman hat dennoch manches andere zu prüfen unterlassen.War die Verstorbene beraubt worden? Trug sie irgendwel-che Schmucksachen an sich, als sie das Haus verließ, undwenn dies der Fall war — fanden sich dieselben auch andem Leichnam vor? Das sind gewichtige Fragen, auf welchedie Zeugenaussagen die Antwort schuldig bleiben, während

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man noch andere von gleichgroßer Bedeutsamkeit ebensounbeachtet ließ. Wir müssen hierüber selbst Erkundigun-gen einzuziehen suchen. Auch in Bezug auf St. Eustachebedarf es einer nochmaligen Untersuchung. Wir müssen dieVollgültigkeit jener Alibibeweise über allen Zweifel feststel-len — geschehe es auch nur, um methodisch zu verfahren,denn mir erscheint er keineswegs verdächtig. Finden wir,daß mit jenen Beweisen alles in Ordnung ist, dann könnenwir vollständig von ihm absehn; denn sein Selbstmord al-lein ist keineswegs unerklärlich und genügt an und für sichnicht, um einen Verdacht auf ihn zu werfen.»

Diesem Vorschläge Dupins gemäß prüfte ich die betref-fenden Zeugenaussagen auf das gewissenhafteste und ge-langte dadurch zu der Überzeugung von ihrer vollen Gül-tigkeit und St. Eustaches Unschuld. Mein Freund beschäf-tigte sich unterdessen mit einer — mir anfänglich ganzzwecklos erscheinenden — Durchmusterung der verschie-densten Zeitungen und legte mir nach Ablauf einer Wochefolgende Auszüge vor:

„Vor etwa drei und einem halben Jahre hat sich bereitsein dem jetzigen ganz ähnlicher Fall ereignet. Dieselbe Ma-rie Rogêt verschwand nämlich damals aus dem Parfümeri-eladen des Herrn Le Blanc im Palais Royal, um eine Wochespäter so gesund wie immer, nur etwas bleicher als zuvorzu ihrem Kontor zurückzukehren. Herr Le Blanc und ihreMutter ließen verlauten, das Mädchen habe nur eine Ver-wandte auf dem Lande besucht, und die Sache wurde baldtotgeschwiegen. Wir vermuten, daß diesmal ein ähnlicherGeniestreich vorliegt und daß wir nach einer Woche odereinem Monat das Vergnügen haben werden, sie wieder inunsrer Mitte zu sehen.“ — (,Abendblatt’ von Montag den23. Juni).

„Eine der gestrigen Abendzeitungen erinnert an ein frü-heres mysteriöses Verschwinden der Marie Rogêt. Es istvielfach mit Bestimmtheit behauptet worden, daß dieselbesich während ihrer Abwesenheit aus dem Geschäft in derGesellschaft eines jungen, seiner Liederlichkeit halber be-

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rüchtigten Marineoffiziers befunden und daß ein — glückli-cherweise — zwischen beiden ausgebrochener Zwist sie zurHeimkehr bewogen habe. Wir kennen den Namen des be-treffenden Don Juan, welcher zur Zeit in Paris stationiertist, wollen denselben jedoch aus naheliegenden Gründennicht nennen.“ — (,Le Mercurie’, Dienstag den 24. Juni.)

„Eine Gewalttat der abscheulichsten Art ist vorgestern inder Nähe unserer Stadt begangen worden. Ein Herr in Be-gleitung seiner Gattin und Tochter engagierte um die Däm-merung sechs junge Burschen, welche in einem Boot müßigam Seineufer hin- und herfuhren, ihn und die Seinen überden Fluß zu schaffen. Am jenseitigen Ufer angelangt, stie-gen die drei aus und waren schon so weit gegangen, daßsie den Nachen nicht mehr sehen konnten, als die Tochterbemerkte, daß sie ihren Sonnenschirm darin liegen gelas-sen hatte. Sie kehrte um, wurde von der Bande ergriffen,in die Strömung hinausgefahren, geknebelt und, nachdemihr brutale Gewalt angetan worden war, am andern Uferans Land gesetzt. Die Schurken sind für diesmal entkom-men, aber die Polizei ist ihnen auf der Spur.“ (Morgenblatt,25. Juni).

„Wir haben wiederholt Zuschriften empfangen, welcheaufs neue den vor einigen Tagen arrestierten, aber wegenMangels an Beweisen wieder freigelassenen Herrn Men-nais des jüngst begangenen entsetzlichen Verbrechens be-schuldigen. Da dieser Herr jedoch durch die Untersuchungglänzend gerechtfertigt wurde und da die Argumente un-serer Korrespondenten mehr Eifer als Verstand verraten,so halten wir es nicht für geboten, dieselben zu veröffentli-chen.“ — (Morgenblatt, 28. Juni.)

„Uns sind mehrere im eindringlichsten Tone abgefaßteMitteilungen zugegangen, die dem Anschein nach aus ver-schiedenen Quellen stammen und es als eine über allenZweifel erhabene Tatsache hinstellen, daß die unglückli-che Marie Rogêt das Opfer einer der zahlreichen Bandenvon Strolchen geworden ist, welche an Sonntagen die Um-gebung unsrer Stadt unsicher machen. Auch wir stimmen

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dieser Ansicht bei und werden demnächst einige jener Ar-gumente publizieren.“ — (Abendblatt, Dienstag den 31. Ju-ni.)

„Am Montag sah einer der Bootsleute vom Steueramt einleeres Boot die Seine hinabtreiben. Auf dem Boden dessel-ben lagen Segel. Der Bootsmann bugsierte es nach seinerStation; am folgenden Morgen war es jedoch ohne Wissender Beamten wieder fortgeschafft worden. Das Steuerruderbefindet sich noch dort.“ — (La Diligence, Donnerstag den26. Juni.)

«Bei Numero eins und zwei wollen wir uns jetzt nicht auf-halten», hob Dupin an, als ich mit dem Lesen der Auszügefertig war. «Ich habe sie hauptsächlich deshalb notiert, umIhnen zu zeigen, wie außerordentlich nachlässig die Poli-zei verfahren ist, die, soviel ich vom Präfekten hörte, sichnoch nicht einmal die Mühe gegeben hat, jenen Marine-offizier einem Verhör zn unterziehn, trotzdem es geradezuverrückt wäre, wenn man behaupten wollte, daß das ersteVerschwinden Maries mit dem zweiten nicht in Beziehungzu bringen sei. Geben wir zu, daß ihre erste Entführung ineinem Streit zwischen dem Liebespaar und der Rückkehrdes Mädchens geendet habe, dann wird uns ihre abermaligeFlucht — wenn wir erst wissen, daß es sich um eine solchehandelt — an eine Erneuerung der Anträge von seiten desEntführers, an eine Versöhnung denken lassen. Es ist vielwahrscheinlicher, daß derjenige, welcher schon einmal mitMarie entflohen war, seinen Vorschlag wiederholte, als daßein solcher Vorschlag von einer dritten Person ausgegangensein sollte. Und nun möchte ich Ihre Aufmerksamkeit aufdie Tatsache lenken, daß zwischen ihrem ersten und zwei-ten Verschwinden nur wenige Monate mehr liegen, als dieZeit beträgt, welche unsre Kriegsschiffe zu ihrem Kreuzenzu gebrauchen pflegen. Hatte der Verehrer damals seinenSchurkenplan aufgeben müssen, weil ihn die Dienstpflichtzur Abreise zwang, und unmittelbar nach der Rückkehr dasdamals nicht vollständig Erreichte nachzuholen versucht?Von alledem wissen wir nichts.

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«Sie werden mir freilich einwerfen, daß ja in diesem zwei-ten Fall kein Entlaufen vorliege. Wohl wahr — aber werwollte behaupten, daß nicht die, allerdings vereitelte, Ab-sicht dazu vorgelegen habe? Außer St. Eustache, und viel-leicht Beauvais noch, scheint Marie keinen anerkannten,ehrlichen und offenen Anbeter gehabt zu haben. Wer istalso dieser geheime Liebhaber, voll dem die Verwandtennichts wissen, und mit welchem Marie trotz alledem amSonntag Morgen ein Stelldichein hat — dem sie so viel Ver-trauen schenkt, daß sie nicht ansteht, mit ihm bis zuinDunkelwerden in dem einsamen Wäldchen der Barrière duRoule zu verweilen? Und was hat jene seltsame Prophe-zeiung der Mutter nach Maries Fortgehn zu bedeuten: ,Ichfürchte, ich werde mein Kind niemals wiedersehen!’ —?

«Wenn wir indessen auch nicht annehmen könnten, daßdie Mutter mit der Absicht der Tochter vertraut gewesensei, so dürfen wir nichtsdestoweniger daran festhalten, daßdas Mädchen mit dieser Absicht umgegangen ist. Als siedas Haus verließ, sagte sie, sie wolle ihre Tante in der Ruedes Drâmes besuchen, und bat St. Eustache, sie am Abendabzuholen. Das scheint im ersten Moment stark gegen mei-ne Annahme zu streiten; aber lassen Sie uns einmal nach-denken. Daß sie mit jemand zusammentraf, mit ihm andas andere Ufer ging und die Barrière du Roule erst umdrei Uhr nachmittags erreichte, wissen wir. Als sie aber —gleichviel zu welchem Zweck, gleichviel ob mit oder ohneWissen der Mutter — in all dies willigte, muß sie an ihrebeim Fortgehn ausgesprochene Absicht, an das Erstaunenund den Argwohn ihres Bräutigams gedacht haben, wenndieser zur bezeichnten Stunde nach der Rue des Drâmeskam, dort erfuhr, daß sie gar nicht dagewesen sei, und beider Rückkehr in die Pension der Mutter die Gesuchte nochimmer nicht vorfand. An das alles muß sie gedacht haben,sage ich. Sie muß den Zorn St. Eustaches, den Argwohnaller übrigen vorausgesehn haben. Es konnte ihr nicht inden Sinn kommen, heimzukehren und diesem Argwohn dieStirn zu bieten.

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«Aber der ganze Verdacht verwandelt sich sofort in ei-ne Sache von geringer Bedeutung für das Mädchen, wennwir annehmen, daß sie nicht zurückzukehren beabsichtig-te. Ihre Gedanken können etwa folgende gewesen sein: ’Ichstehe im Begriff, zu einem gewissen jemand zu gehen undmit ihm zu entfliehn (oder zu irgend einem andern, nur mirallein bekannten Zweck). Ich darf niemand Gelegenheit las-sen, mich dabei zu stören — uns muß hinlänglich Zeit blei-ben, eine Verfolgung zu vereiteln — ich werde sagen, ichginge zur Tante in der Rue des Drâmes und wolle den Tagüber bei dieser bleiben — ich werde St. Eustache bitten,mich erst am Abend abzuholen — auf diese Weise wird mei-ne lange Abwesenheit weder Verdacht noch Besorgnis erre-gen, und ich gewinne soviel Zeit, wie nur irgend möglich.Wenn ich St. Eustache beauftrage, mich erst am Abend ab-zuholen, so wird er sicher nicht früher kommen; sage ichaber gar nichts zu ihm, so gewinne ich einen weit kürze-ren Vorsprung, denn dann wird man annehmen, ich kommebald wieder, und mein Ausbleiben wird um so früher Be-sorgnis erwecken. Hätte ich überhaupt die Absicht, zurück-zukehren, und es handelte sich lediglich um einen Spazier-gang mit dem gewissen jemand, so würde es unklug sein,St. Eustache bestellen zu wollen, denn er würde auf dieseArt mit Bestimmtheit erfahren, daß ich ihn hintergangenhabe, während, wenn ich ihn über das Ziel meines Ausflugsim Dunkeln lasse, ich ihm bei der Heimkehr, ohne eine Ent-deckung befürchten zu brauchen, weismachen kann, ich seibei der Tante gewesen. Da ich aber niemals (oder nicht eher,als bis gewisse Dinge verheimlicht werden können) wieder-kommen will, so handelt es sich für mich nur darum, Zeitzu gewinnen, und alles andere ist mir gleichgültig.’

«Aus Ihren Notizen haben Sie ersehen, daß man allge-mein der Ansicht ist und von Anfang an war, das unglück-liche Mädchen sei einer Bande von Strolchen zum Opfergefallen. Nun darf man unter gewissen Umständen die öf-fentliche Meinung nicht unterschätzen — das heißt, wenndiese aus sich selbst entstanden ist, wenn sie sich in völ-

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lig spontaner Weise kundgibt. Im vorliegenden Falle jedochwill es mir scheinen, als habe sich diese ’öffentliche Mei-nung’ allzusehr durch jenes Seitenstück dazu beeinflussenlassen, von welchem der dritte meiner Auszüge handelt.Ganz Paris ist in Aufregung, weil man die Leiche Marie Ro-gêts, eines jungen, schönen und von vielen gekannten Mäd-chens mit allen Anzeichen der ihr angetanen Gewalt in derSeine gefunden hat. Da erfährt es, daß genau um diesel-be Zeit von einer Bande junger Strolche eine ganz ähnlicheSchandtat an einem zweiten Mädchen verübt worden ist.Darf es nun Wunder nehmen, wenn die letztere die öffentli-che Meinung in Beziehung auf die erstere beeinflußt? Mariewurde im Flusse gefunden, und auf demselben Flusse voll-zog sich das andere Verbrechen; ein Wunder wäre es, wenndie Menge keinen Zusammenhang zwischen beiden zu fin-den suchte. Für mich aber ist das nur eher ein Beweis, daßdas andere, um dieselbe Zeit vollbrachte, nicht in derselbenWeise ausgeführt wurde. Es wäre geradezu ein Mirakel zunennen, wenn zu der nämlichen Zeit, wo eine Bande vonStrolchen an einer Stelle ein ganz unerhörtes Verbrechenbegeht, eine andre ähnliche Bande an einer ähnlichen Stel-le in der nämlichen Stadt unter gleichen Umständen undmit den gleichen Hilfsmitteln ein Verbrechen derselben Artverübt haben sollte! Und dennoch mutet uns diese ,öffent-liche Meinung’ zu, an diese ganze lange Reihe von wunder-baren Zusammentreffen zu glauben!

«Ehe wir weitergehen, lassen Sie uns einen Blick auf denvermeintlichen Schauplatz der Tat im Dickicht an der Bar-rière du Roule werfen. Dasselbe liegt in der unmittelbarenNähe einer öffentlichen Fahrstraße und man fand dort dreioder vier große Steine vor, welche eine Art von Sitz mit ei-ner Rücklehne und einer Fußbank bilden. Auf dem oberstenStein lag ein weißer Unterrock, auf dem zweiten ein sei-denes Umhängtuch. Auch ein Sonnenschirm, Handschuheund ein Taschentuch mit dem Namen ’Marie Rogêt’ fandensich vor. An den Dornbüschen hingen Kleiderfetzen. Die Er-de war zertrampelt, Zweige waren abgebrochen und überall

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zeigten sich Spuren eines Kampfes.«Die Entdeckung dieses Dickichts hat allgemeines Aufse-

hen erregt; man glaubte mit Bestimmtheit den Ort gefun-den zu haben, wo das Verbrechen stattfand, und dennochwerden Sie zugeben müssen, daß noch hinreichend Grundzu zweifeln bleibt. Wäre, wie ,Le Commerciel’ meint, derwirkliche Schauplatz in größerer Nähe der Rue Pavée St.Andrée zu suchen, so mußten die Täter — vorausgesetzt,daß sie noch in Paris sind — naturgemäß von Entsetzen er-faßt werden, als die öffentliche Aufmerksamkeit auf einmalin das richtige Fahrwasser gelenkt wurde, und der Gedan-ke mußte sich ihnen aufdrängen, daß irgend eine Anstren-gung, jener Aufmerksamkeit eine andre Richtung zu geben,unbedingt nötig sei. Da man nun schon vorher auf die Bar-rière du Roule hingewiesen hatte, so ergab sich die Idee,die Gegenstände dorthin zu legen, wo sie gefunden wurden,ganz von selbst. Es ist keineswegs bewiesen — obgleich ,LeSoleil’ dies annimmt — daß die aufgefundnen Sachen län-ger als ein Paar Tage in dem Dickicht gelegen haben; imGegenteil sprechen sehr viele Indizien dafür, daß diesel-ben dort nicht volle zwanzig Tage lang unentdeckt bleibenkonnten. ,Sie waren infolge des Regens so stark mit Mehl-tau überzogen’ schreibt das Blatt im Einklang mit der üb-rigen Presse, ,daß sie aneinander klebten. Das Gras warüber einige derselben hinweggewachsen. Die starke Seidedes Sonnenschirms war zusammengeschnurrt und der obe-re, enger zusammengefaltete Teil total verschimmelt undverfault, so daß er beim Aufmachen zerriß.’

«Was das ,über einige derselben hinweggewachsene Gras’anbelangt, so ist klar, daß die Tatsache nur aus den Er-zählungen, mithin aus den Erinnerungen zweier kleinerKnaben festgestellt werden konnte; denn diese nahmen dieGegenstände mit sich heim, ehe letztere einer dritten Per-son zu Gesicht kamen. Bei einer feuchtwarmen Temperaturaber, wie sie zur Zeit herrschte, kann Gras in einem einzi-gen Tage um ein paar Zoll wachsen. Was nun den Mehltaubetrifft, so fragt man sich unwillkürlich: ,Sollte der Verfas-

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ser wirklich die Natur desselben nicht kennen? Muß manihn erst belehren, daß er gleich dem Schimmel zu jenerKlasse von Pilzen gehört, deren bekannteste Eigentümlich-keit es ist, daß sie binnen vierundzwanzig Stunden werdenund wieder vergehen?

«Wir sehen also, wie nichtig, ja wie absurd die angebli-chen Beweise erscheinen müssen, daß die Gegenstände sich’mindestens drei bis vier Wochen’ in dem Dickicht befundenhaben. Andererseits aber ist es schwer zu glauben, daß die-selben länger als eine Woche, länger als von einem Sonntagbis zum andern dort gelegen haben können. Wer die Umge-bung von Paris kennt, weiß auch wie schwierig es ist, eineinsames Plätzchen zu finden, wenn er sich nicht sehr weitvon dessen Weichbilde entfernt. Wenn aber die Umgebungder Stadt schon an Wochentagen so bevölkert ist, in wie-viel größerem Maße muß sie es erst am Sonntag sein! Ichwiederhole nur, was jedem unbefangenen Beobachter ein-leuchten muß, wenn ich sage, daß es als ein reines Wunderzu betrachten wäre, wenn jene Sachen länger als bis zumnächstfolgenden Feiertage unbemerkt geblieben wären.

«Es liegen aber noch andere Gründe zu dem Verdacht vor,daß dieselben in der Absicht dort niedergelegt wurden, dieAufmerksamkeit vom wahren Schauplatz des Verbrechensabzulenken. Vergleichen Sie einmal das Datum der Ent-deckung mit demjenigen meines fünften Auszugs und Siewerden finden, daß sie den ’im eindringlichsten Tone ab-gefaßten Mitteilungen’ fast unmittelbar folgte. Diese Mit-teilungen, obwohl ihrer mehrere waren und sie scheinbarvon verschiedenen Einsendern kamen, verfolgten aber nureinen Zweck, nämlich den: die Aufmerksamkeit auf eineBande verbrecherischer Subjekte und auf die Umgebungder Barrière du Roule als den Ort der Tat zu lenken. DerVerdacht liegt nahe, daß die Gegenstände erst an dem Tage,an welchem jene Mitteilungen auf die Post gegeben wurden— oder mindestens kurz vorher — von den schuldbewußtenAbsendern selbst in das Dickicht geschafft worden sind.

«Dieses Dickicht hat seine Eigentümlichkeit. Inmitten

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desselben befinden sich drei seltsam geformte Steine, wel-che einen Sitz mit Rücklehne und Fußbank bilden. Es liegtdicht bei dem Wirtshause der Madame Deluc. Sollte es all-zu gewagt sein, wenn man tausend gegen eins wettete, daßkaum ein Tag verging, an welchem nicht wenigstens einerihrer umherschweifenden Knaben sich in dieser schattigenHalle verborgen und auf dem natürlichen Throne niederge-lassen hätte? Wer sich lange besinnen könnte, eine solcheWette einzugehen, müßte entweder niemals ein richtigerKnabe gewesen sein, oder vergessen haben, was Knaben-art ist.

«Beachten Sie ferner das Gekünstelte in dem Arrange-ment der Kleidungsstücke. Auf dem obersten Stein lag einweißer Unterrock, auf dem anderen, niedrigeren, ein sei-denes Umhängetuch, und ringsumher verstreut fand maneinen Sonnenschirm, Handschuhe und ein Taschentuch mitdem Namen ’Marie Rogêt’. Ich hätte erwartet, diese Din-ge sämtlich auf dem Boden liegend und mit Füßen getre-ten vorzufinden. Bei der Enge des Raumes ist es kaummöglich, daß Unterrock und Tuch auf den Steinen liegenblieben und nicht herabgestreift wurden, während mehre-re Personen sich dort herumbalgten. ’Überall zeigten sichSpuren eines Kampfes’ heißt es, ’die Erde war zertram-pelt und Zweige waren abgebrochen’ — und dennoch liegenRock und Tuch da, wie auf Regalen! ’Die von den Dornenabgerissenen Stücke ihres Gewandes waren gegen drei Zollbreit und sechs Zoll lang. Eins davon war der Saum . . . desRockes. Sie sahen wie herausgerissene Streifen aus.’

«Hier hat ’Le Soleil’, ohne es zu wissen, sich eines sehrverdächtigen Ausdrucks bedient. Die geschilderten Stückesehen allerdings wie ’herausgerissene Streifen’ aus, aberwie absichtlich und mit den Händen herausgerissene. Eskommt fast niemals vor, daß ein Dorn aus einem derar-tigen Gewände ein Stück heraus reißt. Er kann es wohlrechtwinklig aufschlitzen, indem er naturgemäß das Gewe-be nach zwei Richtungen zertrennt, aber der so entstan-dene Lappen bleibt am Ganzen hängen. Bei alledem habe

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ich den Saum des Kleides noch nicht in Betracht gezogen— kommt dieser gar noch hinzu, so wird das Herausreißenabsolut unmöglich. ’Eins davon war der Saum des Kleides’berichtet ,Le Soleil’! Ein anderes Stück ’ein Teil des Rockes,ohne den Saum’ — das heißt also: es war durch die Dornenaus der Mitte des Kleides total herausgetrennt! Das allessind Dinge welche man zu bezweifeln hinreichende Ursachehat, aber sie fallen dennoch nicht so schwer ins Gewicht,als der erstaunliche Umstand, daß diese Gegenstände vonMördern zurückgelassen sein sollen, welche andererseitsZeit und Ruhe genug fanden, um den Leichnam hinweg-zuschaffen. Sie haben mich übrigens total mißverstanden,wenn Sie glauben, ich wolle bestreiten, daß jener Dickichtder Schauplatz des Verbrechens gewesen sei. (Es mag jadort, noch wahrscheinlicher aber im Haus der Madame Te-luc etwas vorgefallen sein, doch das ist Nebensache — dieMörder selbst sind es, nach welchen wir forschen. Was ichhier ausgeführt, hatte lediglich den Zweck — einmal, Ihnendie Nichtigkeit der unbesonnenen Behauptungen in ’Le So-leil’ darzutun, und zweitens und hauptsächlich, Sie auf demallernatürlichsten Wege zur Betrachtung der Frage zu ver-anlassen, ob denn hier wirklich eine von einer Bande, alsovon mehreren, vollbrachte Tat vorliege oder nicht.

«Berücksichtigen wir einmal jene ’Spuren eines Kamp-fes’. Was sollen sie beweisen? daß eine Bande dort war. Aberbeweisen sie denn nicht weit eher das Gegenteil? Wie hätteein Kampf — ein so heftiger Kampf, der ringsum ’Spuren’zurückließ — stattfinden können zwischen einem hilflosenMädchen und der vermeintlichen Bande von Strolchen? Esbrauchten nur ein paar stämmige Arme zuzufassen, undalles war vorüber. Beachten Sie wohl, daß die Argumente,welche ich gegen das Dickicht als den Schauplatz des Ver-brechens ausbrachte, der Hauptsache nach nur dann An-wendung finden, wenn man sich mehrere Personen als dieTäter denkt. Sobald man jedoch einen einzigen Verbrecherannimmt, kann man sich sehr sehr wohl den stattgehabtenKampf als heftig genug vorstellen, um jene ’Spuren’ zurück-

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zulassen. Gehen wir weiter. Ich habe bereits auf den ver-dächtigen Umstand hingewiesen, daß man die Sachen dortliegen gelassen haben sollte. Wenn die Täter noch Geistes-gegenwart genug besaßen, die Leiche fortzuschaffen — unddas nimmt man doch an — sollten sie einen viel positiverenBeweis, das Taschentuch mit dem Namen der Verstorbe-nen, übersehen haben? Ich nenne dies einen viel positiver-en Beweis, als die Leiche selbst, denn deren Züge konntendurch Verwesung binnen kurzer Zeit bis zur Unkenntlich-keit entstellt werden. Wenn dies zufällig geschah, so konn-te es wohl einem einzelnen Individuum, nicht aber einerganzen Rotte begegnen. Stellen wir uns einmal diese Szenevor: Ein einzelner Mensch hat den Mord begangen. SeineLeidenschaft ist verraucht — vor ihm liegt die Tote — Ent-setzen erfaßt sein Herz, denn er ist allein mit seinem Opfer.Er zittert — seine Sinne verwirren sich. Doch die Notwen-digkeit gebietet es, daß er den Leichnam beiseite schaffe.Er trägt ihn nach dem Flusse, läßt aber die übrigen Anzei-chen der Tat zurück, weil es ihm schwer, vielleicht unmög-lich wird, alles auf einmal aus dem Wege zu räumen, under ja leicht zurückkehren kann, um das übrige zu holen. Dasteigert sich auf dem mühsamen Wege zum Wasser seineAngst. Ferne Stimmen dringen bis zu ihm herüber. Wohlein dutzendmal glaubt er Schritte zu hören — er wähntsich beobachtet; selbst die von der Stadt herüberblinkendenLichter verwirren ihn. Endlich — endlich erreicht er dasUfer und entledigt sich seiner gräßlichen Bürde, vermut-lich mit Hilfe eines Bootes. Nun aber könnten alle Schät-ze dieser Erde den einsamen Mörder nicht mehr bewegen,denselben Weg noch einmal zu machen, noch einmal dasDickicht mit seinen furchtbaren Erinnerungen zu betreten!Er kehrt nicht zurück, entstehe daraus was da wolle. Erkann es nicht. Alle seine Gedanken sind ans augenblickli-che Flucht gerichtet. Er wendet jenem entsetzlichen Waldefür immer den Rücken und flieht, als folge ihm der Zorn desewigen Richters.

«Wie stände es nun aber mit einer ganzen Bande? Das

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Gefühl, in Gesellschaft zu sein, würde jeden einzelnen keckund zuversichtlich gemacht haben — wenn es überhauptder Brust des normalen Strolches jemals an Zuversicht feh-len sollte, und nur aus solchen bestehen ja diese Banden.Könnten wir annehmen, daß einer daß zwei oder selbstdrei irgend etwas übersehn haben sollten, so würde demdurch einen vierten abgeholfen worden sein. Sie würdenauch nichts zurückgelassen haben, denn ihre Zahl hätte esihnen möglich gemacht, alles auf einmal zu tragen — siebrauchten eben nicht wieder umzukehren.

«Berücksichtigen Sie nun den Umstand, daß in das Kleidder aufgefundenen Leiche ,vom unteren Saum bis zum Gür-tel ein etwa fußbreiter Streifen eingerissen, dann, ohneoben losgetrennt zu sein, dreimal um die Taille geschlungenund am Rücken mittelst einer Art von Schlinge befestigtworden war’. Das geschah in der offenbaren Absicht, eineHandhabe zu gewinnen, mittelst welcher man den Körperforttragen konnte. Aber würde eine Anzahl von Männernauch nur im entferntesten daran gedacht haben, zu einemsolchen Hilfsmittel zu greifen? Schon für drei oder vier der-selben mußten die Glieder der Toten nicht nur einen genü-genden, sondern auch den denkbar bequemsten Halt bie-ten. Nur ein einzelner konnte auf jenen Einfall kommen.Und hierdurch werden wir an die Tatsache erinnert, ,daßzwischen dem Dickicht und dem Fluß die Gehege nieder-gelegt waren und man deutlich erkennen konnte, daß ei-ne schwere Bürde in dieser Richtung fortgeschleift wordenwar’. Würde wohl eine Anzahl von Männern sich die über-flüssige Mühe geinacht haben, ein Gehege niederzulegen,um eine Leiche hindurch zu schleppen, welche sie im Nudarüber hinwegheben konnten? Würden die Leute über-haupt den Körper derartig geschleift haben, daß deutlicheSpuren hiervon zurückblieben?

«Hier müssen wir auf eine Bemerkung des ,Commerciel’zurückkommen, welche ich bereits früher beleuchtet ha-be. ,Ein Stück des Unterkleides war herausgerissen’, sagtdas Blatt, ’und unter dem Kinn hindurch um den Kopf ge-

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schlungen, vermutlich, um sie am Schreien zu verhindern.Das müssen solche Kerle getan haben, die keine Taschen-tücher bei sich führen.’

«Die letzte Schlußfolgerung habe ich schon besprochen;sie wird noch haltloser durch die Tatsache, daß ja ein Ta-schentuch in dem Dickicht zurückblieb. Daß es nicht derZweck war, ,sie am Schreien zu verhindern’, leuchtet eben-falls ein, denn sonst hätte man statt der Bandage etwasZweckmäßigeres gewählt. Die Zeugenaussagen sprechenvon dem erwähnten Strick als ,lose um den Hals liegendund mit einem festen Knoten zugeknüpft’. Die Ausdrucks-weise ist etwas undeutlich, weicht aber ganz wesentlichvon den Worten des ’Le Commerciel’ ab. Der Streifen warachtzehn Zoll breit und konnte daher trotz der Feinheit desStoffes eine ziemlich starke Fessel bilden, wenn er der Län-ge nach zusammengeknüllt wurde. So zusammengeknüllthat man ihn denn auch gefunden.

«Meine Schlußfolgerung ist nun diese: Nachdem der Mör-der den Körper mittelst des um die Taille gewickelten Strei-fens eine Strecke weit getragen, fand er dessen Gewichtzu schwer, und beschloß nun, denselben hinter sich her zuschleifen. Zu diesem Zweck mußte etwas Seilartiges an ei-ner der Extremitäten befestigt werden. Der Hals erschienhierzu am geeignetsten, weil der Kopf das Abrutschen ver-hinderte. Gewiß hat er zuerst an den um die Taille gewi-ckelten Streifen gedacht; aber dieser war ja mehrmals umden Leib geschlungen, saß am Gürtel noch fest, und auchdas Auflösen der Schlinge würde zeitraubend gewesen sein.Viel bequemer ließ sich ein neuer Streifen aus dem Unter-kleide trennen. Er tat dies, befestigte den Streifen am Hal-se, und schleifte nun an diesem sein Opfer bis an den Randdes Flusses. Der Umstand, daß er überhaupt zu einem sozeitraubenden und unvollkommnen Behelfe griff, beweist,daß er sich erst von der Notwendigkeit dieser Maßnahmeüberzeugte, als das Taschentuch nicht mehr erreichbar war,das heißt, als er sich bereits auf dem Wege vom Dickichtzum Flusse befand.

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«,Aber’ werden Sie sagen, ,das Zeugnis der Madame De-luc spricht ausdrücklich von einer Bande, welche sich et-wa um die Zeit, wo der Mord geschah, in der Gegend jenesDickichts befand? Ich zweifle nicht hieran, sondern glaubesogar, daß sich damals mehr als ein Dutzend solcher Rottenin der Nachbarschaft der Barrière du Roule umhergetrie-ben haben. Diejenige Bande aber, welche Madame DelucsArgwohn erregte und sie bewog, etwas spät und zögerndZeugnis gegen dieselbe abzulegen, war es gerade auch, wel-che laut Aussage jener biederen und vorsichtigen Dame ih-re Kuchen und ihren Schnaps verzehrte, ohne dafür zu be-zahlen. Et hinc illae irae! Was besagt denn aber eigentlichdas Zeugnis der Madame Deluc? ’Eine Bande wüster Gesel-len kam, betrug sich sehr lärmend, bezahlte die genossenenSpeisen und Getränke nicht, schlug dann denselben Wegein, welchen der junge Mann und das Mädchen genommenhatten, kam um die Dämmerung nochmals wieder und fuhranscheinend in großer Eile über den Fluß zurück’?

«Diese ’große Eile’ mag der Madame Deluc, welche bisdahin vielleicht noch eine schwache Hoffnung genährt, fürihre Kuchen und ihren Branntwein Bezahlung zu erhalten,wohl größer vorgekommen sein, als sie in Wirklichkeit war.Weshalb sonst fiel sie ihr auf, da es doch bereits ’um dieDämmerung’ war? Ist es zu verwundern, daß selbst eineBande von Unholden sich sputet, nach Hause zu kommen,wenn die Nacht vor der Tür ist, Regen droht, und sie inkleinen Kähnen über den Fluß zu setzen hat?

«Ich sagte ’wenn die Nacht vor der Tür ist’, denn die-se war noch nicht angebrochen ,um die Dämmerung’. Nunerfahren wir aber, daß an dem nämlichen Abend Mada-me Deluc sowohl wie deren ältester Sohn ,in der Nachbar-schaft des Wirtshauses das Geschrei eines Frauenzimmershörten.’ Und mit welchen Worten bezeichnet Madame hierdie Tageszeit: Sie sagt: ’Es war bald nach Dunkelwerden’.’Bald nach Dunkelwerden’ ist es aber zweifellos Nacht, und’um die Dämmerung’ ist es ebenso zweifellos Tag. Damit istdeutlich ausgesprochen, daß die wüste Rotte die Barrière

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du Roule verlassen hatte, bevor die Frau das Schreien ver-nahm.

«Ich will nur noch eins von den Argumenten erwähnen,welche sich gegen die ’Bande’ vorbringen lassen; aber die-ses eine ist, wenigstens für mich, von unerschütterlicherBeweiskraft. Bei der Höhe der ausgesetzten Belohnung undder, jedem als Kronzeugen auftretenden Komplizen garan-tierten vollständigen Straflosigkeit ist keinen Augenblickdaran zu denken, daß nicht längst das eine oder das and-re Mitglied einer Bande gemeiner Strolche seine Spießge-sellen verraten haben sollte. In derartigen Fällen ist jedereinzelne weniger aus Habgier, als aus Furcht, verraten zuwerden, bereit, selbst so schnell als nur möglich die übri-gen zu verraten. Die Tatsache, daß das Geheimnis so lan-ge unenthüllt blieb, ist der allerbeste Beweis dafür, daß eswirklich ein Geheimnis war. Die Schrecken dieser schwar-zen Tat kennt nur ein einziges lebendes menschliches We-sen.

«Lassen Sie uns jetzt die spärlichen aber sicheren Ergeb-nisse unserer langen Analyse zusammenstellen. Wir sindzu der Ansicht gelangt, daß sich entweder unter dem Dacheder biederen Dame Deluc ein Unglücksfall ereignete, oderim Dickicht der Barrière du Roule ein Mord, und zwardurch einen Geliebten oder doch durch einen intimen undgeheimen Bekannten der Verstorbenen an dieser began-gen wurde. Dieser Bekannte hat einen dunkelen Teint. DerTeint, die ,Schlinge’ in der Bandage und der Matrosenkno-ten’, mit welchem das Hutband befestigt war, deuten aufeinen Seemann. Sein Umgang mit der Verstorbenen, einemlebenslustigen, aber keineswegs verworfenen Mädchen, be-zeichnet ihn als über dem Range eines gemeinen Matrosenstehend. Jene in gutem Stil abgefaßten eindringlichen Mit-teilungen an die Tagesblätter dürfen als Bestätigungen fürdiese Annahme gelten. Die von ,Le Mercurie’ erwähnte frü-here Entführung läßt uns bei dem Seemann an den Marine-offizier denken, welcher die Unglückliche zuerst vom Pfadeder Tugend abzulenken suchte.

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«Und hier muß uns naturgemäß die andauernde Abwe-senheit des Mannes mit dem dunklen Teint auffallen. Die-ser Teint muß schon ungewöhnlich dunkel gewesen sein,weil er das einzige Kennzeichen war, dessen sich sowohlMadame Deluc wie der Kutscher Valence erinnern konn-ten. Aber warum ist der Mann abwesend? Wurde er von derBande ermordet? Und wenn so — weshalb fanden sich nurSpuren von dem ermordeten Mädchen? Man müßte dochannehmen, daß beide Verbrechen an einer und derselbenStelle begangen worden seien und daß die Täter beide Lei-chen in derselben Weise aus dem Wege geräumt hätten.Doch man könnte behaupten, dieser Mann lebe noch undscheue sich hervorzutreten, aus Furcht, selbst unschuldi-gerweise des Mordes angeklagt zu werden. Das könnte manfür den jetzigen Zeitpunkt gelten lassen, da es ja nun be-kannt geworden ist, daß man ihn in Gesellschaft des Mäd-chens gesehen hat, nicht aber für die Zeit unmittelbar nachderen Tode. Ein Unschuldiger hätte sofort das Verbrechenangezeigt und beim Auffinden der Unholde Hilfe geleistet.Die Klugheit würde ihn zu diesem Schritt gedrängt haben.Er war mit dem Mädchen gesehn worden, war mit ihr ineiner offenen Fähre über den Fluß gefahren. Selbst einemhalben Idioten würde das Denunzieren der Mörder als dassichere und einzige Mittel erschienen sein, sich von jedemVerdacht zu reinigen. Wir können nicht annehmen, daß eran jenem verhängnisvollen Abend unschuldig gewesen undgleichzeitig nicht gewußt habe, daß ein Verbrechen began-gen worden sei — und doch ist es nur unter dieser Bedin-gung denkbar, daß er, wenn noch am Leben ist, die Anzeigeunterlassen haben sollte.

«Und welche Mittel stehen uns nun zur Verfügung, umzur Wahrheit zu gelangen? — wir werden finden, daß die-se Mittel sich mehren und an Deutlichkeit gewinnen, jeweiter wir fortschreiten —: Wir müssen jene erste Entfüh-rungsgeschichte auf das genaueste untersuchen. Wir müs-sen die ganze Lebensgeschichte des ,Offiziers’ kennen ler-nen — seine jetzigen Verhältnisse und seinen Aufenthalts-

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ort zur Zeit des Mordes. Wir müssen die verschiedenen demAbendblatte gemachten Mitteilungen, deren Zweck war, dieSchuld auf eine Rotte von Bösewichten zu wälzen, zuerstsorgfältig miteinander, und nachdem dies geschehn, Stilund Handschrift wiederum mit den früher an das Morgen-blatt geschickten vergleichen, welche so eindringlich aufder Schuld Mennais’ bestanden, und schließlich alle zusam-men mit den bekannten Handschriften des Offiziers. Durchwiederholtes Ausfragen der Madame Deluc und ihrer Kna-ben sowohl, wie des Omnibuskutschers Valence müssenwir etwas Genaueres über Aussehn, Haltung und Beneh-men des ’jungen Mannes mit dem dunklen Teint- heraus-zubringen suchen. Ferner müssen wir jenem Boot nach-spüren, das am Montag Morgen von dem Bootsmann auf-gefischt und ohne Wissen des diensttuenden Beamten undohne das Steuer noch vor dem Auffinden der Leiche wiedervon der Station weggenommen wurde. Bei einiger Umsichtund Ausdauer werden wir dieses Boot unbedingt aufspü-ren; denn erstens kann jener Bootsmann es identifizieren,und zweitens sind wir im Besitz des Steuers. Jemand, derein gutes Gewissen hatte, würde sicher das Steuerruder ei-nes Segelbootes nicht im Stich gelassen haben, ohne auchnur danach zu fragen. Und hier lassen Sie mich eine Frageaufwerfen: Das Auffinden des Bootes wurde damals nichtöffentlich bekannt gemacht; stillschweigend wurde es nachder Station gebracht und ebenso stillschweigend wieder ab-geholt. Wie konnte nun derjenige, welcher es besaß oder zurZeit benützte, schon am nächsten Morgen wissen, an wel-cher Stelle er das Fahrzeug zu suchen hatte, wenn er nichtauf das genaueste über unsre Schiffahrts-Verhältnisse un-terrichtet war?

«Als ich von dem einsamen Mörder sprach, welcher seineBürde nach dem Ufer schleifte, habe ich bereits die Wahr-scheinlichkeit betont, daß derselbe sich eines Bootes be-diente. Jetzt können wir dies als Tatsache annehmen. Erdurfte die Leiche nicht in dem seichten Wasser am Ufer lie-gen lassen. Die Verletzungen am Rücken und an den Schul-

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terblättern gemahnen an die Holzrippen am Boden einesNachens. Auch der Umstand, daß dem Körper kein Ge-wicht angehängt worden war, spricht für die Annahme; hät-te er ihn vom Ufer aus hineingeworfen, dann würde dies ge-schehn sein. Wir können uns das Fehlen des Gewichtes nurso erklären, daß der Mörder ein solches mitzunehmen ver-gaß, als er vom Lande abstieß. Im Moment, wo er die Leichedem Wasser übergeben wollte, wird er sein Versäumnis be-merkt haben, aber nun war es zu spät, um diesem abzuhel-fen, denn keine Furcht vor Gefahr konnte ihn jetzt mehrbewegen, zu jenem fluchbeladenen Strande zurückzukeh-ren.

«Nachdem er sich seiner gräßlichen Bürde entledigt, be-eilte er sich, nach der Stadt zu gelangen; an irgend einer ab-gelegnen Werft sprang er ans Ufer. Aber das Boot — wirder es befestigt haben? Er war dazu in viel zu großer Eile,und zudem mußte er fürchten, hierdurch selbst den etwai-gen Verfolgern einen Anhalt zu geben. Sein Instinkt hießihn, alles was mit der Tat in Verbindung stand weit vonsich zu schleudern. Er floh nicht nur die Werft, sondern erstieß auch das Boot hinaus und ließ es von der Strömungforttreiben.

«Lassen Sie uns nun einmal unsere Gedanken weiterverfolgen. Am nächsten Morgen faßt den Schurken namen-loses Entsetzen, als er durch seine Privatverbindungenerfährt, daß das Boot gefunden worden ist und an einemOrte aufbewahrt wird, den er vielleicht täglich besucht— vielleicht durch den Dienst dazu gezwungen täglichbesuchen muß. In der darauffolgenden Nacht schafft eres fort und wagt nicht, nach dem Steuerruder zu fragen.Wo ist nun jetzt jenes steuerlose Boot? Das zu entdeckenlassen Sie unsere erste Sorge sein. Mit der ersten Kundehiervon wird unser Erfolg aufdämmern. Dieses Boot wirduns schneller als wir selbst es jetzt ahnen zu demjenigenführen, welcher dasselbe an jenem Sonntag benutzte.Bestätigung wird auf Bestätigung folgen, und wir werdenden Mörder entdecken.»

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[Aus Gründen, die wir nicht näher angeben wollen, dieaber vielen unserer Leser einleuchten werden, haben wiruns erlaubt, aus dem uns vorliegenden Manuskript denje-nigen Teil zu streichen, welcher schildert, wie Dupin jeneanscheinend schwache Spur bis an ihr Ende verfolgte. Wirmüssen uns darauf beschränken, in aller Kürze zu melden,daß das erstrebte Ziel wirklich erreicht wurde und daß derPräfekt, wenn auch nur zögernd, seinen dem Chevaliergegenüber eingegangenen Verbindlichkeiten nachkam. Mr.Poes Artikel schließt mit den folgenden Worten:]

Es versteht sich, daß ich von bloßen Koinzidenzen spre-che und von nichts sonst. Was ich dazu gesagt habe, mußgenügen. Den Glauben an das Übersinnliche teile ich kei-nesfalls, und kein denkender Mensch wird leugnen, daß dieNatur und Gott zwei Dinge sind. Das letzterer die erste-re erschaffen hat, und gemäß seines Willens steuern undverändern kann, ebensowenig. Ich sage ’gemäß seines Wil-lens’, denn es geht hier um den Willen, und nicht, wie eineabsurde Logik annehmen wird, um Macht. Nicht, daß dieGottheit ihre Gesetze nicht ändern könnte, jedoch beleidi-gen wir sie bereits mit der Annahme, eine solche Modifi-zierung würde jemals notwendig werden. Die Gesetze sindvon ihrem Ursprung an so verfasst, daß sie alle kommenenZustände mit einbeziehen. Denn für Gott gibt es nur dieGegenwart.

Ich wiederhole also noch einmal: ich rede hier nur vonbloßen Zufälligkeiten. Es sollte aus meinem Bericht klar-geworden sein, daß zwischen dem Schicksal der unglückli-chen Mary Cecilia Rogers, soweit bekannt, und dem Schick-sal einer gewissen Marie Rogêt, soweit bekannt, bis zu ei-nem gewissen Grad eine so starke Übereinstimmung be-steht, daß der Verstand darüber in Verwirrung gerät. Eswar jedoch keinesfalls meine versteckte Absicht, diese Par-allele noch weiterzuführen oder sogar anzudeuten, daß diein Paris zur Entlarvung des Mörders angewandten Maß-

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nahmen oder irgendwelche weiteren Maßnahmen, die aufähnlichen Schlussfolgerungen basieren, zwangsläufig einähnliches Resultat ergeben könnten.

Schon die kleinste Abweichung der Fakten in beiden Fäl-len würde zu den größten Fehlern in der Berechnung füh-ren, und den Ablauf der Ereignisse jeweils in eine andereRichtung lenken, wie denn auch in der Arithmetik ein ge-ringer Fehler durch die ständige Multiplikation im weite-ren Verlauf zu einem Ergebnis führen kann, das weit ent-fernt von der mathematischen Wahrheit liegt.

Auch dürfen wir nicht vergessen, daß gerade die hierangewandte Wahrscheinlichkeitsrechnung die Ausweitungvon Parallelen verbietet, gerade weil die Übereinstimmungbereits ungewöhnlich groß und exakt war – wie jeder Ma-thematiker bestätigen wird. Doch nichts ist schwieriger, alsden gewöhnlichen Leser davon zu überzeugen, daß zweibeim Würfelspiel geworfene Sechserpaare Grund zu derAnnahme geben, daß ein drittes Sechserpaar mit hoherWahrscheinlichkeit nicht folgen wird. Der praktischen Ver-nunft widerstrebt diese Annahme. Warum sollten die Sech-serwürfe aus der Vergangenheit Einfluss auf solche haben,die noch in der Zukunft liegen? Die Chance auf ein Sech-serpaar scheint genau so groß zu sein wie zu jedem ande-ren Zeitpunkt. Die scheinbare Offensichtlichkeit ist so groß,daß jeder Widerspruch viel eher spöttisches Lächeln erzeu-gen wird als respektvolles Aufmerken.

Die Hintergründe dieses folgenschweren Fehlurteils kön-nen an dieser Stelle nicht weiter offengelegt werden, fürden philosophisch geschulten Leser wäre es ohnehin nichtnötig. Es muß genügen, darauf zu verweisen, daß dieser Irr-tum Teil einer ganzen Serie von Irrtümern ist, die sich derVernunft in den Weg stellen, wenn sie sich auf der Suchenach der Wahrheit in den Details verliert.

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Der gestohleneBrief

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Nil sapientiae odiosius acumine nimio.SENECA.

An einem stürmischen Herbstabend des Jahres 18 — saßich zu Paris mit meinem Freunde C. Auguste Dupin indem kleinen Bibliothekzimmer des Hauses No. 33 RueDenôt, Faubourg St. Germain, au troisième, und labtemich an dem Doppelluxus des Nachdenkens und einerMeerschaumpfeife. Seit mindestens einer Stunde hattenwir tiefes Schweigen bewahrt, und einem flüchtigen Beob-achter hätte es scheinen müssen, als seien unsere Gedan-ken ausschließlich mit den sich kräuselnden Rauchwirbelnbeschäftigt, welche die Zimmerluft um uns her zu einerrecht drückenden machten. Was jedoch meine Person be-trifft, so nahm ich im Geiste gewisse Themata noch einmaldurch, welche noch unlängst den Gegenstand unserer Un-terhaltung gebildet hatten — ich meine jene Affäre in derRue Morgue und die geheimnisvolle Ermordung der Ma-rie Rogêt. Deshalb dünkte es mich auch ein seltsamer Zu-fall, als die Stubentür aufging und unser alter Bekannter,Monsieur G—, der Präfekt der Pariser Polizei, eintrat. Wirbewillkommneten ihn auf das herzlichste, denn wir hat-ten diesen Mann, welcher manche angenehme Eigenschaf-ten besaß, seit Jahren nicht zu Gesicht bekommen. Dupinstand auf, um Licht anzuzünden, unterließ dies jedoch, alsG— mitteilte, er sei gekommen, um in einer geschäftlichenAngelegenheit, die ihm viel Sorge bereite, seinen Rat ein-zuholen.

«Wenn es eine Sache ist, welche des Nachdenkens be-darf,» bemerkte Dupin, «dann können wir sie im Dunkelnmit besserem Erfolge untersuchen.»

«Das ist wieder eine von ihren kuriosen Ideen», sagte derPräfekt, der alles, was über seinen Horizont ging, für «ku-rios» zu erklären pflegte und infolge dessen beständig vonunzähligen «Kuriositäten» umgeben war.

«Sehr wahr», versetzte Dupin, indem er seinem Gast einePfeife überreichte und einen bequemen Stuhl zuschob.

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«Was ist denn wieder vorgefallen?» fragte ich. «Hoffent-lich kein abermaliger Mord — ?»

«O nein, nichts Derartiges. Die Angelegenheit ist eigent-lich höchst einfach, und ich zweifle nicht daran, daß wirauch allein damit zurechtkommen würden. Aber ich dach-te, Dupin könnte sich für die Details interessieren, weil dieGeschichte gar so kurios ist.»

«Einfach — und kurios», sagte Dupin.«Nun ja — und eigentlich auch das nicht. Mit einem

Wort, die Sache hat uns allen viel Kopfzerbrechen gemacht,weil sie eben so einfach ist und uns trotzdem verblüfft.»

«Am Ende ist es gerade das Einfache der Affäre, was siein Verlegenheit setzt», äußerte mein Freund.

«Was für dummes Zeug schwatzen sie da wieder!» rief derPräfekt unter herzlichem Lachen.

«Vielleicht liegt das Geheimnis zu klar am Tage», sagteDupin.

«Gerechter Himmel! Wer hat schon je solchen Unsinn ge-hört?»

«Vielleicht ist die Sache ein klein wenig zu selbstver-ständlich.»

«Hahaha! hahaha! hohoho!» brüllte unser Gast aufshöchste amüsiert. «O Dupin, sie werden noch machen, daßich vor Lachen sterbe!»

«Nun denn, um was handelt es sich denn eigentlich?»fragte ich wieder.

«Ei», versetzte der Präfekt, einen langen Zug aus derPfeife nehmend und sich behaglich im Stuhl zurückleh-nend, «das will ich ihnen mit wenigen Worten erzählen.Doch zuvor mache ich sie darauf aufmerksam, daß es sichhier um eine höchst diskrete Angelegenheit handelt unddaß ich höchst wahrscheinlich meinen Posten verlierenwürde, wenn man erführe, daß ich gegen irgend jemandderselben Erwähnung getan habe.»

«Fahren sie fort», sagte ich.«Oder nicht», brummte Dupin.«Nun denn, mir ist von einer sehr hochstehenden Persön-

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lichkeit die Mitteilung zugekommen, daß ein gewisses Do-kument von höchster Wichtigkeit aus den königlichen Ge-mächern entwendet worden sei. Das Individuum, welchesjenes Schriftstück entwendet hat, ist bekannt — über allenZweifel bekannt, denn man sah, wie er es fortnahm. Manweiß auch, daß es sich noch in seinem Besitz befindet.»

«Woher weiß man das?» fragte Dupin.«Man folgert es mit Bestimmtheit aus der Natur des Do-

kuments», erwiderte der Präfekt, «sowie aus dem Umstand,daß gewisse Folgen noch nicht eingetreten sind, welche ein-treten müßten, sobald es aus dem Besitz des Räubers ge-langte — das heißt, sobald er sich seiner nicht mehr zudemjenigen Zweck bediente, welchen er bei der Entwen-dung im Auge hatte.»

«Sie müssen ein wenig deutlicher reden», sagte ich.«Je nun, ich darf noch hinzufügen, daß das Papier sei-

nem Besitzer in gewissen Kreisen eine unschätzbare Ge-walt verleiht.» Der Präfekt liebte es, sich diplomatisch aus-zudrücken.

«Ich begreife noch immer nicht ganz», sagte Dupin.«Nicht? Nun denn : wenn jenes Dokument einer dritten

Person, die ungenannt bleiben soll, vorgelegt würde, dannwürde die Ehre einer hohen Persönlichkeit auf dem Spie-le stehen, und dieser Umstand verleiht dem Besitzer desDokumentes eine Überlegenheit über diese zweite Person,deren Ehre und deren Friede gefährdet sind.»

«Aber diese Überlegenheit», warf ich ein, «könnte sichdoch nur darauf stützen, daß der Räuber weiß, daß derrechtmäßige Eigentümer ihn kennt. Wer sollte es wagen —»

«Der Räuber», erwiderte G—, «ist der Minister D— , deralles wagt, gleichviel ob es eines Mannes würdig ist odernicht. Die Art und Weise, wie der Diebstahl begangen wur-de, war ebenso keck wie scharfsinnig. Das fragliche Schrift-stück — offen gestanden: ein Brief — war der betreffen-den Persönlichkeit zugekommen, während dieselbe sich indem königlichen Boudoir allein befand. Während des Le-sens wurde diese durch den Eintritt der andern hohen Per-

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son überrascht, welcher sie das Schriftstück vor allen an-dern zu verheimlichen wünschte. Nach einem mißlungenenVersuch, dasselbe in ein Schubfach zu werfen, sah sie sichgenötigt, es offen auf den Tisch zu legen. Die Adresse lag je-doch oben, und so blieb der verborgene Inhalt unbeachtet.Da tritt der Minister D— ein. Sein Luchsauge erspäht dasPapier, erkennt die Handschrift der Adresse, bemerkt auchdie Verwirrung derjenigen Person, an welche die Adressegerichtet ist, und durchschaut ihr Geheimnis. Nachdem ersich seines Auftrages in der gewohnten flüchtigen Weiseentledigt hat, zieht er einen Brief hervor, welcher mit je-nem anderen einige Ähnlichkeit hat, tut, als ob er einenBlick hineinwerfe, und legt ihn sodann dicht neben jenen.Dann bespricht er wieder eine Viertelstunde lang die öf-fentlichen Angelegenheiten, und als er sich endlich emp-fiehlt, steckt er anstelle des seinigen jenen anderen Brief zusich, an welchen er kein Anrecht hat. Die rechtmäßige Ei-gentümerin beobachtet den ganzen Vorgang, wagt es aberin Gegenwart jener dritten Person, welche dicht neben ihrsteht, selbstverständlich nicht, auf den ,Irrtum’ aufmerk-sam zu machen. Der Minister verschwindet und läßt seineneigenen Brief, der wertlos ist, auf dem Tisch liegen.»

«Es liegt also genau dasjenige vor», sagte Dupin zu mirgewendet, «was nach Ihrer Meinung seine Überlegenheitausmacht — der Dieb weiß, daß er dem Eigentümer be-kannt ist.»

«Jawohl», entgegnete der Präfekt, «und er hat die auf sol-che Weise errungene Gewalt seit Monaten zur Erreichungpolitischer Zwecke ausgebeutet. Die bestohlene Person hatsich von Tag zu Tag mehr von der Notwendigkeit überzeugt,ihren Brief zurückerobern zu müssen, doch dies kann derNatur der Sache gemäß nicht auf geradem Wege geschehn.Zur Verzweiflung getrieben, hat sie schließlich die Sachemir übertragen.»

«Weil nian sich einen umsichtigeren Agenten nicht wün-schen, ja nicht einmal denken kann», sagte Dupin, ganzeWirbelwinde von Rauch ausblasend.

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«Sie schmeicheln», entgegnete der Präfekt; «doch ist esimmerhin möglich, daß man etwas Derartiges gedacht hat.»

«Es ist klar», sagte ich, «wie sie ganz richtig bemerkten,daß der Brief sich noch im Besitz des Ministers befindet,weil eben dieser Besitz und nicht eine etwaige Verwendungdesselben ihm die Macht verleiht. Von dem Augenblick an,wo er ihn verwendete, schwände auch jene Macht.»

«Sehr wahr», sagte G—, «und auf diese Überzeugungbaute ich meine Pläne. Meine erste Sorge war, das Hôtel desMinisters genau zu durchsuchen, und hier lag die Haupt-schwierigkeit wiederum darin, daß dies ohne sein Wissengeschehen mußte. Man hat mich ganz besonders vor derGefahr gewarnt, welche uns drohte, wenn er unsere Absichtmerkte.»

«Aber», warf ich ein, «sie sind doch in derartigen Durch-suchungen völlig au fait. Die Pariser Polizei hat ähnlicheAufträge schon oft ausgeführt.»

«Freilich; und aus eben diesem Grunde ließ ich auch dieHoffnung nicht sinken. Dazu kam, daß die Lebensgewohn-heiten des Ministers mir großen Vorschub leisteten. Er isthäufig die ganze Nacht über von Hause abwesend. Er un-terhält keine zahlreiche Dienerschaft; diese schläft in eini-ger Entfernung von den Gemächern ihres Herrn und ist,da sie zumeist aus Neapolitanern besteht, leicht betrunkenzu machen. Wie sie wissen, besitze ich Schlüssel, mit wel-chen ich jedes Zimmer, jeden Schrank in Paris öffnen kann.Seit drei Monaten ist kaum eine Nacht vergangen, in wel-cher ich nicht damit beschäftigt gewesen wäre, sein Hôtelpersönlich von oben bis unten zu durchsuchen. Die Ange-legenheit ist für mich zur Ehrensache geworden und —daß ich noch ein großes Geheimnis verrate: die ausgesetz-te Belohnung ist eine ganz enorme. Darum habe ich auchdie Haussuchungen nicht eher aufgegeben, als bis ich michüberzeugt hatte, daß der Dieb schlauer ist als ich. Ich glau-be kein Winkelchen undurchstöbert gelassen zu haben, inwelchem das Papier möglicherweise versteckt sein könnte.»

«Aber wäre es denn nicht möglich», bemerkte ich, «daß

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er den Brief irgendwo anders verborgen hätte, als in seinereigenen Wohnung?»

«Das ist kaum denkbar», sagte Dupin. «Die gegenwärtigeLage der Dinge bei Hofe und namentlich der Intrigen, inwelche D— bekanntermaßen verwickelt ist, machen es fürihn beinahe ebenso wichtig, das Dokument jeden Augen-blick vernichten zu können, als ihm der Besitz desselbenerscheinen muß.»

«Wohl wahr», erwiderte ich. «Das Papier befindet sich al-so ohne Zweifel in seinem Stadthaus. An die Möglichkeit,daß er es an seinem Körper tragen könnte, ist nicht zu den-ken.»

«Gewiß nicht», sagte der Präfekt. «Er ist zweimal — an-scheinend von Wegelagerern — überfallen und unter mei-ner persönlichen Aufsicht auf das genaueste durchsuchtworden.»

«Diese Mühe hätten sie sich sparen können», meinte Du-pin. «D— ist, so viel mir bekannt, kein Dummkopf und mußalso derartige Überfälle vorausgesehn haben.»

«Wenn auch gerade kein Dummkopf», entgegnete G—,«so ist er doch ein Poet, und das bedeutet für mich etwaso viel als ein Dreiviertel-Narr.»

«Sehr wahr», entgegnete Dupin nach einem langen undbedächtigen „Paff“ aus seiner Meerschaumpfeife; «— ob-wohl ich selbst schon manchen Knittelvers verbrochen ha-be.»

«Wollen Sie uns nicht die Details der Haussuchungen ge-ben?» sagte ich.

«Je nun, wir ließen uns eben Zeit und suchten überall. Insolchen Dingen steht mir eine langjährige Erfahrung zurSeite. Ich nahm das ganze Gebäude Zimmer für Zimmerdurch und widmete jedem derselben die Nächte einer vol-len Woche. Zuerst untersuchten wir die Möbel. Wir öffnetenjedes Schubfach — sie werden wissen, daß die sogenann-ten geheimen Fächer für einen geschulten Polizeiagentennicht existieren. Die Sache ist ja so einfach. Jeder Schrankumschließt einen gewissen Raum — hat einen bestimm-

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ten Umfang, welcher in den Bereich der Nachforschungenzu ziehen ist. Dann besitzen wir die schärfsten Meßinstru-mente; nicht der fünfzigste Teil einer Linie könnte uns ent-gehn. Nach den Schränken nahmen wir die Stühle vor. DiePolster untersuchten wir mittelst jener feinen, langen Na-deln, welche ich ihnen zeigte. Von den Tischen deckten wirdie Platten ab.»

«Wozu das?»«Zuweilen werden derartige Platten von den Möbeln her-

untergenommen, wenn man einen Gegenstand verbergenwill. Man höhlt alsdann den Fuß aus, legt den Gegenstandin die Höhlung und befestigt die Platte wieder. Ganz ebensomacht man es mit den Bettpfosten.»

«Aber ließe sich denn die Höhlung nicht entdecken, in-dem man das Möbel auf den Klang prüfte?» fragte ich.

«Gott bewahre — wenigstens nicht, wenn der betreffendeGegenstand gut in Watte eingehüllt war. Zudem mußtenwir im vorliegenden Fall geräuschlos vorgehn.»

«Sie konnten aber doch nicht sämtliche Möbel auseinan-dernehmen. Einen Brief kann man in eine so dünne Rol-le zusammenwickeln, daß er wenig mehr Platz fortnimmt,als eine dicke Stricknadel, und in dieser Form in die Leisteeines Stuhles einführen. Haben sie denn auch alle Stühlezerlegt?»

«Keineswegs. Aber wir machten es besser: wir prüften je-de Stuhlleiste in dem ganzen Hotel, ja sogar sämtliche Stel-len, an welchen die einzelnen Holzstücke zusamengefügtfind, mittelst eines sehr starken Mikroskops. Jedes winzi-ge Atom von Bohrstaub zum Beispiel würde uns so großerschienen sein, wie ein Apfel. Jedes fehlende AtomchenLeim, jedes für bloße Augen unsichtbare Spältchen würdeuns zu der Entdeckung geführt haben.»

«Ohne Zweifel untersuchten sie auch die Spiegel zwi-schen Glas und Holzplatte, sowie das Bettzeug, die Vorhän-ge und Teppiche.»

«Selbstverständlich; und nachdem wir so die Möbeldurchgenommen hatten, machten wir uns an das Haus

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selbst. Wir teilten seine ganze Oberfläche in Felder ein,die wir nummerierten, damit kein einziges übersehn wer-den konnte, und dann durchforschten wir jeden Quadrat-zoll nicht bloß in diesem Hause, sondern auch in den beidenanstoßenden mit Hilfe des Mikroskops.»

«Auch den Boden rings um diese Häuser?»«Er ist durchweg mit Mauersteinen gepflastert und

machte uns daher verhältnismäßig geringe Mühe. Wir un-tersuchten das Moos in den Ritzen und fanden es unver-letzt.»

«Natürlich machten sie sich auch an G—’s Papiere undan die Bücher in seiner Bibliothek —»

«Versteht sich. Wir öffneten jedes Paket, jedes Päckchen.Die Bücher öffneten wir nicht allein, sondern blätterten je-den Band vollständig durch. Ein gewöhnlicher Polizist wür-de sich mit dem bloßen Schütteln begnügt haben. Wir ma-ßen die Dicke jedes Einbandes auf das allergenaueste undprüften ihn mit dem Mikroskop. Ein halbes Dutzend ebenvom Buchbinder gekommener Bände wurde der Länge nachmit den Nadeln durchstochen.»

«Untersuchten sie die Dielen unter den Teppichen?»«Freilich, gleichfalls mit Hilfe des Mikroskops.»«Die Tapeten?»«Ja.»«Drangen sie in den Keller?»«Ja.»«Dann haben sie sich geirrt», sagte ich, «und der Brief

befindet sich nicht im Hause.»«Ich fürchte, sie haben recht», erwiderte der Präfekt.

«Und nun, Dupin, was raten sie mir zu tun?»«Die Lokalität nochmals gründlich zu durchsuchen.»«Das wäre vollständig überflüssig!» entgegnete G —. «So

gewiß ich weiß, daß ich atme, so gewiß weiß ich auch, daßder Brief nicht in dem Hotel steckt.»

«Ich kann ihnen keinen besseren Rat geben», sagte Du-pin. «Sie besitzen natürlich ein genaues Signalement desBriefes?»

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«O gewiß!» Hier zog der Präfekt ein Notizbuch hervor undgab uns eine ausführliche Beschreibung von dem Ausse-hen des vermißten Dokumentes. Bald nachdem er hiermitzu Ende war, verabschiedete er sich in so gedrückter Stim-mung, wie wir den guten Mann noch nie zuvor gesehen hat-ten.

Etwa einen Monat später stattete er uns abermals einenBesuch ab und traf uns in derselben Situation. Er nahmdie dargebotene Pfeife an, setzte sich nieder und beganneine alltägliche Unterhaltung. Endlich hob ich an: «Nun,wie steht es denn mit dem gestohlenen Brief? Mir scheint,sie sind schließlich zu der Überzeugung gelangt, daß mandem Herrn Minister nicht beikommen kann.»

«Hol’ ihn der —! So ist es. Ich habe zwar die von Du-pin vorgeschlagene nochmalige Haussuchung vorgenom-men, allein es war, wie ich vorher wußte, verlorene Mühe.»

«Wie hoch sagten sie doch, daß die ausgesetzte Beloh-nung sich belaufe?» fragte Dupin. «Ei — sehr hoch — au-ßerordentlich hoch — ich möchte die Summe nicht gernnennen; das aber kann ich ihnen sagen: ich würde demjeni-gen, welcher mir zu dem Briefe verhilft, bereitwilligst mei-ne Anweisung auf fünfzigtausend Francs geben. Offen ge-standen, er wird tagtäglich kostbarer, und deshalb ist dieBelohnung unlängst verdoppelt worden. — Aber wenn sieselbst verdreifacht würde — ich wüßte nicht mehr zu tun,als was ich bereits getan habe.»

«Hm — ja», sagte Dupin gedehnt und unter beständigemPaffen. «Ich glaube wirklich. — G—, — sie haben nicht —genug getan — sie könnten — noch mehr tun, he?»

«Wie das?»«Ei — (paff, paff) — sie könnten — (paff, paff) — guten

Rat annehmen, was? —» (paff, paff, paff).«Aber», entgegnete der Präfekt etwas verdrießlich, «ich

nehme ja gern guten Rat an und will obendrein dafür be-zahlen. Wie gesagt, ich gebe demjenigen fünfzigtausendFrancs, der mir in dieser Angelegenheit behilflich ist.»

«Dann», versetzte Dupin, ein Anweisungs-Formular aus

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dem Schreibtisch hervorziehend, «füllen sie gefälligst dasda mit dem erwähnten Betrage aus, und sobald sie unter-zeichnet haben, werde ich ihnen den Brief aushändigen.»

Ich war starr vor Staunen; der Präfekt schien wie vomBlitz getroffen. Minutenlang blieb er sprach- und regungs-los und starrte meinen Freund mit ungläubiger Miene undoffenem Munde an. Dann faßte er sich einigermaßen, er-griff eine Feder und unterschrieb nach mehrmaligem Pau-sieren und stierem Glotzen die Anweisung auf fünfzigtau-send Francs, welche er Dupin überreichte. Dieser betrach-tete sie genau, steckte sie in seine Brieftasche, schloß dannden Schreibsekretär auf, nahm einen Brief heraus und gabdiesen dem Präfekten. Der Beamte griff in freudiger Hastdarnach, öffnete ihn mit zitternden Händen, warf einenflüchtigen Blick auf den Inhalt, wankte dann zur Tür undstürzte in unzeremoniösester Weise fort, ohne eine Silbeweitergesprochen zu haben.

Als er fort war, ließ mein Freund sich zu einer Erklärungherbei. «Die Pariser Polizei», begann er, «ist in ihrer Art äu-ßerst geschickt. Sie besitzt Ausdauer, Scharfsinn, Schlau-heit und eine umfangreiche Kenntnis alles dessen, was ihrDienst erheischt. Als G— uns daher die Methode auseinan-dersetzte, nach welcher er das Hôtel D— durchsucht, warich überzeugt, daß seine Nachforschungen — soweit diesel-ben sich eben erstreckten — nichts zu wünschen übrigge-lassen hatten.»

«Soweit dieselben sich erstreckten?» fragte ich.«Jawohl», sagte Dupin. «Seine Maßnahmen waren nicht

allein an und für sich vorzüglich, sondern sie wurden auchin vollendeter Weise ausgeführt. Hätte der Brief sich inner-halb des Bereiches ihrer Nachforschungen befunden, dieseKerle würden ihn unzweifelhaft aufgestöbert haben.»

Ich mußte lachen, obwohl Dupin in vollem Ernste zusprechen schien.

«Die Maßregeln waren also in ihrer Art gut, und ebensowar es die Ausführung», fuhr er fort.

«Aber der Fehler lag darin, daß sie nicht zu diesem Fall,

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noch zu diesem Mann paßten. Der Präfekt besitzt eine klei-ne Garnitur von sinnreichen Auskunftsmitteln, welchen eralle seine Entwürfe, wie einem Prokrustesbette, anpaßt.Aber er begeht fortwährend Irrtümer, indem er bald zugründlich, bald zu oberflächlich zu Werke geht, je nachdemdas gewählte Mittel für die betreffende Angelegenheit allzuverschmitzt oder allzu dumm ist, und mancher Schuljungeweiß besser zu kalkulieren als er. Ich kannte einen achtjäh-rigen Knaben, dessen Erfolg in dem ’Gerade oder Ungerade’genannten Spiel allgemeine Bewunderung erregte. Dassel-be ist sehr einfach und wird mit den marmornen Schnellkü-gelchen, Murmeln oder Schussern gespielt. Der eine Spie-ler nimmt eine Anzahl derselben in die Hand und fragt denandern, ob die Zahl eine gerade oder ungerade sei. Rät die-ser nun richtig, so gewinnt er eine Kugel, rät er falsch, soverliert er eine. Der erwähnte Knabe gewann sämtlichenSchülern ihre Murmeln ab. Selbstverständlich befolgte erbeim Raten eine bestimmte Methode, und diese beruhte le-diglich darauf, daß er auf die Schlauheit seines Gegnersachtete und dieselbe genau abschätzte. Nehmen wir einpaar Beispiele: In dem einen Fall hat er einen recht dum-men Jungen vor sich. Dieser hält die geschlossene Handempor und fragt: ’Gerade oder ungerade?’ Unser Denkerantwortet: ,Ungerade’, und verliert, aber beim zweitemna-le gewinnt er, denn er sagt sich: ,Der dumme Junge hattezuerst eine gerade Zahl, und seine Schlauheit reicht ebennur so weit, ihn diesmal eine ungerade nehmen zu lassen,darum werde ich ans ungerade raten.’ Bei einem um weni-ges klügeren Gegner kalkulierte er so: ’Da ich ungerade ge-sagt und verloren habe, wird dieser Junge anfänglich darandenken, das nächste Mal statt einer geraden eine ungeradeZahl zu nehmen, wie es jener machte. Dann aber wird ihmeinfallen, daß diese Abwechselung doch gar zu einfach undleicht zu vermuten sei, und er wird nochmals eine geradeZahl nehmen.’ Darum rät er ’gerade’ und gewinnt. Worinbesteht nun diese Art zu kalkulieren, wenn Sie dieselbeanalysieren?»

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«Einfach darin», antwortete ich, «daß der berechnendeKnabe seinen eigenen Intellekt mit demjenigen des Geg-ners identifizierte.»

«Richtig», sagte Dupin. «Und als ich den Jungen einmalfragte, in welcher Weise er diese vollständige Identifizie-rung bewerkstellige, auf der seine Erfolge beruhten, erhieltich folgende Antwort: ’Wenn ich herausbekommen will, wieklug, oder wie dumm, oder wie gut oder schlecht jemandist, oder was er gerade denkt, dann modele ich den Aus-druck meines Gesichts so genau wie möglich nach dem desseinigen und warte nun ab, welche Gedanken oder welcheGefühle, gleichsam als ob sie zu jenem Gesichtsausdruckpaßten oder gehörten, in mir aufsteigen.’ Diese Antwort desSchulknaben enthält alles, worauf die Afterweisheit einesLarochefoucauld, eines La Bougive, Macchiavelli oder Cam-panella basiert.»

«Und diese Identifizierung der beiden Intellekte», sagteich, «hängt, falls ich Sie recht verstanden habe, von der Ge-nauigkeit ab, mit welcher der Intellekt des Gegners abge-schätzt wird.»

«Allerdings hängt hiervon der praktische Wert derselbenab», erwiderte Dupin, «und der Präfekt samt seinen Man-nen haben so viele Mißerfolge zu verzeichnen, weil sie esentweder gänzlich an einer derartigen Identifizierung feh-len lassen, oder weil sie denjenigen Intellekt, mit welchemsie es eben zu tun haben, unrichtig abschätzen. Sie zie-hen nur ihre eigenen Ansichten von Scharfsinn in Betracht,und wenn sie daher etwas Verborgenes suchen, so denkensie lediglich daran, wie sie selbst den betreffenden Gegen-stand versteckt haben würden. Sie haben insoweit recht,als ihre Verschmitztheit ein treues Widerbild derjenigender großen Masse ist; weicht nun aber die List des betref-fenden Übeltäters dem Charakter nach von dieser ab, dannsind sie natürlich geschlagen. Sie wissen nichts davon, daßman bei derartigen Nachforschungen verschiedenen Prin-zipien folgen sollte, und liegt einmal ein außerordentlicherFall oder eine ungewöhnlich hohe Belohnung vor, dann ar-

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beiten sie wohl angestrengter und dehnen allenfalls ihreNachforschungen weiter aus, bleiben aber stets bei der al-ten Verfahrungsart, an deren Prinzipien sie niemals rüt-teln. Was ist denn zum Beispiel in dem vorliegenden Fallgeschehen das dem Prinzip nach von einem früheren Vor-gehen abwiche? Was ist denn all dieses Bohren und Son-dieren und Untersuchen mittelst Nadeln und Mikroskopenund Einteilen des Raumes in nummerierte Ouadratzolle —was ist es denn anders, frage ich, als lediglich eine energi-schere Anwendung der alten, einen Methode?

«Sehen Sie nicht, daß der Präfekt es für eine ausge-machte Sache hält, daß alle Menschen einen Brief, wennauch nicht unbedingt in einem Bohrloche, welches sie ei-nem Stuhlbein applizierten, so doch in irgendwelchem an-derem Loch oder Winkelchen verstecken müssen, auf wel-ches sie durch denselben Gedankengang gebracht wurden,der jemand bestimmen konnte, das Schriftstück besagtemBohrloch im Stuhlbein anzuvertrauen? Und begreifen Sieferner nicht, daß solche ausgetüftelte Verstecke nur bei un-bedeutenderen Fällen und von unbedeutenderen, mittel-mäßigeren Intelligenzen benutzt werden können, weil manein derartiges Verfahren zuallererst mutmaßen wird undmuß, folglich die schließliche Entdeckung keineswegs vondem Scharfsinn, sondern ganz allein von der Geduld undAusdauer der Suchenden abhängt? Und wo es sich um einewichtige Angelegenheit oder — was in den Augen der Poli-zei dasselbe ist — um eine hohe Belohnung handelt, hates ihr an diesen Eigenschaften niemals gefehlt. Sie wer-den jetzt verstehen, was ich mit der Bemerkung meinte,daß, wenn der Brief sich innerhalb des Bereiches der Nach-forschungen des Präfekten befunden, das Auffinden dessel-ben außer aller Frage gestanden hätte. Wie die Sache abersteht, ist dieser Beamte vollständig mystifiziert worden,und der letzte Grund seiner Niederlage ist in der Vorausset-zung zu suchen, daß der Minister, weil ein namhafter Dich-ter, gleichzeitig ein Faselhans sein muß. ’Alle Faselhänsesind Poeten’ — hiervon hat der Präfekt eine Ahnung, und

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er macht sich lediglich einer non distributio medii schuldig,indem er sofort rückwärts schließt, daß alle Poeten Fasel-hänse seien.»

«Aber ist dies denn auch wirklich der Dichter?» fragteich. «So viel ich weiß, existieren zwei Brüder, und beide ha-ben sich einen Ruf als Schriftsteller erworben. Der Ministeraber, glaube ich, hat ein sehr gelehrtes Buch über die Dif-ferentialrechnung geschrieben. Er ist Mathematiker, aberkein Dichter.»

«Sie irren sich; ich kenne ihn genau — er ist beides. AlsPoet und Mathematiker mußte er gut kalkulieren, als blo-ßer Mathematiker würde er gar nicht kalkuliert haben undrettungslos dem Präfekten in die Hände gefallen sein.»

«Sie setzen mich durch diese Ansicht in Erstaunen»,sagte ich. «Die Stimme der ganzen Welt spricht dagegen.Achten Sie denn die wohlbegründete Überzeugung ganzerJahrhunderte für nichts? Der mathematische Verstand giltseit undenklichen Zeiten als der Verstand par excellence.»

«’Il y a à parier», entgegnete Dupin, eine Stelle ausChamfort citierend, «que toute idée publique, toute conven-tion reçue est une sottise, car elle a convenue au plus grandnombre’. Ich sage Ihnen, die Mathematiker haben ihr Mög-lichstes getan, um jene irrige Ansicht zu verbreiten, die ei-ne irrige bleibt, trotzdem sie allgemein als Wahrheit ansge-nommen wird. Mit einer Geschicklichkeit, die einer besse-ren Sache würdig wäre, haben sie unter anderen den Aus-druck ,Analysis’ in die Algebra einzuschmuggeln gewußt,und die Franzosen sind es, welche zuerst diese Täuschungausübten. Wenn aber eine Bezeichnung noch irgendwie be-deutsam sein, oder ein Wort seine Bedeutung davon her-leiten soll, daß es auch wirklich auf den zu bezeichnendenGegenstand paßt, dann heißt ,Analysis’ ebensowenig ,Alge-bra’, als das lateinische ’ambitus’ unsrem ’Ambition’, oder,religio’ unsrem ’Religion’ entspricht.»

«Aha», sagte ich, «ich sehe, Sie stehen im Begriff, mit denPariser Mathematikern einen Skandal anzufangen! Dochfahren Sie nur fort.»

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«Ich bestreite die Nützlichkeit und somit den Wert des-jenigen Verstandes, welcher in irgend einer anderen, als inabstrakt logischer Form ausgebildet worden ist — ich be-streite obiges speziell bei dem durch mathematische Stu-dien ausgebildeten Verstande. Mathematik ist die Wissen-schaft von den verschiedenen Formen der Größen, und ma-thematisches Folgern nichts weiter, als Logik in ihrer An-wendung auf diese Formen und Größen. Der große Irr-tum liegt darin, daß man die mathematischen Wahrheiten— diejenigen der sogenannten reinen Algebra nicht aus-geschlossen — für abstrakte, für allgemein gültige Wahr-heiten hält, und dieser Irrtum ist ein so enormer, daß esmich in Erstaunen setzt, wie alle Welt in denselben verfal-len konnte. Mathematische Axiome haben nicht allgemeineGültigkeit. Was zum Beispiel in Bezug auf Verbindungenrichtig bleibt, so lange man es aus Formen und Größen an-wendet, wird oft grundfalsch, wenn es geistig gemeint ist.In diesem Falle ist es fast immer unwahr, daß die Summeder einzelnen Teile gleich dem Ganzen sei. Auch in der Che-mie läßt uns dieses Axiom vollständig im Stich. Es läßt unsbei der Betrachtung der Motive im Stich, denn zwei Mo-tive, jedes von bestimmtem Wert, haben, wenn vereinigt,nicht notwendig denselben Wert, welcher der Summe derbeiden einzelnen Werte gleich ist. Und solche mathemati-schen Wahrheiten, welche nur innerhalb bestimmter Gren-zen wahr sind, gibt es in großer Anzahl. Trotzdem aberglaubt der Mathematiker gewohnheitsmäßig an ihre allge-meine Anwendbarkeit – nicht sowohl aus Mangel an Ge-dächtnis, als infolge einer unbegreiflichen Hohlköpfigkeit.Kurz und gut, ich habe noch nie einen Erzmathematikergekannt, dem man über seine Wurzeln und so weiter hin-aus trauen durfte, oder der nicht im stillen die Tatsachezu seinen Glaubenslehren zählte, daß x2 + px absolut undunbedingt gleich q sei. Bitte, sagen Sie doch einmal des Ver-suchs halber zu einem dieser Herren, Sie könnten sich Fälledenken, in welchen x2 + px nicht gleich q zu sein brauche,aber wenn Sie ihm auseinandergesetzt haben, wie Sie das

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meinen, dann machen Sie sich auch so schnell Sie könnenaus dem Staube, denn er wird unbedingt Miene machen,Sie durchzuwalken.

«Ich bleibe dabei», fuhr Dupin fort, während ich über die-se letzte Bemerkung lachte, «daß der Präfekt nicht nötiggehabt hätte, mir diese Anweisung zu geben, wenn der Mi-nister nichts weiter als ein Mathematiker gewesen wäre.Ich aber wußte, daß er Mathematiker und Poet zugleichist, und paßte meine Maßregeln unter Rücksichtnahme aufdiejenigen Verhältnisse, welche ihn umgeben, seiner Kapa-zität an. Zudem kannte ich ihn als einen Höfling und ver-wegenen Intriganten. Als solcher, sagte ich mir, muß er wis-sen, in welcher Weise die Polizei vorzugehen pflegt; er mußvoraussehen, daß man ihn überfallen, sowie, daß man seineWohnung insgeheim durchsuchen wird. Seine häufige Ab-wesenheit vom Hôtel zur Nachtzeit, über welche der Prä-fekt jubelte, weil er glaubte, sie werde seinem Plane zugutekommen, hielt ich für nichts anders, als für einen Kunst-griff. Er wollte der Polizei nur Gelegenheit zu einer gründ-lichen Haussuchung geben, damit diese desto eher zu derÜberzeugung gelange, daß der Brief sich nicht dort befin-de. Die eigene Erklärung G—s hat uns bewiesen, daß derMinister diesen Zweck erreichte.

«Ich war überzeugt, daß dieselben Ansichten über dienach einem unwandelbaren Prinzip vorgenommnen Nach-forschungen der Polizei, welche ich Ihnen soeben ausführ-lich dargelegt habe, sich auch ihm aufdrängen und ihn ge-bieterisch zu dem Entschlusse führen würden, auf alle ge-wöhnlichen Verstecke Verzicht zu leisten. Er kann nicht einsolcher Schwachkopf sein, sagte ich mir, der nicht einsähe,daß die geheimsten Winkel seines Hauses den Augen, oderden Bohrern, Nadeln und Mikroskopen des Präfekten eben-so zugänglich sind, wie seine täglich benutzten Schreibti-sche und Kommoden. Ich sah mit einem Wort, daß er, wennnicht durch eigene Wahl, durch die Gewalt der Umständegetrieben zur Einfachheit greifen mußte. Sie erinnern sichvielleicht, wie der Präfekt aus vollem Halse lachte, als ich

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bei unserer ersten Unterredung die Vermutung aussprach,daß die Sache ihm vielleicht gerade deshalb so viel zu schaf-fen mache, weil sie zu offen am Tage liege, zu einfach undselbstverständlich sei?»

«Jawohl», sagte ich, «ich habe nicht vergessen, wie sehrihn das amüsierte. Ich glaubte schon, er würde Lachkrämp-fe bekommen.»

«Die körperliche Welt ist reich an Analogien mit der geis-tigen», fuhr Dupin fort, «und dadurch gewinnt das rhetori-sche Dogma einen Schimmer von Wahrheit, daß Gleichnis-se und Metaphern ein Argument nicht nur ausschmücken,sondern auch bekräftigen können. So scheint zum Beispieldas Prinzip des Beharrungsvermögens in der Metaphysikdasselbe zu sein, wie in der Physik. Wie ein Körper vongrößerem Umfang schwerer in Bewegung zu setzen ist,als ein kleinerer, und wie sein späteres Kraftmoment imVerhältnis zu dieser Schwierigkeit steht, so ist auch einGeist von größerer Fassungskraft, trotzdem er an und fürsich kräftiger, konstanter und mit entschiedenerem Erfol-ge fortschreitet, als ein solcher niedrigeren Ranges, den-noch schwieriger zu Taten zu bewegen und beim Beginn desHandelns unschlüssiger, langsamer als dieser. Noch eins:Haben Sie schon jemals darauf geachtet, welche von denSchildern über den Ladentüren am schnellsten die Auf-merksamkeit auf sich ziehen?»

«Nein», erwiderte ich. «Ich habe der Sache bisher nochkeine Beachtung geschenkt.»

«Es gibt eine Art von Vexierspiel», sprach Dupin wei-ter, «welches man mit Hilfe einer Landkarte spielt. Verei-ne fordert dabei den andern auf, ein bestimmtes Wort —den Namen einer Stadt, eines Landes, Flusses oder der-gleichen zu suchen, welcher sich auf der buntscheckigen,verworrenen Oberfläche der Karte befindet. Ein Neuling indem Spiele nun sucht gewöhnlich seinem Gegner die Sa-che dadurch zu erschweren, daß er ihm ein recht winzig ge-drucktes Wort aufgibt; der Adept aber wählt im Gegenteilein solches, das sich in großen Lettern von einem Ende der

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Karte bis zum andern erstreckt. Derartige Worte entgehen,wie die übergroß gedruckten Schilder und Straßenplakate,eben dadurch der Beachtung, daß sie recht absichtlich insAuge springend gemacht wurden. Auch in diesem Fall ent-spricht das körperliche Übersehen dem geistigen — der In-tellekt läßt leicht gerade diejenigen Erwägungen unbeach-tet, welche sich demselben in allzu handgreiflicher, allzuaufdringlicher Weise als selbstverständlich darbieten. Diesscheint jedoch wiederum über den Horizont des Präfektenzu gehen. Er hat es nie für wahrscheinlich, ja nicht einmalfür möglich gehalten, daß der Minister jenen Brief direktvor seine Nase hinlegen könne, damit er um so weniger be-merkt bleibe.

«Je mehr ich aber über den kecken, berechnenden Scharf-sinn D—’s, über die Tatsache, daß er jenes Dokument be-ständig zur Hand haben mußte, falls er dasselbe irgendwiebenützen oder auch vernichten wollte, und über den Um-stand nachdachte, daß es, wie ich mich aus dem Berichtdes Präfekten zur Genüge überzeugt, sich nicht im Bereichvon dessen schablonenmäßig ausgeführten Nachforschun-gen befand, desto fester wurde meine Überzeugung, daß derMinister, um den Brief zu verstecken, zu dem schlauen Aus-kunftsmittel gegriffen habe, denselben nicht zu verstecken.

«Von solchen Gedanken erfüllt, versah ich mich mit einergrünen Brille und besuchte eines schönen Morgens, ganzwie en passant, den Minister in seinem Hotel. Ich traf ihnzu Hause — gähnend, faulenzend und sich räkelnd wie im-mer. Er klagte über tätliche Langeweile. Ich halte D— fürden energischsten, tätigsten aller Menschen — aber das ister nur dann, wenn ihn niemand sieht.

«Um ihm ein Paroli zu bieten, klagte ich meinerseits übermeine schwachen Augen und über die Notwendigkeit, ei-ne Brille tragen zu müssen, unter deren Schutz ich inzwi-schen, dem Scheine nach nur auf das Geplauder des Minis-ters achtend, das ganze Gemach einer gründlichen Inspek-tion unterzog.

«Einem Schreibtisch, in dessen Nähe er saß und auf wel-

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chem Briefe und andere Papiere mit Büchern und musika-lischen Instrumenten bunt durcheinander lagen, schenkteich ganz besondere Beachtung, konnte jedoch nach langer,sorgfältiger Prüfung hier nichts Verdächtiges entdecken.

«Schließlich fiel mein Blick bei seinem Umgang um dasZimmer auf einen pappenen Visitenkartenbehälter vondurchbrochener Arbeit, welcher an einem ziemlich unsau-bern blauen Bändchen von einem Messingknopf herabbau-melte, der unmittelbar unter dem Zentrum des Kaminge-simses angebracht war. In diesem Behälter, der drei odervier Fächer hatte, steckten etwa ein halbes Dutzend Visi-tenkarten und ein einzelner Brief.

«Letzterer war sehr beschmutzt und zerknittert und bei-nahe vollständig mittendurchgerissen, wie wenn der Eigen-tümer ihn als wertlos habe gänzlich entzweireißen wollen.An demselben befand sich ein großes schwarzes Siegel mitdem sehr auffälligen Wappen D—’s, und die in zierlicherFrauenhand geschriebne Adresse lautete an den Ministerselbst. Er war anscheinend nachlässig — ich möchte sagen:verächtlich — in eins der obersten Fächer des Behälters ge-worfen worden.

«Kaum hatte ich diesen Brief erspäht, als sich mir auchschon die Gewißheit ausdrängte, daß es der von mir ge-suchte sei. Allerdings war er allem Anschein nach total vondiesem verschieden. Hier war das Siegel groß und schwarzund trug das Wappen des Ministers — dort klein und rotmit demjenigen des Grafen S. Hier war die Adresse an denMinister gerichtet und in zierlicher Frauenhand geschrie-ben — dort lautete dieselbe an eine gewisse Majestät, unddie Schriftzüge waren groß und schwungvoll. Nur die Größestimmte überein.

«Aber gerade das Radikale dieser Verschiedenheit, derSchmutz, der zerrissene und zerknitterte Zustand des Pa-piers, welche so ganz und gar nicht zu der Ordnungslie-be des Ministers paßten und die Mutmaßung nahelegten,dieser habe absichtlich dem Dokument einen Schein vonWertlosigkeit geben wollen — alles das, sage ich, samt der

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so unwillkürlich ins Auge springenden Stelle, wo dasselbesich befand, mußte meinen Verdacht bestärken.

«Ich zog meinen Besuch so viel als möglich in die Län-ge und behielt, während ich auf das lebhafteste mit demMinister ein Thema diskutierte, das ihn in hohem Gradeinteressieren und in Aufregung versetzen mußte, den Briefbeständig im Auge. Ich prägte dadurch sein Aussehn unddie Stelle, wo er sich befand, genau meinem Gedächtnis-se ein und machte schließlich eine Entdeckung, welche mirauch den letzten leisen Zweifel benahm. Ich bemerkte näm-lich, daß die Kanten des Papiers mehr zerrieben waren, alsdies notwendig erschien. Dieselben zeigten jenes zerbroche-ne Aussehen, welches sich ergibt, wenn starkes Papier, dasschon einmal mittelst des Falzbeins zufammengefaltet wur-de, an denselben Stellen nochmals, aber in entgegengesetz-ter Richtung, gebrochen wird.

«Diese Entdeckung war entscheidend, denn sie überzeug-te mich, daß das Couvert gleich einem Handschuh umge-krempelt und die auf solche Weise nach außen gebrachteehemalige Innenseite desselben mit einer neuen Adresseund einem neuen Siegel versehn worden war. Ich verab-schiedete mich sofort von dem Minister, ließ aber meine gol-dene Tabaksdose auf dem Tisch zurück.

«Am nächsten Vormittag kam ich wieder, um die Dose zuholen, und wir kamen nochmals auf denselben Gegenstandzu sprechen, welcher tags zuvor das Interesse des Ministersin so hohem Grade erregt hatte. Inmitten unsres eifrigenGesprächs aber fiel ein Schuß unmittelbar vor dem Hotel,auf welchen lautes Rufen und Schreien folgte. D— stürzteans Fenster, öffnete es und blickte hinunter. In demselbenAugenblick trat ich an den Kartenbehälter, nahm den Briefheraus, steckte ihn in meine Tasche und legte einen äu-ßerlich genau ebenso aussehenden an seine Stelle, welchenich zu Hause sorgfältig präpariert und mit dem, inzwischenaus einer festen Masse hergestellten Wappen des Ministersgesiegelt hatte.

«Der Lärm auf der Straße war dadurch entstanden, daß

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ein Mann seine Flinte auf einen Haufen von Weibern undKindern abgefeuert hatte. Da sich herausstellte, daß dieWaffe blind geladen war, so ließ man den Schützen, denman für betrunken oder verrückt hielt, entwischen. Nach-dem er fortgegangen, trat der Minister vom Fenster, wohinich ihm alsbald gefolgt war, zurück und ich empfahl mich.Der vermeintlich Betrunkene stand in meinem Solde.»

«Zu welchem Zweck ersetzten Sie aber den Brief durchein Faksimile?» fragte ich. «Wäre es nicht besser gewesen,wenn Sie ihn gleich beim ersten Besuch vor seinen Augenherausgenommen und dann die Flucht ergriffen hätten?»

«D— ist ein entschlossner und tollkühner Mensch», ant-wortete Dupin. «In seinem Hôtel ist er von einer Diener-schaft umgeben, die ihm in ihrer Abhängigkeit blindlingsgehorcht. Hätte ich den verzweifelten Versuch gemacht,den Sie erwähnen, ich würde vielleicht sein Stadthausnicht mehr lebendig verlassen haben. Aber abgesehen vondiesem Bedenken hatte ich noch einen anderen Zweck imAuge. Sie kennen meine politischen Ansichten. In dieserAngelegenheit handelte ich als Parteigänger der betreffen-den Dame. Anderthalb Jahre lang hat der Minister sie inseiner Gewalt gehabt — jetzt befindet er sich in der ihri-gen; denn da er nicht weiß, daß der Brief fort ist, so wirder fortfahren, denselben Druck auf sie auszuüben, als besä-ße er das Dokument noch, und dadurch unvermeidlich sei-nen Sturz herbeiführen. Dieser wird nicht minder lächer-lich, wie jäh ausfallen. Man spricht wohl von dem ,facilisdescensus Averni’ aber bei jeder Art von Klimmen ist es —wie die Catalani vom Singen sagte — viel leichter hinauf,als wieder herunter zu kommen.

«Im Vorliegenden Fall habe ich kein Mitgefühl, oder min-destens kein Mitleiden mit dem Herunterkommenden. Ergehört zu jenen monstris horrendis — den geistvollen Män-nern ohne Grundsätze und Charakter. Übrigens muß ichgestehn, daß ich wohl wissen möchte, was er denken wird,wenn jene ’gewisse hohe Person’, wie der Präfekt sie nennt,ihm zum erstenmal Trotz bietet und er sich veranlaßt fin-

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det, den Brief zu öffnen, welchen ich für ihn in dem Behäl-ter zurückließ.»

«Wie? Schrieben Sie etwas Besonderes hinein?»«Ei, es schien mir doch nicht schicklich, denselben ganz

leer zu lassen — das wäre ja eine Beleidigung gewesen. D—spielte mir einmal in Wien einen schlechten Streich, undich sagte ihm in aller Gemütsruhe, daß ich ihm diesen nichtvergessen werde. Da er nun neugierig sein wird, zu erfah-ren, wer ihn eigentlich überlistet hat, so dachte ich, es seischade, wenn ich ihm nicht irgend einen Fingerzeig dazugäbe. Er kennt meine Handschrift sehr wohl, und deshalbschrieb ich in die Mitte des sonst leeren Blattes die Worte:

,– Un dessein si funeste,S’il n’est digne d’Atrée est digne de Thyeste’.

Sie stehen in Crebillons ’Atrée’»

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Nachwort

„Dupin war ein miserabler Kerl, er hatte eine gewisse ana-lytische Begabung, ohne Zweifel, aber er war keinesfallsso phänomenal wie Poe es sich vorgestellt hat“ – dieseswenig schmeichelhafte Urteil über Edgar Allan Poes fikti-ven Proto-Detektiv Auguste Dupin fällte ausgerechnet Mr.Sherlock Holmes, der ebenfalls fiktive Detektiv aus der Fe-der von Arthur Conan Doyle.Die scheinbare Abgrenzung vom klassischen Vorgänger –gleich zu Beginn des ersten Holmes-Romans „Eine Studiein Scharlachrot“ im Jahr 1887 zu finden – ist aber vieleher als eine ironische Hommage an das klassische Vorbildzu verstehen. Denn ohne den die Pariser Polizei beraten-den Dupin gäbe es keinen „consulting detective“ SherlockHolmes, genauswenig wie es ohne den Londoner Ermittlereinen Hercule Poirot von Agatha Christie oder einen LordPeter Wimsey aus der Feder von Dorothy Sayers geben wür-de.Was Edgar Allan Poe zwischen 1841 („Die Morde in der RueMorgue“) und 1844 („Der gestohlene Brief“) erschaffen hat,war nichts weniger als den modernen Detektiv, und um ihnherum das Narrativ des urbanen Kriminalromans. „Talesof ratiocination“ nennt Poe selbst das Genre, in dessen Zen-trum die auf den ersten Blick oft absurd und unglaublicherscheinenden Schlussfolgerungen des Chevalier C. AugsteDupin stehen, die – siehe die „Fallstudien“ von Dr. JamesWatson – aus der Perspektive eines faszinierten Freundes,Mitbewohners und Berichterstatters erzählt werden.„Er liebt Rätsel, Geheimnisse und Hieroglyphen, und zeigtbei der Lösung eine Art von Scharfsinn, die gewöhnlichenMenschen übernatürlich erscheinen muß“, schreibt Poe imVorwort zu „Die Morde in der Rue Morgue" über den Typusdes „Analytikers“, der seinen Geist ähnlich trainiere wieein physisch starker Mensch seine Muskeln. Diesem ana-lytischen Typus gehört auch Poes Figur William Legrandan: in der 1843 – also zwischen der ersten und der dritten

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Dupin-Geschichte – erschienenen Short Story „Der Gold-käfer“ entschlüsselt Legrand nicht nur den Zahlencode aufeinem alten Pergament, sondern rekonstruiert auf dieserGrundlage mit detektivischem Scharfsinn den Weg, der amEnde zum Schatz von Captain Kidd führen wird. Zurechtwird von vielen auch die rückwärts, also von der Auflösungher konstruierte Handlung mit den Kriminalgeschichtenum Dupin in einem Atemzug genannt.Viele Stilelemente des modernen Krimis treten erstmalsin „Die Morde in der Rue Morgue“ auf: vom exzentrischenPrivatermittler selbst über den ebenso selbstgefälligen wieunfähigen Kriminalpolizisten (Polizeipräfekt „G–“) bis hinzum verwirrend komplexen „Closed Room“-Rätsel, dessenverblüffende Lösung am Ende vom Detektiv präsentiertwird.Wie Dupin selbst bezog auch Poe sein Wissen über aktu-elle Kriminalfälle aus der Lektüre von Tageszeitungen, dieauch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits überpolizeiliche Ermittlungen wie auch spektakuläre Gerichts-verhandlungen berichteten. In Poes ersten beiden Dupin-Erzählungen werden sehr ausführlich fiktive Zeitungsar-tikel zitiert, den Mordfall in der 1842 erstmals veröffent-lichten Geschichte „Das Geheimnis um Marie Rogêt“ löstDupin sogar fast ausschließlich durch die Auswertung vonzeitgenössischen Zeitungsmeldungen.In diesem Fall kennen wir das historische Vorbild sehr gut.Der amerikanische Schriftsteller stützte sich auf Berich-te über den Tod von Mary Cecilia Rogers, deren Leichnam1841 bei Hoboken nahe New York im Hudson-Fluss gefun-den wurde. Poe verlegt die Handlung dieser frühen „TrueCrime Story“ aber kurzerhand nach Paris und verändertdie Namen von Orten, Personen sowie die Titel der Zeitun-gen. Auch wenn es der historische Herausgeber/Übersetzerim Text anders behauptet, hat Poe den Mörder übrigensnicht überführt, sondern nur mögliche Lösungen präsen-tiert. Der reale Mordfall gilt bis heute als nicht aufgeklärt.Dagegen steht im Zentrum von Poes dritter Dupin-

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Geschichte – „Der gestohlene Brief“ – wiederum ein durchund durch fiktiver Plot, der ähnlich wie es im Vorwort von„Die Morde in der Rue Morgue“ heißt als „Kommentar“ zuden vorgebrachten Thesen zum Thema Scharfsinn und Be-obachtungsgabe gelesen werden kann. So postuliert Poe et-wa: „Die Kunst des analytisch Denkenden erweist sich beiall jenem, was außerhalb der Regel liegt.“ Eine Kunst, dieder Pariser Privatermittler tatsächlich perfekt beherrscht.Dem aus dem Varieté entlaufenen Orang-Utan als unwahr-scheinlichem, aber plausiblen Täter der „Rue Morgue“ stehtder gestohlene Brief der Königin in der letzten Dupin-Geschichte gegenüber, vom intriganten Minister dort ver-steckt, wo ihn niemand vermutet: direkt vor den Augen derPolizei.

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Arthur Conan Doyle:Eine Studie in Sherlock

Zwei Sherlock Holmes-Romane:Eine Studie in Scharlachrot

Das Zeichen der VierLondon, im Jahr 1887: zum ersten Mal schickt Arthur Conan

Doyle den Meisterdetektiv Sherlock Holmes & seinen BegleiterDr. John Watson auf Verbrecherjagd. Die „Studie in

Scharlachrot“ („A Study in Scarlet“) führt nicht nur in diedüsteren Vororte Londons, sondern auch in die Salzwüste vonUtah zur Zeit des großen Mormonentrecks. 1890 folgt mit dem

“Zeichen der Vier” (‘The Sign of the Four’) der zweiteSherlock-Holmes-Roman. Darin lässt Conan Doyle den

Privatermittler aus der Bakerstreet 221b mit seiner deduktivenMethode ein „Closed Room“-Rätsel à la Edgar Allan Poe lösen —die Motive für den mysteriösen Mordfall reichen zurück zu einer

Verschwörung während des Indischen Kolonialaufstandes.ISBN 978-3944953472 Euro 9,90

Adam Kuckhoff & Peter Tarin:Strogany und die Vermissten

Historischer Kriminalroman

«Strogany» (1941) ist wohl der ungewöhnlichste deutschsprachigeKriminalroman, der während des Zweiten Weltkriegs

veröffentlicht wurde: die Autoren waren Mitglieder derWiderstandsgruppe «Rote Kapelle», und schmuggelten zahlreichezeitkritische Passagen in den Text. Es blieb der einzige Krimi umSergej Pawlowitsch Strogany, den Petersburger Sherlock Holmes:

1942 geriet Adam Kuckhoff in die Fänge der Gestapo, ein Jahrspäter wurde er hingerichtet. Auch sein Ko-Autor Peter Tarin

überlebte den Krieg nicht.ISBN 978-3944953434 Euro 13,90

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Ralph Gerstenberg:Grimm und Lachmund

Henry Palmer hilft einer jungen Polin aus einer Notlage. Amnächsten Tag liegt sie tot auf seinem Sofa – ermordet. Nicht nurdie Kripo ermittelt, auch der Bruder der Toten stellt unbequeme

Fragen. Henry flüchtet in die WG seines alten Kumpels TheoTrepka. Als dort auch noch seine alte Freundin Hannah

auftaucht, scheint das Chaos perfekt. Doch ohne es zunächst zuwissen, besitzt Hannah Grimm, geborene Lachmund den

Schlüssel zur Auflösung des Falls.ISBN 978-3944953281 Euro 8,90

Ralph Gerstenberg:Ganzheitlich sterben

Mit Henry Palmer geht’s bergauf. Seit sechs Wochen arbeitet erals mobiler Pizza-Lieferant. Dann nimmt er auch noch einen Job

für eine Detektei an. Doch schon nach der ersten Nacht wirdHenry von der Polizei verdächtigt, ein Mörder zu sein. War er zur

falschen Zeit am falschen Ort? Nicht nur die Kripo interessiertsich für ihn – er gerät ins Fadenkreuz eines Profi-Killers. Zu

allem Unglück hat auch noch seine Freundin Liss einenschweren Unfall. Gibt es da etwa einen Zusammenhang?

ISBN 978-3944953359 Euro 8,90

Ralph Gerstenberg:Hart am Rand

Berlins Mitte boomt: Henry Palmer arbeitet jetzt als „LocationScout“. Privat trauert er seiner großen Liebe nach. Aufheiterungverspricht das Wiedersehen mit Theo Trepka. Doch bald gibt’s

neuen Ärger im Kiez: Theos Vater verschwindet, Henry verliebtsich in eine Prostituierte, lernt einen skurrilen Waffenhändler

kennen, und landet in einer Lokalfehde zwischen Kneipenwirtenund „Tresengangstern“.

ISBN 978-3944953342 Euro 8,90