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Ob die Opfer, die die Armenier gebracht haben, 500.000 uebersteigen oder nicht erreichen, ist im Prinzip gleichgueltig. Gesuendigt ist auf beiden Seiten genuegend worden. Was ins Gewicht faellt, ist die Ruhe und Selbstverstaendlichkeit, die bei der Verfolgung vor sich geht und von einem Selbstduenkel zeigt, der jeder fremden Einmischung spottet. v o n T y z k a , deutscher Journalist, 30. September 1915 Die vierzig Tage des Musa Dagh. Über Identität, Trauma und Tabu Europas Völker und Staatsmänner sind der ewigen armenischen Frage müde. Selbstverständlich. Sie haben sich ja in dieser Frage nur Schlappen geholt. Schon der Name Armenien weckt in ihrem schlummernden Gewissen die Erinnerung an eine unheimliche Kette gebrochener oder unerfüllter Gelöbnisse, für deren Innehaltung sie niemals einen Finger gekrümmt haben. Ging es doch nur um jenes kleine, blutende, aber begabte Volk ohne Ölfelder und ohne Goldminen! Wehe dem armenischen Volk, dass es in die europäische Politik verwickelt wurde! Ihm wäre besser, wenn sein Name nie im Munde eines europäischen Diplomaten gewesen wäre. Aber das armenische Volk hat nie die Hoffnung aufgegeben. In steter, zäher Arbeit hat es gewartet, lange gewartet. – Es wartet bis auf diesen Tag. Fridtjof Nansen Morgen geht es wieder los, diesmal nach Antiochia und von da an die Küste. Dort brennt es ein bißchen. Es sitzen dort eine Menge Arme- nier, die dem freundlichen Angebot der Regierung, sie anderweitig anzusiedeln, nur mangelhaftes Verständnis entgegenbringen und sich mit Kind und Kegel und leider auch mit zahlreichen Gewehren und Munitionen in den Bergen zwischen Antiochia und dem Meer festgesetzt haben, in der ausgesprochenen Absicht, sich da nicht vertreiben zu lassen. Über die Berechtigung und den Wert der ursprünglichen Maßregeln der Türken gegen die Armenier kann man verschiedener Ansicht sein. Wo sie jetzt stecken, kann man sie aber keinesfalls brauchen. Nun ist die Schwierigkeit sie zu fangen nur die, daß man sie von der Meerseite aus angreifen muß. Dort liegen aber seit 8 Tagen sechs französische Kreuzer, die mit den Aufständischen in Signalverbindung stehen und unsere Truppen, sobald sie sich auf den meerwärts gelegenen Hängen zeigen, unter ausgiebiges Granatfeuer nehmen, gegen das unsere Feldgeschütze natürlich nicht ankommen können. Der Kommandeur der dortigen Division ist auch nicht gerade der schlaueste und hat außerdem ausgerechnet sein schlechtestes Regiment, ein ganz neu zusam- mengestellter Haufen, zunächst eingesetzt. Infolgedessen ist ihm die ganze Bande auseinandergelaufen, wie sie ins Granatfeuer kam. Jetzt wollen wir uns die Sache einmal selbst ansehen. Zwei Schiffe voll haben die Franzosen schon neulich nach dem Misserfolg des 131. Regiments weggefahren. Wenns nach mir ginge, könnten sie ja die ganze Gesellschaft haben. Ich fände es eine glänzende Lösung, wenn so viele Armenier wie irgend möglich das Land verließen unter der Bedingung niemals wiederzukommen. Den Türken geht es aber doch gegen den Strich, sich so unter der Nase weg fortführen zu lassen, also soll es verhindert werden. Meinetwegen verhindern wirs, immer vorausgesetzt, daß bis wir hinkommen nicht der Rest auch schon weg ist. G r a f W o l f f s k e e l in einem Brief an seinen Vater im September 1915 Der Feind der Liebe ist der Egoismus, nicht der Rivale. Man könnte sagen: Der Hauptfeind der Liebe, derjenige, den ich besiegen muss, ist nicht der andere, sondern das bin ich, das „Ich“, das die Identität gegen den Unterschied will, das seine Welt gegen die Welt durchsetzen will, die im Prisma des Unterschieds gefiltert und neu zusammengesetzt wird. Alain Badiou Auch ist es nicht wahr, dass die Leute nicht weinten. Aber sie weinten anders. Wer noch die Kraft hatte, aufrecht zu sitzen, wiegte sich in den Hüften, die anderen weinten mit weit geöffneten Augen gegen den Himmel. Aber das Weinen war eine Art ununterbrochenes Stöhnen mit tiefer Stimme, das aus Tausenden von Brustkörben quoll und sich wie ein Generalbass anhörte. Das Weinen war kein Tränenfaden über der Wange, sondern ein Ton. Weil dieser Generalbass endlos dahinfloss und sich auf die Umgebung eingestimmt hatte, wirkte er wie das Rauschen des Windes zwischen den Dünen oder das Dahinfließen des Euphrat und hörte keinen Augenblick lang auf, bis die letzten Konvois aus Deir-ez-Zor auf die Plateaus geführt worden waren, auf denen die Deportierten umgebracht wurden. Dieses trockene Weinen ersetzte die Gebete ebenso wie Verwünschungen, Schweigen und Bekenntnisse, und manch einem ersetzte es auch den Schlaf. Viele schliefen auf diese Weise weinend ein, andere starben mit diesem Weinen, und das Weinen vibrierte in der erstarrten Brust weiter, wie in einer Orgelpfeife. Anfangs irritierte das gestöhnte Weinen die Soldaten, vor allem weil es, von Wind und Wasser aufgegriffen, von überall zu kommen schien. Dann gewöhnten sie sich daran, und der Generalbass erwies sich als verlässlicher denn jeder Wachposten. Solange er gleichmäßig dahinfloss, konnte sich nichts Außerordentliches zutragen. Er wäre abgebrochen, hätten die Leute eine andere Beschäftigung gefunden, als zu sterben oder ihre Toten zu beweinen. Er würde verstummen, sagten sich die Soldaten, lehnten sich die Deportierten auf oder stürben alle. Mit Ausnahme der irre Gewordenen, die zumeist mit einer Kugel in der Brust auf den umliegenden Feldern endeten, rebellierten die Deportierten nicht. Auch starben sie nicht so schnell; anscheinend hatte der Tod, da er nun schon so lange unter ihnen lebte, sie zu lieben begonnen. Varujan Vosganian Ich glaube, dass als Gesamt- ergebnis die Ausrottungs- politik dem türkischen Reiche geschadet hat. Die Gräuel des Armenierfeldzuges werden noch lange auf dem türkischen Namen lasten und noch lange denjenigen vergiftete Waffen liefern, die der Türkei die Eigen- schaft als Kulturstaat abspre- chen und die Austreibung der Türken aus Europa verlangen. von Kühlmann, Botschafter in außerordentlicher Mission in Konstantinopel, an den Reichs- kanzler Bethmann Hollweg, 16. Februar 1917 MAR STALL Die Armenier wurden auf dem Weg in die Wüste von Kurden erschlagen, von Gen- darmen beraubt, erschossen, erhängt, vergiftet, erdolcht, erdrosselt, von Seu- chen verzehrt, ertränkt, sie erfroren, verdursteten, verhungerten, verfaulten, wurden von Schakalen angefressen. Kinder weinten sich in den Tod, Männer zerschmetterten sich an den Felsen, Müt- ter warfen ihre Kleinen in die Brunnen, Schwangere stürzten sich mit Gesang in den Euphrat. Alle Tode der Erde, die Tode aller Jahrhunderte starben sie. Armin T. Wegner „Wie macht man dem Menschen-Thiere ein Gedächtniss? Wie prägt man diesem theils stumpfen, theils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaften Ver- gesslichkeit Etwas so ein, dass es gegenwärtig bleibt?“ Vielleicht ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik. „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss.“ – Das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden. Man möchte selbst sagen, dass es überall wo es jetzt noch auf Erden Feierlichkeit, Ernst, Geheimniss, düstere Farben im Leben von Mensch und Volk giebt, Etwas von der Schrecklichkeit nachwirkt, mit der ehemals überall auf Erden versprochen, verpfändet, gelobt worden ist. Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen; – alles Das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hülfsmittel der Mnemonik errieth. Friedrich Nietzsche Der 24. April, der für unsere armenischen Bürger und die Arme- nier weltweit eine besondere Bedeutung hat, stellt im Hinblick auf die freie Äußerung von Gedanken zu diesem geschichtlichen Thema eine wertvolle Gelegenheit dar. Es lässt sich nicht abstreiten, dass die letzten Jahre des Os- manischen Reiches, gleich welcher Religion oder ethnischen Gruppe sie angehörten, für Türken, Kurden, Araber, Armenier und Millionen weiterer osmanischer Bürger eine schwierige Zeit voller Schmerzen waren. Eine faire, humanistische und aufrich- tige Haltung gebietet es, ohne Unterscheidung von Religion und ethnischer Herkunft jeglichen in dieser Zeit erlittenen Schmerz nachzuempfinden. Die pluralistische Sichtweise, die demokratische Kultur und die Moderne erfordern, dass in der Türkei unterschiedliche Meinungen und Gedanken zu den Ereignissen von 1915 frei ge- äußert werden. Jedoch ist es unaktzeptabel, dass die Ereignisse von 1915 als Vorwand für Anfeindungen gegenüber der Türkei benutzt und zu einem politischen Streitthema stilisiert werden. Die Vorfälle, die sich während des Ersten Weltkriegs ereigneten, sind unser gemeinsames Leid. Es ist eine menschliche und wissenschaftliche Pflicht, dieses schmerzvolle Kapitel der Geschichte aus einer fairen Perspektive des Gedenkens zu betrachten. Die Menschen Anatoliens, die jahrhundertelang ohne Unter- scheidung der ethnischen und religiösen Zugehörigkeit mitei- nander gelebt haben und von der Kunst bis zur Diplomatie, von der staatlichen Verwaltung bis zum Handel in allen Bereichen gemeinsame Werte etabliert haben, verfügen auch heute noch über die Möglichkeiten und Fähigkeiten, eine neue Zukunft aufbauen zu können. Botschaft des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip E r d o g a n , 23. April 2014 Ein Armenier verglich mir gegenüber die heutige Lage seines Volkes mit der eines Ertrinkenden. Dieser ergriffe unwill- kürlich die Hand eines jeden, der ihm zu Hülfe komme, selbst wenn der Retter ihm nur in der Absicht beispringe, ihn nachher gefangen zu nehmen. W a n g e n h e i m , Botschafter in Konstantinopel, an den Reichskanzler Bethmann Hollweg, 24. Februar 1913 Ismail Deniz, Simon Werdelis

e - Die vierzig Tage des Musa Dagh. - Residenztheater · n n e , h t r zu . , n 6 n f e d . a 5 Die vierzig Tage des Musa Dagh. Über Identität, Trauma und Tabu Europas Völker und

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Ob die Opfer, die die Armenier gebracht haben, 500.000 uebersteigen oder nicht erreichen, ist im Prinzip gleichgueltig. Gesuendigt ist auf beiden Seiten genuegend worden. Was ins Gewicht faellt, ist die Ruhe und Selbstverstaendlichkeit, die bei der Verfolgung vor sich geht und von einem Selbstduenkel zeigt, der jeder fremden Einmischung spottet.

v o n T y z k a , deutscher Journalist, 30. September 1915

Die vierzig Tage des

Musa Dagh. Über Identität, Trauma und Tabu

Europas Völker und Staatsmänner sind der ewigen armenischen Frage müde. Selbstverständlich. Sie haben sich ja in dieser Frage nur Schlappen geholt. Schon der Name Armenien weckt in ihrem schlummernden Gewissen die Erinnerung an eine unheimliche Kette gebrochener oder unerfüllter Gelöbnisse, für deren Innehaltung sie niemals einen Finger gekrümmt haben. Ging es doch nur um jenes kleine, blutende, aber begabte Volk ohne Ölfelder und ohne Goldminen! Wehe dem armenischen Volk, dass es in die europäische Politik verwickelt wurde! Ihm wäre besser, wenn sein Name nie im Munde eines europäischen Diplomaten gewesen wäre. Aber das armenische Volk hat nie die Hoffnung aufgegeben. In steter, zäher Arbeit hat es gewartet, lange gewartet. – Es wartet bis auf diesen Tag.

F r i d t j o f N a n s e n

Morgen geht es wieder los, diesmal nach Antiochia und von da an die Küste. Dort brennt es ein bißchen. Es sitzen dort eine Menge Arme-nier, die dem freundlichen Angebot der Regierung, sie anderweitig anzusiedeln, nur mangelhaftes Verständnis entgegenbringen und sich mit Kind und Kegel und leider auch mit zahlreichen Gewehren und Munitionen in den Bergen zwischen Antiochia und dem Meer festgesetzt haben, in der ausgesprochenen Absicht, sich da nicht vertreiben zu lassen. Über die Berechtigung und den Wert der ursprünglichen Maßregeln der Türken gegen die Armenier kann man verschiedener Ansicht sein. Wo sie jetzt stecken, kann man sie aber keinesfalls brauchen. Nun ist die Schwierigkeit sie zu fangen nur die, daß man sie von der Meerseite aus angreifen muß. Dort liegen aber seit 8 Tagen sechs französische Kreuzer, die mit den Aufständischen in Signalverbindung stehen und unsere Truppen, sobald sie sich auf den meerwärts gelegenen Hängen zeigen, unter ausgiebiges Granatfeuer nehmen, gegen das unsere Feldgeschütze natürlich nicht ankommen können. Der Kommandeur der dortigen Division ist auch nicht gerade der schlaueste und hat außerdem ausgerechnet sein schlechtestes Regiment, ein ganz neu zusam-mengestellter Haufen, zunächst eingesetzt. Infolgedessen ist ihm die ganze Bande auseinandergelaufen, wie sie ins Granatfeuer kam. Jetzt wollen wir uns die Sache einmal selbst ansehen. Zwei Schiffe voll haben die Franzosen schon neulich nach dem Misserfolg des 131. Regiments weggefahren. Wenns nach mir ginge, könnten sie ja die ganze Gesellschaft haben. Ich fände es eine glänzende Lösung, wenn so viele Armenier wie irgend möglich das Land verließen unter der Bedingung niemals wiederzukommen.Den Türken geht es aber doch gegen den Strich, sich so unter der Nase weg fortführen zu lassen, also soll es verhindert werden. Meinetwegen verhindern wirs, immer vorausgesetzt, daß bis wir hinkommen nicht der Rest auch schon weg ist.

G r a f W o l f f s k e e l in einem Brief an seinen Vater im September 1915

Der Feind der Liebe ist der Egoismus, nicht der

Rivale. Man könnte sagen: Der Hauptfeind der

Liebe, derjenige, den ich besiegen muss, ist nicht

der andere, sondern das bin ich, das „Ich“, das

die Identität gegen den Unterschied will, das

seine Welt gegen die Welt durchsetzen will, die

im Prisma des Unterschieds gefiltert und neu

zusammengesetzt wird.

A l a i n B a d i o u

Auch ist es nicht wahr, dass die Leute nicht weinten. Aber sie weinten anders. Wer noch die Kraft hatte, aufrecht zu sitzen, wiegte sich in den Hüften, die anderen weinten mit weit geöffneten Augen gegen den Himmel. Aber das Weinen war eine Art ununterbrochenes Stöhnen mit tiefer Stimme, das aus Tausenden von Brustkörben quoll und sich wie ein Generalbass anhörte. Das Weinen war kein Tränenfaden über der Wange, sondern ein Ton. Weil dieser Generalbass endlos dahinfloss und sich auf die Umgebung eingestimmt hatte, wirkte er wie das Rauschen des Windes zwischen den Dünen oder das Dahinfließen des Euphrat und hörte keinen Augenblick lang auf, bis die letzten Konvois aus Deir-ez-Zor auf die Plateaus geführt worden waren, auf denen die Deportierten umgebracht wurden. Dieses trockene Weinen ersetzte die Gebete ebenso wie Verwünschungen, Schweigen und Bekenntnisse, und manch einem ersetzte es auch den Schlaf. Viele schliefen auf diese Weise weinend ein, andere starben mit diesem Weinen, und das Weinen vibrierte in der erstarrten Brust weiter, wie in einer Orgelpfeife.Anfangs irritierte das gestöhnte Weinen die Soldaten, vor allem weil es, von Wind und Wasser aufgegriffen, von überall zu kommen schien. Dann gewöhnten sie sich daran, und der Generalbass erwies sich als verlässlicher denn jeder Wachposten. Solange er gleichmäßig dahinfloss, konnte sich nichts Außerordentliches zutragen. Er wäre abgebrochen, hätten die Leute eine andere Beschäftigung gefunden, als zu sterben oder ihre Toten zu beweinen. Er würde verstummen, sagten sich die Soldaten, lehnten sich die Deportierten auf oder stürben alle. Mit Ausnahme der irre Gewordenen, die zumeist mit einer Kugel in der Brust auf den umliegenden Feldern endeten, rebellierten die Deportierten nicht. Auch starben sie nicht so schnell; anscheinend hatte der Tod, da er nun schon so lange unter ihnen lebte, sie zu lieben begonnen.V a r u j a n V o s g a n i a n

Ich glaube, dass als Gesamt-ergebnis die Ausrottungs-politik dem türkischen Reiche geschadet hat. Die Gräuel des Armenier feldzuges werden noch lange auf dem türkischen Namen lasten und noch lange denjenigen vergiftete Waffen liefern, die der Türkei die Eigen-schaft als Kulturstaat abspre-chen und die Austreibung der Türken aus Europa verlangen.

von Kühlmann, Botschaft er in außerordent licher Mission in Konstantinopel, an den Reichs-kanzler Bethmann Hollweg, 16. Februar 1917

Wird die Genehmigung des Auswärtigen Amtes zu meiner Vernehmung als Zeuge in dem Prozeß gegen den Mörder von Talaat Pascha erteilt, so wäre ich verpflichtet, unter meinem Zeugeneide alle Fragen des Vorsitzenden zu beantworten. Ich würde dabei nicht umhin können, meiner Überzeugung Ausdruck zu geben, dass Talaat Pascha in der Tat einer derjenigen türkischen Staatmänner ist, welche die Vernichtung der Armenier gewollt und planmäßig durch-geführt haben. Ich nehme an, dass mir vom Gericht Dokumente vorgelegt werden, die die Wiedergabe von Befehlen Talaat Paschas in der Angelegenheit der Verschickung und Vernichtung enthalten. Ich würde meine Aussage dahin abgeben müssen, dass diese Dokumente die innere Wahrscheinlichkeit der Echtheit für sich haben. Ich würde auch eine Aeusserung als echt bekunden müssen, die mir gegenüber der von Konstantinopel nach Aleppo entsandte Verschickungskommissar gemacht hat: „Vous ne comprenez pas ce que nous voulons, nous voulons une Arménie sans Arméniens.“

Rößler, ehemaliger Konsul in Aleppo, an das Auswärtige Amt, Ende Mai 1921

Die Armenier werden – aus Anlaß ihrer Verschwö-rung mit den Russen! – jetzt mehr oder weniger ausgerottet. Das ist hart, aber nützlich. Botschaf-ter kann leider, sehr zum Nachteil unserer Politik, das Lamentieren darüber nicht lassen.

Handschriftlicher Vermerk von Marineattaché Hans Humann auf einem Telegramm des Konsuls in Mossul Walter Holstein, 15. Juni 1915

M A R STALL

Die Armenier wurden auf dem Weg in die Wüste von Kurden erschlagen, von Gen-darmen beraubt, erschossen, erhängt, vergiftet, erdolcht, erdrosselt, von Seu-chen verzehrt, ertränkt, sie erfroren, verdursteten, verhungerten, verfaulten, wurden von Schakalen angefressen. Kinder weinten sich in den Tod, Männer zerschmetterten sich an den Felsen, Müt-ter warfen ihre Kleinen in die Brunnen, Schwangere stürzten sich mit Gesang in den Euphrat. Alle Tode der Erde, die Tode aller Jahrhunderte starben sie.

A r m i n T . W e g n e r

„Wie macht man dem Menschen-Thiere ein Gedächtniss? Wie prägt man diesem theils stumpfen, theils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaften Ver-gesslichkeit Etwas so ein, dass es gegenwärtig bleibt?“ Vielleicht ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik. „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss.“ – Das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden. Man möchte selbst sagen, dass es überall wo es jetzt noch auf Erden Feierlichkeit, Ernst, Geheimniss, düstere Farben im Leben von Mensch und Volk giebt, Etwas von der Schrecklichkeit nachwirkt, mit der ehemals überall auf Erden versprochen, verpfändet, gelobt worden ist. Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen; – alles Das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hülfsmittel der Mnemonik errieth.

F r i e d r i c h N i e t z s c h e

Der 24. April, der für unsere armenischen Bürger und die Arme-nier weltweit eine besondere Bedeutung hat, stellt im Hinblick auf die freie Äußerung von Gedanken zu diesem geschichtlichen Thema eine wertvolle Gelegenheit dar.Es lässt sich nicht abstreiten, dass die letzten Jahre des Os-manischen Reiches, gleich welcher Religion oder ethnischen Gruppe sie angehörten, für Türken, Kurden, Araber, Armenier und Millionen weiterer osmanischer Bürger eine schwierige Zeit voller Schmerzen waren. Eine faire, humanistische und aufrich-tige Haltung gebietet es, ohne Unterscheidung von Religion und ethnischer Herkunft jeglichen in dieser Zeit erlittenen Schmerz nachzuempfinden.Die pluralistische Sichtweise, die demokratische Kultur und die Moderne erfordern, dass in der Türkei unterschiedliche Meinungen und Gedanken zu den Ereignissen von 1915 frei ge-äußert werden.Jedoch ist es unaktzeptabel, dass die Ereignisse von 1915 als Vorwand für Anfeindungen gegenüber der Türkei benutzt und zu einem politischen Streitthema stilisiert werden. Die Vorfälle, die sich während des Ersten Weltkriegs ereigneten, sind unser gemeinsames Leid. Es ist eine menschliche und wissenschaftliche Pflicht, dieses schmerzvolle Kapitel der Geschichte aus einer fairen Perspektive des Gedenkens zu betrachten.Die Menschen Anatoliens, die jahrhundertelang ohne Unter-scheidung der ethnischen und religiösen Zugehörigkeit mitei-nander gelebt haben und von der Kunst bis zur Diplomatie, von der staatlichen Verwaltung bis zum Handel in allen Bereichen gemeinsame Werte etabliert haben, verfügen auch heute noch über die Möglichkeiten und Fähigkeiten, eine neue Zukunft aufbauen zu können.

Botschaft des türkischen Ministerpräsidenten R e c e p Ta y y i p E r d o g a n , 23. April 2014

Ein Armenier verglich mir gegenüber die heutige Lage seines Volkes mit der eines Ertrinkenden. Dieser ergriffe unwill-kürlich die Hand eines jeden, der ihm zu Hülfe komme, selbst wenn der Retter ihm nur in der Absicht beispringe, ihn nachher gefangen zu nehmen.

W a n g e n h e i m , Botschafter in Konstantinopel, an den Reichskanzler Bethmann Hollweg, 24. Februar 1913

I s m a i l D e n i z , S i m o n W e r d e l i s

So bedauerlich es vom christlichen und allgemein menschlichen Standpunkt ist, daß unter dem türkischen Vorgehen mit den Schuldigen auch hunderttausende Unschuldiger zu Grunde gehen, näher als die Armenier stehen der deutschen Regierung die Söhne Deutschlands, deren opferreicher blutiger Kampf im Westen, Osten und Süden durch die Waffenhilfe des türkischen Bundesgenossen wesentlich erleichtert wird. Die Verantwortung dafür, durch den Bruch mit der Türkei über der Armenierfrage die Südostflanke unserer Weltkampfstellung zu entblößen, könnte keine deutsche Regierung tragen.

Z i m m e r m a n n , Staatssekretär des Auswärtigen Amts für den Reichstag, 29. September 1916

Ob die Opfer, die die Armenier gebracht haben, 500.000 uebersteigen oder nicht erreichen, ist im Prinzip gleichgueltig. Gesuendigt ist auf beiden Seiten genuegend worden. Was ins Gewicht faellt, ist die Ruhe und Selbstverstaendlichkeit, die bei der Verfolgung vor sich geht und von einem Selbstduenkel zeigt, der jeder fremden Einmischung spottet.

von Tyzka, deutscher Journalist, 30. September 1915

Die vierzig Tage des

Musa Dagh. Über Identität, Trauma und Tabu

Europas Völker und Staatsmänner sind der ewigen armenischen Frage müde. Selbstverständlich. Sie haben sich ja in dieser Frage nur Schlappen geholt. Schon der Name Armenien weckt in ihrem schlummernden Gewissen die Erinnerung an eine unheimliche Kette gebrochener oder unerfüllter Gelöbnisse, für deren Innehaltung sie niemals einen Finger gekrümmt haben. Ging es doch nur um jenes kleine, blutende, aber begabte Volk ohne Ölfelder und ohne Goldminen! Wehe dem armenischen Volk, dass es in die europäische Politik verwickelt wurde! Ihm wäre besser, wenn sein Name nie im Munde eines europäischen Diplomaten gewesen wäre. Aber das armenische Volk hat nie die Hoffnung aufgegeben. In steter, zäher Arbeit hat es gewartet, lange gewartet. – Es wartet bis auf diesen Tag.

Fridtjof Nansen

Morgen geht es wieder los, diesmal nach Antiochia und von da an die Küste. Dort brennt es ein bißchen. Es sitzen dort eine Menge Arme-nier, die dem freundlichen Angebot der Regierung, sie anderweitig anzusiedeln, nur mangelhaftes Verständnis entgegenbringen und sich mit Kind und Kegel und leider auch mit zahlreichen Gewehren und Munitionen in den Bergen zwischen Antiochia und dem Meer festgesetzt haben, in der ausgesprochenen Absicht, sich da nicht vertreiben zu lassen. Über die Berechtigung und den Wert der ursprünglichen Maßregeln der Türken gegen die Armenier kann man verschiedener Ansicht sein. Wo sie jetzt stecken, kann man sie aber keinesfalls brauchen. Nun ist die Schwierigkeit sie zu fangen nur die, daß man sie von der Meerseite aus angreifen muß. Dort liegen aber seit 8 Tagen sechs französische Kreuzer, die mit den Aufständischen in Signalverbindung stehen und unsere Truppen, sobald sie sich auf den meerwärts gelegenen Hängen zeigen, unter ausgiebiges Granatfeuer nehmen, gegen das unsere Feldgeschütze natürlich nicht ankommen können. Der Kommandeur der dortigen Division ist auch nicht gerade der schlaueste und hat außerdem ausgerechnet sein schlechtestes Regiment, ein ganz neu zusam-mengestellter Haufen, zunächst eingesetzt. Infolgedessen ist ihm die ganze Bande auseinandergelaufen, wie sie ins Granatfeuer kam. Jetzt wollen wir uns die Sache einmal selbst ansehen. Zwei Schiffe voll haben die Franzosen schon neulich nach dem Misserfolg des 131. Regiments weggefahren. Wenns nach mir ginge, könnten sie ja die ganze Gesellschaft haben. Ich fände es eine glänzende Lösung, wenn so viele Armenier wie irgend möglich das Land verließen unter der Bedingung niemals wiederzukommen.Den Türken geht es aber doch gegen den Strich, sich so unter der Nase weg fortführen zu lassen, also soll es verhindert werden. Meinetwegen verhindern wirs, immer vorausgesetzt, daß bis wir hinkommen nicht der Rest auch schon weg ist.

Graf Wolffskeel in einem Brief an seinen Vater im September 1915

Der Feind der Liebe ist der Egoismus, nicht der

Rivale. Man könnte sagen: Der Hauptfeind der

Liebe, derjenige, den ich besiegen muss, ist nicht

der andere, sondern das bin ich, das „Ich“, das

die Identität gegen den Unterschied will, das

seine Welt gegen die Welt durchsetzen will, die

im Prisma des Unterschieds gefiltert und neu

zusammengesetzt wird.

Alain Badiou

Auch ist es nicht wahr, dass die Leute nicht weinten. Aber sie weinten anders. Wer noch die Kraft hatte, aufrecht zu sitzen, wiegte sich in den Hüften, die anderen weinten mit weit geöffneten Augen gegen den Himmel. Aber das Weinen war eine Art ununterbrochenes Stöhnen mit tiefer Stimme, das aus Tausenden von Brustkörben quoll und sich wie ein Generalbass anhörte. Das Weinen war kein Tränenfaden über der Wange, sondern ein Ton. Weil dieser Generalbass endlos dahinfloss und sich auf die Umgebung eingestimmt hatte, wirkte er wie das Rauschen des Windes zwischen den Dünen oder das Dahinfließen des Euphrat und hörte keinen Augenblick lang auf, bis die letzten Konvois aus Deir-ez-Zor auf die Plateaus geführt worden waren, auf denen die Deportierten umgebracht wurden. Dieses trockene Weinen ersetzte die Gebete ebenso wie Verwünschungen, Schweigen und Bekenntnisse, und manch einem ersetzte es auch den Schlaf. Viele schliefen auf diese Weise weinend ein, andere starben mit diesem Weinen, und das Weinen vibrierte in der erstarrten Brust weiter, wie in einer Orgelpfeife. Anfangs irritierte das gestöhnte Weinen die Soldaten, vor allem weil es, von Wind und Wasser aufgegriffen, von überall zu kommen schien. Dann gewöhnten sie sich daran, und der Generalbass erwies sich als verlässlicher denn jeder Wachposten. Solange er gleichmäßig dahinfloss, konnte sich nichts Außerordentliches zutragen. Er wäre abgebrochen, hätten die Leute eine andere Beschäftigung gefunden, als zu sterben oder ihre Toten zu beweinen. Er würde verstummen, sagten sich die Soldaten, lehnten sich die Deportierten auf oder stürben alle. Mit Ausnahme der irre Gewordenen, die zumeist mit einer Kugel in der Brust auf den umliegenden Feldern endeten, rebellierten die Deportierten nicht. Auch starben sie nicht so schnell; anscheinend hatte der Tod, da er nun schon so lange unter ihnen lebte, sie zu lieben begonnen.Varujan Vosganian

Ich glaube, dass als Gesamt-ergebnis die Ausrottungs-politik dem türkischen Reiche geschadet hat. Die Gräuel des Armenier feldzuges werden noch lange auf dem türkischen Namen lasten und noch lange denjenigen vergiftete Waffen liefern, die der Türkei die Eigen-schaft als Kulturstaat abspre-chen und die Austreibung der Türken aus Europa verlangen.

von Kühlmann, Botschaft er in außerordent licher Mission in Konstantinopel, an den Reichs-kanzler Bethmann Hollweg, 16. Februar 1917

Wie an der Pforte zur Hölle bei Dante müßte man an den Eingang dieser fluch-würdigen Lage schreiben: „Ihr, die Ihr eintretet, lasset alle Hoffnungen fahren”. Berittene Gendarmen streifen durch die Umgebung der Lager mit dem Befehl, Flüchtlinge festzunehmen und auszupeitschen, die Straßen sind bestens bewacht! Ich habe mitten in der Wüste, an verschiedenen Orten sechs der Flüchtlinge ge-troffen, die sterbend von den Gendarmen zurückgelassen worden waren und von hungrigen Hunden umkreist wurden, die auf das letzte Todesröcheln warteten, um sich auf sie zu stürzen und sich zu sättigen.Das, was ich gesehen und gehört habe, übersteigt alle Vorstellungen. Überall die gleiche Barbarei der Regierung, die die systematische Vernichtung der Über-lebenden des armenischen Volkes in der Türkei zum Ziel hat, überall die gleiche bestialische Unmenschlichkeit der Henker und die gleichen Quälereien, denen die Opfer ausgesetzt sind, den ganzen Euphrat entlang von Meskené bis Derizoor.

A . B e r n a u , Angestellter der amerikanischen Vacuum Oil Company, Reise von Meskene nach Derizoor zwischen dem 24. August und 4. September 1916

Enver Pascha und Halil Bey behaupten, dass keine ferneren Deportationen beabsichtigt seien. Sie verschanzen sich hinter Kriegsnotwendigkeiten, und gehen der Anklage aus dem Wege, dass Hunderttausende von Frauen, Kindern und Greisen umkommen. Djemal Pascha sagt, dass die ursprünglichen Anordnungen notwendig gewesen seien, ihre Ausführung aber schlecht organisiert worden sei. Er leugnet nicht, dass infolgedessen traurige Zustände herrschten.Proteste nützen nichts, und türkische Ableugnungen, dass keine Deportationen mehr vorgenom-men werden sollen, sind wertlos.Soll Einhalt geschehen, so sind schärfere Mittel notwendig.So soll man in unserer Presse den Unmut über die Armenier-Verfolgung zum Ausdruck kommen lassen und mit Lobhudeleien der Türken aufhören. Was sie leisten, ist unser Werk, sind unsere Offiziere, unsere Geschütze, unser Geld. Ohne unsere Hülfe fällt der geblähte Frosch in sich selbst zusammen. Wir brauchen gar nicht so ängstlich mit den Türken umzugehen. Mit den jetzigen Machthabern wird die englische Regierung nicht leicht paktieren. Wagen wir aus militärischen Gründen kein festeres Auftreten, so bleibt nichts übrig, als zuzusehen, wie unser Bundesgenosse weiter massakriert.

W o l f f - M e t t e r n i c h , Botschafter in außerordentlicher Mission in Konstantinopel, an den Reichskanzler Bethmann-Hollweg, 7. Dezember 1915

REGIEASSISTENZ Maria-Luiza Gonçalves Tikovsky BÜHNENBILDASSISTENZ Wiebke Bachmann

KOSTÜMASSISTENZ Jenny Štumberger DRAMATURGIEASSISTENZ Constantin John

BÜHNENBILDPRAKTIKUM Linda SteinerKOSTÜMPRAKTIKUM Sophie Rieser

REGIEHOSPITANZ Magdalena RachorDRAMATURGIEHOSPITANZ Leila Etheridge

INSPIZIENZ Ronda Schmal

SOUFFLAGE Anna Dormbach

BÜHNENMEISTER Alexander Al Akkam + Klaus Kreitmayr BELEUCHTUNGSMEISTER Uwe Grünewald STELLWERK Alexander Bauer + Johannes Frank VIDEO Ehab Altamer + Marie-Lena Eissing TON Matthias Reisinger REQUISITE Barbara Hecht + Maximilian Keller + Anna Wiesler MASKE Nicole Purcell GARDEROBE Marina Getmann + Franz Schuller

Die Produktion dankt Ani Cakir von der Armenischen Landsmannschaft e.V. München für die berührenden Gespräche, Elke Hartmann und Houshamadyan e. V. sowie Chad Briggs, Sara Prestianni und K. Gaugler für die großzügige Bereitstellung von Fotomaterial und Geraldine Laprell für die Unterstützung der Videoarbeit.

Regie NURAN DAVID CALIS Bühne IRINA SCHICKETANZKostüme AMÉLIE VON BÜLOWMusik VIVAN BHATTI Licht UWE GRÜNEWALDDramaturgie ANGELA OBST

PREMIERE13 Mai 2016

Marstall Vorstellungsdauer 2 Std

Keine Pause

Außerdem sagen die Muhame-daner auch zur Entschuldigung ihrer Gräueltaten „die Deut-schen haben es so befohlen“. Die Deutschen befehlen dies & die Deutschen befehlen das! Nach der Meinung der Armenier im Innern hängt ihre Rettung einzig und allein vom deutschen Botschafter ab. Wenn er will, werden sie gerettet und wenn er nicht will, sind sie verloren. Er hat nach ihrer Meinung eine Macht in der Türkei, wie Kaiser Wilhelm in Deutschland.

Fräulein Frieda Wolf Hunecke, Missionsschwes-ter in Evrek bei Kaissarié, April 1915

Nebukadnezar und Abdul Hamid

waren Gemütsmenschen und in

Vernichtungstalenten reine Stüm-

per, denn innerhalb einiger Wo-

chen ein ganzes, über ein weites

Land zerstreutes Volk vollständig

auszumerzen, brachten weder sie

noch Tschingiskhan, Tamerlan und

die alten, türkischen Sultane so

erfolgreich fertig wie wir es jetzt

schaudernd erleben.

Kukhoff, Vizekonsul in Samsun,

9. September 1915

Das Schicksal der Armenier steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von der das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist.Wir erinnern an die Opfer, damit sie im Gedenken noch einmal eine Stimme bekommen, damit ihre Geschichte erzählt wird, jene Geschichte, an die nichts mehr erinnern sollte.Ja und wir erinnern der Opfer auch um unserer selbst willen. Wir können unsere eigene Menschlichkeit nur bewahren, wenn nicht nur die Sieger die Geschichte und das Gedächtnis von uns Lebenden bestimmen, sondern auch die Geschlagenen, die Verlorenen, die Verratenen und die Vernichteten.Eine Erinnerung an die Opfer wäre aber nur halbiertes Gedenken, wenn nicht auch von Tätern gesprochen würde. Ohne Täter gibt es keine Opfer.Wir befinden uns mitten in einer Debatte darüber, welche Bezeichnung für das Geschehen vor 100 Jahren am angemessensten ist. Wenn wir Verständigung erzielen in der Beurteilung der Geschichte, wenn wir Unrecht benennen, selbst wenn es die Unsrigen taten, wenn wir gleichermaßen bezeugen, ja leben, dass wir Recht und Menschenrechte achten, dann wahren wir die Würde der Opfer und schaffen eine gemeinsame humane Basis für das Zusammenleben im Innern und über Grenzen hinweg.Indem wir erinnern, setzen wir niemanden, der heute lebt, auf die Anklagebank. Was die Nachfahren der Opfer aber zu Recht erwarten dürfen, das ist die Anerkennung historischer Tatsachen und damit auch einer histori-schen Schuld. Es gehört zur Verantwortung der heute Lebenden, sich einer Politik verpflichtet zu fühlen, die das Lebensrecht und die Menschenrechte jedes Einzelnen wie auch jeder Minderheit respektiert und schützt.Wir in Deutschland haben mühevoll und teilweise mit beschämender Verzögerung gelernt, der Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus zu gedenken. Und wir haben dabei auch zu unterscheiden gelernt zwischen der Schuld der Täter, die vorbehaltlos anerkannt und benannt werden muss, und der Verantwortung der Nachkommen für ein angemessenes Gedenken.Es hat seinen tiefen Sinn und seine klare Berechtigung, an den Mord an dem armenischen Volk auch hier bei uns in Deutschland zu erinnern. Unter uns leben Nachfahren von Armeniern und Türken mit ihrer je eigenen Geschichte. Für ein friedliches Miteinander ist es wichtig, dass alle sich an den gleichen aufklärerischen Prinzipien bei der Aufarbeitung der Vergangenheit orientieren.Es waren deutsche Militärs, die an der Planung und zum Teil auch an der Durchführung der Deportationen beteiligt waren. Hinweise von deutschen Beobachtern und Diplomaten, die im Vorgehen gegen die Armenier den Vernichtungswillen genau erkannt hatten, wurden übergangen und ignoriert.Gleichzeitig rufen wir uns ins Gedächtnis, dass es gerade auch Deutsche gewesen sind, allen voran der hoch engagierte Johannes Lepsius, durch deren publizistische Tätigkeit das Leiden der Armenier in aller Welt bekannt wurde.Es war der Sanitäter Armin Theophil Wegner, der mit Fotografien das Schicksal der Armenier festgehalten und es in Lichtbildervorträgen nach dem Krieg in Deutschland bekannt gemacht hat. Und es war der Österreicher Franz Werfel, der mit seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ dem Widerstand der Armenier gegen ihre geplante Vernichtung ein künstlerisches Denkmal setzte.Als Adolf Hitler in seinem Einsatzbefehl vom 22. August 1939 den Oberbefehlshabern der deutschen Heeres-gruppen den Überfall auf Polen befahl und dabei seine Pläne erläuterte, „mitleidlos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken“, da schloss er in Erwartung eines kollektiven Desinteresses mit der rhetorisch gemeinten Frage: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“Wir reden davon! Wir! Noch heute, einhundert Jahre später, reden wir ganz bewusst davon – davon und von anderen Verbrechen gegen Menschlichkeit und Menschenwürde: Wir tun dies, damit Hitler nicht Recht behält. Und wir tun es, damit kein Diktator, kein Gewaltherrscher und auch niemand, der ethnische Säuberungen für legitim hält, erwarten kann, dass man seine Taten ignoriert oder vergisst.Ja, wir reden weiter auch über ungeliebtes Wissen, über verweigerte Verantwortung und über alte Schuld. Wir tun es nicht, um uns an eine niederdrückende Vergangenheit zu binden, wir tun es um wachsam zu sein, um rechtzeitig zu reagieren, wenn Vernichtung und Terror Menschen und Völker bedrohen.

Bundespräsident J o a c h i m G a u c k , Berlin, 23. April 2015

Die Armeniermassakres vom vorigen Jahre sind zu 99/100 Lüge, entspringen der ungeheuren Feigheit dieses Volkes und der Übertrei-bungswut der Orientalen. Natürlich sind eine ganze Menge totgeschlagen und noch mehr unterwegs umgekommen, große Massaker sind nur sehr wenige vorgekommen.

S c h u l e n b u r g , Konsul in Erzerum, an Botschaftsrat Neurath in Konstantinopel, 16. April 1916

So unerquicklich die Beschmutzung des guten deutschen Namens aus Anlass der Armenierverschickung auch ist, so käme es, im wesentlichen doch darauf an, ob sie zu wirtschaftlichen oder politischen Nachteilen führen muss. Po-litische Nachteile werden natürlicherweise umso weniger entstehen, je mehr die Vertürkung der Türkei über blosse Aeusserlichekiten hinaus wirkliche Fortschritte macht und damit der Einfluss der feindlichen Fremden zurückgeht. In dieser Beziehung ist wohl vorläufig einige Hoffnung vorhanden.Ob die Ausrottung im Plane der Zentralbehörden liegt, sei dahingestellt. Von dem früheren Kommissar für die Ver-schickung in Aleppo (der dort auch heute noch eine massgebende Stellung inne hat), Ejub Bey, ist die Aeusserung bekannt, mit der er Verwendung für Waisen abwies: Sie verstehen noch immer nicht, was wir wollen: wir wollen den armenischen Namen austilgen.Nach dem, was ich von türkischen Freunden höre, verkennt man auf türkischer Seite nicht den grossen wirtschaft-lichen Verlust durch Ausmerzung der Armenier und die Schwierigkeit ihrer Ersetzung durch Muhammedaner, hält aber einen allmählicheren und friedlicheren Weg für ungangbar, weil bei jedem friedlichen Wettbewerbe der wirtschaftlich schwach begabte und unausgebildete türkische Muhammedaner sehr bald wieder unter die Räder geriete. Meine türkischen Freunde hoffen daher, dass diese schwere Operation am Körper der türkischen Volkswirtschaft zu guter Letzt doch eine Gesundung des Reichs in muhammedanisch-türkischem Sinne herbeiführen werde. Andererseits werden aber auch nach Berichten von vertrauenswürdiger Seite allerlei muhammedanische Stimmen laut, die die vorgekommenen Greuel, besonders die an Weibern und Kindern, als Sünde gegen die Gebote des Islams verdammen.

H o f f m a n n , kaiserlicher Vizekonsul aus Alexandrette, 8. November 1915

Wird die Genehmigung des Auswärtigen Amtes zu meiner Vernehmung als Zeuge in dem Prozeß gegen den Mörder von Talaat Pascha erteilt, so wäre ich verpflichtet, unter meinem Zeugeneide alle Fragen des Vorsitzenden zu beantworten. Ich würde dabei nicht umhin können, meiner Überzeugung Ausdruck zu geben, dass Talaat Pascha in der Tat einer derjenigen türkischen Staatmänner ist, welche die Vernichtung der Armenier gewollt und planmäßig durch-geführt haben. Ich nehme an, dass mir vom Gericht Dokumente vorgelegt werden, die die Wiedergabe von Befehlen Talaat Paschas in der Angelegenheit der Verschickung und Vernichtung enthalten. Ich würde meine Aussage dahin abgeben müssen, dass diese Dokumente die innere Wahrscheinlichkeit der Echtheit für sich haben. Ich würde auch eine Aeusserung als echt bekunden müssen, die mir gegenüber der von Konstantinopel nach Aleppo entsandte Verschickungskommissar gemacht hat: „Vous ne comprenez pas ce que nous voulons, nous voulons une Arménie sans Arméniens.“

R ö ß l e r , ehemaliger Konsul in Aleppo, an das Auswärtige Amt, Ende Mai 1921

Die Armenier werden – aus Anlaß ihrer Verschwö-rung mit den Russen! – jetzt mehr oder weniger ausgerottet. Das ist hart, aber nützlich. Botschaf-ter kann leider, sehr zum Nachteil unserer Politik, das Lamentieren darüber nicht lassen.

Handschriftlicher Vermerk von Marineattaché H a n s H u m a n n auf einem Telegramm des Konsuls in Mossul Walter Holstein, 15. Juni 1915

Zu Ew. pp. ausschliesslich persönlicher, streng vertraulicher Orientierung bemerke ich, dass Dr. Lepsius der Kaiserlichen Regierung mit seiner armenischen Propaganda fortgesetzt schwere Ungelegenheiten bereitet.Da seine Agitation die Reichsinteressen in hohem Masse schädigt, fragt es sich, wie etwa seinem Aufenthalt in Holland schon vorher ein Ende gemacht werden könnte. Soweit hier bekannt, hält sich Dr. Lepsius in einem Badeort an der holländischen Küste auf. Da sich das Küsten-gebiet im Belagerungszustand befindet, ist es vielleicht möglich, die niederländische Regierung unter der Hand zu veranlassen, Lepsius aus „militärischen Gründen“ nach Deutschland abzuschieben.

J a g o w , der Staatssekretär des Auswärtigen Amts an die Gesandtschaft in Den Haag, Berlin 9. November 1916

Über Identität, Trauma und Tabunach Motiven von Franz Werfel

In einer Fassung von Nuran David Calis und dem Ensemble

Die vierzig Tage des

Musa Dagh.

Ismail Deniz Friederike Ott Michaela Steiger Simon Werdelis

Daron Yates Bijan Zamani

Ein kümmerlicher Rest der Verschickten fristet in den Ebenen Syriens und Nordmesopotamiens ein elendes Dasein, und wird durch Seuchen und Zwangsbekehrungen täglich kleiner. Männer sind nur vereinzelt übriggeblieben. In den Städten Anatoliens befindet sich noch eine Anzahl Versprengter, Geflüchteter, die aber meistens zum Islam übergetreten sind. Neben den Zwangsbekehrungen, die in Massen stattfanden, stand als ein anderes charakteristisches Zeichen die Mas-senadoption armenischer Kinder. Es handelt sich da um viele tausende. Sie werden künstlich zu fanatischen Moh. gemacht. Das Morden hat nachgelassen, aber der Vernichtungsprozess hat nicht aufgehört, hat nur andere Formen angenommen.

E r n s t I . C h r i s t o f f e l , Vorsteher des Blindenheims Malatia, 26. März 1917

MAR STALL

Die Armenier wurden auf dem Weg in die Wüste von Kurden erschlagen, von Gen-darmen beraubt, erschossen, erhängt, vergiftet, erdolcht, erdrosselt, von Seu-chen verzehrt, ertränkt, sie erfroren, verdursteten, verhungerten, verfaulten, wurden von Schakalen angefressen. Kinder weinten sich in den Tod, Männer zerschmetterten sich an den Felsen, Müt-ter warfen ihre Kleinen in die Brunnen, Schwangere stürzten sich mit Gesang in den Euphrat. Alle Tode der Erde, die Tode aller Jahrhunderte starben sie.

Armin T. Wegner

„Wie macht man dem Menschen-Thiere ein Gedächtniss? Wie prägt man diesem theils stumpfen, theils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaften Ver-gesslichkeit Etwas so ein, dass es gegenwärtig bleibt?“ Vielleicht ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik. „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss.“ – Das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden. Man möchte selbst sagen, dass es überall wo es jetzt noch auf Erden Feierlichkeit, Ernst, Geheimniss, düstere Farben im Leben von Mensch und Volk giebt, Etwas von der Schrecklichkeit nachwirkt, mit der ehemals überall auf Erden versprochen, verpfändet, gelobt worden ist. Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen; – alles Das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hülfsmittel der Mnemonik errieth.

Friedrich Nietzsche

Der 24. April, der für unsere armenischen Bürger und die Arme-nier weltweit eine besondere Bedeutung hat, stellt im Hinblick auf die freie Äußerung von Gedanken zu diesem geschichtlichen Thema eine wertvolle Gelegenheit dar.Es lässt sich nicht abstreiten, dass die letzten Jahre des Os-manischen Reiches, gleich welcher Religion oder ethnischen Gruppe sie angehörten, für Türken, Kurden, Araber, Armenier und Millionen weiterer osmanischer Bürger eine schwierige Zeit voller Schmerzen waren. Eine faire, humanistische und aufrich-tige Haltung gebietet es, ohne Unterscheidung von Religion und ethnischer Herkunft jeglichen in dieser Zeit erlittenen Schmerz nachzuempfinden.Die pluralistische Sichtweise, die demokratische Kultur und die Moderne erfordern, dass in der Türkei unterschiedliche Meinungen und Gedanken zu den Ereignissen von 1915 frei ge-äußert werden.Jedoch ist es unaktzeptabel, dass die Ereignisse von 1915 als Vorwand für Anfeindungen gegenüber der Türkei benutzt und zu einem politischen Streitthema stilisiert werden. Die Vorfälle, die sich während des Ersten Weltkriegs ereigneten, sind unser gemeinsames Leid. Es ist eine menschliche und wissenschaftliche Pflicht, dieses schmerzvolle Kapitel der Geschichte aus einer fairen Perspektive des Gedenkens zu betrachten.Die Menschen Anatoliens, die jahrhundertelang ohne Unter-scheidung der ethnischen und religiösen Zugehörigkeit mitei-nander gelebt haben und von der Kunst bis zur Diplomatie, von der staatlichen Verwaltung bis zum Handel in allen Bereichen gemeinsame Werte etabliert haben, verfügen auch heute noch über die Möglichkeiten und Fähigkeiten, eine neue Zukunft aufbauen zu können.

Botschaft des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, 23. April 2014

N o t i z e n z u m P r o j e k t , M a i 2 0 1 6

„Die vierzig Tage des Musa Dagh“ von Franz Werfel ist die berühmteste literarische Auseinandersetzung mit den Verbrechen an den Armeniern im Osmanischen Reich, bis heute wird der Roman als armenisches National-epos verehrt. Der öster reichische Autor beschloss auf einer Orientreise Anfang 1930, beim Anblick verwaister armenischer Kinder in Damaskus, das dunkle Kapitel der türkisch-armenischen Geschichte zu erzählen. Akribische Recherche vor Ort und Lektüre von Gerichtsprotokollen, diplomatischen Noten, armenischen Zeitzeugenberichten, Aufzeichnungen des umtriebigen deutschen Paters Johannes Lepsius bilden das Fun-dament, auf dem Werfel die verbürgte Geschichte von der Rettung von fast 5000 Armeniern aufbaut, die sich der Deportation durch Flucht auf den Musa Dagh entzogen hatten und von einem französischen Kriegsschiff gerettet wurden. Gespenstisch mutet heute die zeitliche Koinzidenz von dem Erscheinen seines epochalen Geschichtsromans Ende 1933 und dem Aufstieg Hitlers an. Der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16 wird von vielen Historikern als Prototyp der Genozide des 20. Jahrhunderts angesehen. Während die Türkei als Bündnispartner Deutschlands gegen die Entente-Mächte im Ersten Weltkrieg kämpfte, verfolgte im Inneren des Landes die Regierungspartei, das „Komitee für Einheit und Fortschritt“, das Ziel, eine ethnisch und religiös homogene Nation zu schaffen. Unter der Leitung der Jungtürken Enver Pascha, Djemal Pascha und Talaat Pascha, die sich 1913 an die Macht geputscht hatten, wurden die Armenier, denen man die Zusammenarbeit mit Russland und die Vorbereitung von Aufständen vorwarf, und andere christliche Minderheiten zum inneren Feind erklärt und unerbittlich verfolgt. Was die 1915/16 großangelegten und konsequent durchgeführten Verhaftungen, Erschießungen, Enteignungen, Deportationen in unbewohnbare Wüstenregionen und kollektive Massaker von früheren, mehr oder weniger zyklisch stattfindenden Pogromen unterschied, war der systematisch geplante und ausgeführte Vernichtungswunsch der staatlichen und militärischen Leitung des Osmanischen Reichs, dem Schätzungen zufolge bis zu 1,5 Millionen Armenier zum Opfer fielen. Bis heute sind diese Ereignisse eine offene Wunde in dem Verhältnis zwischen Armeniern und Türken und im Gedächtnis der Welt. Nach dem Ende des 1. Weltkriegs blieb ein internationales Tribunal aus, die nationalen Prozesse in Istanbul zur Strafverfolgung der Verantwortlichen waren kurzlebig, 1923 wurde die überschaubare Anzahl der Inhaftierten per Generalamnestie von Mustafa Kemal freigesetzt. Talaat Pascha, der in Istanbul 1918 als einer der Hauptverantwortlichen des Völkermords in Abwesenheit zum Tode verurteil wurde, tauchte in Deutschland unter und wurde 1921 in Berlin auf offener Straße von dem Armenier Soghomon Tehlirian er-schossen. Der polnische Jurist Raphael Lemkin, der den Gerichtsprozess gegen Tehlirian verfolgte, hat sein ganzes Leben der Aufgabe gewidmet, eine völkerrechtliche Definition für die Verbrechen durchzusetzen, die die Vernichtung von (Individuen als Teil von) ethnischen, nationalen und religiösen Gruppen beabsichtigen. Es ist vor allem sein Werk, dass es 1948 zur Verabschiedung der Genozid-Konvention durch die UNO kam, die jedoch erst seit der jüngsten strafrechtlichen Verfolgung von Genoziden beispielsweise in Ex-Jugoslawien oder Ruanda wirklich angewendet wird. Dass „Genozid“ ein ungeliebtes Wort ist, beweist die bis heute aus-bleibende offizielle Anerkennung der historischen Ereignisse auf osmanischem Territorium durch die Türkei und die mäandernde Haltung der Bundesrepublik Deutschland zu dieser Frage. Während bisher etwa 20 Staa-ten die Massenmorde an den Armeniern offiziell als Völkermord einstuften, wurde noch im Februar 2016 eine diesbezügliche Debatte im Bundestag auf die Zeit nach dem EU-Gipfel mit der Türkei vertagt.Der Regisseur Nuran David Calis und sein armenisch-türkisch-deutsches Schauspielerensemble haben sich mit dem Theaterprojekt „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ auf Spurensuche in vermintes Gebiet begeben. Aus der Lektüre des Romans von Werfel, biographischen Splittern, historischem Material aus den blutigen Jahren des 1. Weltkrieges und persönlichen Fragen an die eigene Identität ist ein brüchiger Erinnerungsraum entstanden. In ihm, zwischen Negativen und Akten, Aufzeichnungssystemen und Gedanken, wird überlebt, indem man sich erinnert. Heiner Müller schrieb: „Man muss die Toten ausgraben, wieder und wieder, denn nur aus ihnen kann man Zukunft beziehen.“ Und so graben wir nach den Opfern, nach denen, die sie getötet haben und nach denen, die dabei zugeschaut haben, nach den Leichen im Keller unseres kollektiven Gedächtnisses. Die 100 Jahre, die zwischen den armenischen Skeletten in der syrischen Wüste und den gegenwärtigen Fluchtbewegungenvon ebendort gen Norden liegen, scheinen plötzlich nicht länger als ein Augenblick, und zwischen Lidschlag und Lidschlag steht die unerlöste Frage: W i e g e m e i n s a m l e b e n ?

MAR STALL

RESIDENZTHEATER SPIELZEIT 2015 / 2016

AUFFÜHRUNGSRECHTE S. Fischer Verlag Wir danken dem ZU Klampen! Verlag für die Genehmigung, aus Wolfgang Gusts Edition „Der Völkermord an den Armeniern 1915/16.

Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts“ (Springe 2005) zitieren zu dürfen.TEXTNACHWEISE Alain Badiou: Lob der Liebe. Wien 2015. – Die Erinnerungen von Aram Güreghian, Aghavni Vartanian, Yüghaper Eftian, Hripsime Condakdjian und Zepure Medsbakian

sind nachzulesen in: Mihran Dabag + Kristin Platt: Verlust und Vermächtnis. Überlebende des Genozids an den Armeniern erinnern sich. Paderborn 2015. – Joachim Gauck: Rede im Berliner Dom am 23.04.2015 (http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/04/150423-Gedenken-Armenier.html). – Die Zitate von Hans Humann, Armin T. Wegner

und Eberhard Graf Wolffskeel sowie die Botschaft des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan vom 23.4.2014 sind entnommen aus: Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier. Berlin 2015. – Wolfgang Gust (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen

Auswärtigen Amts. Springe 2005. – Fridtjof Nansen: Betrogenes Volk: Eine Studienreise durch Georgien und Armenien als Oberkommissar des Völkerbundes. Leipzig 1928. – Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral. München 1999. – Varujan Vosganian: Buch des Flüsterns. Wien 2013.

REDAKTION Angela Obst MITARBEIT Leila Etheridge + Constantin John FOTOCOLLAGE Irina Schicketanz / adaptiert Creative Commons / Chad Briggs + houshamadyan.org INSZENIERUNGSFOTOS Konrad Fersterer

GESTALTUNG Herburg Weiland DRUCKEREI G. Peschke Druckerei GmbH HERAUSGEBER Bayerisches Staatsschauspiel, Max-Joseph-Platz 1, 80539 München

INTENDANT Martin Kušej STELLV. GESCHÄFTSFÜHRENDER DIREKTOR Richard Gallner CHEFDRAMATURG Sebastian Huber TECHNISCHER DIREKTOR Thomas Bautenbacher KOSTÜMDIREKTORIN Elisabeth Rauner KÜNSTLERISCHER DIREKTOR Roland Spohr CHEFDISPONENTIN Regina Maier PRESSE- U. ÖFFENTLICHKEITSARBEIT Sabine Rüter

TECHNIK Matthias Neubauer + Philipp Bösch WERKSTÄTTEN Michael Brousek AUSSTATTUNG Bärbel Kober BELEUCHTUNG / VIDEO Tobias Löffler TON Michael Gottfried REQUISITE Dirk Meisterjahn PRODUKTIONSLEITUNG KOSTÜM Enke Burghardt DAMENSCHNEIDEREI Gabriele Behne + Petra Noack

HERRENSCHNEIDEREI Carsten Zeitler + Aaron Schilling MASKE Andreas Mouth GARDEROBE Cornelia Faltenbacher SCHREINEREI Stefan Baumgartner SCHLOSSEREI Ferdinand Kout MALERSAAL Katja Markel TAPEZIERWERKSTATT Peter Sowada HYDRAULIK Karl Daiberl

GALERIE Christian Unger TRANSPORT Harald Pfähler BÜHNENREINIGUNG Adriana EliaEin Armenier verglich mir gegenüber die heutige Lage seines Volkes mit der eines Ertrinkenden. Dieser ergriffe unwill-kürlich die Hand eines jeden, der ihm zu Hülfe komme, selbst wenn der Retter ihm nur in der Absicht beispringe, ihn nachher gefangen zu nehmen.

Wangenheim, Botschafter in Konstantinopel, an den Reichskanzler Bethmann Hollweg, 24. Februar 1913

Ich begreife nicht, wie Metternich diesen Vorschlag machen kann. Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung eines Bundesgenossen während laufenden Krieges wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.

Notiz des Reichskanzlers B e t h m a n n - H o l l w e g dazu, 17. Dezember 1915

Ismail Deniz, Simon Werdelis

B i j a n Z a m a n i

M i c h a e l a S t e i g e r , I s m a i l D e n i z

I s m a i l D e n i z , D a r o n Y a t e s

F r i e d e r i k e O t t

REGIEASSISTENZ Maria-Luiza Gonçalves Tikovsky BÜHNENBILDASSISTENZ Wiebke Bachmann

KOSTÜMASSISTENZ Jenny Štumberger DRAMATURGIEASSISTENZ Constantin John

BÜHNENBILDPRAKTIKUM Linda SteinerKOSTÜMPRAKTIKUM Sophie Rieser

REGIEHOSPITANZ Magdalena RachorDRAMATURGIEHOSPITANZ Leila Etheridge

INSPIZIENZ Ronda Schmal

SOUFFLAGE Anna Dormbach

BÜHNENMEISTER Alexander Al Akkam + Klaus Kreitmayr BELEUCHTUNGSMEISTER Uwe Grünewald STELLWERK Alexander Bauer + Johannes Frank VIDEO Ehab Altamer + Marie-Lena Eissing TON Matthias Reisinger REQUISITE Barbara Hecht + Maximilian Keller + Anna Wiesler MASKE Nicole Purcell GARDEROBE Marina Getmann + Franz Schuller

Die Produktion dankt Ani Cakir von der Armenischen Landsmannschaft e.V. München für die berührenden Gespräche, Elke Hartmann und Houshamadyan e. V. sowie Chad Briggs, Sara Prestianni und K. Gaugler für die großzügige Bereitstellung von Fotomaterial und Geraldine Laprell für die Unterstützung der Videoarbeit.

Regie NURAN DAVID CALIS Bühne IRINA SCHICKETANZKostüme AMÉLIE VON BÜLOWMusik VIVAN BHATTI Licht UWE GRÜNEWALDDramaturgie ANGELA OBST

PREMIERE13 Mai 2016

Marstall Vorstellungsdauer 2 Std

Keine Pause

Außerdem sagen die Muhame-daner auch zur Entschuldigung ihrer Gräueltaten „die Deut-schen haben es so befohlen“. Die Deutschen befehlen dies & die Deutschen befehlen das! Nach der Meinung der Armenier im Innern hängt ihre Rettung einzig und allein vom deutschen Botschafter ab. Wenn er will, werden sie gerettet und wenn er nicht will, sind sie verloren. Er hat nach ihrer Meinung eine Macht in der Türkei, wie Kaiser Wilhelm in Deutschland.

F r ä u l e i n F r i e d a W o l f H u n e c k e , Missionsschwes-ter in Evrek bei Kaissarié, April 1915

Nebukadnezar und Abdul Hamid

waren Gemütsmenschen und in

Vernichtungstalenten reine Stüm-

per, denn innerhalb einiger Wo-

chen ein ganzes, über ein weites

Land zerstreutes Volk vollständig

auszumerzen, brachten weder sie

noch Tschingiskhan, Tamerlan und

die alten, türkischen Sultane so

erfolgreich fertig wie wir es jetzt

schaudernd erleben.

K u k h o f f , Vizekonsul in Samsun,

9. September 1915

Das Schicksal der Armenier steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von der das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist.Wir erinnern an die Opfer, damit sie im Gedenken noch einmal eine Stimme bekommen, damit ihre Geschichte erzählt wird, jene Geschichte, an die nichts mehr erinnern sollte.Ja und wir erinnern der Opfer auch um unserer selbst willen. Wir können unsere eigene Menschlichkeit nur bewahren, wenn nicht nur die Sieger die Geschichte und das Gedächtnis von uns Lebenden bestimmen, sondern auch die Geschlagenen, die Verlorenen, die Verratenen und die Vernichteten.Eine Erinnerung an die Opfer wäre aber nur halbiertes Gedenken, wenn nicht auch von Tätern gesprochen würde. Ohne Täter gibt es keine Opfer.Wir befinden uns mitten in einer Debatte darüber, welche Bezeichnung für das Geschehen vor 100 Jahren am angemessensten ist. Wenn wir Verständigung erzielen in der Beurteilung der Geschichte, wenn wir Unrecht benennen, selbst wenn es die Unsrigen taten, wenn wir gleichermaßen bezeugen, ja leben, dass wir Recht und Menschenrechte achten, dann wahren wir die Würde der Opfer und schaffen eine gemeinsame humane Basis für das Zusammenleben im Innern und über Grenzen hinweg.Indem wir erinnern, setzen wir niemanden, der heute lebt, auf die Anklagebank. Was die Nachfahren der Opfer aber zu Recht erwarten dürfen, das ist die Anerkennung historischer Tatsachen und damit auch einer histori-schen Schuld. Es gehört zur Verantwortung der heute Lebenden, sich einer Politik verpflichtet zu fühlen, die das Lebensrecht und die Menschenrechte jedes Einzelnen wie auch jeder Minderheit respektiert und schützt.Wir in Deutschland haben mühevoll und teilweise mit beschämender Verzögerung gelernt, der Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus zu gedenken. Und wir haben dabei auch zu unterscheiden gelernt zwischen der Schuld der Täter, die vorbehaltlos anerkannt und benannt werden muss, und der Verantwortung der Nachkommen für ein angemessenes Gedenken.Es hat seinen tiefen Sinn und seine klare Berechtigung, an den Mord an dem armenischen Volk auch hier bei uns in Deutschland zu erinnern. Unter uns leben Nachfahren von Armeniern und Türken mit ihrer je eigenen Geschichte. Für ein friedliches Miteinander ist es wichtig, dass alle sich an den gleichen aufklärerischen Prinzipien bei der Aufarbeitung der Vergangenheit orientieren.Es waren deutsche Militärs, die an der Planung und zum Teil auch an der Durchführung der Deportationen beteiligt waren. Hinweise von deutschen Beobachtern und Diplomaten, die im Vorgehen gegen die Armenier den Vernichtungswillen genau erkannt hatten, wurden übergangen und ignoriert.Gleichzeitig rufen wir uns ins Gedächtnis, dass es gerade auch Deutsche gewesen sind, allen voran der hoch engagierte Johannes Lepsius, durch deren publizistische Tätigkeit das Leiden der Armenier in aller Welt bekannt wurde.Es war der Sanitäter Armin Theophil Wegner, der mit Fotografien das Schicksal der Armenier festgehalten und es in Lichtbildervorträgen nach dem Krieg in Deutschland bekannt gemacht hat. Und es war der Österreicher Franz Werfel, der mit seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ dem Widerstand der Armenier gegen ihre geplante Vernichtung ein künstlerisches Denkmal setzte.Als Adolf Hitler in seinem Einsatzbefehl vom 22. August 1939 den Oberbefehlshabern der deutschen Heeres-gruppen den Überfall auf Polen befahl und dabei seine Pläne erläuterte, „mitleidlos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken“, da schloss er in Erwartung eines kollektiven Desinteresses mit der rhetorisch gemeinten Frage: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“Wir reden davon! Wir! Noch heute, einhundert Jahre später, reden wir ganz bewusst davon – davon und von anderen Verbrechen gegen Menschlichkeit und Menschenwürde: Wir tun dies, damit Hitler nicht Recht behält. Und wir tun es, damit kein Diktator, kein Gewaltherrscher und auch niemand, der ethnische Säuberungen für legitim hält, erwarten kann, dass man seine Taten ignoriert oder vergisst.Ja, wir reden weiter auch über ungeliebtes Wissen, über verweigerte Verantwortung und über alte Schuld. Wir tun es nicht, um uns an eine niederdrückende Vergangenheit zu binden, wir tun es um wachsam zu sein, um rechtzeitig zu reagieren, wenn Vernichtung und Terror Menschen und Völker bedrohen.

Bundespräsident Joachim Gauck, Berlin, 23. April 2015

Wird die Genehmigung des Auswärtigen Amtes zu meiner Vernehmung als Zeuge in dem Prozeß gegen den Mörder von Talaat Pascha erteilt, so wäre ich verpflichtet, unter meinem Zeugeneide alle Fragen des Vorsitzenden zu beantworten. Ich würde dabei nicht umhin können, meiner Überzeugung Ausdruck zu geben, dass Talaat Pascha in der Tat einer derjenigen türkischen Staatmänner ist, welche die Vernichtung der Armenier gewollt und planmäßig durch-geführt haben. Ich nehme an, dass mir vom Gericht Dokumente vorgelegt werden, die die Wiedergabe von Befehlen Talaat Paschas in der Angelegenheit der Verschickung und Vernichtung enthalten. Ich würde meine Aussage dahin abgeben müssen, dass diese Dokumente die innere Wahrscheinlichkeit der Echtheit für sich haben. Ich würde auch eine Aeusserung als echt bekunden müssen, die mir gegenüber der von Konstantinopel nach Aleppo entsandte Verschickungskommissar gemacht hat: „Vous ne comprenez pas ce que nous voulons, nous voulons une Arménie sans Arméniens.“

Rößler, ehemaliger Konsul in Aleppo, an das Auswärtige Amt, Ende Mai 1921

Über Identität, Trauma und Tabunach Motiven von Franz Werfel

In einer Fassung von Nuran David Calis und dem Ensemble

Die vierzig Tage des

Musa Dagh.

Ismail Deniz Friederike Ott Michaela Steiger Simon Werdelis

Daron Yates Bijan Zamani

M A R STALL

RESIDENZTHEATER SPIELZEIT 2015 / 2016

AUFFÜHRUNGSRECHTE S. Fischer Verlag Wir danken dem ZU Klampen! Verlag für die Genehmigung, aus Wolfgang Gusts Edition „Der Völkermord an den Armeniern 1915/16.

Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts“ (Springe 2005) zitieren zu dürfen.TEXTNACHWEISE Alain Badiou: Lob der Liebe. Wien 2015. – Die Erinnerungen von Aram Güreghian, Aghavni Vartanian, Yüghaper Eftian, Hripsime Condakdjian und Zepure Medsbakian

sind nachzulesen in: Mihran Dabag + Kristin Platt: Verlust und Vermächtnis. Überlebende des Genozids an den Armeniern erinnern sich. Paderborn 2015. – Joachim Gauck: Rede im Berliner Dom am 23.04.2015 (http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/04/150423-Gedenken-Armenier.html). – Die Zitate von Hans Humann, Armin T. Wegner

und Eberhard Graf Wolffskeel sowie die Botschaft des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan vom 23.4.2014 sind entnommen aus: Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier. Berlin 2015. – Wolfgang Gust (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen

Auswärtigen Amts. Springe 2005. – Fridtjof Nansen: Betrogenes Volk: Eine Studienreise durch Georgien und Armenien als Oberkommissar des Völkerbundes. Leipzig 1928. – Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral. München 1999. – Varujan Vosganian: Buch des Flüsterns. Wien 2013.

REDAKTION Angela Obst MITARBEIT Leila Etheridge + Constantin John FOTOCOLLAGE Irina Schicketanz / adaptiert Creative Commons / Chad Briggs + houshamadyan.org INSZENIERUNGSFOTOS Konrad Fersterer

GESTALTUNG Herburg Weiland DRUCKEREI G. Peschke Druckerei GmbH HERAUSGEBER Bayerisches Staatsschauspiel, Max-Joseph-Platz 1, 80539 München

INTENDANT Martin Kušej STELLV. GESCHÄFTSFÜHRENDER DIREKTOR Richard Gallner CHEFDRAMATURG Sebastian Huber TECHNISCHER DIREKTOR Thomas Bautenbacher KOSTÜMDIREKTORIN Elisabeth Rauner KÜNSTLERISCHER DIREKTOR Roland Spohr CHEFDISPONENTIN Regina Maier PRESSE- U. ÖFFENTLICHKEITSARBEIT Sabine Rüter

TECHNIK Matthias Neubauer + Philipp Bösch WERKSTÄTTEN Michael Brousek AUSSTATTUNG Bärbel Kober BELEUCHTUNG / VIDEO Tobias Löffler TON Michael Gottfried REQUISITE Dirk Meisterjahn PRODUKTIONSLEITUNG KOSTÜM Enke Burghardt DAMENSCHNEIDEREI Gabriele Behne + Petra Noack

HERRENSCHNEIDEREI Carsten Zeitler + Aaron Schilling MASKE Andreas Mouth GARDEROBE Cornelia Faltenbacher SCHREINEREI Stefan Baumgartner SCHLOSSEREI Ferdinand Kout MALERSAAL Katja Markel TAPEZIERWERKSTATT Peter Sowada HYDRAULIK Karl Daiberl

GALERIE Christian Unger TRANSPORT Harald Pfähler BÜHNENREINIGUNG Adriana Elia

Als

wir

zu d

em O

rt k

amen

, als

wir

dahi

n ka

men

, da

wus

sten

wir,

das

s es

der

Ort

des

Töt

ens

war

. Nie

man

d sp

rach

dar

über

. Nie

man

d ha

t meh

r ges

proc

hen.

Mit

letz

ter K

raft

hab

en e

inig

e vo

n un

s ver

such

t weg

zula

ufen

. In

vers

chie

dene

Ric

htun

gen

zu fl

iehe

n. E

s gab

Ara

ber,

die

es w

agte

n, d

ie ve

rsuc

hten

, uns

zu sc

hütz

en. G

anz

am R

and.

Etw

as e

ntfe

rnt.

Auc

h ic

h bi

n ge

lauf

en. M

it le

tzte

r Kra

ft. E

iner

hat

mic

h un

ter d

en S

and

gele

gt.

Mei

ne S

chw

este

r hie

ß Ye

ranu

hi. M

eine

Sch

wes

ter w

ar e

ine

der e

rste

n, d

ie st

arb.

Sie

ist i

n ei

ner N

acht

ge-

stor

ben.

Da

war

en w

ir no

ch a

lle zu

sam

men

. Mei

n Va

ter,

mei

ne M

utte

r, m

ein

Brud

er u

nd ic

h. D

as w

ar n

och

vor d

em O

rt, a

n de

m w

ir ge

tren

nt w

orde

n sin

d. W

o es

gen

au w

ar, d

aran

kan

n ic

h m

ich

nich

t erin

nern

. Wir

sind

zwei

Tage

übe

r Ste

ine

gega

ngen

, ein

en st

eine

rnen

Weg

. Abe

r wo

es g

enau

war

, das

kan

n ic

h ni

cht s

agen

. Ic

h w

eiß

nich

t, w

o si

e st

arb.

Ich

kann

den

Ort

nic

ht m

ehr fi

nden

. Auf

kei

ner K

arte

kan

n ic

h ih

n fin

den.

Ich

wei

ß ni

cht,

wo

mei

ne S

chw

este

r sta

rb. I

ch h

abe

mei

ne S

chw

este

r für

imm

er ve

rlore

n.M

eine

Mut

ter s

tarb

auc

h in

ein

er N

acht

. Dre

i Tag

e, n

achd

em m

an u

ns g

etre

nnt h

at. I

ch k

onnt

e ih

r nic

ht

meh

r sag

en, d

ass i

ch si

e se

hr li

ebe.

Ich

kann

nic

ht e

rzäh

len,

von

dem

, was

ges

cheh

en is

t.Al

s ic

h un

ter d

em S

and

lag,

da

habe

ich

vers

ucht

, nic

ht d

aran

zu

denk

en, w

ie m

eine

Mut

ter s

tarb

. Wie

sie

auss

ah, a

ls si

e st

arb.

Ich

habe

vers

ucht

, dar

an zu

den

ken,

wie

sie

Mau

lbee

ren

pflüc

kte.

Wie

sie

mit

mei

ner

Schw

este

r Mar

mel

ade

koch

te. I

ch ve

rsuc

hte,

an

die

Kirs

chbä

ume

zu d

enke

n.W

ir w

aren

kei

ne M

ensc

hen

meh

r. Si

e ha

ben

uns a

lles g

enom

men

.Ar

aber

hab

en m

ich

aus

dem

San

d ge

grab

en. D

rei T

age,

dre

i Tag

e ha

be ic

h un

ter

dem

San

d ge

lege

n.

Drei

Tag

e da

uert

e da

s Tö

ten.

Der

zor,

das

war

der

Ort

des

Töt

ens.

Das

war

der

Ort

der

Sch

reie

und

der

G

eräu

sche

– S

chüs

se –

Säb

el –

Men

sche

n, d

ie fa

llen

– Ic

h ha

be u

nter

dem

San

d ge

lege

n. U

nd n

eben

m

ir w

aren

– I

ch k

ann

es n

icht

verg

esse

n.

Ag

ha

v ni

Va r

t an

i an

Ich

verg

aß m

ein

Arm

enis

ch u

nd m

eine

Rel

igio

n, m

eine

n G

laub

en.

Jede

n Ta

g er

teilt

e m

an u

ns m

uslim

isch

en R

elig

ions

unte

rric

ht. D

as

gesc

hah

so 19

16. E

s dür

fte

so u

m d

ie M

itte

des J

ahre

s gew

esen

sein

. Hi

er in

Kar

s Pa

zare

hab

en s

ie u

ns v

om e

rste

n Ta

g an

türk

isier

t. Z

u-er

st h

aben

sie

uns

ere

Nam

en g

eänd

ert.

So

habe

n si

e m

ir de

n N

a-m

en E

min

Lal

i geg

eben

, Em

in L

ali.

Und

sie

habe

n un

s fü

nf A

rmen

ier

besc

hnitt

en. S

ie h

aben

uns

bes

chni

tten

– u

nd z

war

so

prim

itiv,

in

eine

r de

rlei

prim

itive

n W

eise

, das

s w

ir fü

nfze

hn T

age

kran

k w

aren

un

d lie

gen

mus

sten

. Dam

it es

ver

heilt

, hab

en s

ie K

uhm

ist a

uf d

ie

Wun

den

geta

n, d

as w

ar d

as M

edik

amen

t. D

azu

mus

s ic

h ei

gent

lich

erzä

hlen

, das

s wäh

rend

der

fünf

zehn

Tage

, an

dene

n w

ir fe

hlte

n, d

ie

Unte

rric

htsr

äum

e ge

schl

osse

n w

aren

. Wir

war

en u

nter

den

Sch

üler

n,

unte

r den

hun

dert

fünf

zig

Schü

lern

, so

glän

zend

und

so

auff

alle

nd,

dass

man

nic

ht w

ollte

, das

s wir

zurü

ckfie

len!

In d

iese

r Zei

t hab

e ic

h be

gonn

en, s

tets

ein

Hef

t bei

mir

zu fü

hren

, de

nn ic

h w

ollte

mei

nen

Nam

en u

nd m

eine

Fam

ilie

nich

t ver

gess

en.

Ich

wol

lte n

icht

verg

esse

n, w

er ic

h bi

n.Ic

h ka

nn sa

gen,

das

s ich

bis

heu

te n

icht

ein

e Na

cht v

erbr

acht

hab

e,

in d

er ic

h ni

cht a

n di

e M

assa

ker g

edac

ht h

ätte

. Noc

h im

mer

hab

e ic

h Nä

chte

gan

z oh

ne S

chla

f.H

äufig

träu

me

ich.

Ich

träu

me

von

den

Mäd

chen

, die

sic

h in

Urf

a in

de

n Br

unne

n ge

wor

fen

und

Selb

stm

ord

bega

ngen

hab

en. W

ir kö

nnen

ni

cht v

erge

ssen

. Vie

lleic

ht h

aben

die

Übe

rlebe

nden

ein

en b

eson

de-

ren

Will

en g

ehab

t, zu

übe

rlebe

n. A

ber d

as E

rinne

rn, d

as k

önne

n w

ir ni

cht b

eein

fluss

en.

Wen

n ic

h he

ute

zurü

ckbl

icke

, dan

n w

eiß

ich,

das

s ic

h ge

lebt

hab

e.

Dafü

r kan

n ic

h da

nkba

r sei

n. D

afür

mus

s ich

dan

kbar

sei.

Jetz

t, d

iese

M

omen

te m

eine

r Kin

dhei

t zu

erzä

hlen

, ein

mal

noc

h zu

erz

ähle

n, d

as

hat m

ir vi

el b

edeu

tet.

Abe

r es

wird

sic

h ni

cht v

iel ä

nder

n. D

ie N

a-m

en d

er M

ensc

hen,

die

ges

torb

en si

nd, w

erde

n ni

cht z

urüc

kkeh

ren.

Ni

eman

d w

ird si

ch m

ehr a

n si

e er

inne

rn.

Ar a

m G

ür e

gh

i an

Als

ich

mei

ne M

utte

r w

iede

rsah

, hab

e ic

h zu

näch

st d

as K

leid

mei

ner

Mut

ter

gew

asch

en. I

hre

Auge

n w

aren

ohn

e Le

ben.

Mei

ne M

utte

r war

ein

e kl

uge

Frau

ge

wes

en.

Mei

ne M

utte

r kam

nic

ht b

is n

ach

Khar

pert

.Im

mer

wie

der h

at si

e si

ch g

ewei

gert

, wei

terz

ugeh

en. H

at ih

ren

Kopf

geh

alte

n un

d le

ise

mit

sich

ges

proc

hen.

Imm

er w

iede

r ha

t sie

mic

h ge

frag

t, w

as g

e-sc

hehe

n se

i, un

d m

ir ge

sagt

, das

s man

mei

nen

Vate

r fes

tgen

omm

en h

abe,

ich

solle

ihn

such

en. I

ch d

ürfe

es n

icht

verg

esse

n. Ic

h m

üsse

ihn

such

en, s

uche

n,

such

en. Z

um S

chlu

ss w

ar m

eine

Mut

ter o

hne

Kraf

t. Si

e ha

tte

ihre

Kra

ft b

erei

ts

verl

oren

, als

wir

uns

wie

dert

rafe

n. D

och

am S

chlu

ss k

onnt

e si

e ni

cht m

ehr

lauf

en. A

ber s

ie h

atte

mir

die

Kind

er n

och

über

gebe

n kö

nnen

. Wen

igst

ens

für

ein

letz

tes S

tück

des

Weg

es.

Es w

ar a

n ei

nem

Tag

am

Ran

de e

ines

Fel

des,

als

sie

ges

torb

en is

t. Si

e ha

t seh

r ge

litte

n. S

ie h

atte

nic

ht m

ehr

gehe

n kö

nnen

. Man

hat

sie

mit

eine

r Pe

itsch

e ge

schl

agen

. Man

hat

sie

ang

esch

rien

. Sie

hab

en „

wei

ter,

wei

ter!

“ ge

schr

ien.

Do

rt h

aben

wir

sie

zurü

ckla

ssen

müs

sen.

Vie

lleic

ht is

t sie

von

den

Wöl

fen

ge-

fres

sen

wor

den.

An d

em T

ag, a

n de

m ic

h m

eine

Mut

ter

wie

derg

efun

den

habe

, hat

sie

zu

mir

gesa

gt: „

Mei

ne T

ocht

er, i

ch s

oll D

ein

Opf

er w

erde

n.“

Der K

uss,

den

sie

mir

in

jene

m M

omen

t geg

eben

hat

, war

der

ers

te u

nd le

tzte

Kus

s m

eine

r Mut

ter.

Es

war

die

letz

te U

mar

mun

g, d

ie si

e m

ir sc

henk

te. A

ls sie

star

b, w

ar si

e ga

nz n

ackt

. Si

e ha

tte

kein

Kle

id m

ehr g

etra

gen.

War

es

eine

Gna

de, z

u üb

erle

ben?

Ich

frag

e m

ich

imm

er, w

arum

ich

über

lebt

ha

be. W

ie is

t es m

öglic

h, d

ass i

ch n

icht

ges

torb

en b

in?

Dam

als h

abe

ich

mei

ne F

amili

e, m

eine

Hei

mat

, mei

ne S

chul

freu

ndin

nen

verlo

-re

n. M

it de

m V

ölke

rmor

d ist

ein

e ju

nge

Gen

erat

ion

vers

chw

unde

n. E

ine

neue

G

ener

atio

n w

ar d

amal

s en

tsta

nden

, vol

ler I

deal

e, m

it vi

elen

Hof

fnun

gen,

mit

schö

nen

Träu

men

. Und

mei

n ei

gene

s Leb

en? S

tudi

eren

kon

nte

ich

nich

t meh

r,

das i

st fü

r mic

h ei

n gr

oßer

Sch

mer

z. E

in K

ind

habe

ich

nich

t bek

omm

en d

ürfe

n.

Das

ist e

in b

eson

dere

r Sch

mer

z fü

r mic

h, d

ass

ich

nach

der

Dep

orta

tion

kein

Ki

nd b

ekom

men

kon

nte.

Mei

ne g

esam

te F

amili

e w

urde

zer

stör

t. A

lles

wur

de

zers

tört

. So

lebe

ich

noch

und

lebe

doc

h w

ie e

in S

chat

ten.

Als

ein

irgen

djem

and.

O

hne

Fam

ilie,

ohn

e Fa

mili

e.

Ze

pu

r e M

ed

s ba

ki a

n

Ja, e

s ist

so, d

ass i

ch ü

berle

bt h

abe.

Und

dass

wir

die

Erin

neru

ngen

noc

h la

nge

mit

uns t

ruge

n. W

as a

uch

pass

iert

ist,

tr

otz a

llem

, wir

war

en n

achh

er fr

ei. S

iche

rlich

hab

e ic

h vi

el g

ewei

nt, b

eson

ders

w

enn

ich

an m

eine

n Va

ter

dach

te. A

ber

man

sol

l sic

h ni

cht g

ehen

lass

en. D

u m

usst

dic

h im

mer

beh

errs

chen

.De

r Him

mel

hat

die

Erd

e ei

nmal

gef

ragt

: „Ic

h ha

be S

tern

e un

d Pl

anet

en u

nd d

ies

und

jene

s. U

nd w

as h

ast d

u?“

Die

Erde

hat

lang

e, la

nge

über

legt

: „Ic

h ha

be d

as

Mee

r, di

e M

ensc

hen,

die

Vög

el u

nd au

ßerd

em je

wei

ls di

e Ei

gens

chaf

ten

von

ihne

n.“

Der H

imm

el h

at g

esag

t: „

Ich

kom

me

etw

as n

ach

unte

n un

d du

solls

t etw

as n

ach

oben

kom

men

, so

dass

wir

zusa

mm

en e

inen

Hor

izont

bild

en.“

So

ist d

as a

uch

in

der E

he. S

o is

t das

abe

r auc

h, w

enn

man

Arm

enie

r ist

. Wei

l wir

Arm

enie

r sin

d,

habe

n w

ir di

ese

Relig

ion,

hab

en w

ir un

sere

Ges

chic

hte,

müs

sen

wir

uns

dam

it ab

finde

n un

d da

mit

lebe

n. A

ber d

eine

Geh

eim

niss

e, d

eine

Erf

ahru

ngen

, dei

ne

Erin

neru

ngen

, die

solls

t du

bei d

ir be

halte

n. W

as b

ringt

es,

wen

n m

an d

iese

nac

h au

ßen

träg

t? S

onst

ble

ibst

du

zu s

ehr u

nten

und

wirs

t im

mer

ent

fern

t sei

n vo

n de

m a

nder

en u

nd vo

n de

m H

orizo

nt.

Im J

ahr 1

977

bin

ich

nach

Syr

ien

gefa

hren

. Ich

bin

ein

gela

den

wor

den.

Ich

fuhr

na

ch D

amas

kus,

von

da a

us n

ach

Alep

po, v

on A

lepp

o na

ch B

eiru

t, vo

n do

rt w

ie-

der n

ach

Dam

asku

s. A

ls ic

h w

iede

r zuh

ause

war

, hie

r in

Paris

, fiel

ich

kran

k in

s Be

tt. I

ch k

onnt

e ni

chts

and

eres

meh

r ess

en a

ls S

uppe

. So

lang

e St

reck

en s

ind

wir

zu F

uß g

egan

gen.

Und

jetz

t fuh

r ich

in e

inem

Aut

obus

, kal

tes W

asse

r aus

den

hlsc

hrän

ken

trin

kend

und

Bon

bons

ess

end.

Ich

hatt

e nu

r an

mei

ne M

utte

r de

nken

kön

nen,

mei

nen

Vate

r, m

ein

Kind

, das

nic

ht e

rwac

hsen

wer

den

durf

te.

Und

dara

n, d

ass

ich

mic

h nu

n do

rt a

uf d

iese

r Rei

se h

atte

ver

gnüg

en s

olle

n. D

ie

Grä

ber m

eine

r Mut

ter,

mei

nes V

ater

s – ic

h w

eiß

nich

t, w

o si

e sin

d. A

ber i

ch b

in

froh

, das

s m

eine

Toc

hter

ges

torb

en is

t. Ic

h w

eiß

nich

t, w

as ic

h ge

mac

ht h

ätte

. Hä

tte

ich

sie li

egen

gel

asse

n? H

ätte

ich

sie tr

agen

kön

nen?

Ich

war

fünf

zehn

Jah

re

alt.

Ich

habe

mir

imm

er w

iede

r ges

agt,

das

s ic

h da

s Ki

nd w

enig

sten

s be

grab

en

konn

te. J

eden

Tag

aufs

Neu

e m

uss i

ch an

sie

denk

en. D

iese

s kle

ine

Mäd

chen

hab

e ic

h ve

rlore

n.

Mei

n Sc

hmer

z ist

gro

ß. A

ber s

chlim

mer

ist,

das

s er k

eine

n Au

sweg

läss

t. W

ie so

ll ic

h tr

auer

n? U

m w

ie vi

ele?

Wen

n au

s fün

f Fam

ilien

nie

man

d am

Leb

en g

eblie

ben

ist u

nd d

er E

inzi

ge, d

er ü

berle

bt h

at, e

in C

ousin

in A

mer

ika

ist, d

er fr

üh a

usge

-w

ande

rt w

ar?

Wir

hatt

en d

rei P

ries

ter i

n un

sere

r Fam

ilie,

ein

er h

atte

ein

Kin

d,

ein

ande

rer z

wei

und

der

drit

te d

rei.

An w

en a

lles s

oll i

ch d

enke

n? D

a w

aren

auc

h no

ch d

ie K

inde

r mei

nes O

nkel

s – w

ir w

aren

ein

e se

hr g

roße

Fam

ilie.

Wir

kom

men

au

s der

Fam

ilie

Dira

zu S

tepa

n.Ve

rges

sen

habe

ich

nie.

Ver

gess

en k

ann

man

nic

ht. D

ie W

unde

ist s

ehr t

ief.

Es

könn

en v

ieru

ndsi

ebzi

g Ja

hre

verg

ehen

, wen

n es

ein

e W

unde

geg

eben

hat

, und

w

enn

dies

e au

ch g

enäh

t wur

de, d

ie S

telle

ble

ibt.

Dein

Her

z ist

dur

chst

oche

n.

gh

ap

er

Ef t

i an

An d

em T

ag, a

ls m

ein

Sohn

wäh

rend

der

Dep

orta

tion

gebo

ren

wur

de, s

ind

wir

am M

orge

n au

fges

tand

en. I

ch w

ar so

une

rfah

ren.

Wir

sind

aufg

ebro

chen

, obw

ohl e

s mir

nich

t gut

gin

g.

Und

dann

hat

mei

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