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1 Partizipation in der frühen Kindheit einzulassen, die Welt auf ihre Weise zu sehen und zu verstehen. Kindern ist der Austausch mit uns und untereinander ausgesprochen wichtig und sie bemühen sich sehr darum, sich zu verständigen. Sie möchten zum einen von unserem Welt- wissen und unserer Erfahrung profitieren und zum anderen ihre Entdeckungslust und Neugier mit andern teilen. In Frage gestellt wird Partizipation auf Augenhöhe, wenn Entscheidungsmacht und Manipulation zum Zug kommen. Selbstverständlich tragen wir Erwachse- ne die Verantwortung für Entscheidun- gen, gerade auch dann, wenn sie Kinder betreffen. Endlose Wahlmöglichkeiten und Diskussionen können eine Zweijähri- ge völlig überfordern. Auch ein Fünfjähri- ger braucht uns (noch lange!) als fassba- res Gegenüber, damit er sich orientieren und sinnvoll einbringen kann. Aber Hand aufs Herz: Wer von uns hat mit einer Ent- scheidung nicht auch schon ganz einfach seine/ihre eigenen Interessen durchge- setzt? Im Alltag, wenn wir eine (weitere) Kinderidee als mühsam erlebten oder Geschätzte Leserinnen und Leser Kinder haben ein höchst persönliches Recht darauf, sich entsprechend ihres Al- ters und passend zur Gelegenheit betei- ligen zu können und von Anfang an als Mitmenschen respektiert zu werden. Wir pflegen (auch heute?) ein komplizier- tes, zwiespältiges Verhältnis zu unseren Kindern. In mancher Hinsicht stellen wir sie auf ein Podest und sperren sie gerade damit von vielem aus. Einige Kinder wer- den verhätschelt und unselbständig ge- halten, andere gequält und ausgenutzt. Es fällt uns oft für Kleinkinder wie für Ju- gendliche ausgesprochen schwer, die Balance zwischen Unterforderung und Überforderung zu finden. Bereits junge Kinder spüren jedoch genau, ob wir sie – buchstäblich – von oben herab oder als junge Menschen mit einer eigenen Per- sönlichkeit behandeln. Für das Zusammenleben und die Gesell- schaft ist es bereichernd, wenn bereits junge Kinder sich einbringen und be- teiligen können. Kinder haben eigene oft ausgesprochen kreative Ideen und stellen spannende und wichtige Fragen. Es ist faszinierend, sich (wieder) darauf undKinder Nummer 98, Dezember 2016 Editorial

Editorial · Eine kindgerechte Justiz zur Stärkung der Kinder Frühkindliche Partizipation aus rechtlicher Perspektive kommt immer dann zum Tragen, wenn Kinder von ge-richtlichen

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Page 1: Editorial · Eine kindgerechte Justiz zur Stärkung der Kinder Frühkindliche Partizipation aus rechtlicher Perspektive kommt immer dann zum Tragen, wenn Kinder von ge-richtlichen

1Partizipation in der frühen Kindheit

einzulassen, die Welt auf ihre Weise zu sehen und zu verstehen. Kindern ist der Austausch mit uns und untereinander ausgesprochen wichtig und sie bemühen sich sehr darum, sich zu verständigen. Sie möchten zum einen von unserem Welt-wissen und unserer Erfahrung profitieren und zum anderen ihre Entdeckungslust und Neugier mit andern teilen.

In Frage gestellt wird Partizipation auf Augenhöhe, wenn Entscheidungsmacht und Manipulation zum Zug kommen. Selbstverständlich tragen wir Erwachse-ne die Verantwortung für Entscheidun-gen, gerade auch dann, wenn sie Kinder betreffen. Endlose Wahlmöglichkeiten und Diskussionen können eine Zweijähri-ge völlig überfordern. Auch ein Fünfjähri-ger braucht uns (noch lange!) als fassba-res Gegenüber, damit er sich orientieren und sinnvoll einbringen kann. Aber Hand aufs Herz: Wer von uns hat mit einer Ent-scheidung nicht auch schon ganz einfach seine/ihre eigenen Interessen durchge-setzt? Im Alltag, wenn wir eine (weitere) Kinderidee als mühsam erlebten oder

Geschätzte Leserinnen und Leser

Kinder haben ein höchst persönliches Recht darauf, sich entsprechend ihres Al-ters und passend zur Gelegenheit betei-ligen zu können und von Anfang an als Mitmenschen respektiert zu werden. Wir pflegen (auch heute?) ein komplizier-tes, zwiespältiges Verhältnis zu unseren Kindern. In mancher Hinsicht stellen wir sie auf ein Podest und sperren sie gerade damit von vielem aus. Einige Kinder wer-den verhätschelt und unselbständig ge-halten, andere gequält und ausgenutzt. Es fällt uns oft für Kleinkinder wie für Ju-gendliche ausgesprochen schwer, die Balance zwischen Unterforderung und Überforderung zu finden. Bereits junge Kinder spüren jedoch genau, ob wir sie – buchstäblich – von oben herab oder als junge Menschen mit einer eigenen Per-sönlichkeit behandeln. Für das Zusammenleben und die Gesell-schaft ist es bereichernd, wenn bereits junge Kinder sich einbringen und be-teiligen können. Kinder haben eigene oft ausgesprochen kreative Ideen und stellen spannende und wichtige Fragen. Es ist faszinierend, sich (wieder) darauf

undKinder Nummer 98, Dezember 2016

Editorial

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2 undKinder Nummer 98

auch bei einer politischen Weichenstel-lung, bei der uns unser heutiges Hemd wichtiger war als die Zukunft?Ebenfalls höchst problematisch sind die aus meiner Sicht scheinheiligen Betei-ligungsangebote, mit denen typischer-weise manche Kinder in turbulenten Fa-miliensituationen (Trennung von Eltern, Fremdplatzierungen zum Schutz von Kindern) konfrontiert werden: „Du darfst zum Papa gehen / mit Mama telefonie-ren, wann immer du willst. Du kannst es mir einfach sagen.“ Kinder spüren erstens mit feinsten Antennen – manchmal exak-ter als die betreffenden Erwachsenen – wie diese Angebote tatsächlich gemeint sind. Zweitens ist es eine Zumutung, Kin-der aufzufordern, eine Brücke in unge-wissem Zustand oder über unwägbare Abgründe zu überqueren. Für den (emo-tionalen) Zustand der Verbindungswege zwischen den Erwachsenen sind diese zuständig und nicht die Kinder! Drittens brauchen Kinder in schwierigen Situati-onen Unterstützung, um ihre Wünsche und Befürchtungen auszuloten und he-rauszufinden, wie ein Besuch bei der Mama oder ein Telefonat mit dem Papa gut ablaufen könnten. Es gibt also viele alltägliche Situationen und grundsätzliche Themen, in denen wir Kinder nicht mit Entscheidungsmög-lichkeiten belasten sollten. Kinder parti-zipieren zu lassen, ist zudem zugegebe-nermassen nicht immer der bequemste

Weg. Er kann anstrengend und verunsi-chernd sein, v.a. wenn es ungewohnt ist. Kinder nehmen jedoch unsere allfällige Unbeholfenheit ausgesprochen gelassen und reagieren meist nachsichtig darauf. Bei der Partizipation von jungen Kindern geht es in erster Linie um Gelegenhei-ten sich einzubringen und mitgestalten zu können. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist es, vorab erfassen zu können, worum es geht und worin die konkreten eigenen Möglichkeiten bestehen. Die Er-wachsenen sollten sich darin üben, mit Kindern auch darüber zu sprechen. Wenn der Dialog mit Kindern gelingt, können gemeinsames Nachdenken, Ent-deckungen und eine Kreativität entste-hen, die einmalig und beglückend sind. Und mit jedem gelungenen Miteinander macht das nächste mehr Freude! In diesem Sinne lade ich Sie herzlich und ausgesprochen gerne auf eine reichhal-tige Entdeckungsreise durch diese und-Kinder Ausgabe ein!

Heidi SimoniLeiterin Marie Meierhofer Institut für das Kind

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3Partizipation in der frühen Kindheit

Seite 9

Sabine Brunner, Katharina Hardegger, Team MMI, Theater PurPur

... die Erwachsenen wissen nicht, dass wir mit kaputten Sachen spielen können ... Mit Zusatz: Theater Purpur stellt sich vor

Was denken Kinder über ihre eigene Partizipation? Wel-che Regeln würden sie einführen, wenn sie König oder Königin wären? Was gefällt ihnen? Wie möchten sie in die Gestaltung ihres Lebensumfeldes einbezogen sein und wo wollen sie mitreden? Was dürfen sie? Und wann ist es an den Erwachsenen, Verantwortung zu übernehmen? Solche Fragen wurden im Rahmen von Workshops, Kur-sen und Kindergruppen mit Kindern verschiedenen Al-ters diskutiert. Dabei kamen viele spannende Ergebnisse in Wort und Bild zusammen.

Seite 25

Corinne Dreifuss

Der Partizipationsparcours

Seite 27

Corinne Dreifuss

Partizipation in der frühen Kindheit: eine Refle-xion zur Vielschichtigkeit des Themas

Im Rahmen des Projekts Partizipation in der frühen Kind-heit – Kontexte, Inhalte, Methoden setzt sich das Marie Meierhofer Institut für das Kind (MMI) systematisch mit der Partizipation von Kindern in eigenen Projekten und Angeboten auseinander. Der folgende Text erläutert, welche Herangehensweisen an das Thema gewählt wur-den und inwiefern sich diese im Konzept dieses Hefts widerspiegeln. Zugleich soll der Beitrag, eingebettet in eine kurze Reflexion zum Begriff der Partizipation, einen Überblick darüber geben, welche Ebenen unterschieden werden können, wenn wir uns mit der Partizipation von jungen Kindern in verschiedenartigen Projekten und An-geboten beschäftigen.

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4 undKinder Nummer 98

Seite 35

Claudius Natsch

Kinder an die Macht?

Kindern wird nach wie vor allerhöchstens in Kriegs- und Krisenzeiten etwas Autonomie zugestanden. Sobald die bürgerliche Ordnung wieder hergestellt ist, wird von den Kindern wieder blinder Gehorsam eingefor-dert. Dieser Artikel sucht die Spuren von Partizipation von Kindern in der Geschichte und begrüsst freudig die aktuellen, pragmatischen Schritte, die einen Bewusst-seinswandel andeuten, stellt aber auch kritische Fragen.

Seite 49

Gerison Lansdown

Kinderrechtliche Grundlagen von Partizipation und deren Umsetzung – ein Einblick in Projek-te im internationalen Feld

Die britische Anwältin und Kinderrechtsspezialistin Geri-son Lansdown ist seit vielen Jahren international als Kin-derrechtsexpertin tätig und hat als Expertin zahlreiche Projekte im Bereich der Umsetzung von Kinderrechten begleitet. Sie ist unter anderem Gründerin der Children’s Rights Alliance in England, berät den UNO-Ausschuss für die Rechte des Kindes im Zusammenhang mit Artikel 12 der Kinderrechtskonvention und hat zahlreiche Schriften zum Thema Kinderrechte verfasst.

Seite 59

Margot Michel

Partizipation im Gesundheitsbereich – die rechtliche Perspektive

Auch Kinder brauchen medizinische Betreuung. Sie be-ginnt in den allermeisten Fällen schon während der Ge-burt, wenn die Vitalfunktionen des noch ungeborenen Kindes ständig überwacht werden. Im Säuglingsalter kom-men diagnostische und prophylaktische Massnahmen wie regelmässige Untersuchungen und Impfungen hinzu, und spätestens ab dem Kleinkindalter sind die meisten Kinder mit medizinischen Massnahmen verschiedentlich in Be-rührung gekommen.

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5Partizipation in der frühen Kindheit

Seite 65

Andrea Abraham, Georg Staubli, Marlis Pfändler und Ruth Baumann-Hölzle

„Zaubersalbe“ und „Bobo“ am Herz: der Bei-trag einer kindergerechten Kommunikation als Voraussetzung für die Partizipation kleiner Kinder im SpitalDieser Artikel beleuchtet das Thema kindliche Partizipa-tion im Spitalbetrieb aus unterschiedlichen Blickwinkeln und kommt zum Schluss: Partizipation von Kindern im Spital ist ein Ziel, welches nur durch das Zusammenspiel verschiedenster Parameter gelingen kann.

Seite 77

Bettina Winkler, Kinderbüro Basel

Wir reden mit - Kinderbeteiligung in Basler Kitas

In Basel gibt es drei Kitas, die sich überlegt haben, wie die Kinder bei ihnen besser mitreden und mitentschei-den können. Die Erwachsenen dieser Kitas möchten Aus-flüge, Spiele in der Kita, Bastelarbeiten und andere Sa-chen zusammen mit den Kindern planen.

Seite 83

Karin Grütter, Fachstelle Tagesbetreuung

Kindermitwirkung in Basler Kitas – ein Pilotprojekt

2013 erhielt Basel die Unicef-Zertifizierung „Kinder-freundliche Gemeinde“. Im dazu gehörenden Massnah-menplan hatte sich die Stadt verpflichtet, in Kitas ein Pi-lotprojekt zur Förderung der Beteiligung von Kindern zu entwickeln und umzusetzen.

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6 undKinder Nummer 98

Seite95

Sascha Neumann, Nicole Hekel

Vom Wollen-Sollen, Dürfen und (Nicht-)Müs-sen. Partizipation und Akteurschaft von Kin-dern im Betreuungsalltag

Kinder direkt an der Gestaltung des Alltags zu beteili-gen stellt die Praxis in Kindertageseinrichtungen vor erhebliche Herausforderungen. Ein derzeit laufendes Forschungsprojekt an der Universität Freiburg (CH) mit dem Titel „Partizipation in der frühesten Kindheit“ (PINKS) untersucht, wie Kinder im Alltag von Kitas über-haupt als Akteure in Erscheinung treten und diesen All-tag mit beeinflussen und gestalten. Dabei geht es auch um die Frage, wie Gelegenheiten direkter Partizipation den Akteurstatus von Kindern beeinflussen.

Seite 103

Corinne Dreifuss, Heidi Simoni, Sabine Brunner

Im Zentrum die Sicht des Kindes – ein Interview zum Beratungsangebot KET und zu Gutachten am MMI

Ein Interview mit Heidi Simoni, Dr. phil., Fachpsycholo-gin für Psychotherapie FSP und Leiterin des Marie Mei-erhofer Instituts für das Kind und Sabine Brunner, lic. phil., Psychotherapeutin KJF und Co-Verantwortliche Psychologische Dienstleistungen am Marie Meierhofer Institut für das Kind.

Seite 111

Kinderanwaltschaft Schweiz, Annegret Lautenbach

Eine kindgerechte Justiz zur Stärkung der Kinder

Frühkindliche Partizipation aus rechtlicher Perspektive kommt immer dann zum Tragen, wenn Kinder von ge-richtlichen oder verwaltungsrechtlichen Verfahren be-troffen sind.

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7Partizipation in der frühen Kindheit

Seite 123

Maria Mögel

Wie erleben kleine Kinder, die in Pflegefami-lien oder Heimen leben, die Zugehörigkeit zu ihrer Pflege- und Herkunftswelt?

Forschen mit Kindern im Vorschulalter

In der vorgestellten Studie stand die persönliche Sicht junger Kinder auf ihre Beziehungswelten im Zentrum. Das verwendete Geschichtenstammverfahren eröffnet auch kleinen Kindern grosse Mitgestaltungsmöglichkei-ten in der Forschungssituation. Weiter zeigt der Artikel auf, wie junge Kinder in den Forschungsprozess einbe-zogen werden können und warum eine kindgerechte Information hierfür zentral ist.

Seite 135

Antonia Wolleb & Eva Müller

Mit jungen Kindern ins Gespräch kommen: Ideen zur Umsetzung

Im vorliegenden Artikel werden Methoden vorgestellt, wie die partizipative Zusammenarbeit mit jungen Kin-dern gestaltet werden kann. Erfahrungen aus dem MMI-Projekt „Lebenswelten junger Kinder“ dienen als Grund-lage dazu.

Seite 143

Annika Butters & Eliza Spirig Mohr

Partizipation und Dialog als Grundhaltung der Bildungs- und Lerngeschichten

Der Orientierungsrahmen für die Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung in der Schweiz hebt Partizipa-tion als eines von sechs zentralen Leitprinzipien hervor: „Jedes Kind möchte sich willkommen fühlen und sich ab Geburt beteiligen“ (Wustmann Seiler & Simoni, 2012, S. 40). Um Kindern dieses Teilhaben zu ermöglichen, be-darf es einer Grundhaltung vonseiten der Erwachsenen, die Kindern Partizipation ermöglicht.

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8 undKinder Nummer 98

Seite 151

Jeannine Schälin

Die Stimme der Kinder in Fachberatung und Supervision

Wenn wir in die Welt der Kinder eintauchen, hören wir,wie die Wellen der Zukunftan die Ufer schlagen.

Daisaku Ikeda