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Es gilt endgültig Abschied zu nehmen von einer ästheti- schen, organerhaltenden, bionomen, form- und funk- tionsgerechten Operationsmethode, die die Chirurgie über 2 Jahrzehnte bewegt hat und scheinbar doch so er- folgreich war. Die Vagotomie wird auch unter dem Aspekt eines minimalisierten Zugangs keine Renais- sance mehr erfahren. Das Bessere ist der Feind des Gu- ten. Daran ist der Helicobacter pylori schuld, der das pa- thogenetische Prinzip „Säure“ bei der Ulcuskrankheit in den Hintergrund gedrängt hat zugunsten der von ihm ausgelösten Infektion der Magenschleimhaut. Die- se Helicobacter-pylori-induzierte Gastritis ist für prak- tisch alle Ulcera duodeni und für ca. 80 % der Ulcera ventriculi verantwortlich. Keine Frage, die Chirurgie hat in diesem Konzept der Ulcuskrankheit praktisch keinen Stellenwert mehr – mit Ausnahme der Ulcus- komplikationen. Es wird sehr interessant sein zu beob- achten, ob die Eradikation des Helicobacter pylori und damit die prophylaktische Behandlung der Gastritis auf die Dauer auch zu einer Veränderung der Epide- miologie bzw. des Spontanverlaufs der Ulcuskrankheit führen wird, und damit zu einer Abnahme der Häufig- keit von Ulcuskomplikationen. Dann würde die Chirur- gie auch hier an Bedeutung verlieren. Der Helicobacter pylori ist nicht nur daran schuld, daß der Chirurgie die Bastion „Ulcuschirurgie“ verlo- ren gegangen ist, er steht auch im Verdacht in der Gene- se des Magencarcinoms entscheidend beteiligt zu sein. Nach allem, was wir heute wissen, spielt er allerdings nur beim überwiegend distal gelegenen intestinalen Ma- gencarcinom eine Rolle. Die höher gelegenen Magen- carcinome sind ebenso wie das Kardiacarcinom und das Adenocarcinom des distalen Oesophagus nicht He- licobacter-pylori-assoziiert. Im Gegenteil, die Eradika- tion des Helicobacter pylori könnte zu einer Zunahme der Refluxkrankheit führen und damit möglicherweise zum Schrittmacher der malignen Degeneration im Bar- rett-Oesophagus werden. Diese Hypothese muß drin- gend weiter verfolgt und auf ihre Richtigkeit hin über- prüft werden. Insgesamt wäre von einer prophylakti- schen Eradikation des Helicobacter pylori – abgesehen von diesem Problem eines möglichen Schadens – be- stenfalls eine Abnahme der Antrumcarcinome vom in- testinalen Typ zu erwarten. Wenn dem so ist, würde der Helicobacter pylori dafür sorgen, daß die Chirurgie des Magencarcinoms künftig schwieriger und aufwendiger wird. Auch hier erweist sich der Helicobacter pylori nicht gerade als Freund des Chirurgen. Bleibt noch seine Rolle in der Genese des Lym- phoms. Die Hypothese steht – ohne Helicobacter pylori kein Lymphom. In diese Richtung deutet auch, daß zu- mindest das frühe Lymphom nach Eradikation des He- licobacter pylori reversibel ist. Dagegen benötigen fort- geschrittene Lymphome des Magens derzeit noch der Operation. Wer hätte noch vor 10 Jahren gedacht, welche revo- lutionäre ¾nderung unser Wissen um die Ulcuskrank- heit innerhalb kürzester Zeit erfahren würde? Ganze, scheinbar wohlbelegte und unerschütterliche Grundsät- ze der Ulcuschirurgie sind über Nacht zusammengebro- chen. Arbeiten aus den 70 er Jahren zu diesem Thema erscheinen heute anachronistisch. Wer weiß, wie lange unser heute so gesichert erscheinendes Wissen Gültig- keit behalten wird? Prof. Dr. J.R. Siewert Chirurgische Klinik und Poliklinik der TU Klinikum rechts der Isar Ismaningerstraße 22 D-81675 München Leitthema: Helicobacter ’98 Ó Springer-Verlag 1998 Chirurg (1998) 69: 233 Editorial: So ein vertrackter Helicobacter J. R. Siewert Chirurgische Klinik und Poliklinik (Direktor: Prof. Dr. J.R.Siewert), Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München

Editorial: So ein vertrackter Helicobacter

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Es gilt endgültig Abschied zu nehmen von einer ästheti-schen, organerhaltenden, bionomen, form- und funk-tionsgerechten Operationsmethode, die die Chirurgieüber 2 Jahrzehnte bewegt hat und scheinbar doch so er-folgreich war. Die Vagotomie wird auch unter demAspekt eines minimalisierten Zugangs keine Renais-sance mehr erfahren. Das Bessere ist der Feind des Gu-ten.

Daran ist der Helicobacter pylori schuld, der das pa-thogenetische Prinzip ¹Säureª bei der Ulcuskrankheitin den Hintergrund gedrängt hat zugunsten der vonihm ausgelösten Infektion der Magenschleimhaut. Die-se Helicobacter-pylori-induzierte Gastritis ist für prak-tisch alle Ulcera duodeni und für ca. 80% der Ulceraventriculi verantwortlich. Keine Frage, die Chirurgiehat in diesem Konzept der Ulcuskrankheit praktischkeinen Stellenwert mehr ± mit Ausnahme der Ulcus-komplikationen. Es wird sehr interessant sein zu beob-achten, ob die Eradikation des Helicobacter pylori unddamit die prophylaktische Behandlung der Gastritisauf die Dauer auch zu einer Veränderung der Epide-miologie bzw. des Spontanverlaufs der Ulcuskrankheitführen wird, und damit zu einer Abnahme der Häufig-keit von Ulcuskomplikationen. Dann würde die Chirur-gie auch hier an Bedeutung verlieren.

Der Helicobacter pylori ist nicht nur daran schuld,daû der Chirurgie die Bastion ¹Ulcuschirurgieª verlo-ren gegangen ist, er steht auch im Verdacht in der Gene-se des Magencarcinoms entscheidend beteiligt zu sein.Nach allem, was wir heute wissen, spielt er allerdingsnur beim überwiegend distal gelegenen intestinalen Ma-gencarcinom eine Rolle. Die höher gelegenen Magen-carcinome sind ebenso wie das Kardiacarcinom unddas Adenocarcinom des distalen Oesophagus nicht He-licobacter-pylori-assoziiert. Im Gegenteil, die Eradika-

tion des Helicobacter pylori könnte zu einer Zunahmeder Refluxkrankheit führen und damit möglicherweisezum Schrittmacher der malignen Degeneration im Bar-rett-Oesophagus werden. Diese Hypothese muû drin-gend weiter verfolgt und auf ihre Richtigkeit hin über-prüft werden. Insgesamt wäre von einer prophylakti-schen Eradikation des Helicobacter pylori ± abgesehenvon diesem Problem eines möglichen Schadens ± be-stenfalls eine Abnahme der Antrumcarcinome vom in-testinalen Typ zu erwarten. Wenn dem so ist, würde derHelicobacter pylori dafür sorgen, daû die Chirurgie desMagencarcinoms künftig schwieriger und aufwendigerwird. Auch hier erweist sich der Helicobacter pylorinicht gerade als Freund des Chirurgen.

Bleibt noch seine Rolle in der Genese des Lym-phoms. Die Hypothese steht ± ohne Helicobacter pylorikein Lymphom. In diese Richtung deutet auch, daû zu-mindest das frühe Lymphom nach Eradikation des He-licobacter pylori reversibel ist. Dagegen benötigen fort-geschrittene Lymphome des Magens derzeit noch derOperation.

Wer hätte noch vor 10 Jahren gedacht, welche revo-lutionäre ¾nderung unser Wissen um die Ulcuskrank-heit innerhalb kürzester Zeit erfahren würde? Ganze,scheinbar wohlbelegte und unerschütterliche Grundsät-ze der Ulcuschirurgie sind über Nacht zusammengebro-chen. Arbeiten aus den 70er Jahren zu diesem Themaerscheinen heute anachronistisch. Wer weiû, wie langeunser heute so gesichert erscheinendes Wissen Gültig-keit behalten wird?

Prof. Dr. J. R. SiewertChirurgische Klinik und Poliklinik der TUKlinikum rechts der IsarIsmaningerstraûe 22D-81675 München

Leitthema: Helicobacter '98Ó Springer-Verlag 1998

Chirurg (1998) 69: 233

Editorial: So ein vertrackter HelicobacterJ. R. Siewert

Chirurgische Klinik und Poliklinik (Direktor: Prof. Dr. J. R. Siewert), Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München