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Herausgegeben vonder Bundeszentralefçr politische BildungBerliner Freiheit 753111 Bonn.

Redaktion:Dr. Klaus W. Wippermann!verantwortlich)Dr. Katharina BelweDr. Ludwig WatzalHans G. Bauer

Koredaktion dieser Ausgabe:Nicole Maschler

Internet:www.das-parlament.deE-Mail: [email protected]

Die Vertriebsabteilung derWochenzeitung

[email protected]

Saar-Blies-Gewerbepark / In der Lach 8,66271 Kleinblittersdorf-Hanweiler,Telefon !0 68 05) 61 54 39,Fax !0 68 05) 61 54 40,E-Mail: [email protected],nimmt entgegen:

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* Bestellungen von Sammel-mappen fçr die Beilagezum Preis von Euro 3,58zuzçglich Verpackungskosten,Portokosten und Mehrwertsteuer.

Die Veræffentlichungenin der BeilageAus Politik und Zeitgeschichtestellen keine Meinungsåuûerungdes Herausgebers dar;sie dienen lediglich derUnterrichtung und Urteilsbildung.

Fçr Unterrichtszwecke dçrfenKopien in Klassensatzstårkehergestellt werden.

ISSN 0479-611 X

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Aus Politik und Zeitgeschichte

Editorial

nMit der Aufnahme von zehnneuenMitgliedslåndern auf demErweiterungsgipfel von KopenhagenimDezember 2002 hat die Europå-ische Union Geschichte geschrieben.Damit ist endlich denweltpolitischenVerånderungen seit 1989 Rechnunggetragen und die Spaltung des Kon-tinents weitgehend çberwundenworden. 2007 sollen noch Bulgarienund Rumånien aufgenommenwer-den. Der Tçrkei wurde fçr Ende2004 ein Termin fçr den Beginn vonBeitrittsverhandlungen in Aussichtgestellt. In einer ersten Bilanz desEU-Erweiterungsgipfels kommtBarbara Lippert zu dem Ergebnis,dass trotz des Erfolges der Erweite-rung von 15 auf 25 Lånder die EUeine ¹OSZE-isierungª in Zukunft ver-hindernmçsse. Bei dieser Græûedrånge sich unweigerlich die Fragenach dem inneren Zusammenhaltder Gemeinschaft auf. Der EU stçn-den harte Verteilungskåmpfe çberdie Agenda 2007 bevor. Deshalbmçsse sie sich darçber verståndigen,was Solidaritåt und Lastenausgleichin einer von einem groûenWohl-standsgefålle geprågten Unionheiûe.

n Die Regierungschefs sind inKopenhagen bewusst der Fragenach der Finalitåt der EuropåischenUnion ausgewichen. Peter Glotzwarnt in seinem Essay vor einerÛberdehnung der EU. Wenn Worteeinen Sinn ergåben, dann kænnedie Rede eines fortwåhrenden,umfassenden und unumkehrbarenErweiterungsprozesses nur bedeu-ten, dass das Konzept von der Ein-heit Europas auch die Ukraine undWeiûrussland einschlieûen mçsse.Der Autor steht darçber hinauseiner mæglichen Aufnahme der

Tçrkei skeptisch gegençber. Die EUkænne vor einer zukçnftigen Hand-lungsunfåhigkeit nur dann bewahrtwerden, wenn die Arbeit des EU-Konvents erfolgreich zu Endegebracht werde. Die Verfassung seidie letzte Chance fçr eine gemein-same politische Zukunft Europas.Mit der Frage, welches Modell derKonvent vorschlagen solle, setztsich Frank Decker auseinander. Erdiskutiert, ob die zukçnftigeGemeinschaft parlamentarisch,pråsidentiell oder semi-pråsidentiellverfasst sein soll.

n Bei einem Europa der 25 oderbald 30 Staaten drångt sichzwangslåufig die Frage auf, ob dieGemeinschaft in toto die gleichenIntegrationsschritte vollziehen kannoder ob es ein Europa der unter-schiedlichen Geschwindigkeitensein soll. Christian Deubner gehtder Frage noch, ob eine solche dif-ferenzierte Integration bloûe Ûber-gangserscheinung oder aber Struk-turmerkmal einer kçnftigen EU sei.Der Autor entwirft Zukunftsszena-rien differenzierter Integration undverstårkter Kooperation und fragtnach deren Nutzen fçr die Gemein-schaft.

nMit einem praktischen Verfah-rensproblem ± und zwar derMethode der offenen Koordinie-rung !MOK) ± setzen sichMichaelW. Bauer und Ralf Knæll auseinan-der. Dieses Verfahren, das dieZusammenarbeit der EU mit denMitgliedslåndern regelt, finde jen-seits klar definierter rechtlicherGrundlagen und damit auûerhalbder EU-Vertråge statt. MOK werdeimmer håufiger angewandt, um inder EU zu schnellen Problemlæsun-gen zu kommen.

Ludwig Watzal n

Editorial

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Nach langer, schwerer Krankheit ist Dr. Enno Bartels am 11. Dezember 2002,kurz nach seinem 87. Geburtstag, gestorben. Er gehærte zu den ersten Mitarbei-tern der 1952 gegrçndeten Bundeszentrale fçr politische Bildung, die damalsnoch die Bezeichnung ¹Bundeszentrale fçr Heimatdienstª fçhrte. Von 1967 bis1981 leitete er die Redaktion ¹Aus Politik und Zeitgeschichteª und trug wesent-lich zur Weiterentwicklung und Reputation dieser Zeitschrift bei. Die wissen-schaftliche Darstellung und Analyse gesellschaftlich wie politisch relevanter The-men sowie die Offenheit gegençber kontroversen Positionen, die durch einegroûe Anzahl von Autorinnen und Autoren unterschiedlichster wissenschaftli-cher Disziplinen repråsentiert werden, ist eine bleibende Herausforderung.

Die Redaktion

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Peter Glotz

Die letzte Chance fçr ein vereintes EuropaDer Kopenhagener Gipfel in realistischer Perspektive

Die europåischen Regierungschefs feiern sich wie-der einmal: ¹Heute ist ein groûer Augenblick fçrEuropaª, heiût die Formel dieses Mal. Der Gipfelvon Kopenhagen hat die Beitrittsverhandlungenmit Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, derSlowakei, Slowenien, der Tschechischen Republik,Ungarn und Zypern abgeschlossen und den Bulga-ren und Rumånen versprochen, sie im Jahr 2007als neue Mitglieder der Europåischen Union will-kommen zu heissen. Im Fall der Tçrkei widerstandman noch einmal dem massiven amerikanischenDruck; man begrçsste nur die ¹bedeutendenBeschlçsse, die in Bezug auf die nåchste Phase derBewerbung der Tçrkei um eine Mitgliedschaftgefasst wurdenª. Die Rhetorik zeigt aber klargenug, dass es derzeit unter diesen Regierungs-chefs noch keine Einigung çber die Frage gibt,wann Europa sich selbst çberdehnt. Denn dieRegierungschefs sprechen vom ¹fortwåhrenden,umfassenden und unumkehrbaren Erweiterungs-prozessª. Wenn Worte eine Bedeutung haben, istdies das Konzept einer einzigen Einheit fçrEuropa samt Vorderasien, also unter Einschlussder Ukraine und Weissrusslands. Wer die Situationbei den schon zu Beitrittskandidaten ernanntenoder demnåchst zu ernennenden Staaten kennt,weiss, dass dies alles nur auf eine Freihandelszonehinauslaufen kænnte, nie aber auf eine europåischeMachtorganisation.

Es låsst sich çberhaupt nicht bestreiten, dass derBeitritt der zehn jetzt in Kopenhagen akzeptierenLånder inzwischen unumgånglich war. Die Euro-påische Union war durch reisende Staatsmånneraus vielen Mitgliedsstaaten, Deutschland voran,auf den ¹Big Bangª festgelegt worden. JedesZurçckweichen im letzten Moment håtte in dembetroffenen Beitrittsland verheerende politischeFolgen auslæsen kænnen. Deswegen gab es zu derzielstrebigen und technokratisch brillanten Arbeitdes Erweiterungskommissars Gçnter Verheugenkeine Alternative.

Gerechterweise muss man auch darauf hinweisen,dass die europåischen Staatschefs in vorletzterMinute die Gefahr witterten, die sie durch ihreeigene Politik heraufbeschworen hatten, nåmlich,dass die Erweiterung zum Monstrum, zur entschei-

dungsunfåhigen Gremien-Galaxie fçhren kænnte.Der Beschluss von Laeken, der mit dem ¹Konventzur Zukunft Europasª eine Art rudimentårer Kon-stituante ins Leben rief, war der Versuch, sich ameigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. DieErweiterung der Europåischen Union, das hatteman erkannt, war ohne Alternative. Gleichzeitigwar die Vertiefung der EU in Nizza gescheitert.Dort hatte man zwar einen Vertrag zusammenge-kleistert, dieser sah aber keine Prozeduren vor, mitdenen eine Europåische Union mit 25 !oder garmehr) Mitgliedsstaaten handlungsfåhig wåre. Alsogab man dem Konvent die Aufgabe, eine ¹Verfas-sungª Europas zu entwerfen, genauer: einer erneu-ten Regierungskonferenz Vorschlåge fçr eine kon-sistente Neuordnung der bisherigen Vertrågeeinschlieûlich einer klaren Kompetenzordnungund einer neuen Architektur vorzulegen. Die Par-tie ist offen. Die Begeisterungsrufe von Kopenha-gen sind nur berechtigt, wenn sie durch einen vomKonvent entwickelten und von den Regierungs-chefs akzeptierten Verfassungsvertrag flankiertwerden, der dafçr sorgt, dass sich die EuropåischeUnion vom Heiligen Ræmischen Reich DeutscherNation zur Zeit des Reichdeputationshauptschlus-ses 1803 unterscheidet.

Am Ende des Jahres 2002 hat es keinen Zweck,çber verschçttete Milch zu greinen. Jetzt geht eseinzig und allein darum, den Konvent zum Erfolgzu machen. Wie wichtig viele Staaten das nehmen,zeigt die Tatsache, dass Belgien, Spanien, Deutsch-land und Frankreich ihre Auûenminister in dieseKonstituante entsandt haben. Der Vorentwurf desPråsidiums des Konvents fçr solch einen Verfas-sungsvertrag, den der Konventspråsident Giscardd'Estaing Ende Oktober vorgelegt hat, gibt Anlasszur Hoffnung, dass der Konvent seine Arbeiterfolgreich abschlieûen kænnte. Trotzdem ist eslegitim, einen kritischen Blick zurçck zu werfenund darauf hinzuweisen, wie risikoreich die Strate-gie war, die sich seit 1989/90 in der EuropåischenUnion durchgesetzt hatte.

Die Befçrworter einer schnellen und umfassendenErweiterung der EU hatten immer zwei guteArgumente fçr sich. Das eine richtete sich auf diebittere Ungerechtigkeit, die darin lag, dass als

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Ergebnis des Zweiten Weltkriegs Stådte wie Prag,Budapest, Vilna oder Sofia plætzlich zu einer Pro-vinz Moskaus degradiert worden waren. Natçrlichgehærten diese Stådte und ihre Lånder zu dem,was man bis dahin als ¹Europaª verstanden hatte.Zum zweiten låsst sich çberhaupt nicht bestreiten,dass die viel beredete ¹Perspektiveª, die man frç-heren Ostblocklåndern mit dem Versprechen gab,Mitglied der Europåischen Union zu werden, dieDemokratisierungsprozesse in diesen Lånderngewaltig beschleunigte, gelegentlich sogar erstermæglichte. Die Bankensysteme, Wettbewerbsre-geln oder Verbandsstrukturen mægen bis heuteunzureichend sein. Im Prinzip aber erzwang dieeuropåische Perspektive Grundrechtskataloge undMinima Moralia, die nicht zu Stande gekommenwåren, wenn man jene Staaten sich selbst çberlas-sen håtte.

Mit der kçhnen Entscheidung, nicht auf Assoziati-onsabkommen, sondern auf Vollmitgliedschaft fçreine groûe Zahl von Staaten zu setzen, ging manaber auch erhebliche Risiken ein. Die wichtigstenwaren nicht wirtschaftlicher Art, obwohl derartigeVereinigungsprozesse ± wie die deutsche Wieder-vereinigung plastisch zeigt ± um vieles teurer zusein pflegen, als sie kalkuliert werden. Úkono-misch mag das Argument richtig sein, dass die Úff-nung des europåischen Binnenmarktes fçr weiterePartner auf lange Sicht soviel Wachstum produ-ziert, dass die Kosten aufgefangen werden kænnen.Der Kern des Problems liegt vielmehr in der politi-schen Verarbeitungsfåhigkeit einer EuropåischenUnion, die ja nicht nur aus Integrationistenbesteht, sondern der auch viele Lånder mit na-tionalstaatlicher, intergouvernementaler Traditionangehæren. Wçrde die Erweiterung nicht eine guteGelegenheit sein, alle integrationistischen Ele-mente abzustreifen und die EU in einen losenStaatenbund mit gemeinsamem Markt zu verwan-deln?

Im Ûbrigen zeigt die Entwicklung der letzten 13Jahre deutlich: Es gibt zu viele çberzeugte Euro-påer, die weniger eine europåische Machtorganisa-tion als einen Talking Shop, eine çbernationaleMusterdemokratie, ein neues Athen, eine Artzweiten Europarat wollen. Das ist jene idealisti-sche Tradition, die bei Woodrow Wilsons hoch-herziger Unkenntnis der europåischen Realitåtbegann, sich im Vælkerbund fortsetzte und nach1989 in vielen feierlichen Tagungen in wunderba-ren Barocksålen kulminierte, in denen Auûenmi-nister, frçhere Dissidenten aus kommunistischenLåndern, professorale Abendlånder und links-grçne Idealisten die ¹europåische Identitåtªbeschworen. ¹Erweiterung und Vertiefung der

Unionª, pflegten die Festredner zu sagen, ¹sindkeine Gegensåtze, sondern bedingen sich gegen-seitig.ª Man redete von Adam Mikewitz, ThomasMasaryk, Graf Coudenhove-Calergi und JeanMonnet. Wer aber die kçnftige Finanzierung derAgrarpolitik, die Umverteilung der Strukturfonds,die Probleme des Binnenmarkts oder die Koordi-nierung der Finanzpolitik in Europa ansprach,wurde zum Banausen gestempelt. Das gab es auchin Kopenhagen. ¹Was?ª, fragten viele Journalistenempært, man rede angesichts der ¹Geschichteªçber Milchquoten, Hartweizen, Úkopunkte undschadhafte Atomkraftwerke? Viele Europåer wer-den noch lernen mçssen: Es geht immer um Hart-weizen und Milchquoten. Einigungen çber solcheFragen sind wichtiger als die ¹Heute ist ein groûerAugenblickª-Rhetorik.

Wenn man den Gipfel von Kopenhagen trotzdemgelassen kommentieren kann, liegt das an derArbeit des Konvents. Die dort versammeltenDelegierten des Europåischen Parlaments, dernationalen Parlamente, der Regierungen und derEuropåischen Kommission ± die Vertreter der Bei-trittslånder eingeschlossen ± mægen mit zægerli-chen Grundsatzdebatten begonnen haben. Inzwi-schen hat ihre Arbeit Fahrt bekommen. Dieunfruchtbaren Grundsatzfragen sind abgehakt. Sielauteten zum Beispiel: Kann es fçr einen Verbundvon 25 Nationalstaaten çberhaupt eine ¹Verfas-sungª geben? Wollen wir das ¹Dingª, wie TimothyGarton Ash die EU genannt hat, zu einem Staa-tenbund, einem Bundesstaat oder einem ¹Staaten-verbundª machen? Wollen wir die existierendenVertråge inkorporieren oder partiell oder vollstån-dig aufheben? Seitdem der viel kritisierte Giscardd'Estaing mit seinem Pråsidium das berçhmte¹Skeletonª, den Vorentwurf eines Verfassungsver-trags, vorgelegt hat, steckt der Konvent zutiefst ineiner produktiven Diskussion hæchst praktischerFragen. Er hat die Chance, einen in sich konsisten-ten Entwurf eines zweiteiligen Verfassungsvertra-ges vorzulegen; einen ersten Teil, der die Strukturdes Regierens festlegt, und einen zweiten, der dieeher technischen Fragen regelt und hunderte derBestimmungen aus den alten Vertrågen çberneh-men dçrfte. Nach dem Ende der Konventsberatun-gen allerdings wird es darauf ankommen, dass eineRegierungskonferenz diesen Verfassungsvertragakzeptiert. Ob die Regierungschefs sich aufraffenwerden, die zweifellos immer çbrig bleibendenBedenken zu çberwinden, und ob ihre Parlamenteund Vælker dies akzeptiert werden, bleibt eineoffene Frage.

Dies ist nicht der Ort, die zahlreichen Streitpunktedarzustellen und Kompromissvorschlåge zu ma-

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chen. Im Prinzip ist klar: Wenn die EuropåischeUnion eine handlungsfåhige Einheit werden will,muss sie das Veto an mæglichst vielen Stellenabschaffen und Mehrheitsentscheidungen zulas-sen. Die Legislative wird zwei Kammern haben:Rat und Europåisches Parlament. Die Zuståndig-keiten von Mitgliedsstaaten und EU sind klarabzugrenzen, das Parlament muss çber die Finan-zen, die der EU von den Mitgliedsstaaten zuge-standen werden, frei entscheiden kænnen wie jedesnationale Parlament. Nur so kann man einenZustand çberwinden, den ein frçherer Kommissi-onspråsident !Gaston Thorn) einmal mit der resig-nierten Bemerkung charakterisiert hat: ¹Regiertwird nicht. Die Kommission schlågt vor, das Parla-ment drångt, und nichts geschieht.ª

Um deutlich zu machen, was fçr lebensentschei-dende Konflikte zur Debatte stehen, seien ledig-lich drei Probleme herausgegriffen. Es handeltsich um die ¹Repråsentanzª, das ¹Gesichtª derUnion, um die Fragen also, wer in diesem Staaten-verbund die Initiative haben soll, wer Mitgliedwerden und wer Nachbar bleiben soll.

Die berçhmte Frage Henry Kissingers ist bekannt:¹Was ist die Telefonnummer der EuropåischenUnion?ª Um dieses Problem zu læsen, hat ein pro-minentes Trio, im Konvent schnodderig ¹ABCª!Aznar, Blair, Chirac) genannt, einen problemati-schen Vorschlag gemacht. Die halbjåhrige Pråsi-dentschaft des Europåischen Rates solle zuGunsten einer langfristigen Læsung abgeschafftwerden. Warum kænne man nicht einen frçherenRegierungschef oder Auûenminister fçr eine Zahlvon Jahren zum Pråsidenten des EuropåischenRates wåhlen?

Die Absicht ist klar: Wird solch eine ¹Figurªgeschaffen, ist der Kommissionspråsident zumStaatssekretår herabgestuft. Deshalb der deutscheGegenvorschlag, den der Bundeskanzler Schræderallerdings schon mit manch æffentlichen Øuûerun-gen in Frage gestellt hat: Der Kommissionspråsi-dent soll vom Europåischen Parlament gewåhltwerden. Das Problem sieht fçr Auûenstehendeharmlos und leicht læsbar aus. Natçrlich sind auchKompromisse denkbar; ein Pråsident des Europå-ischen Rates, der etwa die Kompetenzen des deut-schen oder æsterreichischen Bundespråsidentenhåtte, wåre keine Gefahr fçr die Balance der Insti-tutionen in der EU. Man sollte die Intergouverne-mentalen aber nicht unterschåtzen: Sie wollen dieeigentliche Macht beim Europåischen Rat, beidem nach wie vor einstimmig beschlossen wird.Die kleinen Lånder werden dagegen Sturm laufen.

Deutschland wåre gut beraten, sich als Schutz-macht dieser kleinen Lånder zu verstehen.

In einem Nationalstaat kann es keine langen Dis-kussionen geben: Dem Initiativrecht der Regie-rung muss ein Initiativrecht des Parlamentesgegençberstehen. In einem Staatenverbund wieder Europåischen Union mit einem kompliziertenGleichgewicht zwischen Europåischem Rat !Ratder Staatschefs), dem Rat !Ministerrat), dem Par-lament und der Kommission aber treten gånzlichandere Probleme auf. Bisher hat nur die Kommis-sion ein Initiativrecht; sie gilt im Jargon der EU als¹Hçterin der Vertrågeª. Billigt man ± nach demVorbild von Nationalstaaten ± auch dem Parla-ment ein Initiativrecht zu, kann man es dem Ratnicht verweigern. Am Ende liefe das auf ein nichtmehr çberschaubares Pokerspiel zwischen unter-schiedlichen Machtfaktoren hinaus. Auf derEbene eines supranationalen Verbundsystems ist¹Demokratieª etwas anderes als in Deutschland,den Niederlanden, der Slowakei oder Malta. Essieht ¹undemokratischª aus; aber wer das Gleich-gewicht zwischen groûen und kleinen Staaten wah-ren und die Handlungsfåhigkeit des kompliziertenGebildes EU verstårken will, muss die Positionvertreten, dass nur die Kommission ein Initiativ-recht hat. Den nationalen Administrationen ist dasnatçrlich ein Dorn im Auge. Der Konvent solltesie zwingen, mit diesem Dorn weiterzuleben.

Wenn alle mit allen verbçndet sind, bedeutet dasBçndnis nichts mehr. In diesem Sinn ist dieNATO, einst eine måchtige Militårallianz, durchuferlose Erweiterungen entwertet worden; kçnftigwird sich die Supermacht USA die Partner heraus-suchen, die sie will. Die NATO wird man ± wie beider Militåraktion in Afghanistan ± nicht mehr fra-gen. Wenn sich die EU çberdehnt, droht ihr dasgleiche Schicksal.

In Kopenhagen wurde dieses Problem am Beispielder Tçrkei diskutiert. Die Vereinigten Staaten, dieohnehin kein çberragendes Interesse daran haben,dass aus der Europåischen Union eine funktionie-rende Machtorganisation wird, drångten in stau-nenswerter Direktheit auf einen Beitrittsterminfçr die Tçrkei. Auf der Stelle bildete sich einebemerkenswerte Koalition zwischen der Super-macht, welche die Tçrkei als territorialen Flug-zeugtråger, Energiehafen und Vormacht der Turk-Vælker stårken will, den intergouvernementalenEuropåern, die einen mæglichen Beitritt der Tçr-kei fçr ein gutes Argument halten und es mit derVertiefung der Union nicht zu weit zu treiben,sowie unversalistisch denkenden, multikulturellfçhlenden Idealisten.

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Jeder europåische Realist weiû, dass eine Euro-påische Union, deren demographisch stårksterStaat die Tçrkei wåre, niemals zu einer gemeinsa-men Auûen-, Verteidigungs- oder Wåhrungspolitikfånde. Auch dabei geht es wiederum nur in dritterLinie um wirtschaftliche Fragen. Es ist richtig, dassdas Pro-Kopf-Einkommen der Tçrken nur 22 Pro-zent des EU-Durchschnitts betrågt, aber das ist beiden akzeptierten Beitrittskandidaten Rumånienund Bulgarien auch nicht viel anders. Viel ent-scheidender ist die vællig unbeantwortbare Frage,wie der Konflikt zwischen dem forcierten LaÒzis-mus der tçrkischen Groûstådte und dem Funda-mentalismus des anatolischen Hinterlands ausge-hen wird. Man mæchte wissen, ob ein einziger derBefçrworter eines raschen Beitritts der Tçrkei sichauch nur drei Tage in einem tçrkischen Gefångnisbefinden wollte. Ist es wahrscheinlich, dass in ±sagen wir ± fçnf Jahren ein in der Tçrkei lebenderKurde all die Menschenrechte haben wird, die ihmzustehen? Wird es im Jahr 2007 ± dieses Jahrwurde mehrfach als Beitrittsdatum diskutiert ±mæglich sein, in Ankara oder Istanbul æffentlichdas zu sagen, was das franzæsische Parlament imvorigen Jahr in einem einstimmigen Beschluss fest-gestellt hat: Die Vertreibung der Armenier durchdie Tçrken im Jahr 1915 war ein Genozid? Mankænnte die Liste dieser Fragen noch lange fortset-zen. Wohlgemerkt: Es geht nicht um die Frage, obdie EU einen muslimischen Staat aufnehmenkann. Die EU ist nicht das Habsburger Reich.Wenn sie aber die Tçrkei aufnåhme, wçrde sierasch zu einer Freihandelszone verkçmmern. Dasmag im Interesse mancher Staaten dieser Welt lie-gen. Im Interesse der Mitgliedsstaaten der EUliegt es nicht. Die Tçrkei, aber auch die Ukraine,Weiûrussland, Russland sowie nordafrikanischeStaaten und Staaten des Nahen Ostens mçssenNachbarn bleiben, zu denen eine besondere Bezie-hung entwickelt wird. Giscard hat in seinem Vor-

entwurf zu einer Verfassung dafçr den Artikel 42vorgesehen. Den sollte man nutzen.

Schon diese drei Beispiele zeigen, unter welchemDruck der ¹Konvent zur Zukunft Europasª steht.Wenn er diesen Druck aushålt, liegt das zum einenan den vielfåltigen Erfahrungen der Konventsmit-glieder, die vieles trennt, eines aber verbindet: Siewollen nicht umsonst zusammengekommen sein,sie wollen bei der Begrçndung eines neuen EuropaGeburtshilfe leisten. Zum anderen kænnte es aberauch an ihrem Pråsidenten liegen, dem viel kriti-sierten, als ¹Sonnenkænigª apostrophierten und alsautoritår angefeindeten Giscard d'Estaing. Seinebisherige Arbeit beståtigt die Kritiker nicht.Natçrlich, der Mann ist ein Franzose, kein beweg-licher und voller Kompromisse steckender Luxem-burger. Natçrlich, er hat franzæsische Vorstellun-gen von der Wçrde der Institutionen, die fçr einehollåndische Feministin oder einen æsterreichi-schen Grçnen nicht akzeptabel sein mægen. Natçr-lich, er ist mit allen Wassern gewaschen und wirdmit Sicherheit versuchen, die Verfassungsbestim-mungen, die er fçr notwendig hålt, mit allen lega-len und legitimen Mitteln durchzusetzen. Aber wieviele Politiker gåbe es, die so ausgewiesene Euro-påer sind wie Giscard? Wie viele stçnden zur Ver-fçgung, die den Mut håtten, in umstrittenen Fra-gen so deutlich Farbe zu bekennen wie Giscardbeim Problem des Beitritts der Tçrkei? Wer fålltuns noch ein, wenn wir darçber nachdenken, werein Konventsergebnis auf gleicher Augenhæhe mitden Regierungschefs vertreten kænnte? Der Kon-vent ist die letzte Chance fçr ein vereintes Europa.Vielleicht war es da nicht falsch, einen mæglicher-weise eitlen und herrschsçchtigen, aber hochkom-petenten und durchsetzungsfåhigen Mann an dieSpitze zu stellen, der nichts sehnlicher wçnscht, alsmit einem gelungenen Verfassungsvertrag in dieGeschichte einzugehen?

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Barbara Lippert

Von Kopenhagen bis Kopenhagen: Eine erste Bilanzder EU-Erweiterungspolitik

I. Erweiterung ± unerhærte Begeben-heit oder Routine?

Seit der Grçndung der Montanunion gehært dieAufnahme neuer Mitglieder zu den von den euro-påischen Vertrågen vorgesehenen Handlungsop-tionen. So ist der auf dem Gipfel in Kopenhagenim Dezember 2002 beschlossene EU-Beitritt vonzehn Låndern1 bereits die fçnfte Runde seit derersten Norderweiterung von 1973. Trotz dieserlangjåhrigen und vielfåltigen Erweiterungserfah-rungen stellt sich die Aufnahme neuer Mitgliederjeweils als eine ¹unerhærte Begebenheitª !JohannWolfgang Goethe) dar, zumal wenn sie in die Per-spektive der ¹Wiedervereinigung des Kontinentsª!Joschka Fischer) gerçckt wird. Fçr diese Situationund Herausforderung hat die EU keine spezielleErweiterungs- oder Beitrittspolitik parat, etwa imSinne anderer Gemeinschaftspolitiken oder auchals Teil der Gemeinsamen Auûen- und Sicher-heitspolitik !GASP). Vielmehr stellt die Erweite-rung eine horizontale, also nicht sektoral abgrenz-bare Anforderung dar, die alle Bereiche undEbenen des EU-Systems betrifft.2 Sie bedarf inbesonderem Maûe der politischen Steuerung undstrategischen Fçhrung durch den EuropåischenRat, aber die Erweiterung folgt zugleich der einge-çbten Logik der Problembearbeitungs- und Ent-scheidungsprozesse im EU-Mehrebenensystem.

Aus dieser Konstellation ergeben sich Spannungenzwischen den Ebenen sowie zwischen den Hand-lungspolen politisch-bçrokratischer Routine einer-seits und strategisch-innovativen Handelns ande-

rerseits. Nicht nur die Regierungen und dieÚffentlichkeit der Beitrittslånder kritisierten oft-mals die Kluft zwischen der positiven Gipfelrheto-rik und der dilatorischen Verhandlungspraxis imEU-Alltag. Die unerhærte Begebenheit der Oster-weiterung3 und die absehbaren dramatischen Fol-gen einer Groûerweiterung der EU setzten wederrevolutionåre noch konsequent reformerischeKråfte in der EU frei. Vielmehr schob die EU zen-trale Entscheidungen in Bezug auf ihre Erweite-rungsreife immer wieder auf und hielt am Statusquo, so weit es ging, fest. Demgegençber warendie Kandidaten gezwungen, ihre Beitrittsreife ineinem enormen Anpassungsprozess bis zum Zeit-punkt der Mitgliedschaft unter Beweis zu stellen. 4

Unmittelbar nach dem historischen Erweiterungs-gipfel von Kopenhagen wird im Folgenden eineerste Bilanz der Erweiterungspolitik vom Kopen-hagener Beitrittsversprechen 1993 bis zu Kopenha-gen 2002 gezogen.

II. Motive der EU-Erweiterungs-politik

In der Rçckschau auf die neunziger Jahre wirddeutlich, dass fçr die EU nicht die wirtschaftlichenInteressen im Zentrum der Entscheidung fçr dieErweiterung standen. Zwar konnten die allseitserwarteten positiven gesamtwirtschaftlichen Ef-fekte fçr alte wie neue Mitglieder5 als Argumentefçr die Erweiterung genutzt werden. In ersterLinie stçtzte die EU ihre Bereitschaft zur Erweite-rung aber auf politisch-moralische und zunehmendauch stabilitåtspolitische Motive.

Der Beitrag entstand im Rahmen des von der Otto Wolff-Stiftung gefærderten Projekts ¹Die EU-Mitgliedschaft mittel-und osteuropåischer Staaten: Probleme, Perspektiven undStrategien der Erweiterungª.1 Die neuen Mitglieder sind: Estland, Lettland, Litauen,Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn undZypern. Beitrittsverhandlungen werden weiterhin mit Bulga-rien und Rumånien gefçhrt, jedoch noch nicht mit dem Kan-didaten Tçrkei.2 Vgl. Ulrich Sedelmeier/HelenWallace, Eastern Enlarge-ment. Strategy or Second Thoughts?, in: Helen Wallace/Wil-liam Wallace !Hrsg.), Policy-Making in the European Union,Oxford 2000, S. 427±460, hier S. 428.

3 Ich behandele in diesem Beitrag vor allem den Beitritt derStaaten Mittel- und Osteuropas.4 Vgl. die Analysen in Barbara Lippert !Hrsg.), Oster-weiterung der Europåischen Union ± die doppelte Reife-prçfung, Bonn 2000.5 Vgl. Heather Grabbe, Profiting from EU Enlargement,London 2001; European Commission, The economic impactof enlargement, June 2001, !http:www.europa.eu.in/eco-nomy_finance).

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1989, als die alte Ordnung im Osten Europaszusammenbrach, verkçndete die Gemeinschaft aufdem Straûburger Gipfeltreffen sogleich ihrenAnspruch, als das politische und wirtschaftlicheGravitationszentrum auf dem Kontinent zu wir-ken: ein starkes Europa der Integration im Westengegençber einem Europa der Desintegration imOsten. Dieser gesamteuropåische Ordnungsan-spruch ging jedoch nicht unmittelbar einher mitder Entscheidung fçr die Erweiterung. Der Schrittzur Beitrittsofferte war vor allem dem Druck derjungen Demokratien aus Mittel- und Osteuropazuzuschreiben, die effektvoll an die Grçndungs-motive der Union appellierten: Damals wie heutegehe es darum, die integrationswilligen Demo-kratien in einem gemeinsamen Markt und einerpolitischen Gemeinschaft, die çber eigene supra-nationale Institutionen verfçgt, dauerhaft zusam-menzufçhren, um Frieden, Freiheit und Wohlstandzu sichern und sich als eigenståndige politischeKraft in der internationalen Politik zu behaupten.Durch den raschen EU-Beitritt wollten die Re-formlånder die ¹Zieltriadeª6 von Demokratie,Marktwirtschaft und Rçckkehr nach Europa inter-national absichern.

Somit stand das an Werte und Ideen rçckgebun-dene Selbstverståndnis, mithin die politische Iden-titåt der EU auf der Tagesordnung. Ohne Erweite-rung, so das Argument in der EU, bliebe dieeuropåische Integration ein Torso. Allerdings be-fand sich die EG seit Ende der achtziger Jahre ineinem weitreichenden Modernisierungs- undAnpassungsprozess, der ganz im Zeichen der Ver-tiefung stand. Von einer politischen Union, dieimmer staatsåhnlichere Zçge annahm, mehr Zu-ståndigkeiten beispielsweise in der Wåhrungs-sowie der Auûen- und Sicherheitspolitik erhieltund zugleich ihr immer komplizierteres Verhand-lungs- und Mehrebenensystem ausbaute, wurdeaber mehr als eine traditionelle Assoziierungspoli-tik gegençber den Nachbarn erwartet.

Den Vorwçrfen aus den Reihen der Reformlånder,der USA, einiger Mitgliedstaaten und der Úffent-lichkeit, mit den als Europaabkommen etikettier-ten Assoziierungsvertrågen zu zægerlich zu reagie-ren, ja sogar ein ¹ækonomisches Jaltaª7 und einen

neuen Eisernen Vorhang aufzubauen, begegnetedie EU 1993 mit dem ± freilich konditionierten ±Kopenhagener Beitrittsversprechen. Alle assozi-ierten europåischen Staaten, die die politischenund wirtschaftlichen Kriterien erfçllen, sollten bei-treten kænnen. Die EU wollte insbesondere dieKritik zurçckweisen, ein geschlossener Club derreichen Westeuropåer zu sein, der nur die EFTA-Nettozahler !wie 1995 vollzogen) aufnimmt unddie armen Vettern drauûen vor der Tçr stehenlåsst. Dies widersprach dem Selbstbild der EU alseiner offenen Gemeinschaft fçr alle Demokratienin Europa. Die EU akzeptierte darçber hinausauch den moralisch-politischen Anspruch der Mit-tel- und Osteuropåer auf eine Mitgliedschaft inder EU und interpretierte die Osterweiterung alsein ¹Gebot historischer Gerechtigkeitª8 und als¹politische Notwendigkeit und . . . historischeChanceª9.

Diese Form von ¹rhetorical actionª10 und poli-tisch-normativer Argumentationsweise leitete dieEU auf einen Pfad, von dem sie nur mehr schwerabgehen konnte. Auch jene Regierungen, die wiedie spanische oder franzæsische deutliche Skepsisgegençber dem Tempo und Sorgen wegen der Fol-gen der Erweiterung åuûerten, sahen keine Mæg-lichkeit, sich offiziell diesem Pro-Erweiterungs-kurs der EU zu widersetzen. So machte keinMitgliedstaat im Erweiterungsprozess von seinerVetomacht Gebrauch. Der Kopenhagener For-melkompromiss von 1993 war jedoch ein politi-sches Versprechen ohne Programm und Strategieund vor allem ohne einen ausformulierten Kon-sens çber die interne Lastenteilung sowie die not-wendige Tiefe von Politikreformen im Zuge derErweiterung.

Heute wird die Erweiterungspolitik von den EU-Organen vor allem mit der Zielsetzung begrçndet,Stabilitåt in den unmittelbaren Nachbarschafts-raum zu projizieren. Das Stabilitåts- und Pazifizie-rungsargument hatte angesichts des Kosovo-Kriegs 1999 an breiter Zustimmung in der EUgewonnen und lag den Entscheidungen des Euro-påischen Rates von Helsinki zugrunde: Sechs wei-tere Lånder wurden in die Beitrittsverhandlungeneinbezogen; der Tçrkei wurde Kandidatenstatus

6 Michael Dauderstådt, Interessen und Hindernisse bei derEU-Osterweiterung. Die Rolle des ¹acquis communautaireª,Politikinformation Osteuropa Nr. 98 der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2002, S. 6.7 Jacek Saryus-Wolski, The Reintegration of the Old Con-tinent: Avoiding the Costs of Half-Europe, in: Simon Bulmer/Andrew Scott !Hrsg.), Economic and Political Integration inEurope: Internal Dynamics and Global Context, Oxford±Cambridge 1994, S. 19±28, hier S. 20.

8 Gerhard Schræder, Rede des Bundeskanzlers vor demSejm, 6. Dezember 2000 in Warschau !http://www.botschaft-polen.de/reden/schr061200s.html).9 Europåischer Rat von Madrid, Schlussfolgerungen desVorsitzes, 16. Dezember 1995, Punkt III A.10 Frank Schimmelfennig, The Community Trap: LiberalNorms, Rhetorical Action and the Eastern Enlargement ofthe EuropeanUnion, in: International Organization, !2001) 1,S. 47±80, hier S. 68.

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zuerkannt, und auch die Lånder des westlichenBalkans erhielten eine Beitrittsperspektive. Diegeostrategische Zielrichtung und Motivation derErweiterungspolitik war allerdings bei einigenMitgliedstaaten, wie etwa Groûbritannien undauch Deutschland, schon Anfang der neunzigerJahre stark ausgeprågt. Mit der Entscheidung vonHelsinki wurde aber mæglicherweise ein Paradig-menwechsel von der integrations- zur auûen- undstabilitåtspolitischen Raison der Union eingeleitet,der als Hypothek fçr die EU-25 nachhaltigeBedeutung haben kann.11

III. Motoren und Architektender Erweiterungspolitik

In der Erweiterungspolitik sind die Mitgliedstaa-ten gemåû dem Beitrittsartikel 49 des EU-Vertra-ges die ¹Herrenª des Geschehens. Die Funktiondes Leitliniengebers haben vor allem die Staats-und Regierungschefs im Europåischen Rat ausge-çbt. Zu nennen sind hier die Weichen stellendenEntscheidungen von Kopenhagen 1993, die Verab-schiedung einer Heranfçhrungsstrategie auf demGipfel von Essen 1994, der Startschuss fçr dieEræffnung von Beitrittsverhandlungen auf demGipfel in Luxemburg 1997, die Entscheidungendes Gipfels von Helsinki 1999 und schlieûlich derhistorische Erweiterungsgipfel von Kopenhagen.Damit hat der Europåische Rat jeweils Zielvorga-ben und Vorfestlegungen getroffen, die der Erwei-terungspolitik Dynamik und Richtung gaben.

Im Europåischen Rat sind darçber hinaus dieFåden von Erweiterungs- und Vertiefungspolitikzusammengelaufen. Hier lagen zugleich die græû-ten Schwåchen der Erweiterungspolitik. Denn dieKonsensentscheidungen des Europåischen Ratesblieben immer Stçckwerk: Ein Gesamtkonzept fçrdie institutionellen und politischen Reformeneinerseits und die Erweiterung andererseits konntewegen der unterschiedlichen aktuellen und sekto-ralen Interessen sowie der divergierenden europa-politischen Strategien und Zukunftsvorstellungenunter den Mitgliedstaaten nicht in Angriff genom-men werden. Deshalb musste die Erweiterungspo-litik seit 1993 in vielen oftmals hart umkåmpfteninkrementalistischen Schritten entwickelt und vor-angetrieben werden. Dazu waren immer wieder

Entscheidungen auf hæchster Ebene notwendig,die maûgeblich von der Kommission Santer undProdi vorbereitet wurden. Auch diejenigen Mit-gliedstaaten, welche die politisch-normative Di-mension der Erweiterung anerkannten, verfolgtenja zugleich ihre Interessen an der Vertiefung oderihr Interesse, den verteilungspolitischen Statusquo aufrechtzuerhalten. So war zum Beispiel nurdie deutsche Bundesregierung sowohl ein starkerVerfechter der Erweiterung als auch der Vertie-fung der Integration, was eine strategische Koaliti-onsbildung fçr die Erweiterung çber Groûbritan-nien und die skandinavischen Lånder hinausdeutlich erschwerte. Deshalb drohte das Momen-tum fçr die Fortsetzung der Erweiterungspolitikauch immer wieder zu verflachen.

Von Kopenhagen bis Kopenhagen hat die Kom-mission als Motor der Erweiterung gewirkt. Siehat ihre traditionell vielfåltige Rolle im Erweite-rungsprozess ausgebaut und politisch akzentuiert.Schon unter Pråsident Jacques Delors erkannte siemit Blick auf den Sonderfall der Eingliederung derneuen Bundeslånder die Katalysatorfunktion derOsterweiterung fçr die beschleunigte Entwicklungder Politischen Union. Die Kommission war somitder Gralshçter der Doppelstrategie von Vertiefungund Erweiterung. Der Vertiefung wurde freilich inder Praxis die !zeitliche) Prioritåt zugewiesen. DieKommission war zudem der Architekt der Heran-fçhrungsstrategie und hat auf beispiellose Weiseden Vorbereitungs- und Anpassungsprozess in denBeitrittslåndern begleitet, çberwacht und dirigiert.In dieser Hinsicht wurden mit den jåhrlichen Fort-schrittsberichten, den Beitrittspartnerschaften undden nationalen Umsetzungsplånen, den Twinning-Programmen zur Entsendung von Langzeitbera-tern aus den Mitgliedstaaten in die Beitrittslåndersowie mit dem Ausbau der FærderinstrumentePHARE, ISPA und SAPARD neue Instrumenteund Strategien in die Erweiterungspolitik einge-fçhrt. Der personelle, administrative und politi-sche Aufwand, mit dem die Kommission unterKommissar Verheugen und auch die Mitgliedstaa-ten die Heranfçhrungsstrategie betrieben, signali-sierte das Ausmaû der noch mangelhaften Bei-trittsfåhigkeit der Kandidatenlånder, aber auchdas Bestreben der EU, ¹perfekte Mitgliedstaa-tenª12 zu erziehen. Der effektive Beitritt wird aberden Abschied vom Paternalismus der Kommissionmit sich bringen mçssen. Ihre Ambitionen, durchSchutzklauseln hinsichtlich des Binnenmarktes und

11 Vgl. Werner Weidenfeld, Die Bilanz der EuropåischenIntegration 1999/2000, in: ders./Wolfgang Wessels !Hrsg.),Jahrbuch der Europåischen Integration 1999/2000, Bonn2000, S. 13±24, hier S. 20 f.

12 Alan Mayhew, Enlargement of the European Union: AnAnalysis of the Negotiations with the Central and EasternEuropean Countries, Sussex European Institute, WorkingPaper, No. 39/2000, S. 10.

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Programme zur Steigerung der administrativenund institutionellen Kapazitåten der neuen Mit-glieder diese Politik çber den Zeitpunkt des Bei-tritts hinaus fortzufçhren und als Hçterin derBeitrittsvertråge13 die Implementation streng zukontrollieren, werden zunehmend auf Widerståndeder dann gleichberechtigten neuen Mitglieder sto-ûen.

Das Europåische Parlament spielt traditionellkeine Hauptrolle in der Erweiterungspolitik, son-dern folgte weitgehend den Zielvorgaben undStrategien des Europåischen Rates und der Kom-mission. Es begleitete jedoch intensiv, vor allemdurch seinen Ausschuss fçr auswårtige Angelegen-heiten unter dem Vorsitz von Elmar Brok, sowohldie Arbeit der EU-Institutionen als auch die politi-sche und wirtschaftliche Entwicklung in den Kan-didatenlåndern.14 Geschickt hat die Kommissiondie Forderung des Europåischen Parlaments vomNovember 2000 aufgegriffen, wonach die neuenMitglieder an den Europawahlen im Juni 2004 teil-nehmen sollen. Mit der entsprechenden Proklama-tion des Europåischen Rates in Gæteborg im Juni2001 wurde die jahrelange Debatte çber einDatum fçr den Beitritt beendet. Die Entwicklungder æffentlichen Meinung blieb çber den gesam-ten Verhandlungszeitraum sehr zurçckhaltend.Besonders krass ist die Ablehnung der Erweite-rung in Frankreich. Dort sowie in Deutschland,Ústerreich und Groûbritannien liegt die Zustim-mung zur Erweiterung unter dem EU-Durch-schnitt.15 Vom Sinn und den Chancen der Er-weiterung mçssen die Unionsbçrgerinnen und-bçrger noch çberzeugt werden.

IV. Verfahren und Kriteriendes Beitritts

Die EU-Akteure agierten in einem komplexenUmfeld und unter neuen oder zugespitzten Bedin-gungen. Zu verweisen ist zunåchst auf die Zahlvon dreizehn Bewerberlåndern16, dann auf diebesonderen postkommunistischen Problemlagen

der Staaten Mittel- und Osteuropas sowie aufderen relative Armut17 und wirtschaftliche Moder-nisierungsrçckstånde. Schlieûlich sind die einmalighohen Anforderungsqualitåten des aktuellenacquis communautaire und die Bestrebungen derEU zu nennen, parallel zur Erweiterung dieReform und Vertiefung der europåischen Integra-tion in politischen und institutionellen Kernberei-chen voranzutreiben.

Die Kopenhagener Beitrittskriterien haben zutransparenten und objektivierten Bewertungsver-fahren beigetragen und boten ein stabiles, immerwieder verfeinertes Prçfraster, das vor allem inden seit 1998 jåhrlich vorgelegten Fortschrittsbe-richten der Kommission Anwendung fand. DieErfçllung der politischen Beitrittskriterien war dieVoraussetzung fçr die Aufnahme von Verhandlun-gen; die Erfçllung der wirtschaftlichen Kriterienzum Beitrittsdatum !funktionsfåhige Marktwirt-schaft und Wettbewerbsfåhigkeit) sind Vorausset-zung fçr den Abschluss der Verhandlungen. DasAcquis-Kriterium !volle Ûbernahme des Besitz-standes, also von rund 14 000 Rechtsakten) wirdnur eingeschrånkt zum Beitrittszeitpunkt erfçllt,wie die groûe Zahl Ûbergangsregelungen signali-siert. Zwar konnte die EU die Durchfçhrung vonfreien Wahlen und den reibungslosen Wechsel vonRegierung und Opposition in den Kandidatenlån-dern beobachten; sie konnte makroækonomischeEckdaten der 13 Kandidaten heranziehen und ver-gleichen, die Rechtsharmonisierung çberprçfenund stichprobenweise auch den Vollzug von EG-Recht kontrollieren ± letztlich musste sie jedocheine politische Entscheidung çber die Beitrittsreifejedes einzelnen Kandidaten treffen. Damit hat sieauch eine Prognose zur politischen und wirtschaft-lichen Konsolidierung der kçnftigen Mitgliedergestellt. Zwar brachte die EU das Prinzip der Dif-ferenzierung bei der individuellen Bewertung derLånder zur Geltung. Je långer jedoch der Ver-handlungsprozess dauerte und je mehr einzelneLånder, wie etwa Polen, die Slowakei, Lettlandoder Litauen, ihren ursprçnglichen Rçckstand auf-holen konnten, desto weniger wurde die tatsåch-liche Trennschårfe und Zielgenauigkeit der Bei-trittskriterien in Bezug auf das Feld der erstenzehn Kandidaten getestet. Deren Abstand zu Bul-garien und Rumånien war hingegen offenkundigund politisch nicht kontrovers.

13 Vgl. Kommissar Verheugen am 9. Oktober 2002 vor demEuropåischen Parlament, SPEECH/02/462, S. 4 .14 Vgl. zuletzt Europåisches Parlament, Bericht zur Er-weiterung, A5±0371/2002 !endg.), 7. November 2002.15 Im Frçhjahr 2002 sprachen sich im EU-Durchschnitt50% fçr und 30% gegen die Erweiterung aus, vgl. Euro-påische Kommission, Eurobarometer, Bericht Nr. 57, Brçssel,September 2002.16 Vgl. U. Sedelmeier /H. Wallace !Anm. 2).

17 2001 lag das durchschnittliche Bruttoinlandsprodukt!BIP) pro Kopf der zehn mittel- und osteuropåischen Kandi-daten bei 43,1% des Durchschnitts der EU-15 !in Kauf-kraftparitåten). Vgl. Europåische Kommission, Auf demWegzur erweiterten Union, SEK !2002), 700 endg¹ Brçssel,9. Oktober 2002, S. 111.

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Das Groûgruppenmanagement der EU hatte aller-dings zur Folge, dass die stårksten und am bestenvorbereiteten Lånder ± zu nennen wåren Ungarnund Slowenien ± die Verhandlungen nicht so schnellwie mæglich abschlieûen konnten. Die EU hat ihreninklusiven Kurs durchhalten kænnen und eineBalance zwischen einem ¹politikdominiertenª undeinem ¹leistungsorientiertenª 18Ansatz gefunden.

V. Erweiterungsfåhigkeit der EU:Angriffe auf den Status quo

Die Erweiterung stellte den institutionellen undverteilungspolitischen Status quo nachhaltig inFrage. Die EU benætigte mehrere Anlåufe, umdie eigene Erweiterungsfåhigkeit proklamieren zukænnen.

In Amsterdam waren 1997 die im engeren Sinneerweiterungsrelevanten Reformen der Institutio-nen auf die nåchste Regierungskonferenz vertagtworden. Bei den Verhandlungen in Nizza 1999 tra-ten latente Positionsdifferenzen und Machtver-schiebungen unter den Mitgliedstaaten, insbeson-dere zwischen Deutschland und Frankreich, offenzu Tage. Das Inkrafttreten des Vertrags von Nizzablieb sogar bis zum positiven Ausgang des zweitenirischen Referendums im Oktober 2002 ungewiss.Im Ergebnis hat der Vertrag von Nizza schwerfålli-gere Entscheidungsregeln mit hohen Hçrden fçrdie erweiterte EU festgelegt: Statt die Abstim-mung mit !qualifizierter) Mehrheit zur Regel zumachen und die Einstimmigkeit auf wenige Fållezu begrenzen, wurde wieder nur eine fallweiseAusdehnung der Mehrheitsentscheidungen be-schlossen. Um gemåû den neuen Abstimmungsre-geln !Mehrheit der Staaten, Stimmen und Bevæl-kerungsquote19) und der Neugewichtung derStimmen fçr alte wie neue Mitgliedstaaten Gestal-tungsmehrheiten in der EU-25 zu erzielen, mçssengrundlegende Konfliktlinien zwischen den Mit-gliedstaaten çberwunden werden.20 Wenn dieseçbergroûen Mehrheiten nicht erreicht werden

kænnen, drohen Pattsituationen und blockierendeMinderheiten den Alltag der EU-25 zu bestim-men. Die Handlungsfåhigkeit, Effizienz und Legi-timitåt der erweiterten Union zu verbessern stehtdeshalb im Zentrum der Arbeiten des Konventszur Vorbereitung der nåchsten Regierungskonfe-renz 2003/2004. Ûber dieses Regieren in der erwei-terten Union werden 25 Mitgliedstaaten entschei-den. Das Ringen in Nizza um die Neugewichtungder Stimmen im Rat und die Sitze im Parlamentder erweiterten EU signalisierte, dass das Verhålt-nis zwischen groûen und kleinen Mitgliedstaatenwohl auch kçnftig konfliktreicher wird.

Auch der Haushalt der EU musste an die Anfor-derungen der Erweiterung angepasst werden. Aufdem Berliner Gipfel wurde 1999 im Rahmen derAgenda 2000 eine Obergrenze fçr die Eigenmittelbei 1,27 Prozent des Bruttosozialprodukts !BSP)der EU bis 2006 festgelegt. Darçber hinaus verein-barte die EU nur kleinere Ønderungen auf derEinnahmenseite: Weder wurde der Rabatt fçrGroûbritannien abgeschafft bzw. ein allgemeinerKorrekturmechanismus eingefçhrt, noch wurdedie vællige Umstellung auf BSP-bezogene Beitrågevollzogen oder gar eine echte eigene Einnahme-quelle !EU-Steuer) geschaffen. Auf der Ausga-benseite schlagen die Agrar- und Strukturpolitikweiterhin mit rund 80 Prozent zu Buche. EineUmstrukturierung des Haushalts mit Blick aufneue Anforderungen wie die Erweiterung, neueNachbarschaftspolitik, innere und åuûere Sicher-heit oder interne Politiken gelang so nicht. Auchbei den Politikreformen çberwogen Kurskorrektu-ren alle Bestrebungen, den Trend umzukehren.

Entsprechend stark umkåmpft waren die Mittel,welche die EU-15 fçr die Erweiterung bereitstel-len wollte. In der Agenda 2000, die die deutschePråsidentschaft nur mit allergræûter Mçhe und derBereitschaft zum ± wie sich zeigen sollte ± faulenKompromiss im Mårz 1999 abschlieûen konnte,waren fçr die Erweiterung um sechs Lånder 58,1Mrd. E fçr die Jahre 2002±2006 vorgesehen. Zwarverlangten die Annahmen çber den Zeitpunkt derAufnahme und die Zahl der Beitrittslånder eineAktualisierung des Zahlenwerks im Jahr 2002.Was von der Kommission im Januar 2002 vorge-schlagen und im Groûen und Ganzen vom Euro-påischen Rat in Brçssel im Oktober als Finanz-rahmen21 vereinbart wurde, kommt jedoch in

18 Vgl. Andr�s Inotai, Droht der ¹Big Bangª? Die Er-weiterungsstrategie ist ungençgend durchdacht, in: Inter-nationale Politik, 1 !2002), S. 27±32.19 In der EU-15 sind also 13 Staaten, 232 Stimmen!72,27%) und die Bevælkerungsquote 62% notwendig fçreine qualifizierte Mehrheit. Die zehn neuen Mitglieder ver-fçgen mit 82 nicht çber die Sperrminoritåt, die bei 90 Stim-men liegt.20 Vgl. Barbara Lippert/Wolfgang Bode, Die Erweiterungund das EU-Budget ± Reformoptionen und ihre politischeDurchsetzbarkeit, in: integration, !2001) 4, S. 369±389, ins-besondere S. 363.

21 Vgl. Informationsvermerk, Gemeinsamer Finanzrahmen2004±2006 fçr die Beitrittsverhandlungen. Mitteilung derKommission, SEK !2002) 102 endg., Brçssel, 30. Januar 2002;Europåischer Rat, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Brçssel,24./25. Oktober 2002.

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Teilen einer Revision gleich. Denn die EU rçcktevon der ursprçnglichen Argumentation ab, dassdie Bauern in den Beitrittslåndern keinenAnspruch auf Preiskompensationen, so genannteDirektzahlungen, haben. Wåhrend die EU in denAgenda-2000-Verhandlungen die Gegenargu-mente ± nåmlich die Gefahr der Zwei-Klassen-EUund Wettbewerbsnachteile fçr die Bauern in denneuen Mitgliedstaaten ± noch abwies, stçtzte dieKommission ihre neuen Positionsentwçrfe aufeben diese Einwånde. Auch die Kompromisslinie,dass die allmåhliche Einfçhrung der Direktzahlun-gen an ein allmåhliches Auslaufenlassen fçr alleMitglieder !¹no phasing in without phasing outª)gekoppelt wçrde, war seit dem deutsch-franzæsi-schen Vorgipfel zum eigentlichen Brçsseler Gipfelvom Oktober 2002 vom Tisch.

Diejenigen, die wie Deutschland, die Niederlande,Groûbritannien und Schweden eine Reform derAgrarpolitik vor der Erweiterung auf den Wegbringen wollten, sind weitestgehend gescheitert.Die EU-Akteure verhalten sich in ihrer Mehrheitwie die Leute von Oblomowka,22 die dumpf undsorglos in einem abgeschiedenen Erdenwinkel dieSegnungen der Zuteilungswirtschaft erwarten. DerTop-down-Ansatz des EU-Verteilungssystems hatsich gegençber einem an transparenten Kriterienund Zielen orientierten Ansatz bei der Agrar- undRegionalpolitik massiv behauptet.23

Das Erweiterungsprojekt wirkte also in der Ver-gangenheit nicht als Hebel fçr fundamentale Neu-erungen. Nicht zuletzt die Erweiterungsbefçr-worter schreckten davor zurçck, Reformen zurVorbedingung der Erweiterung zu machen. DieEU ging in Kopenhagen ohne ausreichende Re-form der Institutionen, Politiken und Finanzen indas Endspiel um die Erweiterung.

VI. Ûbergangsregelungen undBeitrittsreife

Die konkreten Bedingungen zur Ûbernahme desAcquis hat die EU in einem fast fçnfjåhrigen Ver-handlungsmarathon mit den Beitrittslåndern aus-gehandelt. Am Ende ging es wie immer um Einzel-anliegen, wie ¹Polnischen Weinª, die Luchsjagd,

Milchquoten und Schafskopfpråmien. Die EU hatin den Beitrittsvertrågen mit den zehn Lånderninsgesamt rund 250 Ûbergangsregelungen verein-bart.24 Sie gehen in der groûen Mehrheit auf For-derungen der Kandidaten, aber teilweise auch aufForderungen der EU !z. B. Arbeitnehmerfreizç-gigkeit, Kabotage) zurçck. Sie beziehen sich aufetwa knapp die Hålfte der 30 Verhandlungskapitelund sind jeweils zeitlich begrenzt und inhaltlichdefiniert. Besonders viele Ûbergangsregelungenbetreffen die Kapitel Umwelt !48), Steuern, Land-wirtschaft und Verkehr. Besonders lange Ûber-gangsfristen sind fçr Umwelt !teilweise bis 2015)und beim Landerwerb fçr Unionsbçrger !7±12Jahre) vorgesehen. Aufgrund der Vielzahl vonÛbergangsregelungen wird die erweiterte EUdurch strikte Ûberwachung die einheitliche An-wendung des EU-Rechts sicherstellen und derTendenz in den neuen !und alten?) Mitgliedstaa-ten entgegenwirken mçssen, Implementations-tempo und Qualitåt zu drosseln. Die Kommissionhat darçber hinaus in ihren letzten Fortschrittsbe-richten auf neuralgische Punkte der Beitrittsreifewie etwa die weite Verbreitung von Korruption inder staatlichen Verwaltung der Beitrittslånder hin-gewiesen. Defizite liegen generell bei den admini-strativen und institutionellen Kapazitåten zumVollzug des EU-Rechts.

VII. Das Endspiel um das Finanz-paket in Kopenhagen

Die Staats- und Regierungschefs suchten auf demGipfel in Kopenhagen im Dezember 2002 vorallem eine Einigung çber das Finanzpaket fçr dieErweiterung.25 Strittig waren drei Punkte: dieHæhe der Direktzahlungen, der Haushaltsaus-gleichzahlungen und der insgesamt fçr die neuenMitglieder bereitgestellten Mittel. Aus der Sichtder EU sollte das Finanzpaket keinesfalls oberhalbder 1999 in Berlin vereinbarten Obergrenze liegen,aus der Sicht der Beitrittslånder sollte die Ober-grenze maximal ausgeschæpft werden.

In Kopenhagen ist vereinbart worden, dass dieDirektzahlungen fçr Bauern in den neuen Mit-gliedslåndern schrittweise eingefçhrt werden. Sieerhalten 2004 Mittel in Hæhe von 25 Prozent !2006

22 Vgl. Iwan Gontscharow, Oblomows Traum !1849),Stuttgart 1987.23 Vgl. z. B. Herbert Brçcker/Christian Weise, Die EU vorder Osterweiterung: Reformchancen im Europåischen Kon-vent nutzen, in: DIW Wochenbericht, Nr. 48/2002, S. 831±838.

24 Abschlieûende Angaben lagen noch nicht vor.25 Vgl. im Folgenden Schlussfolgerungen des Vorsitzes,Europåischer Rat !Kopenhagen) 12.und 13. Dezember 2002.SN 400/02. Informationsstand dieses Abschnitts ist der 15. 12.2002.

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bereits 35 Prozent) des in der EU-15 geltendenNiveaus. In einer Ûbergangszeit von zehn Jahrenwerden sie allmåhlich auf 100 % angehoben.Polen, das zunåchst die volle Hæhe der Direktzah-lungen forderte, wie auch die çbrigen Kandidatenerhalten die Mæglichkeit, die Direktzahlungenaufzustocken, und zwar eingangs bis auf 55 Prozentund 2006 auf 65 Prozent. Diese Subventionen kæn-nen bis 2006 aus EU-Mitteln fçr die Entwicklungdes låndlichen Raums genommen werden, danachaus nationalen Fonds. Fçr die Landwirtschaft inden zehn Låndern werden bis 2006 insgesamt9,8 Mrd. EUR vorgesehen, davon 5,1 Mrd. fçrdie Entwicklung des låndlichen Raums !s. dieTabelle).

Unmittelbar nach dem Beitritt drohten einige Lån-der Nettozahler zu werden, da die Haushaltsbei-tråge !insgesamt etwa 14 Mrd. EUR) sofort abMitgliedschaft abzufçhren sind, die Transfers !z. B.Direktzahlungen, Strukturfonds) fçr das Jahr 2004aber erst im darauffolgenden Haushaltsjahr ausge-zahlt wçrden. Deshalb forderten Kandidatenlån-der einen Rabatt, wåhrend die EU auf voller Bei-tragszahlung bestand. Zum Ausgleich wird die EUnun eine neue Rubrik X fçr eine Cashflow-Fazili-tåt und einen vorçbergehender Haushaltsausgleichin Hæhe von knapp 3,3 Mrd. EUR fçr 2004 bis2006 einstellen. Durch die pauschale Kompensati-onszahlung umging die EU weiter gehende unddauerhafte Ansprçche der Beitrittslånder in den

Ausgabenblæcken Landwirtschaft und strukturpo-litische Maûnahmen und ebenso eine Sonderstel-lung in Bezug auf die Beitragsseite. Dieses Einlen-ken der EU soll verhindern, dass unmittelbar nachdem Beitritt Nachverhandlungen die EU belastenwerden.

Weniger umstritten waren die Mittel fçr die Regio-nalpolitik !Struktur- und Kohåsionsfonds). DerAusgangsvorschlag der Kommission von 25,6 Mrd.wurde vom Europåischen Rat in Brçssel auf 23Mrd. EUR reduziert und schlieûlich im Laufe derVerhandlungen auf rund 21,9 Mrd. EUR zuguns-ten von pauschalen Budgetzuschçssen an Polen !1Mrd. EUR) und Tschechien !100 Mio. EUR) abge-senkt. Wåhrend sich die Gemçter an der Frage derDirektzahlungen erhitzten, ist die græûte Ausga-bendynamik nach 2006 allerdings im Bereich derRegionalpolitik zu erwarten. Bereits gegenwårtigentfållt darauf gut die Hålfte der gesamten Mittelfçr die neuen Mitglieder. Deutlich angehoben wur-den gegençber dem Berliner Agenda-Szenario dieMittel fçr interne Politiken. Von den gut 4,2 Mrd.EUR entfållt knapp ein Drittel auf Ûbergangs-maûnahmen fçr nukleare Sicherheit, ¹Schengenªund den Aufbau von Institutionen. Die EU inve-stiert also in die gemeinsame Sicherheit.

Das Kopenhagener Finanzpaket in Hæhe vonknapp 41 Mrd. EUR unterschreitet also die Berli-ner Obergrenzen von 42,6 Mrd. EUR, liegt aber

Tabelle: Finanzrahmen fçr die Erweiterung 2004±2006 !Mio. E in Preisen von 1999)

SzenarioBeitritt von 10 neuen Mitgliedstaatenim Jahr 2004

2004±2006

SzenarioEuropåischer RatBerlin 19991

Szenarioder KommissionJanuar 20022

Europåischer Rat KopenhagenDezember 20023

Obergrenzen Verpflichtungsermåchtigungen

Landwirtschaft 8 780 9 577 9 791Strukturpolitische Maûnahmen 30 000 25 567 21 847

Interne Politkibereiche 2 460 3 343 4 2564

Verwaltung 1 350 1 673 1 673Mittel fçr Verpflichtungen insgesamt 42 590 40 160 37 5674

Rubrik X5 3 285Obergrenzen Verpflichtungen + Heading X 40 8521 Die Agenda 2000 ging zunåchst von einem Beitritt von 6 Låndern im Jahr 2002 aus; fçr die Periode 2002±2006

war eine Gesamtsumme von 58,1 Mrd. E vorgesehen; Quelle: Europåischer Rat Berlin, Schlussfolgerungen desVorsitzes, 24./25. Mårz 1999.

2 Quelle: Informationsvermerk: Gemeinsamer Finanzrahmen 2004±2006 fçr die Beitrittsverhandlungen, Mitteilungder Kommission, SEK !2002), 102 endg., Brçssel, 30. Januar 2002.

3 Quelle: Europåischer Rat Koppenhagen, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 12./13. Dezember 2002, Anlage I.4 rechnerische Græûe; in Anlage I betrågt die Summe 4 139.5 zusåtzliche Ausgaben fçr besondere Cashflow-Fazilitåten und vorçbergehenden Haushaltsausgleich.

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çber den Beschlçssen des Europåischen Rats vomOktober, der gut 39 Mrd. EUR vorgesehen hatte,und den Kommissionsvorschlågen vom Januar2002. Nachdem also das EU-Budget ausgequetschtwar wie eine Zitrone, konnte der Champagner flie-ûen! Geht der Blick jedoch çber das Finanzpaketvon Kopenhagen hinaus, so ist nahezu alles offen.Vorfestlegungen sind getroffen worden in Bezugauf die Hæhe der Agrarausgaben !Direktzahlun-gen und Marktordnungen) in Hæhe von 330 Mrd.EUR fçr die EU-25 bis 2013. Der EuropåischeRat mahnte zwar an, die Haushaltsdisziplin çber2006 hinaus fortzusetzen. Wie durchsetzungsfåhigdiese Leitlinie in der EU 25 sein wird, bleibt demStreit çber die Agenda 200726 vorbehalten.

VIII. Der weitere Fahrplan

Damit zum Stichtag 1. Mai 2004 der Beitritt wirk-sam werden kann, mçssen in den verbleibenden 16Monaten alle Stationen des Ratifikationsprozesseserfolgreich absolviert werden: Im Februar gibt dieKommission ihre abschlieûende Stellungnahme zuden Beitrittsvertrågen ab, es folgen die Zustim-mung des Europåischen Parlaments mit der abso-luten Mehrheit der Mitglieder und der einstim-mige Beschluss des Rats. Danach wird am16. April 2003 die Beitrittsakte auf dem Gipfel inAthen unterzeichnet. Es folgt die Ratifikation inden 15 EU-Mitgliedstaaten, die ohne Ausnahmezustimmen mçssen, andernfalls ist die Erweiterung!zunåchst) gescheitert. Sollte die Ratifikation ineinem Beitrittsland ± die zumeist Volksabstim-mungen durchfçhren ± scheitern, wçrde der Bei-tritt der çbrigen Lånder aber nicht gefåhrdet. Dieneuen Mitglieder werden uneingeschrånkt an dernåchsten Regierungskonferenz 2003/04 teilneh-men. Ein neuer !Verfassungs-)Vertrag wird erstnach dem effektiven Beitritt unterzeichnet unddann von 25 Mitgliedstaaten ratifiziert werden.

Bulgarien und Rumånien, fçr die das Jahr 2007 alsZieldatum des Beitritts genannt wird, erhalteneine wesentliche verstårkte Heranfçhrungshilfe.Der Tçrkei wurde zugesichert, daû der Europå-ische Rat ± dem dann bereits die neuen Mitgliederangehæren ± im Dezember 2004 auf der Grundlageeines Berichts und der Empfehlung der Kommis-sion entscheiden wird, ob die politischen Kriterienerfçllt sind. Im positiven Fall sollen ohne Verzug

Verhandlungen beginnen. Da die Zypernfrage bisKopenhagen nicht gelæst werden konnte, setzt dieEU zunåchst die Anwendung des Acquis im tçrki-schen Teil der Insel aus.

IX. Ausblick

Die Entscheidung von Kopenhagen ist von histori-scher Tragweite. Acht Lånder, die frçher hinterdem Eisernen Vorhang lagen, treten der EU bei.Damit wird die Teilung çberwunden, die Europanach dem Zweiten Weltkrieg am nachhaltigstenprågte. Seit den Freiheitsrevolutionen 1989 habendie neuen Demokratien die Hauptlast getragen,damit dieser Einigungsprozess gelingen konnte.Die Perspektive der Mitgliedschaft in der EU warfçr sie eine zentrale Voraussetzung, um die hohenAnpassungskosten und das enorme Modernisie-rungstempo auf sich zu nehmen. Die EU hat vonauûen die politische und wirtschaftliche Entwick-lung der Transformations- und Reformlånderabgestçtzt ± und zwar aufgrund ihrer Anziehungs-kraft und mit Hilfe einer zielgerichteten Unterstçt-zung und expliziter Integrationsanforderungen.

Trotz dieser Erfolgsbilanz steht die EU vor groûenProblemen und Fragen. Die Dramatik, die demSprung von der EU-15 zur EU-25 innewohnt,wurde durch die routinierte und professionelleAbwicklung des Verhandlungsmarathons çberla-gert. Dass der Gipfel von Kopenhagen im Schattender Tçrkei-Frage zu stehen drohte, zeigte bereits,dass die EU dringend eine Post-Erweiterungsstra-tegie benætigt. Trågt kçnftig ± etwa gegençber denLåndern des westlichen Balkans oder der Ukraine± eine geostrategische und stabilitåtspolitischbegrçndete Erweiterungspolitik? Kann die EUeine ¹OSZE-isierungª durch eine realpolitischeEntscheidung çber ihre Grenzen verhindern undneuen Nachbarn durch neue Formen der Anbin-dung unterhalb der Mitgliedschaft, aber oberhalbder Assoziierung eine Alternative bieten?

Unmittelbarer drången sich die Fragen nach deminneren Zusammenhalt und der Entscheidungsfå-higkeit der EU-25 auf. Ihr stehen schon bald harteVerteilungskåmpfe çber die Agenda 2007 insHaus. Dafçr ist sie schlecht gerçstet. Beim End-spiel in Kopenhagen ging es ja nicht so sehr umdrei Mrd. EUR mehr oder weniger. Vielmehr fçhr-ten die Nettozahler noch letzte Nachhutgefechtezu den verpassten Reformen der letzten Jahre;und alle 25 Regierungen waren bemçht, die kon-kreten Beitrittsbedingungen so zu fassen, dass sich

26 Vgl. Barbara Lippert, Eine neue Agenda 2007 fçr dieerweiterte EU, Politikinformation Osteuropa Nr. 97 derFriedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2002.

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daraus fçr sie mæglichst gçnstige Startbedingungenfçr die Verhandlungen çber das EU-Budget 2007/13 ergeben. Will die EU nicht wieder wie auf demBasar an die Verabschiedung des neuen Finanzpa-kets fçr die EU-27 !!) gehen, wird eine neue Ver-ståndigung darçber erforderlich, was Solidaritåtund faire Lastenteilung in der erweiterten und voneinem erheblichen Wohlstandsgefålle geprågten

EU heiût. Unverzichtbar ist zunåchst ein erfolgrei-cher Abschluss des Reform- und Verfassungskon-vents, um die Handlungsfåhigkeit der EU zu ver-bessern, alte Zæpfe abzuschneiden !etwa in derAgrarpolitik), Besitzstånde zu prçfen !Kohåsions-und Strukturpolitik) und die vorrangigenZukunftsaufgaben der Union nach Kopenhagen zubestimmen.

BulgarienBulgarienBulgarien

RumänienRumänienRumänien

TürkeiTürkeiTürkei

FIN

GBIRL

D

DK

NLB

S

AF

IP

E

L

GR

Bevölkerung 1,4 Mio.BIP* je Einwohnerin : 9 800

ESTLAND

Bevölkerung2,4 Mio.BIP* 7 700

LETTLAND

Bevölkerung3,5 Mio.BIP* 8 700

LITAUEN

Bevölkerung10,2 Mio.BIP* 11 900

UNGARN

10 EU-Kandidaten, dieab 2004 dabei sein sollen

mit Beitritts-kandidat Türkeiwird noch nichtverhandelt

Bevölkerung0,8 Mio.BIP* 18 500

ZYPERN

Bevölkerung5,4 Mio.BIP* 11 100

SLOWAKEI

Bevölkerung38,6 Mio.BIP* 9 200

POLEN

Bevölkerung10,3 Mio.BIP* 13 300

TSCHECHIEN

Bevölkerung2,0 Mio.BIP* 16 000

SLOWENIEN

Bevölkerung0,4 Mio.BIP* 11 700

(1999)

MALTA

Rumänienund Bulgarien:Beitritt 2007geplant

*nach Kaufkraft*nach Kaufkraft*nach Kaufkraft Quelle: EurostatQuelle: EurostatQuelle: Eurostat

15 EU-Länder379,6 Mio. EinwohnerBIP* je Einwohner 2001 in : 23 200

© Globus8083

Die Erweiterung der EU

Aus 15 werden 25

15 Aus Politik und Zeitgeschichte B 1±2 /2003

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Frank Decker

Parlamentarisch, pråsidentiell oder semi-pråsidentiell?Der Verfassungskonvent ringt um die kçnftige

institutionelle Gestalt Europas

Es tut sich etwas in Brçssel. Kaum beachtet vonden nationalen Úffentlichkeiten sind die Beratun-gen des Europåischen Konvents in ihre entschei-dende Phase getreten. Dabei geht es um nichtsGeringeres als die institutionelle Gestalt Europas,also die Festlegung, fçr welche Politikbereicheeine erweiterte Union kçnftig in welcher Formzuståndig sein soll. Selbst wenn die Letztentschei-dung çber den Verfassungsvertrag am Ende denStaats- und Regierungschefs vorbehalten bleibt,besteht doch kein Zweifel, dass sich das Gescha-cher von Nizza diesmal nicht wiederholen wird.Auf ihrem Gipfeltreffen vor zwei Jahren hattendie Herren der europåischen Vertråge nochgeglaubt, die im Zuge der Osterweiterung notwen-dig werdenden institutionellen Strukturanpassun-gen selbst aushandeln zu mçssen. Mit der Einset-zung des Konvents haben sie sich jetzt verpflichtet,dessen Beratungsergebnisse als verbindliche Ent-scheidungsgrundlage zu akzeptieren. Allein darinliegt im Vergleich zum frçheren Verfahren einbeachtlicher Fortschritt.1

Ob das auch von dem bald vorliegenden Text desVerfassungsvertrags gesagt werden kann, ist eineandere Frage. Das Pråsidium des Konvents ist imOktober mit einem ¹Vorentwurfª an die Úffent-lichkeit getreten, der noch keine inhaltlichenBestimmungen enthålt, wohl aber die Architekturdes auf 46 Artikel ausgelegten Vertragsgebildesvorgibt und damit fçr die weiteren Beratungenwichtige Weichenstellungen vornimmt.2 Genausodçrfte es vom Vorsitzenden, dem ehemaligen fran-zæsischen Staatspråsidenten Giscard d'Estaingauch beabsichtigt gewesen sein, dessen deutliche

Handschrift das Konzept verråt. Das Echo unterden Konventsmitgliedern war ± wie zu erwarten ±geteilt. Wåhrend Fçrsprecher einer bundesstaatli-chen Ausrichtung Europas wie der Christdemo-krat Elmar Brok dem Text eine klare Absageerteilten, lobten andere ihn als ¹hervorragendeGrundlageª fçr die konkrete Ausgestaltung desVertrags !so der SPD-Europaabgeordnete KlausHånsch, der sich als Mitglied des Konventspråsidi-ums zugleich bemçhte, die pråjudizierende Wir-kung des Entwurfs herunterzuspielen).3 Dies låsstfçr die nåchsten Wochen und Monate ein hartesRingen erwarten.

Mit der Entsendung von Joschka Fischer in denKonvent hat die Bundesregierung unterstrichen,dass sie den dortigen Beratungen von jetzt angræûtmægliche Prioritåt einråumt. Damit wird sichihr Gewicht im Konvent zweifellos verstårken. Mitder Person Joschka Fischer wird ja nicht nur derfçr die Europapolitik hauptzuståndige Bundesmi-nister am Verfassungsgebungsprozess unmittelbarbeteiligt sein, sondern auch ein ausgesprochenerBefçrworter supranationaler Integrationsideen,der in seiner inzwischen berçhmten Berliner Hum-boldt-Rede vor zwei Jahren sogar soweit gegangenwar, die Abschaffung des Ministerrates alsReformmaûnahme zu erwågen.4 An seinen damalsvorgetragenen Vorstellungen einer EuropåischenFæderation wird sich der deutsche Auûenministernun messen lassen mçssen. Als europapolitischerVisionår kænnte Fischer aber zugleich jemandsein, der zwischen den Anhångern eines eher inter-gouvernementalen und denen eines eher supra-

1 Vgl. Frank Decker, Die drei Krisen Europas, in: BerlinerRepublik, 4 !2002) 3, S. 12. Zur Kritik der Beschlçsse vonNizza vgl. Karlheinz Neunreither, The European Union inNice: A Minimalist Approach to a Historic Challenge, in:Government and Opposition, 36 !2001) 2, S. 184±208, undStefan Fræhlich, Abschied vom alten System ± die Er-weiterung erfordert drastischere Reformen der EU-In-stitutionen, in: Zeitschrift fçr Politikwissenschaft, 12 !2002) 3,S. 1099±1121.2 Der Entwurf ist abgedruckt in: Frankfurter AllgemeineZeitung !FAZ) vom 29. 10. 2002, S. 8.

3 Vgl. Das Gerippe steht, in: FAZ vom 29. 10. 2002; Das istein guter Start, in: Sçddeutsche Zeitung !SZ) vom 30. 10.2002.4 Vgl. Joschka Fischer, Vom Staatenbund zur Fæderation:Gedanken çber die Finalitåt der europåischen Integration!Rede in der Humboldt-Universitåt in Berlin am 12. 5. 2000),in: Christian Joerges/Yves M�ny/J.H.H. Weiler !Hrsg.),What Kind of Constitution for What Kind of Polity? Re-sponses to Joschka Fischer, San Domenico 2000, S. 5±17. ZurKritik vgl. Frank Decker, Institutionelle Entwicklungspfadeim europåischen Integrationsprozess. Eine Antwort auf Ka-tharina Holzinger und Christoph Knill, in: Zeitschrift fçr Po-litikwissenschaft, 12 !2002) 2, S. 633 f.

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nationalen Integrationskurses vermittelt und dieLetzteren mit dem schlieûlich gefundenen Kom-promiss versæhnt. Denn auf einen solchen !ausSicht der ¹Supranationalistenª unbefriedigenden)Kompromiss wird der Verfassungsvertrag, wennman von den divergierenden Interessenlagen dernationalen Mitgliedsstaaten ausgeht, am Endewohl hinauslaufen.

I. Das semi-pråsidentielle Systemals falsche Alternative

Im Zentrum der Diskussion um das kçnftige Insti-tutionensystem steht der von Giscard ventilierteVorschlag eines von den nationalen Regierungenzu ernennenden europåischen Pråsidenten, der andie Stelle der bisherigen halbjåhrlich rotierendenRatspråsidentschaft treten soll. Auch wenn derVorentwurf sich çber dessen Bestellungsmodus,Amtszeit und Kompetenzen ausschweigt, werdendie Beratungen damit in eine Richtung gelenkt,die den Befçrworten des intergouvernementalenAnsatzes besser gefallen dçrfte als den Suprana-tionalisten. Die Idee war ja schon vorher von denRegierungschefs Groûbritanniens und Spaniensins Spiel gebracht worden, zwei Låndern also, diedas zwischenstaatliche Modell der Integration vonjeher favorisiert haben.5 Der Vorschlag eines neuzu schaffenden Pråsidentenamtes låuft auf eineFortschreibung des bisherigen Entscheidungssys-tems hinaus, das durch eine komplexe Balancezwischen den gemeinschaftlichen und intergouver-nementalen Institutionen gekennzeichnet ist.6 Deraus dem Kreis der Staats- und Regierungschefs zubestimmende Pråsident wçrde die Position desEuropåischen Rates als Richtliniengeber weiterstårken, ohne dass dazu die exekutiven Befugnisseder Kommission und ihres Pråsidenten einge-schrånkt werden mçssten. Zwar wird die Kommis-sion ihr derzeitiges Initiativmonopol im Gesetzge-bungsprozess wahrscheinlich verlieren !was mitBlick auf das Europåische Parlament auch zubegrçûen ist). Dafçr kænnte sie als Regierungsin-stitution aber legitimatorisch aufgewertet werden,

wenn ihre Bestellung demnåchst durch das Parla-ment erfolgt !statt durch die Regierungen), wie essich als mehrheitsfåhige Læsung im Konvent abzu-zeichnen scheint.

Die Schaffung eines Pråsidentenamtes im Euro-påischen Rat wçrde die dualistische Struktur derExekutive im Institutionensystem der EU nichtnur perpetuieren, sondern weiter zuspitzen. Suchtman unter den demokratischen Verfassungsstaatennach Vergleichsbeispielen fçr eine solche Struktur,kommt einem am ehesten der ¹Semi-Pråsidentia-lismusª der V. Franzæsischen Republik in denSinn.7 Semi-pråsidentielle Regierungssysteme sinddadurch charakterisiert, dass sie die Macht inner-halb der Exekutive zwischen Regierungschef undStaatsoberhaupt teilen. Die doppelkæpfige Exeku-tive ist ein Kennzeichen aller parlamentarischenRegierungssysteme, doch bleibt der Pråsident!oder Monarch) dabei in der Regel auf die reprå-sentativ-zeremoniellen Funktionen eines Staats-oberhauptes beschrånkt. In der semi-pråsiden-tiellen Variante des Parlamentarismus ist erdemgegençber selbst Teil der Regierung, verfçgtdamit also çber handfeste politische Kompeten-zen. Wer der eigentliche ¹Chef der Exekutiveª ist,låsst sich in diesem Fall nicht immer leicht beant-worten. Es hångt zum einen von den verfassungs-rechtlichen Bestimmungen und zum anderen vonden politischen Machtverhåltnissen ab. Hålt seinePartei im Parlament die Mehrheit, kann dasStaatsoberhaupt den Regierungschef nach eige-nem Gusto einsetzen und ihm die Richtlinien derPolitik vorgeben. Hålt er diese Mehrheit nicht,dçrfte die Prårogative auf den parlamentarischverantwortlichen Premierminister und dessenRegierung çbergehen. Dem Pråsidenten bleibendann nur noch seine verfassungsmåûigen Vor-rechte, auf die er freilich kaum verzichten dçrfte.Staatsoberhaupt und Regierungschef werden ineiner solchen ± in der franzæsischen Politik unterdem Stichwort ¹cohabitationª gelåufigen ± Kon-stellation zu potenziellen Gegenspielern.8

5 Vgl. Brçsseler Doppelkopf, in: Der Spiegel, Nr. 39 vom21. 9. 2002, S. 54. Den ¹ABC-Vorschlagª !Aznar, Blair, Chi-rac) machte sich etwas spåter auch der franzæsische Staats-pråsident zu Eigen.6 Vgl. Marcus Hæreth, Das Demokratiedefizit låsst sichnicht wegreformieren. Ûber Sinn und Unsinn der europå-ischen Verfassungsdebatte, in: Internationale Politik und Ge-sellschaft/International Politics and Society, !2002) 4, S. 11±38.

7 Zum semi-pråsidentiellen Systemtypus vgl. Maurice Du-verger, A New Political System Model: Semi-PresidentialGovernment, in: European Journal of Political Research, 8!1980), S. 165±187; Horst Bahro/Ernst Veser, Das semi-pråsidentielle System ± Bastard oder Regierungsform sui ge-neris, in: Zeitschrift fçr Parlamentsfragen, 26 !1995) 3,S. 471±485; Winfried Steffani, Semi-Pråsidentialismus: eineigenståndiger Systemtyp? Zur Unterscheidung von Legisla-tive und Parlament, in: Zeitschrift fçr Parlamentsfragen, 26!1995) 4, S. 621±641 und Robert Elgie, The Politics of Semi-Presidentialism, in: ders. !Hrsg.), Semi-Presidentialism inEurope, Oxford 1999, S. 1±21.8 Vgl. Robert Elgie, ,Cohabitation`: Divided GovernmentFrench-Style, in: ders. !Hrsg.), Divided Government in Com-parative Perspective, Oxford 2001, S. 106±126.

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Die Analogie zur europåischen Politik liegt aufder Hand. Die Schaffung eines aus dem Kreis derStaats- und Regierungschefs zu besetzenden Pråsi-dentenamts ergibt nur dann Sinn, wenn diesesAmt mit einem Teil der Kompetenzen ausgestattetwird, çber die der Europåische Rat als kollektivesOrgan bereits verfçgt. Zu denken ist dabei insbe-sondere an die Gemeinsame Auûen- und Sicher-heitspolitik !GASP), fçr die vor einigen Jahren diePosition eines Hohen Beauftragten geschaffen undauf der Ratsebene angesiedelt wurde !derzeit vonJavier Solana bekleidet).9 Eine wirkliche Klårungder Zuståndigkeiten im Verhåltnis zur Europå-ischen Kommission ist dadurch freilich nicht einge-treten. Dieses Problem wçrde sich zweifellos ver-schårfen, wenn die Hauptzuståndigkeit des neuenPråsidenten in der Auûenbeziehungen der Unionlåge ± und wo sollte sie sonst liegen? Der Konfliktlieûe sich allenfalls dadurch læsen, dass man dieKommission auf den Status eines bloûen Ausfçh-rungsorgans zurçckfçhrt, was jedoch weder wçn-schenswert noch realistisch wåre. Funktionalbetrachtet sind die exekutiven Befugnisse derKommission und ihre Initiativrolle im Gesetzge-bungsprozess zwei Seiten derselben Medaille. Diesgilt fçr die Auûenpolitik sicherlich weniger als fçrdie vergemeinschafteten Politikbereiche. Dennochunterscheidet sich die Europåische Union hier innichts von den nationalen Regierungssystemen.

Ein auf der Ratsebene angesiedelter Pråsidentwçrde nicht nur Blockadetendenzen heraufbe-schwæren und damit die Funktionsfåhigkeit desgesamten Institutionensystems gefåhrden; er wåreauch unter demokratischen Aspekten ein Rçck-schritt. Nach den Vorstellungen von Aznar, Blairund Chirac soll das neu zu schaffende Amt sobestellt werden wie heute schon der Kommissions-pråsident: durch die souveråne Entscheidung derStaats- und Regierungschefs im EuropåischenRat. Hier liegt zugleich der Hauptunterschiedzum ¹normalenª Semi-Pråsidentialismus. Dessendemokratische Qualitåt beruht ja gerade darauf,dass er die beiden Teile der Exekutive mit einervergleichbaren Legitimationsbasis ausstattet,indem diese von der Wåhlerschaft mittelbar oderunmittelbar eingesetzt werden. Im semi-pråsiden-tiellen System der EU wçrde die Legitimations-kette zum Volk demgegençber nochmals verlån-gert, weil die Bestellung allein den Ratsmitgliedernvorbehalten bleibt. Die Folge wåre eine Vergræûe-rung des Demokratiedefizits, an der auch die bes-

sere legitimatorische Anbindung des Kommissi-onspråsidenten an das Europåische Parlamentnicht viel åndern kænnte, im Gegenteil: Wenn sichdie politischen Gewichte von der Kommission aufden Rat weiter verlagern, wie es von den Anhån-gern des neuen Pråsidentenamtes zweifelsohnebeabsichtigt ist, dann ergibt es keinen Sinn, dieDemokratisierungsbemçhungen ausgerechnet beider Kommission anzusetzen. Schon jetzt ist es jaso, dass das Organ mit der stårksten Legitimationin der EU ± das Europåische Parlament ± amwenigsten zu sagen hat. Warum sollte man dieseAsymmetrie noch weiter verstårken?

Als Zwischenbilanz kænnen wir also festhalten:Ein semi-pråsidentielles Regierungssystem wårezwar ein logischer Schritt auf dem bisherigen insti-tutionellen Entwicklungspfad der Gemeinschaft,der durch eine dialektische Wechselbeziehung vonsupranationaler Institutionenbildung einerseitsund der Stårkung intergouvernementaler Koope-rationsformen andererseits gekennzeichnet ist; eswçrde aber sowohl hinsichtlich seiner Funktionsfå-higkeit als auch unter Demokratiegesichtspunktengravierende Probleme aufwerfen. Doch gibt esçberhaupt realistische Alternativen? Betrachtetman die unterschiedlichen Integrationsvorstellun-gen und -leitbilder der einzelnen Mitgliedsstaaten,die sich natçrlich auch in der Zusammensetzungdes Konvents widerspiegeln, muss die Antwortwohl nein lauten. Fçr eine echte Bundesstaatslæ-sung ist die Europåische Union zur Zeit noch nichtreif.10 Es wåre jedoch falsch, die weiter reichendenReformvorschlåge der Eurooptimisten von vorn-herein als utopisch abzutun. Diese kænnen durch-aus einen gangbaren Weg aus dem Demokratie-dilemma weisen, das sich aus der beschriebenenLogik des Integrationsgeschehens ergibt. Voraus-setzung dafçr ist lediglich, dass sie die fortbeste-hende Realitåt des Intergouvernementalismusangemessen berçcksichtigen.

II. Die parlamentarischeDemokratisierungstrategie

Die Supranationalisten favorisieren anstelle dessemi-pråsidentiellen mehrheitlich ein !rein) parla-mentarisches Regierungssystem, so wie es in denmeisten EU-Mitgliedsstaaten vorherrscht. Eine

9 Zur GASP vgl. Franco Algieri, Die Europåische Sicher-heits- und Verteidigungspolitik ± erweiterter Handlungs-spielraum fçr die GASP, in: Werner Weidenfeld !Hrsg.),Nizza in der Analyse, Gçtersloh 2001, S. 161±201.

10 Vgl. Klaus Stçwe, Der Staatenbund als europåische Op-tion. Fæderative Entwicklungsperspektiven der EuropåischenUnion, in: Aus Politik und Zeitgeschichte !APuZ), B 1±2/99,S. 22±31.

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Minderheit tritt fçr die Einfçhrung eines pråsiden-tiellen Systems nach amerikanischem Vorbild ein.Beiden Vorschlågen ist gemeinsam, dass sie bei derDemokratisierung auf die Kommission abzielen, diedas Herzstçck der Exekutive bildet und mithin daseigentliche Regierungsorgan der Union darstellt.Die legislative Funktion soll nach den Vorstellungender Supranationalisten von Parlament und Ratgemeinsam ausgeçbt werden, wobei der Europå-ische Rat seine Rolle als ¹Ûbergesetzgeberª weitge-hend einbçûen wçrde. Abweichend von einem nor-malen fæderalistischen System wåren lediglich dieAbstimmungsregeln imRat, wo die Entscheidungenin der Regel mit qualifizierter Mehrheit getroffenwerden. !Zur Zeit liegt das Zustimmungsquorumbei 72 Prozent.)

In ihrer heutigen institutionellen Struktur bildetdie EU eine Gemengelage zwischen dem parla-mentarischen und pråsidentiellen Modell.11 Parla-mentarische Systeme sind bekanntlich dadurchcharakterisiert, dass die Regierung aus dem Parla-ment ¹hervorgehtª, dass heiût: vom Parlamentbestellt wird und von ihm jederzeit aus politischenGrçnden abberufen werden kann. Die erste Bedin-gung ist in der Europåischen Union gar nicht, diezweite nur ansatzweise erfçllt. Gegen die Annahmeeines normalen parlamentarischen Abberufungs-rechts spricht zum einen die fçr ein erfolgreichesVotum gegen die Kommission im EuropåischenParlament !EP) notwendige Zweidrittelmehrheit.Zum anderen ± und noch wichtiger ± folgt dieAbberufbarkeit nicht primår politischen Grçnden,sondern sie dient der Sanktionierung eines rechtli-chen oder moralischen Fehlverhaltens, wie man am!gescheiterten) Misstrauensantrag gegen die San-ter-Kommission im Januar 1999 hat sehen kænnen.Symptomatisch dafçr ist das bislang vergeblicheBegehren des Parlaments, das Misstrauensvotumvon der gesamten Kommission auf einzelne Kom-missionsmitglieder auszudehnen. Dessen bedçrftees nicht, wenn es sich bei der Abberufbarkeit tat-såchlich um ein politisches Prinzip handeln wçrde.Stattdessen beschreibt sie jedoch eher ein rechtli-ches Prinzip !im Gewand eines politischen Verfah-rens), das an das US-amerikanische Impeachmenterinnert und besser mit dem Wort ¹Absetzungª!oder ¹Amtsenthebungª) çbersetzt werden sollte.Dasselbe gilt fçr das Recht des Parlaments, dieKommissionsmitglieder im Rahmen eines Anhæ-rungsverfahrens vor ihrer Ernennung zu beståtigen,das ein typisches Element der ¹checks and balan-cesª darstellt und in denUSA ebenfalls in åhnlicherForm anzutreffen ist.

Indem es die Kommission auch als Ganzes beståti-gen muss, hat das Europåische Parlament demamerikanischen Senat freilich ein wichtiges Rechtvoraus. Einige Autoren haben darin bereits denVorboten eines echten !positiven) Bestellungs-rechts erblickt,12 was aus heutiger Sicht durchausrealistisch anmutet. So haben sich die christ- undsozialdemokratischen Parteienformationen inEuropa !EVP und SPE) inzwischen beide dafçrausgesprochen, den Kommissionspråsidenten ab2004 vom Europåischen Parlament wåhlen zu las-sen.13 Das Recht der Beståtigung wçrde in derFolge ± wie beim amerikanischem Vorbild ± aufden Rat çbergehen, der seinen Einfluss auf diePersonalentscheidung dann nur noch obstruktivgeltend machen kænnte.14 Rat und Parlament wçr-den ihre heutigen Rollen bei der Bestellung des¹Regierungschefsª somit tauschen.

Mit ihrem Vorschlag greifen die europåischen Par-teienvertreter eine alte Idee von Jacques Delorsauf, der schon Anfang der neunziger Jahre gefor-dert hatte, die Wahlen zum Europåischen Parla-ment zu einer faktischen Vorentscheidung çberden Kommissionspråsidenten zu machen. InSachen Demokratie wåre das ein bedeutenderFortschritt, weil es die Parlamentswahlen endlichzu europåischen Wahlen machen wçrde. Die bei-den groûen !bçrgerlichen und sozialdemokrati-schen) Parteienfamilien kænnten sich EU-weit aufjeweils einen Spitzenkandidaten verståndigen, derdann mit einer personellen und programmatischenPlattform in den Wahlkampf ziehen wçrde. Fçrdie Wåhler stçnde damit in Bezug auf Europa tat-såchlich etwas auf dem Spiel, sodass sie ihre Ent-scheidung nicht mehr wie bisher nur unter nationa-len Gesichtspunkten treffen mçssten. Die zuletzt!1999) auf ein Rekordtief gesunkene Wahlbeteili-gung zeigt deutlich, dass eine wirkliche Legitima-tion des europåischen Institutionensystems vonden Wahlen zum EP bislang nicht ausgehenkonnte.15 Ihre Aufwertung zu ¹Regierungswahlenªwçrde dies entscheidend åndern.

11 Vgl. F. Decker !Anm. 4), S. 621 ff.

12 Vgl. Emile No�l, Reflections on the Maastricht Treaty,in: Government and Opposition, 27 !1992) 2, S. 155. ZurEntwicklung des parlamentarischen Beståtigungsrechts vgl.Martin Westlake, The European Parliaments EmergingPowers of Appointment, in: Journal of Common MarketStudies, 36 !1998) 3, S. 431±444.13 Vgl. Deutscher Bundestag/Ausschuss fçr die An-gelegenheiten der Europåischen Union, Die Parteien und dieVerfassungsdiskussion in der Europåischen Union, Texte undMaterialien, Bd. 32, Berlin 2002.14 Vgl. M. Hæreth !Anm. 6), S. 29.15 Vgl. Jean Blondel/Richard Sinnott/Palle Svensson, Peo-ple and Parliament in the European Union. Participation,Democracy, and Legitimacy, Oxford 1998, und F. Decker!Anm 4), S. 617 f.

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Ob die Wahl des Kommissionspråsidenten durchdas Parlament schon ein parlamentarisches Regie-rungssystem begrçndet, bleibt allerdings die Frage.Dagegen spricht zum einen das im parlamenta-rischen System unçbliche Beståtigungsrecht derZweiten Kammer, das ± wie gesehen ± eineAnleihe beim US-Pråsidentialismus darstellt. Zumanderen dçrfte es von der Ausgestaltung des Miss-trauensvotums abhången: Wenn der Kommissions-pråsident mit Mehrheit gewåhlt wird, wåre esunlogisch, fçr seine Abwahl ein hæheres Quorumvorzuschreiben !was heute der Fall ist). Eine voll-ståndige Parlamentarisierung wçrde des weiterenvoraussetzen, dass das Parlament in allen Berei-chen der Gesetzgebung mitwirkt, das Initiativrechterhålt und als eigentliches legislatives Beschlussor-gan auftritt ± auch davon ist die EuropåischeUnion gegenwårtig noch Meilen entfernt.

Handelt es sich dabei um minder schwere Punkte,die auf mittlere und lange Sicht durchaus korrigier-bar sind, so gibt es auf der anderen Seite auchgrundsåtzliche Bedenken gegen die Parlamentari-sierungsstrategie. Diese setzen bei der Funktions-logik des parlamentarischen Systems an, die aufder engen politischen Verbindung von Regierungund Parlamentsmehrheit beruht. Die Regierungwird von den Fraktionen bestellt und im Amtgehalten, die aus den Parlamentswahlen als Mehr-heit hervorgegangen sind, wåhrend die parlamen-tarische Minderheit die Rolle der Opposition çber-nimmt. Damit dieses Spiel funktioniert, mçssendie Parteien ein hohes Maû an ideologischem undorganisatorischem Zusammenhalt aufweisen ±eine Bedingung, die das heutige europåische Par-teiensystem nur bruchstçckhaft erfçllt. Von daherstellt sich die Frage, ob das parlamentarischeSystem in seiner mehrheitsdemokratischen Logikdie bestehenden Legitimationsstrukturen dereuropåischen Politik nicht zwangslåufig çberfor-dern wçrde.

III. Die pråsidentielleDemokratisierungsstrategie

An dieser Stelle gewinnt das von einer Minderheitfavorisierte pråsidentielle Demokratisierungsmo-dell an Interesse,16 das neben bzw. auûerhalb der

Parlamentswahlen eine direkte Wahl des Kommis-sionspråsidenten durch das Volk vorsieht. Andersals im parlamentarischen Modell verfçgt derRegierungschef hier also çber eine vom Parla-ment unabhångige Legitimation, bleibt er auchohne dessen Zustimmung im Amt. Das Parla-ment kann dem Regierungschef daher vergleichs-weise unbefangen gegençbertreten. Ein politi-scher Gleichklang zwischen den Organen, der dieAbgeordneten zur Einhaltung der Partei- undFraktionsdisziplin verpflichtet, ist nicht erforder-lich. Ein pråsidentielles System wçrde demnachauch ohne fest gefçgte Parteienstrukturen aus-kommen.

Das Beispiel des amerikanischen Kongresses zeigt,dass Parlamente gerade dort måchtig sind, wo sieauf die Funktion einer Legislative beschrånkt blei-ben. Hier liegt auch der Grund dafçr, dass diePosition des Europåischen Parlaments im Gesetz-gebungsprozess schon heute stårker ist als landlåu-fig vermutet. Das EP verfçgt zwar nur in bestimm-ten Bereichen der Gesetzgebung çber ein dem Ratgleichberechtigtes Beschlussrecht; wo es mitent-scheiden kann, çbt es jedoch håufig græûeren Ein-fluss aus als die nationalen Parlamente, denen dieRegierungen als Gesetzgeber weitgehend denRang abzulaufen haben.17 Weil die einen !die Ver-treter der parlamentarischen Mehrheit) nichtregieren dçrfen und die anderen !die Vertreter derOpposition) nicht regieren kænnen, wirkt das par-lamentarische System auf die Abgeordnetenzuweilen frustrierend. Als Kreationsorgan einereuropåischen Regierung wçrde es den StraûburgerParlamentariern vermutlich åhnlich ergehen. Wel-ches Interesse sollten sie also daran haben, sich aufein solches Verlustgeschåft einzulassen?

Die Direktwahl des Kommissionspråsidentenwçrde demgegençber auf der parlamentarischenSeite alles beim Alten lassen: Das EuropåischeParlament kænnte sich als Volksvertretung weiterdemokratisieren !durch ein einheitliches und glei-ches Wahlrecht), seine Gesetzgebungsbefugnisseim Verhåltnis zum Ministerrat ausbauen und auchseine bisherigen Kontrollrechte gegençber der

16 Vgl. Vernon Bogdanor, The Future of the EuropeanCommunity: Two Models of Democracy, in: Government andOpposition, 21 !1986) 2, S. 161±176; Simon Hix, Elections,Parties and Institutional Design. A Comparative Perspectiveon European Union Democracy, in: West European Politics,

21 !1998) 3, S. 19±52, und Frank Decker, Democracy Beyondthe Nation State: Reflections on the Democratic Deficit ofThe European Union, in: Journal of European Public Policy,9 !2002) 2, S. 256±272.17 Vgl. Fulvio Attin�, The Voting Behavior of the Euro-pean Parliament Members and the Problem of the Euro-parties, in: Europan Journal of Political Research, 17 !1990),S. 557±579, und Michael Shackleton, The Politics of Codeci-sion, in: Journal of Common Market Studies, 38 !2000) 2,S. 325±342.

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Kommission behalten !einschlieûlich des Rechts,die Kommissionsmitglieder vor ihrer Ernennungzu beståtigen). Die gewaltentrennende Logik desPråsidentialismus, die darin zum Ausdruckkommt, entspricht der Heterogenitåt der europå-ischen Politik eher als das auf Gewaltenverschrån-kung ausgelegte parlamentarische System. ImUnterschied zu den USA, wo sich die fragmen-tierten Entscheidungsprozesse im Rahmen einesmehrheitsdemokratischen Systems abspielen,wçrde die EU ihren Charakter als Konsensdemo-kratie ja nicht verlieren, wenn man die Direktwahleinfçhrte. Der Gefahr, dass einzelne Lånder beieiner solchen Abstimmung majorisiert werden,lieûe sich durch entsprechende Nominierungsre-geln begegnen. Und selbst dann blieben immernoch gençgend Vetomæglichkeiten, die Ministerratund Parlament gegen die Kommission wahrneh-men kænnten, wobei insbesondere das Parlamentvon seiner unabhångigen Position profitierenwçrde.

Angesichts dieser Vorteile ist es schade, dass derDirektwahlvorschlag in der aktuellen Verfassungs-diskussion als alternativer Demokratisierungspfadkaum Beachtung findet. Die Grçnde dafçr dçrftenzum einen in den parlamentarischen Traditionender Mitgliedsstaaten liegen, die das pråsidentielleModell als institutionellen Fremdkærper erschei-nen lassen; zum anderen hången sie mit dem Ver-dacht zusammen, dass eine Volkswahl des Kom-missionspråsidenten die konsensuellen Strukturender EU noch stårker belasten wçrde als eine Wahldurch das Parlament. Obwohl beide Einwåndeeiner genaueren Ûberprçfung nicht standhalten,18

haben sie sich doch in der politischen und wissen-schaftlichen Debatte als åuûerst wirkungsmåchtigerwiesen.19 So ist es auch zu erklåren, dass der pro-minenteste Fçrsprecher der Direktwahl ± Deutsch-lands Auûenminister Fischer ± von seinem Vor-schlag mittlerweile abgerçckt und auf die Linieder ¹Parlamentaristenª eingeschwenkt ist.20

Fischer çbernimmt damit die Position, die seinVorgånger im Konvent, der SPD-Politiker PeterGlotz, fçr die Bundesregierung schon vorher offi-ziell vertreten hatte.21

IV. Institutionenreform unddifferenzierte Integration

Es spricht also vieles dafçr, dass die Wahl desKommissionspråsidenten durch das Parlament alsKonventsbeschluss kommt; die Intergouvernemen-talisten werden sie als Preis entrichten mçssen, umdie Zustimmung der Supranationalisten fçr dasneu zu schaffende Pråsidentenamt auf der Rats-ebene zu erlangen. Das Problem dieser Konstruk-tion liegt freilich darin, dass sie institutionell kaumtragfåhig wåre; die Union wçrde sich damit ± wieoben gezeigt ± in funktioneller wie demokratischerHinsicht einen Bårendienst erweisen. Einen sol-chen Kompromiss, der hinter den erreichten Statusquo zurçckfållt, kann im Ernst niemand wollen.Von daher stellt sich die Frage nach den Alternati-ven: Lassen sich die unterschiedlichen Vorstellun-gen und Interessen der beiden Seiten so mitein-ander verbinden, dass am Ende dennoch einfunktionsfåhiges und demokratisch ansprechendesInstitutionensystem geschaffen wird? Und wåreeine solche Kompromisslinie im Rahmen des jetztvorliegenden Verfassungsentwurfs çberhaupt mæg-lich?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, mussman sich zunåchst in Erinnerung rufen, dass derKonflikt zwischen Intergouvernementalisten undSupranationalisten schon eine lange Geschichtehat. Im Grunde kennzeichnet er die EU seit derersten Erweiterungsrunde 1973, als sich mit Groû-britannien und Dånemark die heute fçhrendenEuroskeptiker zur damaligen Sechser-Gemein-schaft hinzugesellten. Virulent wurde der Konfliktinsbesondere bei der Frage nach der Prioritåt vonVertiefung oder Erweiterung der Gemeinschaft.Beides miteinander zu vereinbaren wåre in denachtziger und neunziger Jahren schwierig gewor-den, wenn die Union nicht als Antwort auf dasDilemma eine bis heute gçltige Læsung gefundenhåtte, nåmlich das Prinzip der differenzierten In-tegration. So konnten sich einerseits unwilligeStaaten aus der Verfolgung bestimmter Integrati-onsziele innerhalb des bestehenden Institutionen-systems ausklinken !Beispiel: Wåhrungsunion).Andererseits haben Gruppen von Staaten auûer-halb des Systems neue Institutionen gebildet, umweiter gehende Integrationsziele zu verfolgen!Beispiel: Schengen-Abkommen).22

18 Vgl. F. Decker !Anm. 4), S. 625 ff.19 Vgl. Katharina Holzinger/Christoph Knill, Institu-tionelle Entwicklungspfade im Europåischen Integrations-prozess. Eine konstruktive Kritik an Joschka Fischers Re-formvorschlågen, in: Zeitschrift fçr Politikwissenschaft, 11!2001) 3, S. 987±1010.20 Vgl. Giscard legt Struktur fçr EU-Verfassung vor, in:Financial Times Deutschland vom 28. 10. 2002.21 Vgl. Glotz: Kommissionspråsidenten wåhlen, in: FAZvom 4. 7. 2002.

22 Zu den unterschiedlichen Formen der differenziertenIntegration vgl. Alexander C.-G. Stubb, A Categorization ofDifferentiated Integration, in: Journal of Common MarketStudies, 34 !1996) 2, S. 283±295. Fçr eine aktuelle Bestands-

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Eine sehr viel radikalere Vorstellung von differen-zierter Integration hat Joschka Fischer in seinerBerliner Humboldt-Rede entwickelt. Die Radika-litåt besteht darin, dass Fischer seine Idee eines¹Gravitationszentrumsª nicht nur auf das mate-rielle Zusammenwirken !in bestimmten Politikfel-dern) beziehen mæchte, sondern ausdrçcklich auchauf die institutionelle Entwicklung der Gemein-schaft. Die voranschreitende Staatengruppe wçrdedanach ¹einen neuen europåischen Grundvertragschlieûen, den Nukleus einer Verfassung der Fæde-ration. Und auf der Basis dieses Grundvertrageswçrde sie sich eigene Institutionen geben, eineRegierung, die innerhalb der EU in mæglichst vie-len Fragen fçr die Mitglieder der Gruppe mit einerStimme sprechen sollte, ein starkes Parlament,einen direkt gewåhlten Pråsidenten. Ein solchesGravitationszentrum mçsste die Avantgarde, dieLokomotive fçr die Vollendung der politischenIntegration sein und bereits alle Elemente der spå-teren Fæderation umfassen.ª23

Fischers Vorschlag wçrde die bisherige Logik desEinigungsprozesses umkehren, nach der die insti-tutionellen Aspekte der materiellen !politikinhalt-lichen) Integration untergeordnet bzw. auf dasmaterielle Integrationsziel hin ausgerichtet wer-den. Wofçr die neu geschaffenen Institutionen derKerngruppe genau zuståndig sein sollten, ist indem Konzept aber kaum geklårt; ebenso das Ver-håltnis der neuen zu den bereits bestehenden Insti-tutionen. Die von Fischer genannten Bereicheeiner verstårkten Zusammenarbeit ± Wirtschafts-politik, Umweltschutz, Verbrechensbekåmpfung,Einwanderung/Asyl sowie Auûen- und Sicher-heitspolitik ± sind ja heute schon Gegenstand dereuropåischen Politik. Ob ihre Forcierung den Auf-bau eines parallelen Institutionensystems rechtfer-tigt, ist insofern keineswegs ausgemacht. Die Fol-gen eines solchen Schritts wåren allerdingsbetråchtlich: Ein Gravitationszentrum wçrde diebestehende institutionelle Klammer der Gemein-schaft beseitigen und sie damit praktisch in zweiTeile zerreiûen. Dies wåre fçr die weitere Vertie-fung der Integration gewiss ein zu hoher Preis.

Hålt man hingegen am Ziel einer gemeinsameninstitutionellen Klammer fest, dann muss sich diedifferenzierte Integration auch weiterhin zunåchstan den materiellen Bereichen der Zusammenar-beit ausrichten. Schon heute låsst das Institutio-nensystem fçr ein Europa der unterschiedlichen

Geschwindigkeiten gençgend Raum. So sind z. B.die abgestuften Beteiligungsrechte des Europa-parlaments in den verschiedenen Bereichen derGesetzgebung selbst fçr Experten kaum nochçberschaubar.24 Im Ministerrat erfolgt die Abstu-fung durch unterschiedliche Abstimmungsregeln,die von der einfachen Mehrheit bis zur Einstim-migkeit reichen.25 Und auf der vertraglichenEbene bleibt die Grundunterscheidung zwischenintergouvernementalen und vergemeinschaftetenZuståndigkeiten weiter erhalten.

Gerade Letzteres kænnte einen Ansatzpunkt dar-stellen, um die unterschiedlichen Positionen vonIntergouvernementalisten und Supranationalistenbei der Gestaltung des Institutionensystems zuçberbrçcken. Die Supranationalisten sollten denIntergouvernementalisten entgegenkommen, in-dem sie in bestimmten Politikbereichen von weite-ren Integrationsforderungen Abstand nehmen ±wie wçnschenswert diese aus ihrer Sicht auch seinmægen.26 Dies gilt insbesondere fçr die Gemein-same Auûen- und Sicherheitspolitik, die auchkçnftig im intergouvernementalen Rahmen desEuropåischen und Ministerrates angesiedelt blei-ben kænnte. Weitere Zugeståndnisse wåren bei derAbkehr vom Einstimmigkeitsprinzip und denlegislativen Mitwirkungsrechten des EuropåischenParlaments denkbar ± hier mçssten die Suprana-tionalisten auf bestimmten Feldern !z. B. derSteuerpolitik) ebenfalls çber ihren Schattenspringen.

Ziel einer solchen Verhandlungsstrategie mçsstees sein, eine generelle Verschiebung der institutio-nellen Balance in Richtung Intergouvernementa-lismus zu verhindern, wie sie durch ein neugeschaffenes Pråsidentenamt auf der Ratsebenezweifellos eintreten wçrde. Das dahinter stehendeKalkçl ist einfach: Institutionen weisen erfah-rungsgemåû ein hohes Beharrungsvermægen auf,lassen sich also, wenn sie einmal etabliert sind, nurschwer wieder veråndern. Die Konkurrenz zweierPråsidenten innerhalb der Exekutive wçrde die

aufnahme siehe Josef Janning, Zweiter Anlauf ± Die ¹ver-stårkte Zusammenarbeitª im Vertrag von Nizza, in: W. Wei-denfeld !Anm. 9), S. 145±159.23 J. Fischer !Anm. 4), S. 15 f.

24 Vgl. die Auflistung bei Claus Giering, Zuordnung derRechtsgrundlagen des EGV-A und EUV-A zu den Entschei-dungsverfahren, in: Werner Weidenfeld !Hrsg.), Amsterdamin der Analyse, Gçtersloh 1998, S. 275 ff.25 Vgl. Claus Giering, Die institutionellen Reformen vonNizza ± Anforderungen, Ergebnisse, Konsequenzen, in: W.Weidenfeld !Anm. 9), S. 51±144.26 Exemplarisch dafçr ist die von Luxemburgs Premiermi-nister Jean-Claude Juncker vertretene Position, wonach auchdie Auûen- und Sicherheitspolitik ¹nach erprobter EU-Me-thode erarbeitet werden !muss), also stets auf Vorschlag derKommission und per Beschluss von Ministerrat und Parla-mentª. !EU Auûenpolitik gehært in die Kommission. SZ-In-terview mit Jean-Claude Juncker, in: SZ vom 1./2. 6. 2002).

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institutionelle Entwicklung der EU auf lange Sichtvorprågen. Integrationspolitisch wåre das wahr-scheinlich ein græûerer Schaden als der Verzichtauf eine stårkere materielle Zusammenarbeit, derja nur vorçbergehend zu sein braucht. Auch dieAuûen- und Sicherheitspolitik kænnte irgendwanneinmal in den Bereich der vergemeinschaftetenPolitikfelder hinwachsen. Umso wichtiger ist es,

dass funktionsfåhige und demokratisch legiti-mierte Institutionen dafçr schon vorab bereitge-halten werden. Die Verfassungsgeber im Europå-ischen Konvent tragen deshalb fçr den Fortgangdes Integrationsprozesses hohe Verantwortung.Von ihrer Arbeit wird es mit abhången, ob dieGleichzeitigkeit von Vertiefung und Erweiterungder Gemeinschaft auch in Zukunft gelingt.

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Christian Deubner

Differenzierte Integration:Ûbergangserscheinung oder Strukturmerkmal

der kçnftigen Europåischen Union?

Differenzierte Integration begleitet die Europå-ische Gemeinschaft !EG) seit ihrer Grçndung.Bestimmte Gruppen von Mitgliedstaaten verwirk-lichen bestimmte Politiken, wåhrend andere Mit-gliedstaaten fernbleiben. Auf diese Weise entstan-den zum Beispiel das Schengen-System oder derEuropåische Wechselkursmechanismus. Mit Blickauf die Europåische Union !EU) der Zukunft istdiese Differenzierung besonderer Untersuchungwert. Dazu vier Thesen:

± Erstens ist differenzierte Integration seit Endeder siebziger Jahre von einer Ausnahmerege-lung fçr einzelne Politikbereiche zu einem dau-erhaften Strukturelement ganzer Politikfeldergeworden. Seit 1992 nimmt sie auch innerhalbdes Vertragssystems stark zu. Damit vergræûertsich auch ihre Bedeutung fçr die weitere Ent-wicklung der gesamten Integration.

± Wegen der Unterschiede in ihrer Integrationsbe-reitschaft angesichts immer weiter ausgreifenderGemeinschaftskompetenzen werden die Mit-gliedstaaten, zweitens, stårker motiviert, diffe-renzierte Integration anzuwenden. Mit derwachsenden Zahl der Mitgliedstaaten im Zugeder Erweiterungen vergræûern sich diese Unter-schiede noch.

± Drittens veråndern sich die Absichten der Mit-gliedstaaten beim Einsatz differenzierter Inte-gration. Im vergangenen Jahrzehnt haben siediese immer stårker bewusst als strategischesInstrument zur Durchsetzung, Einfçhrung undUmsetzung von Integrationszielen innerhalb derbestehenden EG/EU genutzt.

± Viertens kann differenzierte Integration Aus-gleichsmæglichkeiten schaffen, wenn die Erwei-terung die EU-Institutionen vergræûert und ihreHandlungsfåhigkeit schwåcht.

Einerseits modifiziert dies die Strukturentwicklungder Integration mit ihrer empfindlichen Balancezwischen Einheit und Unterschiedlichkeit. Ande-

rerseits beeinflusst es die integrationspolitischenIntentionen der Mitgliedstaaten und ihre Erfolgs-aussichten. Beides hångt miteinander zusammen.

An diese Entwicklung knçpfen sich Erwartungenund Befçrchtungen: Die Tatsache, dass alle Mit-gliedstaaten sich gemeinsam und ohne Ausnahmeauf die Gemeinschaftsvertråge und deren Anpas-sungen verpflichteten, hat çber die Jahrzehnteeine integrationspolitisch grundlegende Gleichheitvon Mitentscheidung und Betroffenheit, Rechts-einheit und -sicherheit fçr alle Mitgliedstaaten derEU geschaffen, geschçtzt und gefærdert durchunparteiische supranationale Institutionen. Aufdieser Grundlage konnten die beteiligten Staateneinem breit angelegten Kompetenzzuwachs derGemeinschaft zustimmen. Und ihre Bereitschaft,fçr sie mehr oder weniger gçnstige Entscheidun-gen zu akzeptieren, wurde dadurch gefærdert.

Diesen Zusammenhang zerbricht die differen-zierte Integration, indem sie die Einheit der Ver-fahren und Institutionen spaltet. Sie vertieft undverewigt bestimmte Koalitionen im Rat; sie trågtSpaltungsrisiken in die supranationalen Organewie Kommission und Europåisches Parlament; siemacht diese noch undurchschaubarer, als sie esheute schon sind. Auûerdem erwåchst der EUdurch diese Praxis auf ihren eigenen Aktionsfel-dern eine potenziell gefåhrliche Konkurrenz. Inso-fern gilt differenzierte Integration fçr die EU auchals Gefåhrdung ihres dauerhaften Zusammenhaltsund ihrer kçnftigen Integrationsfåhigkeit.1

1 Vgl. Christian Deubner, Flexibilitåt und Entwicklung dereuropåischen Integration, in: Claus Dieter Ehlermann!Hrsg.), Der rechtliche Rahmen eines Europas in mehrerenGeschwindigkeiten und unterschiedlichen Gruppierungen!Schriftenreihe der Europåischen Rechtsakademie Trier,Bd. 26), Kæln 1999, S. 117±132; Eric Philippart/Monika SieDhian Ho, The pros and cons of ,closer cooperation` withinthe EU !Niederlåndischer Wissenschaftlicher Rat fçr Regie-rungsberatung), Den Haag 2000; Fran�oise de la Serre/HelenWallace, Flexibility and Enhanced Cooperation in the Euro-pean Union. Placebo rather than Panacea?, Paris 1997; ClausGiering, Vertiefung durch Differenzierung. Flexibilisierungs-konzepte in der aktuellen Reformdebatte, in: Integration, 20!1997).

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Viele Sachkenner sehen aber auch, dass in derVergangenheit nur die differenzierte Integrationwichtige Fortschritte bei der Vergemeinschaftungmæglich gemacht hat. Sie unterstellen, dass Inte-grationsfortschritte in der ganzen Union nach derErweiterung noch dringender auf den Zwischen-schritt der Differenzierung angewiesen sind. DerKampf zwischen vorwårts drångenden und behar-renden Mitgliedstaaten kann Institutionen undVerfahren ebenfalls låhmen, wenn keine Læsunggegeben ist. Nach dieser Lesart sind also die Vor-teile der Differenzierung so groû, dass sie dieNachteile aufwiegen oder sogar çbertreffen.2 DieBewertung dieser Argumente in der Spannungzwischen Einheitlichkeit und Dynamik richtet sich± das wird noch gezeigt ± stark nach dem jeweili-gen Leitbild der kçnftigen Integration.

Im Folgenden wird versucht, diese Erwartungenund Befçrchtungen zu bewerten. Die integrations-politischen Strategen der Mitgliedsregierungenhaben aus den bisherigen Erfahrungen mit diffe-renzierter Integration bisher jedenfalls mehrheit-lich den Schluss gezogen, dass jene letztlich deneuropåischen Gemeinschaftsbau færdert. Das hatsie zu weiteren Schritte in dieser Richtungbestårkt. Zur Terminologie: Differenzierte Inte-gration findet durch Verstårkte Zusammenarbeit!VZ) von Mitgliedstaaten innerhalb oder auûer-halb des Unionsvertrages statt. Dieser Begriff wirdim Folgenden benutzt.

I. Differenzierung inder Strukturbildung der EU

Verstårkte Zusammenarbeit begann in der Euro-påischen Wirtschaftsgemeinschaft !EWG) mit derausdrçcklich zugelassenen besonderen Zusam-menarbeit der Benelux-Lånder. Øhnliche undbedeutsame Fålle dieser Art sind das ursprçngli-che Europåische Wåhrungssystem !EWS) von19793 oder das Schengener Abkommen von 1985/90.4 Eine sehr spezifische Ausprågung war und istauch die bilaterale deutsch-franzæsische Zusam-

menarbeit. Weniger schwer gewichtig waren dieAbkommen zu gemeinsamen Forschungsvorhabenwie Airbus, ESA, Ariane und die Zusammenarbeitim sicherheits- und verteidigungspolitischenBereich wie etwa im Rahmen von WEU, Euro-korps oder Eurogroup.

Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts sind mitder Sozialcharta des Maastrichter Vertrages, dergemeinsamen Wåhrung oder dem gemeinsamenRaum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts!RdFSR), aber auch mit der EU-Politik fçr Sicher-heit und Verteidigung weitere bedeutsame Fållevon VZ hinzugekommen. Schlieûlich gab es beijedem neuen Beitritt zur EG Fålle verschiedenerGeschwindigkeiten, da neue Mitglieder fçrbestimmte Ûbergangsfristen zunåchst Ausnahme-regeln genossen.

Fçr eine Klassifizierung dieser Fålle bieten sichdrei Kriterien an. Dies ist zunåchst der Grad, indem diese Gruppen den gemeinschaftlichenRegeln unterworfen sind. Die VZ kann sich aberauch auûerhalb des EG/EU-Vertrags und anderervertraglicher Bindungen vollziehen. Dann geltenfçr die teilnehmenden Regierungen auch nicht derVertrag und seine Verfahren, sondern die Regelnintergouvernementaler Zusammenarbeit. Diesbetrifft die Grçndung der Kooperation, den Bei-tritt weiterer oder den eventuellen Austritt bishe-riger Mitglieder, dies gilt fçr die Verfahren derBeschlussfassung und -umsetzung und damit fçrdie Rolle, die jeder teilnehmende Staat dabei spie-len kann.

Ein zweites Kriterium, das mit dem ersten zusam-menhångt, betrifft den Gegenstand der differen-zierten Integration. Findet sie in einem Politikfeldstatt, in dem der Union durch den Vertrag Kompe-tenzen zugeordnet sind, sie solche bereits erhaltenhat oder gar ausçbt !wie etwa im ersten Pfeiler),oder handelt es sich um Felder, die der mitglied-staatlichen Kompetenz zugeordnet sind bzw. ihrnoch unterliegen !wie in der Rechtspolitik, aberauch der Wirtschafts- und Sozialpolitik)? Je nach-dem, ob die differenzierte Integration nur inner-halb oder nur auûerhalb der EU stattfinden darf,hat sie eine græûere oder kleinere Wirkung auf diezentralen Regeln und Institutionen der Union,bedarf sie einer !mehr oder weniger groûen) ver-traglichen Einhegung.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch dieBreitenwirkung der Politik und das Niveau, aufdem die VZ ansetzt: Hat sie groûflåchige Wirkun-gen bis in verschiedenste Felder wie etwa die Frei-zçgigkeit fçr Waren und Personen? Erfasst sie einganzes Politikfeld wie zum Beispiel die Wirt-

2 Vgl C. Deubner, ebd.; E. Philippart/M. Sie Dhian Ho, ebd.3 Vgl. Eckart Gaddum, Europåisches Wåhrungssystem, in:Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels !Hrsg.), Europa vonA-Z. Taschenbuch der Europåischen Integration, Bonn 1997,S. 111±114.4 Vgl. Reinhard Rupprecht, Justiz und Inneres, in: W. Wei-denfeld/W. Wessels, ebd., S. 156±161; C. D. Ehlermann!Hrsg.) !Anm. 1); Klaus-Peter Nanz, Das Schengener Ûber-einkommen. Personenfreizçgigkeit in integrationspolitischerPerspektive, in: Integration, 17 !1994) 2, S. 92±108.

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schaftspolitik oder nur sehr spezielle Ausschnitte?Wirkt VZ in einem Feld dadurch weit in anderePolitikfelder hinein? Kann kleinteilige VZ denZusammenhang der Politikfelder zerreiûen, indenen sie eingefçhrt wird?

Ein drittes Kriterium betrifft die Umstånde, wel-che die Teilnahme oder Nichtteilnahme von Mit-gliedstaaten an solcher Gruppenzusammenarbeitbegrçnden. Hångt das eher von dem integrations-politischen Willen bzw. Unwillen der Mitgliedstaa-ten ab, oder spielen Fåhigkeit bzw. Unfåhigkeiteine Rolle? Und wer beurteilt sie?

Fçr das erste Kriterium bildet die Vertragsrevisionvon Amsterdam 1997 !mit den Ønderungen vonNizza im Jahr 2000) eine Art Epochençbergang.Zuvor galt, dass innerhalb des Vertrags alle Part-ner fast alles gemeinsam machen. Schon das Opt-Out fçr Englånder und Dånen beim Euro hatte1992 allerdings massiv dagegen verstoûen. Abererst auf dem Gipfel von Amsterdam entschlossensich die Mitgliedstaaten, fçr die VZ im Rahmenkleinerer Gruppen allgemeingçltige vertraglicheVorgaben zu schaffen. Initiatoren waren Deutsch-land und Frankreich. Seither existieren die ent-sprechenden neuen Vertragsartikel: EUV Art. 23!Gemeinsame Auûen- und Sicherheitspolitik),Art. 40 !Zusammenarbeit bei Polizei und Justiz),Art. 43±45 !Allgemein), EGV Art. 11 !Europå-ische Gemeinschaft), um diese VZ nach Bedingun-gen, Verfahren und beteiligten Institutionengenauer festzulegen.

Damit war nun eine vertragliche Voraussetzungfçr VZ in unterschiedlichen Staatenkoalitionenauch innerhalb der EU geschaffen. Wesentliche,auch nach Amsterdam noch mægliche Behinderun-gen solcher Initiativen durch ein begrçndetes Vetooder die Vergræûerung der Mindestzahl der Mit-glieder wurden in Nizza im Dezember 2000 ausge-råumt.5 Das zur Genehmigung erforderliche Quo-rum der qualifizierten Mehrheit wurde dagegenaufrechterhalten. Auûerdem wurde dieses Verfah-ren auf das Feld der Auûen- und Sicherheitspolitikausgedehnt, das in Amsterdam noch ausdrçcklichausgespart worden war.6

± Die Amsterdamer Regelungen gaben einerseitseinen Rahmen der Ermåchtigung7 fçr kçnftigeneue Projekte gruppierter VZ, der die Bedin-gungen und die Art ihrer Genehmigung durchdie EU und den Beitritt anderer Mitgliedstaa-ten betrifft.

± Sie setzten andererseits Regeln fçr die Arbeitsolcher Gruppen. Damit schufen sie auch einerechtliche Grundlage, auf der man schonbestehende Projekte auûervertraglicher VZ inden Vertrag einbeziehen konnte. Schon in derAmsterdamer Vertragsrevision wurde dieseRegelung fçr die Einbeziehung der Schengen-Kooperation in die Union genutzt. VZ wird indiesem Fall also nicht ad hoc und allein durchdie Teilnehmer dieser Kooperation selbstbegrçndet, sondern ¹vordefiniertª ± durch alleGemeinschaftsstaaten in einem Vertragsakt.

± Die freie auûervertragliche VZ, die zuvor diedifferenzierte Integration ausgemacht hatte,bleibt nach dem Wortlaut der neuen Regelun-gen weiterhin mæglich. Fçr alle Kompetenzen,die der Union nicht durch den Vertrag und dasSekundårrecht zugewiesen sind, dçrfen dieMitgliedstaaten auch weiterhin nur diese freieVZ benutzen. Fçr alle anderen Kompetenzbe-reiche råumen die Vertråge nunmehr aber derinstitutionellen VZ nach den Regeln vonAmsterdam eindeutig den Vorrang ein unddelegitimieren das åltere Verfahren.8

Man erkennt rasch, dass das Modell von 1997schon in der Maastrichter Vertragsrevision 1992 zufinden war: in ihren Vorgaben fçr die Schaffungder Wirtschafts- und Wåhrungsunion !WWU).Dort ging es darum, das System der Wechselkurs-stabilisierung im EWS als eine Gemeinschaftspoli-tik unter das Dach des EU-Vertrags zu ziehen undin eine regelrechte Wåhrungsunion zu verwandeln,die auf eine breitere und solidere rechtliche Basiszu stellen war.

Mit dieser Ausnahme fanden sich bedeutsameKooperationsgruppen bis 1997 jedoch nur auûer-halb der vertraglichen Integration und in derRegel ohne ausdrçckliche Genehmigung und Kon-ditionierung durch die Vertråge. Nur die Wirt-schaftsunion der Niederlande, Belgiens undLuxemburgs !Benelux) hat der EWG-Vertrag inseiner ersten Fassung von 1957 ausdrçcklich

5 Vgl. W. Weidenfeld/W. Wessels !Anm. 1); C. Deubner!Anm. 1).6 Nach der Ablehnung der Nizza-Vertragsrevision durchdas irische Referendum von Juni 2001 ist es allerdings nochnicht sicher, daû diese Ønderungen in vollem Umfang auf-rechterhalten werden kænnen. Vgl. zum Veto den geåndertenEGV Art. 11!2) und EUV Art. 40!2), zur Mindestzahl dengeånderten EUVArt. 43 !1) d), zur Auûen- und Sicherheits-politik den geånderten Titel V des EUV.

7 Zu den folgenden Kategorien vgl. Alexander Stubb, ACategorisation of Differentiated Integration, in: Journal ofCommon Market Studies, !1996) 2, S. 283±295.8 Vgl. Vlad Constantinesco, Les clauses de ¹coop�rationrenforc�eª, in: RTD europen, 33 !1997) 4, S. 751±767, hierS. 755.

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erlaubt ± in einem Artikel, der immer noch exis-tiert !EGV Art. 306, ex Art. 233). Davon abgese-hen folgte Benelux aber der Regel auûervertragli-cher Kooperation, nach der vor 1992 auch dasEWS und insbesondere sein Wechselkursmecha-nismus,9 das Schengen-Abkommen !dieses aller-dings nach dem gemeinsamen Verståndnis derEG-Mitgliedstaaten als ¹Pilotprojektª fçr die Inte-gration der Innen- und Justizpolitik) und andere,weiter oben genannte Vorhaben entstanden.10 AufDauer angelegte Gruppen-Kooperation innerhalbder Vertråge gab es dagegen nur bei den integra-tionspolitisch unbedeutenden ¹zusåtzlichen For-schungsprogrammenª, wie sie seit 1970 praktiziertund in der Einheitlichen Europåischen Akte von1987 !in EGVArt. 130) konsolidiert wurden.

Damit etablierte sich bis 1997 ein wachsenderBereich von VZ auûerhalb der Vertragsregeln unddes Kompetenzbereiches der Institutionen. Dieserumfasste seit Ende der siebziger Jahre groûe undzunehmend wichtige Kooperationsfelder der Mit-gliedstaaten. Die wichtigsten, EWS und Schengen,besetzten zudem ein Terrain, das durch die allge-meinen Vertragsziele der EU abgedeckt wurdeund damit entweder schon ein potenzieller Gegen-stand der Vergemeinschaftung war oder aber einBereich, in dem die EU bereits Kompetenzen aus-çbte ± zum Beispiel in der Freizçgigkeit von Per-sonen und den kompensierenden Maûnahmen!Schengen) oder in der wirtschaftspolitischenKooperation !EWS).

Auf Zugang zu Kooperationsinitiativen dieserArt gab und gibt es fçr die jeweils nichtbetei-ligten EU-Mitgliedstaaten keinen vertraglichenAnspruch. Die Initiatoren konnten darçberbestimmen. Dabei berçcksichtigten sie nicht nurden politischen Willen der Kandidaten, sondernkonnten auch Kriterien der Fåhigkeit aufstellen!vor allem bei der Aufnahme in den Durchfçh-rungsbereich von Schengen,11 aber auch beimWechselkursmechanismus des EWS sehr mar-kant). Damit wurde auch die Mæglichkeit vergræ-ûert, zutrittswillige Mitgliedstaaten drauûen zuhalten. Italien ist hier ein ± aber nicht das einzige± Beispiel: Es musste mehrfach aus dem Wechsel-kursmechanismus des EWS austreten12 und ver-suchte jahrelang vergeblich, in die Anwendungs-gruppe des Schengen-Abkommens aufgenommen

zu werden, scheiterte aber an den strikten Auf-nahmeregelungen.13

Diese Autonomie gegençber den Gemeinschafts-regeln erleichterte die rasche Einfçhrung neuerIntegrationspolitiken in bedeutsamen Politikfel-dern. Solange gewisse Mitgliedstaaten die Auf-nahme solcher Politiken in das Gemeinschafts-system blockieren, wiegt dieser Vorteil weitschwerer als die Nachteile der auûergemeinschaft-lichen Politik. So håtten etwa das EWS !dieWWU) und das Schengener Abkommen Ende dersiebziger bzw. Mitte der achtziger Jahre mit allenMitgliedstaaten noch nicht verwirklicht werdenkænnen; sie wåren auch zu Beginn des neuen Jahr-hunderts noch nicht mæglich.

Es ist allerdings deutlich erkennbar, dass sich Vor-und Nachteile der Methode einer VZ fçr einzelneProjekte çber die Jahre verschoben haben. Zu derBenachteiligung der Nichtteilnehmer traten dieIneffizienz sowie Demokratiedefizite, die inter-gouvernementalen Methoden im Vergleich zuGemeinschaftsverfahren eigen sind. Mit demzunehmenden Erfolg solcher Politiken fielen dieNachteile immer stårker ins Gewicht, die Anwen-dung der Gemeinschaftsverfahren wurde attrakti-ver. In dem Maûe, in dem verstårkte Kooperationdie Union fçr jene Projekte æffnete, wuchs derDruck, von der auûervertraglichen VZ in das EG/EU-Vertragssystem çberzuwechseln.

II. Integrationspolitische undtheoretische Deutung

Differenzierung der Integration im grundsåtzli-chen Sinne ist ± wie oben gesehen ± eine Entwick-lung der achtziger und neunziger Jahre, mit zuneh-mender Bedeutung. Ihre Triebkråfte liegen in derSpannung zwischen dem fortdauernden Wunschwichtiger Mitgliedstaaten der EG/EU nach weite-rem Kompetenztransfers auf die Unionsebene undder Mitgliedschaft ± oder dem Neubeitritt ± vonStaaten, die dieses Interesse nicht bzw. noch nichtteilen oder nicht die Fåhigkeit zu seiner integrati-onspolitischen Umsetzung haben. Diese Spannungwird dadurch erhæht, dass unterschiedliche Her-ausforderungen und unvorhergesehene Entwick-lungen die Mitgliedsregierungen immer wieder zu9 Vgl. E. Gaddum !Anm. 3).

10 Vgl. C. D. Ehlermann !Anm. 1), S. 17.11 Das so genannte Schengen II, vgl. dazu K.-P. Nanz!Anm. 4).12 Vgl. E. Gaddum !Anm. 3).

13 Vgl. Christian Deubner, Harnessing Differentiation inthe EU. Flexibility after Amsterdam !Working Paper, hrsg.durch EU-Commission Forward Studies Unit), Brçssel 2000.

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neuen Integrationsinitiativen veranlassen !v. a.weil der acquis communautaire betroffen ist).

Unter diesen Umstånden kommt VZ durch denpolitischen Willen der Initiatoren zustande, ihreVorhaben auch unter Zurçcklassen anderer ± des-interessierter oder zægernder ± Mitgliedstaatenumzusetzen. Dieser Wille geht çbrigens manchmalin widersprçchlicher Weise mit einer anderenAbsicht einher: die anvisierten Felder neuer Inte-gration nicht oder wenigstens noch nicht den klas-sischen Gemeinschaftsverfahren zu unterwerfen,sondern nationale Handlungskompetenz zubewahren.

Die Chancen dafçr wurden 1997 deutlich verbes-sert. Seit der Einfçhrung der institutionellen VZ!und ihrer weiteren Erleichterung in Nizza)erlaubt der Vertrag den Initiatoren, ihre Koopera-tionsplåne innerhalb der Gemeinschaft in vielenFragen auch gegen das Veto anderer Mitgliedstaa-ten durchzusetzen: Ihre Zusammenarbeit kannsich auf Institutionen und Verfahren der Unionstçtzen. Gleichzeitig sind die Mæglichkeiten dieserMitgliedstaaten zum Ausweichen auf auûerver-tragliche Kooperation delegitimiert oder beschnit-ten worden.14 Der Rahmen, in dem sie ihre leichterdurchsetzbare Sonderkooperation verwirklichenkænnen, ist dadurch als solcher auch enger undkonditionierter.

Die Mæglichkeiten der desinteressierten oderzægernden Mitgliedstaaten, solche Plåne zu blo-ckieren, wurden 1997 dagegen deutlich verschlech-tert. Nach den neuen Regeln kænnen sie die Verge-meinschaftungsabsichten anderer Mitgliedstaatenim Vertragsrahmen nur noch aufhalten, wenn siedafçr eine Mehrheit finden, was in einer erweiter-ten EU immer schwieriger werden wird. Zudemdçrften Gegenleistungen fçr Zustimmung undeigene Kooperation schwerer erreichbar sein.Auch diejenigen, denen es nur um Kontrolle undMitmachen geht, finden ihre Druckmittel beein-tråchtigt, vor allem durch die Vertragsrevision vonNizza.

Gleichwohl sind ihre Bedenken durch die Úffnungdes Vertragssystems fçr Kooperationen und diestrengen Offenheitsgebote fçr diese Zusammenar-beit berçcksichtigt, ebenso wie durch den damitverbundenen ausdrçcklichen Schutz des acquiscommunautaire. Die Initiatoren kænnen zudemweniger fåhigen Mitgliedstaaten die Kooperationnicht so einfach verweigern, wie dies auûerhalbdes institutionellen Rahmens ging und geht. Ent-sprechend liegt es auch im Interesse der Initiato-

ren, jenen Hilfestellung zu geben. Dagegen lassensich Sanktionen als Druckmittel immer wenigerrechtfertigen. Der Charakter der Union als Soli-dargemeinschaft verstårkt diesen Druck auf dieFåhigen. Der Mitzieh-Effekt der Differenzierungwird erhæht.

Insgesamt stårkt die Reform von 1997 also bei derEntstehung, Ausweitung und Fortfçhrung diffe-renzierter Integration die Bedeutung der Gemein-schaftsziele und des politischen Willens. DieBedeutung der Fåhigkeit als Teilnahme- und Sank-tionskriterium tritt deutlich zurçck. Das beståtigtauch ein Blick auf die Entwicklung bis 2001: In derWWU trat das bei der Grçndung als am wenigstenfåhig angesehene Mitgliedsland Griechenland dergemeinsamen Wåhrung bei; dagegen konntenGroûbritannien, Dånemark und Schweden, die derWåhrungsunion weiter fernblieben, die Bedingun-gen fçr den Euro schon ab Anfang 1999 erfçllen,sie wollten aber nicht teilnehmen. Auch fçr denRdFSR gilt: Das wegen mangelnder Fåhigkeitlange fern gehaltene Griechenland gehært im Jahr2001 zum Kreis der vollen Anwender der Schen-gen-Regelungen, wåhrend långst befåhigte Lånderwie Groûbritannien und Irland diesem Kreis wei-terhin fernbleiben und Dånemark zwar mitmacht,sich aber die Mæglichkeit des einseitigen Fernblei-bens von weiteren Projekten in diesem Politikfeldreserviert.

Die Haltung der Mitgliedstaaten zu den verschie-denen Arten von VZ wird aus einer Kombinationdieser und anderer Motive geprågt.15 Eine sehrschematische Lesart sieht folgendermaûen aus:

± Auf der einen Seite stehen die meist hoch ent-wickelten Mitgliedstaaten, die ± wie Groûbritan-nien und Dånemark oder in gewissem Umfangauch Schweden ± einem weiteren Kompetenz-transfer auf die Gemeinschaftsebene prinzipiellablehnend gegençberstehen. Diesen Transferwollen sie durch ihren Widerstand von Fall zuFall bremsen. Einer umfangreichen VZ inner-halb der EU stehen sie reserviert gegençber; lie-ber ist sie ihnen im Zweifelsfall auûerhalb desVertragssystems.

± Auf der anderen Seite stehen jene meist kleine-ren oder schwåcher entwickelten Mitgliedstaa-ten, welche den Kompetenzzuwachs der EUzwar wollen, bei der Mæglichkeit externer

14 Vgl. V Constantinesco !Anm. 8), S. 755.

15 Vgl. Christian Deubner, A Comparison of NationalViews, in: Antonio Missiroli !Hrsg.), Flexibility and En-hanced Cooperation in European security matters. Assets orLiabilities !Occasional Paper No.6 of the Institute for Secu-rity Studies, WEU), Paris 1999, S. 11±19, hier S. 14 f.

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Zusammenarbeit aber fçrchten, dort wedernach eigenem Willen teilnehmen, noch Einflussausçben zu kænnen. Die meisten von ihnen woll-ten diese Initiativen der Zusammenarbeit unterdas Dach des Vertrags ziehen.

In einer nochmals erweiterten Union nach 2004dçrften die Mechanismen der VZ noch stårker wir-ken. Voraussichtlich werden die Fåhigkeiten derneuen Mitglieder zur Ûbernahme aller vertragli-chen Pflichten in bestimmten Feldern noch nichtausreichen, sodass die EU ihnen Ûbergangsfristenzugestehen wird. Dies gilt auch fçr die beidengræûten Felder vordefinierter VZ, also dergemeinsamen Wåhrung und dem RdFSR, wo auchim Jahr 2002 die Kontrolle der Auûengrenzennoch nicht dem geforderten Niveau zu entspre-chen schien. Fçr eine Ûbergangsfrist werden çbri-gens auch die bisherigen EU-Mitglieder ihrerseitsFreistellungen von der vollen Anwendungbestimmter EU-Regeln verlangen. Das gilt etwafçr die Freizçgigkeit von Arbeitnehmern.

Wenn die Beitrittsstaaten wollen und keine unvor-hersehbaren Entwicklungen eintreten, kænnenviele von ihnen wohl noch innerhalb dieses Jahr-zehnts beiden Kooperationsgruppen beitreten.Dabei kænnen sie die Unterstçtzung der jetzigenMitglieder einfordern. Nur der integrationspoli-tisch bedingte Wille zum Fernbleiben, wie ihnetwa der frçhere tschechische MinisterpråsidentVaclav Klaus vertritt, wird eine långerfristige wirk-same VZ bewirken kænnen. Dieser Zusammen-hang verstårkt bei den starken und fåhigen Mit-gliedstaaten die Zweifel am Nutzen von VZ fçrdie Effektivitåtssteigerung von Gemeinschaftspoli-tiken innerhalb einer nach Osten erweitertenUnion.

III. Der Beitrag differenzierterIntegration zur Unionsbildung

Oben wurde mit Blick auf die neuen Mechanismenintegrationspolitischer Differenzierung danachgefragt, ob die Vorteile die absehbaren Nachteilekompensieren oder çbertreffen wçrden. Auûer-dem wurde betont, wie sehr diese Bewertung vondem Leitbild europåischer Integration abhångt.Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Textes gibtes noch kein Beispiel einer VZ nach dem Musterder Ermåchtigungsregeln von Amsterdam. Inso-fern kænnen die Schlussfolgerungen çber den Bei-trag verstårkter Zusammenarbeit zur Unionsbil-dung nur aus Fållen freier VZ auûerhalb des

Vertragsrahmens und der daraus hervorgegange-nen vordefinierten VZ gezogen werden.

Auch mit dieser Einschrånkung fållt eine eindeu-tige Antwort zu Beginn des Jahres 2003 nochschwer. Halten wir uns zunåchst einmal an das tra-ditionelle Leitbild der Union mit funktionieren-dem, weiter wachsendem acquis communautairefçr alle Mitgliedstaaten. Zunåchst kænnte man denBeitrag der Differenzierung als im Groûen undGanzen positiv bewerten, vor allem mit Blick aufdie ¹Karrierenª der monetåren Vergemeinschaf-tung und der polizeilichen und innenpolitischenKooperation in Maastricht und Amsterdam.WWU und RdFSR sind heute Fålle ¹vordefinier-terª VZ innerhalb des Vertrags. Das gilt auch fçrdie Weiterentwicklung der gemeinsamen Sicher-heits- und Verteidigungspolitik. Bei allen Unter-schieden im Einzelnen hat hier die Einsicht denAusschlag gegeben, dass der beschrånkte Integra-tionsgrad auûerhalb der EU die weitere Entwick-lung der betreffenden Politik bremsen wçrde undimmer mehr Mitgliedstaaten ± und Beitrittskandi-daten ± in diesen Politikbereichen mitarbeitenwollten.

Dadurch ist aber die Integration der Fçnfzehn ins-gesamt noch nicht gestårkt und vertieft worden.Nur weil wichtige Mitgliedstaaten weiter fernblei-ben konnten, gelang die Ûbernahme dieser Po-litikbereiche durch die Union! Die Spaltung vonGemeinschaftsverfahren und Institutionen isthier inzwischen Wirklichkeit. Und ganz allgemeinist damit auch das Gemeinschaftsverfahren ge-schwåcht. Alle drei oben genannten Politikberei-che haben also auch bei ihrer Ûbernahme nichtden Charakter differenzierter Integration verloren.Ihre Ûbernahme hat vielmehr die Differenzierung± in einer bis 1992 unbekannten Weise ± in dieInstitutionen und Verfahren der Union selbst ein-gebracht.

Wie man das Ergebnis beurteilt, hångt von zweiweiteren Erwågungen ab:16

± Man geht davon aus, dass die Differenzierungder Integration nach dem neuen !und demalten) Muster letztlich eine bezçglich der The-men und der nichtteilnehmenden Mitgliedstaa-ten weniger bedeutende Randerscheinung derIntegration bleiben wird, oder man vermuteteine strukturell wirksame Anwendung der Dif-ferenzierung in zentralen Politiken.

± Im zweiten Fall geht man davon aus, dass dieseDifferenzierung sich jeweils nur als eine vor-

16 Vgl. E. Philippart/M. Sie Dhian Ho !Anm. 1).

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çbergehende erweist und die betreffende Politikso attraktiv ist, dass sie letztlich såmtliche Mit-gliedstaaten einbeziehen wird ± man erwartetalso nicht, dass die Differenzierung sich dauer-haft in bedeutenden Politikfeldern etablierenund ein langfristiges Strukturmerkmal derUnion werden wird.

Fçr die erste Annahme einer nach Zahl und Artder betroffenen Mitgliedstaaten unbedeutendenAnwendung der neuen VZ innerhalb des Vertragsspricht im Jahr 2001 nur der bisherige Verzicht aufdie Anwendung des Amsterdamer Ermåchtigungs-verfahrens. Andererseits ist eine vertragsinterneVZ in bedeutenden Politikfeldern wie der WWUund dem RdSFR auf dem Wege der ¹vordefinier-tenª VZ geschaffen worden.

Nehmen wir trotzdem einmal an, dass VZ hier nureine Durchgangsstufe zur Vergemeinschaftungsein wird, also die zweite oben aufgefçhrte Er-wågung zutrifft. Dann sind die Kosten dieserEntwicklung im Vergleich zum Gewinn bisherakzeptabel. Denn da die Vertiefungs- und Er-weiterungsdynamik in der Union in jedem Fallweiter wirken, entsteht jedenfalls auch Druck zurDifferenzierung. Denn die Unterschiede der Mit-gliedstaaten im politischen Willen und in derFåhigkeit zu weiterer Integration bestehen fortoder vergræûern sich mit der Zunahme der Mit-gliederzahl noch. Der Differenzierungsdruckbraucht gleichsam Dekompressionskammern, indenen er çber långere Fristen und bei mæglichstgeringer Belastung fçr die Union abgebaut werdenkann. Solche Kammern innerhalb des Vertragssys-tems bietet aus dieser Sicht die verstårkte Koope-ration nach Amsterdam.

Der Beitrag der VZ zur Stårkung der Gemein-schaftsverfahren dçrfte bei alledem gering sein,denn der Vertrag verbietet eine gruppeninterneVertiefung der Kooperation. Auûerdem bleibt denPartnern, da sie im Vertrag an Offenheit und Soli-daritåt gebunden sind, nur noch wenig Mæglich-keit, den Beitritt zu ihrer Gruppe zu kontrollierenund an den Nachweis der Bereitschaft und Fåhig-keit zur vollen Mitwirkung zu knçpfen. Damit istdie Wahrscheinlichkeit groû, dass die Teilnehmerihren in einem Politikfeld gegebenen Kooperati-onswillen nicht voll ausschæpfen kænnen.

Insgesamt kænnte die Antwort positiver ausfallen,wçrde man nur die externe Gruppenkooperationund vor allem die schon genannten Erfolge vonSchengen und EWS/WWU berçcksichtigen.Auûerhalb der Union kommt es auch nicht zu denmanchmal befçrchteten Dominanzeffekten einerVZ-Gruppe innerhalb des Unions-Rahmens.

Allerdings geråt die Gesamt-EU durch gruppierteKooperation sehr wohl immer wieder unterDruck, und zwar auch ungewollt. So sieht sie sichin der Weiterentwicklung ihrer eigenen Integrationbeschrånkt oder gar herausgefordert und delegiti-miert. Das kann sie auch dazu zwingen, rascher alsgewollt eine gemeinsame Position zum Stand undzu weiteren Optionen der Integration in einemgegebenen Politikfeld zu beziehen.

Hinsichtlich der Form kçnftiger VZ darf man nachden Erfahrungen mit der Eurogruppe in derWWU vermuten, dass sie nicht ¹reinª den Vorga-ben des Vertrags folgt, sondern sich neben der offi-ziellen Verfahrensform gruppierter Abstimmungauch informelle, ¹frei kooperierendeª Gruppenzur Vorbereitung dieser Abstimmungen bildenwerden. Verbreitete VZ wird, institutionell gese-hen, also nicht zu klareren Verhåltnissen fçhren;vielmehr werden weitere Felder unsauberer undintransparenter Zwischenlæsungen eingefçhrt.

Was fçgen die neuen Ermåchtigungsregeln fçr dieKooperation innerhalb des Vertragssystems demEffekt institutioneller VZ noch hinzu, wenn mansie mit der Variante der vordefinierten VZ ver-gleicht? Der wesentliche zusåtzliche Effekt dçrftein der Verhandlungssituation bei Einfçhrung oderVerånderung græûerer Gemeinschaftspolitikenentstehen. Dort veråndert die Ermåchtigungsregeldie Balance zwischen Blockademæglichkeiten undKompromisszwang. Dies wird mæglicherweise denKompromisswillen und das Vertrauen wichtigerVertragspartner in die Unparteilichkeit der Institu-tionen und die Chancengleichheit aller Mitglied-staaten stark verringern; der angestrebte Erleich-terungseffekt fçr die Entscheidungsfindung kænntedann nicht erreicht, wçrde vielleicht sogar konter-kariert werden. Das sind Bedenken, die sich nichtvon der Hand weisen lassen, und sie ziehen denpositiven Beitrag der vertragsinternen VZ zurIntegrationsstruktur weiter in Zweifel.

Tatsåchlich hångt bei der Bewertung viel davonab, wie dauerhaft die entstehenden Strukturen dif-ferenzierter Integration letztlich sein werden.Vieles spricht dafçr, dass mit der fortgesetztenErweiterung der Union die Absichten und Mæg-lichkeiten der Mitgliedstaaten zum Einstieg inneue Vergemeinschaftung oder zur Vertiefungbestehender Gemeinschaftspolitiken noch weiterauseinander klaffen werden als bisher. StrukturelleDifferenzierung mit ihren negativen Wirkungenwçrde dann ein dauerhafter ± und unausweichli-cher ± Bestandteil der EU werden.

Geht man vom Leitbild einer Union mit integrati-onserhaltender Struktur und integrationsstårken-

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der Dynamik aus, wird eine strategische Analysedieser Perspektive die Verfahren der VZ danachbeurteilen mçssen, ob und inwieweit sie auch aufdiesem grundsåtzlich verånderten Sockel weiter-verfolgt werden kann. In dieser Perspektive sinddrei Typen der kçnftigen VZ vorstellbar:

± Erstens eine verstårkte Zusammenarbeit, die alssolche keine Struktur aufweist: Die Mitglied-staaten engagieren sich in den Bereichen ver-stårkter Kooperation, die ihren jeweiligen Inter-essen am meisten entsprechen, ohne einçbergreifendes Muster erkennen zu lassen. DasErgebnis ist eine VZ von unterschiedlichenStaatenkoalitionen, die sich çber die verschiede-nen Politikfelder der Union verteilt. Denkbar isteine kleinteilige oder eine eher flåchige Politik-erfassung.

± Zweitens eine bestimmte Struktur, die sich nachThemen organisiert: Vorstellbar ist zum Bei-spiel, dass die Mitgliedstaaten bestimmte Kern-politiken der Gemeinschaft weiterhin gemein-sam betreiben und sich nur bei Themen, die sieals nicht oder noch nicht zentral fçr die Unionbetrachten, zu differenzierter Integration bereitfinden. Dies liefe in Richtung des alten Kon-zepts von Wallace und Wallace,17 wonachwenige Gemeinschaftsfelder wie der einheitlicheBinnenmarkt und die Gemeinsame Auûenwirt-schaftspolitik den Nukleus der Union darstellen,neben dem eine gruppierte Zusammenarbeitunterschiedlicher Staatenkoalitionen in anderenFeldern toleriert werden kann.18

± Drittens kænnte auch die unterschiedliche Teil-nahme der Mitgliedstaaten das strukturierendeMerkmal bilden: Bestimmte Mitgliedstaatennåhmen nur an einigen Projekten verstårkterKooperation teil, andere dagegen an allen. Eswçrde nicht oder nicht nur ein Kern gemeinsa-mer Politiken fçr alle Mitgliedstaaten entstehen,sondern auch ein Kern derjenigen, die an allenPolitiken ± einschlieûlich der verstårktenKooperation ± teilnåhmen.19 Damit ist auchklar, dass man sich keine Struktur vorstellen

darf, die nur eines der drei Merkmale aufweist.Es geht um die Dominanz eines Merkmals.

Im Sinne des oben genannten Leitbildes sind zweidieser drei Typen nun groûenteils negativ zubewerten. Misst man sie aber nach den Leitbilderneiner je anderen Art von Union, kommt man auchzu anderen Ergebnissen. Der erste Typ wåre amnegativsten; er entspricht einer Integration � lacarte und kænnte zu einem Auseinanderfallen derbestehenden EU-Integrationsstruktur fçhren. Einekleinteilige verstårkte Zusammenarbeit wçrdezusåtzlich Politikfelder zerreiûen. Fçr Anhångereiner groûen Binnenmarktordnung mit funktiona-len Untergruppen20 erscheint diese Læsung aller-dings positiv.

Der zweite Typ einer variablen Geometrie miteinem gemeinsamen Kernbereich kænnte dieseStruktur am besten stabilisieren. Dies wçrde erlau-ben, die weiteren Integrationseffekte einzelnerVZ-Projekte abzuwarten.21 Abhångig davon, wienahe der gemeinsame Kernbereich dem Statusquo der existierenden EU kommt, entspricht die-ses Szenario am ehesten dem, was die Initiatiorender verstårkten Zusammenarbeit wollten ± orien-tiert am Leitbild 1. Angesichts der Beharrungs-kraft des acquis communautaire ist dieses Szenariofçr die absehbare Zukunft auch das wahrschein-lichste. Diese Perspektive dçrfte auch jenen gefal-len, die in Richtung Autonomiewahrung und funk-tionale Handlungsfåhigkeit gehen wollen, dabeiaber einen Minimalrahmen verbindlicher Gemein-samkeit ausdrçcklich erhalten wollen. Es bestehtallerdings die Mæglichkeit, dass sich ± quasi zwi-schen dem ersten und dem zweiten Typ ± nicht nurein gemeinsamer Kernbereich herausbildet, son-dern mehrere, in denen sich unterschiedlicheKoalitionen von Mitgliedstaaten engagieren.Keine positive Perspektive fçr die Integration derEU insgesamt!

Der dritte Typ, durchaus vereinbar mit dem zwei-ten, wçrde wohl mittelfristig das hæchste Potenzialweiterer Integrationsstårkung enthalten. Dieselåsst sich als stufenweiser Prozess denken: In einerersten Stufe wçrde dieses Potenzial fçr die Kern-gruppe wirksam, erst in einem zweiten ± mægli-cherweise ± fçr die gesamte Union. Es gibt also einSpaltungsrisiko fçr die EU. Rçckhaltlos zu begrç-ûen ist der dritte Typ daher nur fçr die Anhångerdes Leitbild eines Kerneuropas.

17 Vgl. Helen Wallace/William Wallace, Flying Together ina Larger and More Diverse European Union !W 87 WorkingDocuments, The Netherlands Scientific Council for Govern-ment Policy), The Hague 1995.18 Vgl. Claus Dieter Ehlermann, Differenzierung, Flexibi-litåt und engere Zusammenarbeit. Die neuen Vorschriftendes Amsterdamer Vertrages, in: ders. !Anm. 1), S. 16.19 Eine neuere Formulierung dieser These bietet Jean-Louis Quermonne, Die Europåische Union auf der Suchenach legitimen und effizienten Institutionen, in: Integration,23 !2000) 2, S. 81±88.

20 Vgl. Alex Warleigh, Flexible Integration. Which Modelfor the European Union?, Sheffield 2002.21 Das ist auch mit der positiven Sicht Philipparts und SieDhian Hos am ehesten vereinbar. Vgl. E. Philippart/M. SieDhian Ho !Anm. 1), S. 21.

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Die Risiken fçr die fortdauernde Integration derEU nach dem Leitbild 1 wåren beim ersten undbeim dritten Typ am hæchsten. Die zweite Variantestellt dagegen beim Entstehen eines fçr alle Teil-nehmer gemeinsamen einzelnen Schwerpunktfel-des die am wenigsten risikante positive Perspek-tive einer differenzierten Integration dar.

Die Regeln des Vertrages und ihre 2003 anste-hende Reform haben Einfluss darauf, in welcheRichtung die Entwicklung långerfristig gehenkann. Am wichtigsten bleibt, wie viel Freiheit denMitgliedstaaten zur VZ auûerhalb des IR bleibt.Je mehr Freiraum sie haben, umso geringer wer-den die direkten Herausforderungen der VZ fçrdie EU-Verfahren und -Institutionen ausfallen ±umso stårker wird allerdings auch der indirekteDruck auf bestimmte Felder der EU-Integration

durch auûervertragliche VZ. Auf dieses Verhålt-nis zwischen auûer- und innervertraglicher VZwirken auch die Bedingungen, die kooperations-willige Mitgliedstaaten erfçllen mçssen, damit ihrVorhaben innerhalb des Vertragssystems zugelas-sen wird. Je græûer die Mindestteilnehmerzahlund das Zustimmungsquorum und je stårker dieRçcksichtnahme auf den acquis communautaireund die Interessen der Nichtteilnehmer ausfallen,umso unattraktiver wird die innervertraglicheKooperation und umso interessanter die auûer-vertragliche Zusammenarbeit. Je groûzçgigerdagegen die Konditionen fçr innervertraglicheVZ werden, umso zahlreicher kænnten dieseangewendet werden; dies wçrde auch die Heraus-forderungen fçr die Institutionen und Verfahrenverstårken.

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Michael W. Bauer/Ralf Knæll

Die Methode der offenen Koordinierung:Zukunft europåischer Politikgestaltungoder schleichende Zentralisierung?

Seit einiger Zeit bedient sich die EU eines Instru-ments mittelbarer Politikabstimmung, bei dem aufRatsebene Ziele formuliert werden, deren natio-nalstaatliche Erreichung dann durch ein zumeistindikatorengestçtztes transnationales Monitoringgegenseitig çberwacht wird.1 Dieser im Wesentli-chen jenseits klar definierter rechtlicher Grundla-gen und damit auûerhalb der Vertråge laufendeProzess wird als Methode der offenen Koordinie-rung !MOK) bezeichnet.

Im Folgenden sollen Charakteristika sowie An-wendungsbereiche der MOK dargestellt werden.Ferner wird die Entstehung dieser Methode imKontext der europåischen Arbeitsmarktpolitik derneunziger Jahre nachgezeichnet, wobei auch aufdie weiter zurçckliegenden historischen Wurzelndieser Art des Politikmanagements verwiesen wer-den soll. Aus bundesdeutscher Sicht ist zudem vonbesonderer Brisanz, was die MOK fçr die Beteili-gungsmæglichkeiten der Lånder in EU-Angelegen-heiten bedeutet und wie man dort auf diese neueForm supranationaler Politikgestaltung reagiert.

I. VomWeiûbuch ¹Beschåftigungªzum Gipfel von Lissabon

Die MOK findet de facto in immer mehr Politik-bereichen Anwendung. Im Grunde verståndigtman sich im Rat auf mitunter recht detailliertePolitikziele, die in einem vorgegebenen Zeitraumerreicht werden sollen. Die Kommission berichtetsodann periodisch auf der Grundlage nationalerDaten çber die Einhaltung dieser ¹Selbstverpflich-tungenª. Sanktionen bei Nichterfçllung sind in denmeisten Fållen nicht vorgesehen. Ihre verblçffendeDynamik schæpft die MOK aus dem psychologi-

schen Element der gegenseitigen Zielerreichungs-çberprçfung durch die Ratsmitglieder. Den euro-påischen Partnern scheint es ganz einfachunangenehm, ihr Land beim ¹Benchmarkingª imLeistungsvergleich im unteren Drittel einer Rang-liste zu sehen.

Die MOK wurde im Kontext der Initiativen zurEuropåischen Beschåftigungsstrategie in denneunziger Jahren entwickelt. Als Ausgangspunktist das ¹Weiûbuch Wachstum, Wettbewerbsfåhig-keit und Beschåftigungª aus dem Jahre 1993 derEuropåischen Kommission zu sehen, das auch alsdas Vermåchtnis des damaligen Kommissionspråsi-denten Jacques Delors gilt. Delors wollte damit anden Erfolg des Weiûbuchs, mit dem Mitte derachtziger Jahre das Binnenmarktprogramm aufden Weg gebracht wurde, anknçpfen. Ganz andersals damals war die Europåische Union Anfang derneunziger Jahre integrationspolitisch aber schonlångst wieder in der Defensive. Der MaastrichterRatifikationsprozess war durch die dånischeAblehnung ins Stocken geraten, und die europa-weit steigende Arbeitslosigkeit lieû die Frage auf-kommen, warum der strikte monetåre Stabilitåts-fokus der Union nicht durch wirtschafts- undsozialpolitische Maûnahmen auf europåischerEbene ergånzt werde.

Hier setzte Delors Weiûbuch an. Allerdings gab esauf der Ebene der Union keine Handhabe, tat-såchlich koordinierend auf Arbeitsmarkt- undBeschåftigungspolitiken der Mitgliedstaaten ein-zuwirken. Angesichts der machtpolitischen Ver-håltnisse innerhalb der Union, in der zu dieserZeit çberwiegend konservative Parteien Regie-rungsverantwortung trugen, war eine entspre-chende Ûbertragung von Kompetenzen auf diesupranationale Ebene in naher Zukunft realisti-scherweise auch nicht zu erwarten. Daher musstesich das Weiûbuch notgedrungen auf eine ¹klareAnalyse der Stårken und Schwåchen der europåi-schen Úkonomienª2 beschrånken. Diese wissen-

1 Vgl. H. Straûheim, Der Ruf der Sirenen ± Zur Dynamikpolitischen Benchmarkings. Eine Analyse anhand der US-Sozialreformen, WZB Discussion Paper FS II 01±201, Berlin2001; S. Tidow, Benchmarking als Leitidee. Zum Verlust desPolitischen in europåischer Perspektive, in: Blåtter fçr deut-sche und internationale Politik, !1999) 3.

2 Weiûbuch Europåische Kommission, Brçssel 1993, S. 12und 39±53.

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schaftlich fundierte Analyse sollte die Grundlagefçr einen ¹makro-ækonomischen Referenzrah-menª bilden, der die Mitgliedstaaten ¹anleitenªsollte. Hinzu kamen detaillierte quantitative Ziel-vorgaben. So sollten innerhalb von fçnf Jahren 600Milliarden ECU von den Mitgliedstaaten zurSchaffung von 15 Millionen Jobs aufgebracht wer-den. Obwohl, wie es im Weiûbuch heiût, ¹diesesDokument weder eine Quelle von Obligationennoch ein legislatives Programm, und schon garkein Plådoyer fçr mehr EU-Kompetenzen, son-dern eine moralische Verpflichtung fçr die Mit-gliedstaaten darstelltª3, fçrchteten Letztere dieErosion ihrer finanz- und wirtschaftspolitischenUnabhångigkeit und schenkten den Delorsvor-schlågen in der Folge erst einmal wenig Beach-tung.

Mit dem weiteren Ansteigen der Arbeitslosigkeitwuchs allerdings auch der Handlungsdruck auf dieRegierungen, und einmal auf der europåischenTagesordnung war der ¹gemeinsame Kampfªgegen die Arbeitslosigkeit nicht mehr ohne weite-res ¹renationalisierbarª ± zumal das Weiûbuchkeine Harmonisierung einforderte, sondern kon-krete Politikvorschlåge machte, wie die Arbeitslo-sigkeit am besten zu bekåmpfen sei.

Auf dem folgenden Europåischen Rat in Essenwaren die Diskussionen so weit fortgeschritten,dass insgesamt fçnf Prioritåten nationaler Beschåf-tigungspolitik formuliert wurden.4 So erfolglos inder Substanz diese ¹Zielvorgabenª auch blieben,sie kænnen als Muster fçr die MOK-Prozedur gel-ten, welche spåter im Amsterdamer Beschåfti-gungskapitel festgeschrieben wurde.5 Angesichtsausbleibender Resultate widmeten sich die folgen-den Europåischen Råte in den Jahren 1995 und1996 ± insbesondere Cannes, Madrid, Florenz,Dublin ± einer Konkretisierung des in Essenbegonnenen Prozesses. So wurden in Madrid nichtnur spezifischere Interventionsprioritåten erstellt,sondern es wurde auch auf die Notwendigkeit ver-wiesen, sich auf gemeinsame Indikatoren zu ver-ståndigen, um die nationalen Politikergebnisse

auch miteinander vergleichen zu kænnen. In Dub-lin wurde dieser Gedanke dann weitergefçhrt undeffektives Monitoring und Evaluierung sowie dieIdentifizierung von ¹best practice-Projektenª ver-einbart. Damit hatte sich der Koordinationsmodus± Leitlinien, Definition prioritårer Interventions-felder, Indikatorenvorgabe, Monitoring derUmsetzung sowie Evaluierung der Ergebnisse ±herauskristallisiert. Die Methode der offenenKoordinierung war damit entstanden, auch wennsie erst einmal noch nicht so genannt wurde.

Diese Vorgaben wurden auf dem LuxemburgerGipfel im Dezember 1997 zunåchst noch etwaspråzisiert.6 Inhaltlich blieb es jedoch bis auf weite-res bei der Konzentration der Koordinierungspro-zesse auf die engere Arbeitsmarktpolitik. Dieseangesichts der vertraglichen Kompetenzen derGemeinschaft verståndliche Zurçckhaltung wurdedann aber auf dem Gipfel der Staats- und Regie-rungschefs in Lissabon im Mårz 2000 aufgegeben.Als Ziel wurde dort die Entwicklung Europas zurwettbewerbsstårksten und dynamischsten Úkono-mie in der Welt bis zum Jahr 2010 ausgerufen.Dahinter stand zwar noch immer der Wunsch nachnachhaltigem Wirtschaftswachstum und mehrArbeitsplåtzen. Diese sollten jetzt aber nicht mehrallein durch Arbeitsmarktpolitik, sondern auchdurch eine weiter gefasste Koordination derSozialpolitiken der Mitgliedstaaten erreicht wer-den. Die aus dem Bereich der Beschåftigungspoli-tik çbernommene Form europåischer Interventionwurde nun zum ersten Mal offiziell als ¹Methodeder offenen Koordinierungª bezeichnet.

II. MOK undihre historische Wurzeln

Angesichts der Dynamik, die von MOK ausgeht,erstaunt es nicht, dass sich die akademische For-schung diesem Phånomen intensiv zuwendet.7 Bis-her ist aber unbeachtet geblieben, dass MOK vonverwaltungspolitischen ¹Groûtrendsª getragen

3 Ebd., S. 120 f.4 Beispielsweise verstårkte Investitionen in beruflicheAusbildung, Verringerung der Lohnnebenkosten und Kon-zentration arbeitsmarktpolitischer Maûnahmen auf Pro-blemgruppen. Vgl. Europåische Kommission, Die Euro-påische Beschåftigungsstrategie: Fortschritt undPerspektiven fçr die Zukunft, COM !95) 465 final, Brçssel,11. 10. 1995.5 J. Goetschy/P. Pochet, The Treaty of Amsterdam: a newapproach to employment and social affairs, in: Transfer, 3/97,S. 607±620; S. Sciarra, Integration through coordination: theEmployment Title in the Amsterdam Treaty, in: The Co-lumbia Journal of European Law, !2000), S. 209±229.

6 In Form eines klar gegliederten dreistufigen Verfahrens:1. Allgemeine Leitlinienbestimmung und Definition quanti-fizierbarer Ziele, 2. Ausarbeitung nationaler Aktionsplåne, 3.Evaluierung auf der Basis der festgelegten Indikatoren, umden Erfahrungsaustausch und die Identifizierung von best-practice zu systematisieren.7 Vgl. J. Mosher, OpenMethod of Coordination: Functionaland Political Origins, in: ECSA Review, 13 !2000) 3, S. 2±7;D. M. Trubek, The Open Method of Coordination: Soft Lawin the New Architecture for Governance of Social Policy inthe EU, Research Outline, University of Madison, Wisconsin2002; I. Linsenmann/Chr. Meyer, Dritter Weg, Ûbergang oder

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wird, ohne deren Berçcksichtigung eine Analysenotwendig unvollståndig bleibt. An dieser Stelleist insbesondere auf die Programmplanungsdebat-ten aus den sechziger und frçhen siebziger Jahrenzu verweisen. Hier wurden Politikinterventionenaus einem technokratisch-aufklårerischen Politik-verståndnis heraus systematisch mit wissenschafts-gestçtzten Bewertungsprogrammen gekoppelt, diegegençber einer kritischen Úffentlichkeit bzw.dem politischen Gegner den gesellschaftlichenWert dieser Eingriffe mithilfe von quantitativenWirkungsstudien nachweisen sollten.8

Diese Evaluierungskultur blieb aber wåhrend derkommenden Jahre auf den angelsåchsischen Raumbegrenzt und hat sich erst im Laufe der achtzigerJahre çber internationale Organisationen wie dieWeltbank und die OECD auch in Kontinentaleu-ropa etablieren kænnen.9 Es ist nun seit Ende derachtziger Jahre zu beobachten, dass Evaluierungenverstårkt auch bei der Europåischen Union einge-setzt werden,10 erst vornehmlich innerhalb derStrukturfonds, bald aber auch in Sozialpolitikenaller Art. Hier standen ± åhnlich wie ehemals inden USA ± die verantwortlichen Politiker, allenvoran Kommissionspråsident Jacques Delors, vorder Aufgabe, budgetåre Mehrausgaben fçr sozialeInterventionsprogramme vor dem politischen Geg-ner und einer kritischen Úffentlichkeit zu rechtfer-tigen. Delors groûe Gegenspielerin von damalswar nicht zufållig Margaret Thatcher, die fastjedem budgetåren Engagement der Gemeinschaftablehnend gegençberstand und in deren HeimatPolitikevaluierungen im Kontext der ¹value-for-moneyª Diskussionen gerade wieder Hochkon-junktur hatten.11

Nachdem also die Europåische Union in der Post-Maastricht-Phase politisch immer mehr unter

Druck geriet, wuchsen gleichzeitig insbesondereinnerhalb der Kommission die Bemçhungen, Ziel-erfçllung und Effizienz der Gemeinschaftspro-gramme durch Evaluierungen wissenschaftlichoder bçrokratisch zu belegen.12 MOK kann vordiesem Hintergrund als geschickte Fortschreibunggesehen werden. Sie bleibt aber immer noch eineerstaunliche Innovation. Der Vorteil der MOK fçrdie europåische Ebene wird insbesondere danndeutlich, wenn man sich die verschiedenenAbschnitte eines ¹normalenª europåischen Pro-grammzyklus veranschaulicht. Hier folgt der Pro-grammidee die Ûberprçfung bzw. Aushandlungvon Kompetenzen. Dann werden in einem aufwån-digen Prozess die Rechtsgrundlagen geschaffen,Programmziele festgelegt und durch messbareIndikatoren pråzisiert. Die mitgliedstaatlicheUmsetzung wird schlieûlich mit Hilfe von Monito-ring begleitet und durch Ex-post-Wirkungsstudiençberprçft.

Das ist ohne Zweifel ein schwerfålliger und auseuropåischer Perspektive risikoreicher Ablauf, beidem die Programmverantwortung sogar zumeistauf der Gemeinschaftsebene lastet. Bei der MOKwerden ganz im Sinne der Maxime der ¹Output-Steuerungª die Programmziele gemeinsam festge-legt, den Mitgliedstaaten die Ausarbeitung desWeges dorthin aber grundsåtzlich freigestellt. DiePartner verpflichten sich allerdings, die notwendi-gen Daten, die fçr das europaweite Monitoringnotwendig sind, kontinuierlich zu liefern. Da dieseMesszahlen zuvor verbindlich festgelegt werden,ist es genau diese Vergleichsçbung, das sogenannte Benchmarking, das die einzelnen Regie-rungen motiviert, innerhalb einer gewissen Band-breite in die gleiche Richtung zu gehen bzw. auf¹ein gemeinsames Zielª hinzuarbeiten. NotorischeSchwachstellen bei der Umsetzung von Politikpro-grammen im europåischen Mehrebenensystem,insbesondere bei der Umsetzung und Implementa-tionskontrolle, kænnen damit neutralisiert werden± zumal die Ressourcenverantwortung ganz in derHandlungsautonomie des einzelnen Mitgliedstaa-tes bleibt. Kein ¹goldener Zçgelª supranationalerFinanzierung nationaler Projekte wird zur Errei-chung einer europåischen Konvergenz benætigt.Dennoch bewegen sich die Mitgliedstaaten auf eingemeinsam definiertes Ziel zu.

Zentrale Steuerung ist also machbar, wenn auchim Zentrum der Gemeinschaftswille der Regierun-gen der Mitgliedstaaten steht. Wer allerdings nicht

Teststrecke? Theoretische Konzeption und Praxis der offe-nen Politikkoordinierung, in: Integration, 25 !2002) 4, S. 285±296.8 Vgl. G.-M. Hellstern/H. Wollmann, Handbuch zur Eva-luierungsforschung, Opladen 1984; C. H. Weiss, EvaluatingAction Programs: Readings in Social Action and Eduction,Boston 1972.9 Vgl. H.-U. Derlien, Genesis and Structure of EvaluationEfforts in Comparative Perspective. Program Evaluation andthe Management of Government. Patterns and Prospectsacross Eight Nations, New Brunswick 1990, S. 147±177.10 Vgl. Europåische Kommission, Evaluation Review 1998!DG XIX), Amt fçr Veræffentlichungen der EU, Luxemburg1998.11 Vgl. P. Goybet, Developing Evaluation at CommunityLevel. Challenges and Prospects, in : Revue d'Economie R�-gionale et Urbaine, !1998) 3, S. 357±368 ; vgl. auch M. W.Bauer, Creeping Transformation? The European Commis-sion and the Management of EU Structural Funds in Ger-many, Dordrecht±London±Boston 2001.

12 Vgl. H. Wollmann, Subsidiaritåt der EG-Ebene undProgrammforschung. Programmforschung der EuropåischenGemeinschaft, Mçnchen 1992, S. 143±177.

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mit am europåischen Tisch sitzt, und das mægendas Europåische Parlament, nationale Parlamente,Regionen oder auch sonstige gesellschaftlicheInteressengruppen sein, der muss die so zustandegekommenen Entschlçsse als zentralistische Vor-gaben empfinden, an deren Entstehung er nichtoder nur unzureichend beteiligt wurde.

III. MOK in der EU-Praxis

In Lissabon wurde MOK als ein systematischerVergleich nationaler Initiativen in Verbindung mitden entsprechenden Kommissionsinitiativen defi-niert.13 Seither wird MOK auf eine wachsendeZahl von Politikbereichen angewandt, ohne dasssich ein einheitlicher Maûnahmenkatalog ausma-chen lieûe. Nachdem auf europåischer wie auchsubnationaler Ebene der Widerstand gegen MOKzunimmt, ist der Rat sogar dazu çbergegangen,nicht mehr explizit von MOK zu sprechen, auchwenn dieses Koordinationsinstrument anzuwendenoffensichtlich seine Absicht ist.

Die verschiedenen MOK, die derzeit im Kontexteuropåischer Initiativen Anwendung finden, kæn-nen grundlegend in MOK mit oder ohne Leitli-nienprozess unterschieden werden. Wie obengeschildert, wurde der Leitlinienprozess im Kon-text der europåischen Beschåftigungsinitiativenzwischen Maastricht und Luxemburg geprågt. Erwurde dann durch den Amsterdamer Vertrag inArtikel 128 EG-Vertrag fixiert. Demnach prçft derEuropåische Rat anhand eines Jahresberichts desRates die Beschåftigungssituation in der Gemein-schaft und nimmt hierzu Schlussfolgerungen an.Anhand dieser Schlussfolgerungen legt der Ratauf Vorschlag der Kommission und nach Anhæ-rung des Europåischen Parlaments, des Wirt-schafts- und Sozialausschusses und des Ausschus-ses der Regionen mit qualifizierter MehrheitLeitlinien fest, welche die Mitgliedstaaten in ihrerBeschåftigungspolitik zu berçcksichtigen haben.Die Mitgliedstaaten berichten çber die Maûnah-men, die sie hierzu ergreifen. Der Rat prçft dieseBerichte und kann auf Vorschlag der Kommissionmit qualifizierter Mehrheit Empfehlungen andiese richten, ihre Politik zu åndern. Rat undKommission erstellen auf Basis der Ergebnissedieser Berichte und deren Prçfung einen gemein-samen Jahresbericht an den Europåischen Rat,und der Zyklus kann von neuem beginnen.

MOK hat also im Rahmen der Beschåftigungspoli-tik eine belastbare Rechtsgrundlage. Problema-tisch wird es allerdings, wenn çber die eigentlicheBeschåftigungspolitik hinaus den Mitgliedstaatenweitere Vorgaben gemacht werden. MOK mitLeitlinienprozess, aber ohne entsprechende Ver-tragsgrundlagen gibt es beispielsweise bei derBekåmpfung von Armut und sozialer Ausgren-zung14 sowie bei der Abstimmung zur Zukunft derRentensysteme.15 Rechtlich betrachtet, låuft dieMOK in diesen Fållen nicht nur einer klaren Tren-nung von Zuståndigkeiten zwischen der EU aufder einen und den Mitgliedstaaten auf der anderenSeite entgegen, sie wirkt darçber hinaus sogarkompetenzausweitend zu Lasten der Mitgliedstaa-ten und deren Untergliederungen. In den vorge-nanten Bereichen verfçgt die EU im Gegensatzzur Beschåftigungspolitik allenfalls çber die Kom-petenz, die Zusammenarbeit zwischen den Mit-gliedstaaten zu færdern.16 Diese ¹Færderkompe-tenzª darf gerade nicht der im Vertrag im Bereichder Beschåftigungspolitik ausdrçcklich veranker-ten Koordinierung gleichkommen, da dadurch dievertraglich gesetzten Kompetenzgrenzen ausgehe-belt wçrden.

MOK wird aber auch ohne einen umfassendenLeitlinienprozess angewandt, so beim Arbeits-schutz,17 im Gesundheitsbereich und bei derAltenpflege,18 bei der Jugendpolitik19 sowie bei

13 Vgl. die Schlussfolgerungen des Europåischen Rates inLissabon.

14 Konkrete Ziele sind hier: Zugang zu Ressourcen, Rech-ten, Gçtern und Dienstleistungen !Bereitstellung einer or-dentlichen Wohnung), Maûnahmen, um Ausgrenzung vor-zubeugen. Die Mitgliedstaaten mçssen hier Aktionsplåneausarbeiten, deren Umsetzung anhand von Indikatorençberwacht wird. Beispielsweise hat nun der Europåische Ratin Barcelona die Mitgliedstaaten aufgefordert, in diesen na-tionalen Aktionsplånen festzulegen, die Zahl der von Armutund sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen bis 2010 er-heblich zu senken.15 Umfassende Ziele sind hier ausreichende Alters-versorgung, finanzielle Nachhaltigkeit der Rentensysteme,Modernisierung der Altersversorgungssysteme. Erste Be-richte çber die nationale Umsetzung sind fçr das Frçhjahr2003 geplant.16 Vgl. Vertrag çber die Europåische GemeinschaftArt. 137 Abs. 2.17 MOK soll als Instrument der Zusammenarbeit mit denSozialpartnern in diesem Bereich eingesetzt werden. So dieGemeinschaftsstrategie fçr Gesundheit und Sicherheit amArbeitsplatz !2002±2006).18 Auf dem Europåischen Rat in Barcelona im Mårz 2002wurde ein Bericht der Kommission gebilligt, nach demgrundlegende Ziele die Sicherung der Zugånglichkeit, derQualitåt und der langfristigen Finanzierbarkeit der Gesund-heitssysteme sein sollen. Derzeit beantworten die Mit-gliedstaaten einen Fragebogen, dessen Ergebnisse 2003 zupolitischen Orientierungen fçhren werden.19 Im Weiûbuch Jugend vom November 2001 schlågt dieKommission MOK als passendes Instrument in diesem Be-reich vor.

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¹eEuropeª.20 Die Kommission hat zudem Zielver-einbarungen gemåû MOK bei der Einwanderungs-und Asylpolitik,21 beim Tourismus22 und bei derBildungspolitik23 vorgeschlagen.

IV. MOK und die deutschen Lånder

Die MOK trifft in den Mitgliedstaaten der EU kei-neswegs auf ein ungeteiltes positives Echo. In derBundesrepublik åuûerte sich vor allem der Bun-desrat dann kritisch zur MOK, wenn diese imZusammenhang mit einem Leitlinienprozess ±wohlgemerkt auûerhalb der Europåischen Be-schåftigungspolitik ± stand. Dabei wird in allenBundesratsentschlieûungen die Notwendigkeiteines Austauschs von Informationen und Erfah-rungen zwischen den Mitgliedstaaten begrçût,sofern es darum geht, Probleme von europåischerDimension zu læsen.24 Die Koordinierung im Sinneeines politischen Dialogs, der die jeweiligen natio-nalen Besonderheiten und Traditionen der Mit-gliedstaaten zur Identifizierung von Problemlæsun-gen berçcksichtigt, bewertet der Bundesratausdrçcklich positiv.25 Kritisch åuûerten sich dieLånder aber immer dann, wenn der Informations-und Erfahrungsaustausch durch den Leitlinienpro-zess çber den Kompetenzrahmen der Vertrågehinausreichte. Die Lånder befçrchten nåmlich indiesem Fall, in ihren eigenen Kompetenzen durchEntscheidungen der Staats- und Regierungschefsder Mitgliedstaaten der EU empfindlich beein-tråchtigt zu werden. Aus dieser Befçrchtung resul-tiert die nicht erst im Zusammenhang mit derAnwendung der MOK seitens der deutschen Lån-

der erhobene Forderung nach einer klarenAbgrenzung der Kompetenzen zwischen der EUund den Mitgliedstaaten.

So forderte der Bundesrat bereits 1995 in seiner Ent-schlieûung zur Vorbereitung der Regierungskonfe-renz eine klarere Kompetenzabgrenzung: ¹Zielmuss eine stårkere Durchsetzung der Subsidiaritåtals Regel fçr die Verteilung und fçr die Ausçbungvon Kompetenzen sein.ª26 In der darauf folgendenEntschlieûung zur Regierungskonferenz 1996 kon-kretisierte der Bundesrat sodann seine Forderungendahingehend, dass die Europåische Union nur aufder Grundlage eindeutig definierter Kompetenzen,indes nicht wie bislang auf der Basis ¹von Zielset-zungenª tåtig werden dçrfe.27 Auch im Laufe derRegierungskonferenz 2000 wurde der Ruf der Lån-der nach einer klaren Zuståndigkeitsabgrenzungwieder laut.28 Das vehemente Eintreten der Lånderfçr eine bessere Zuståndigkeitsabgrenzung zwischender europåischen und der nationalen Ebene ist Aus-druck einer grundlegenden Befçrchtung der Lånder,Kompetenzen einzubçûen, deren Berechtigungdurch die verstårkte Anwendung der MOK unter-mauert wird.

Der europåische Integrationsprozess vollzog sichschon vor der Anwendung der MOK ungeachtetder Frage, ob Hoheitsrechtsçbertragungen Kom-petenzbereiche des Gesamtstaates oder auch sol-che regionaler Untergliederungen betrafen.29 DieEuropåische Union nahm nur Bezug auf denjeweiligen Mitgliedstaat, indes nicht auf die inner-staatliche Ordnung. Die Mitgliedstaaten wurdensomit als Einheitsstaaten angesehen, deren inner-staatliche Untergliederung keine Rolle spielte.30

Die Dynamik der Integration setzte sich daherschon sehr frçh dem Vorwurf der ¹Landesblind-heitª31 aus. Durch die Ausdehnung der MOK aufweitere Politikbereiche, fçr deren Regelung dieEU çber keine oder allenfalls sehr eingeschrånkteZuståndigkeiten verfçgt, wird die Integrationsdy-namik zu Lasten der Lånder nochmals verstårkt,und zwar ohne dass die Lånder hierauf in irgendei-ner Form Einfluss nehmen kænnten. Denn diemittlerweile in Art. 23 GG umfassend geregelten

20 Der Aktionsplan 2005 enthålt detaillierte Zielvorgabenfçr den Ausbau der Informationsgesellschaft.21 Es sollen zusåtzlich zu den bestehenden KompetenzenLeitlinien durch den Rat erlassen werden, die wiederum innationale Aktionsplåne mçnden kænnten, um die Koordinie-rung der einzelnen mitgliedstaatlichen Politiken auf diesemGebiet zu verbessern.22 Im Mai 2002 hat sich der Rat fçr MOK ± unter Ein-schluss der Tourismusindustrie ± in diesem Bereich aus-gesprochen. Ziele sind die Entwicklung von Qualitåtsstan-dards, Sicherung von nachhaltiger Entwicklung, bessereNutzung neuer Technologie sowie die Erstellung verlåsslicherunionsweiter Statistiken.23 Durch indikatorengestçtztes Benchmarking in den Be-reichen der allgemeinen und beruflichen Bildung soll der po-litische Druck fçr eine Konvergenz der Bildungssysteme inEuropa verstårkt werden.24 Vgl. Drucksachen des Deutschen Bundesrats !BR-Drs.)470/99 vom 26. 11. 1999; 28/00 vom 17. 3. 2000; 274/00 vom 29.9. 2000; 434/00 vom 10. 11. 2000; 658/00 vom 1. 12. 2000; 86/01vom 9. 3. 2001; 765/01 vom 30. 3. 2001; 600/01 vom 19. 10.2001.25 Vgl. BR-Drs. 600/01 vom 19. 10. 2001, S. 2.

26 BR-Drs. 169/95 vom 31. 3. 1995.27 BR-Drs. 667/95 vom 15. 12. 1995.28 Vgl. BR-Drs. 680/00 vom 2. 11. 2000.29 Vgl. R. Knæll, Integrationsbedingte Rechtsprobleme derKompetenzkompensation, Frankfurt/M.±New York 2000,S. 18 ff.30 Vgl. M. Schweitzer, Europåische Union: Gefahr oderChance fçr die Fæderalismus in Deutschland, Ústerreich undder Schweiz, Veræffentlichungen der Vereinigung DeutscherStaatsrechtslehrer !VVDStRL), !1994), S. 49 und 57.31 K. Ipsen, Als Bundesstaat in der Gemeinschaft, in: Fest-schrift fçr Hallstein, Frankfurt /M. 1966, S. 248 und 256.

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Mitwirkungsrechte der Lånder in Angelegenheitender Europåischen Union finden zumindest nachAuffassung der Bundesregierung gerade keineAnwendung auf die im Europåische Rat durch dieStaats- und Regierungschefs der Mitgliedstaatenim Zusammenhang mit der MOK getroffenenAbsprachen.

V. MOK und die Zukunft der EU

Die MOK ist Ausdruck eines steigenden Bedarfsan flexiblen Gestaltungsprozeduren auf europå-ischer Ebene, die ein Hæchstmaû an Effizienz mitgræûtmæglicher Schonung nationaler Handlungs-autonomie verbinden wollen.32 MOK ist demnachals Mittelweg zwischen Ordnungskonzepten eines¹Kerneuropasª oder eines ¹Europas � la carteªund unmittelbarer Vergemeinschaftung konzipiert.Die Aussicht auf zehn neue Mitglieder im Jahr2004 macht es darçber hinaus noch dringlicher,nach neuen Wegen zu suchen, wie angesichts stei-gender Heterogenitåt und nationalen Einspruchs-mæglichkeiten im komplexen Politikprozess derUnion wirtschafts- und sozialpolitische Synergienerzeugt werden kænnen, ohne ganze Rechts- undVerwaltungstraditionen der einzelnen Mitglied-staaten angleichen zu mçssen.33 Mit der MOKkænnten, so die Hoffnung der Befçrworter, somitauch in sensiblen Politikbereichen Koordinations-gewinne erzielt werden, ohne die Souverånitåt derMitgliedstaaten selbst ± çbermåûig ± einzuschrån-ken. Vor dem Hintergrund des bereits bestehen-den ¹Acquisª ermæglicht es MOK, mit neuensupranationalen Handlungs- und Abstimmungs-verfahren zu experimentieren, die neben techno-kratischen Læsungen lånderçbergreifender Koope-rationsprobleme sogar alternative Wege zurLegitimation von politischem Handeln auf supra-nationaler Ebene erschlieûen kænnten.34

Auch der gegenwårtig tagende Konvent zurZukunft der Union will MOK in die kçnftige Ver-fassung aufnehmen. MOK wird von der Mehrheitals ¹gegenseitiges Feedback fçr die Planung, Prç-

fung, den Vergleich und die Anpassung der!Sozial-)Politik der EU-Mitgliedstaaten auf derGrundlage gemeinsamer Zieleª35 begrçût. Da dieBundesrepublik alleine die Festschreibung derMOK in der kçnftigen Verfassungsordnung nichtwird verhindern kænnen und es letztlich aus Lån-dersicht immer noch besser ist, Anwendungsmæg-lichkeiten und Instrumente der MOK klar zu defi-nieren, als die gegenwårtige ¹Grauzoneª desEinsatzes der MOK tolerieren zu mçssen, schei-nen die Lånder von ihrer prinzipiellen Ablehnunglangsam abzurçcken.

Das åndert aber nichts daran, dass die MOK als¹sanfte Art gemeinschaftlicher Politikgestaltungªkurzfristig zu einer nach klassischem Verståndnisdemokratietheoretisch bedenklichen Ausweitunghorizontaler Verflechtungsstrukturen fçhren wird.Wie aus der Entwicklung des deutschen Fæderalis-mus hinlånglich bekannt, fçhrt dies unter Legiti-mationsgesichtspunkten zu einer weiteren Verlage-rung der Politikgestaltungskompetenz auf dieExekutive. Parlamente und regionale Gliederun-gen verlieren ± gerade weil auf Lernprozesseauûerhalb der Vertråge abgestellt wird ± weiter anKontroll- und Einflussmæglichkeiten auf dieGestaltungsbedingungen europåischer Politik, diesie aber nach wie vor ausfçhren und im Falle derBundesrepublik auch gegençber ihren Bçrgernverantworten mçssen. Mit anderen Worten: Wernicht unmittelbar am Ratstisch sitzt und die Gele-genheit hat, Entscheidungen dort mitzuformen,wird sich der Erosion seiner Gestaltungsmachtmittel- und langfristig kaum entziehen kænnen.Die dahinter zum Vorschein kommende Tendenzzur Zentralisierung von EU-Politikgestaltung istaber nicht die eines gewaltengeteilten europå-ischen Superstaates, sondern die der fusioniertenExekutiven, wobei der Kommission als Exekutiveder Union eine besondere Rolle zufållt. Erhæhungder Transparenz, Abbau des demokratischen Defi-zits und Úffnung der Union fçr politische Delibe-ration werden auf diese Weise sicherlich nichtbefærdert. MOK ist vielmehr ein technokratischesInstrument zur gemeinsamen Produktion von Poli-tikprogrammen und wird vornehmlich çber vorzu-weisende Politikergebnisse legitimiert. Da es sehrunwahrscheinlich ist, dass MOK ihre Anziehungs-kraft auf die Europapolitiker in nåchster Zeit ver-lieren wird, sind nun dringend die parlamentari-schen Kontrollmæglichkeiten çber den Einsatzdieses Instrumentes zu erhæhen.

32 Vgl. R. W. Scharpf, Notes Towards a Theory of Multi-level Governing in Europe, MPIfG Discussion Paper, Nr. 5/2000.33 Vgl. J. Shaw, Relating Constitutionalism and Flexibilityin the European Union. Constitutional Change in the EU:from Uniformity to Flexibility?, Oxford 1999.34 Vgl. C. F. Sabel, A Quiet Revolution of Democratic Go-vernance: Towards Democratic Experimentalism, Paper pre-sented at the EXPO 2000, OECD Forum on the Future,Conference on 21st Century Governance, Hannover, 25±26March 2000.

35 Vgl. Europåischer Konvent, 2002, Schlussbericht derGruppe V ¹Ergånzende Kompetenzenª fçr die Mitgliederdes Konvents, Conv 375/02, Brçssel 2002, Seite 7.

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Peter Glotz Essay

Dr. phil., geb. 1939; Direktor am Institut fçr Medien-und Kommunikationsmanagement der UniversitåtSt. Gallen; von Februar bis Oktober 2001 VertreterDeutschlands im Konvent zur Zukunft Europas;ehem. Rektor der Universitåt Erfurt; langjåhrigerAbgeordneter des Deutschen Bundestages.

Anschrift: Universitåt St. Gallen, MCM Institute forMedia and Communications Management, Blumen-bergplatz 9, 9000 St. Gallen.E-Mail: [email protected]

Zahlreiche Veræffentlichungen im Bereich Kommuni-kationswissenschaft und Politik.

Barbara Lippert

Dr. phil., geb. 1962 ; stellvertretende Direktorin desInstituts fçr Europåische Politik; Lehrbeauftragte ander Humboldt-Universitåt zu Berlin.

Anschrift: IEP, Bundesallee 22, 10717 Berlin.E-Mail: [email protected]

Veræffentlichungen u. a.: Auswårtige Kulturpolitik imZeichen der Ostpolitik. Verhandlungen mit Moskau1969±1990, Mçnster 1996; !Hrsg.) Osterweiterungder Europåischen Union ± Die doppelte Reifeprç-fung, Bonn 2000; !zus. mit Chr. Weise u. a.) DieFinanzierung der Osterweiterung der EU, Baden-Baden 2002.

Frank Decker

Dr. rer. pol., geb. 1964; Professor fçr PolitischeWissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universitåt Bonn.

Anschrift: Seminar fçr Politische Wissenschaft,Lenn�str. 27, 53113 Bonn.E-Mail: [email protected]

Veræffentlichungen u. a.: Institutionelle Entwick-lungspfade im europåischen Integrationsprozess, in:Zeitschrift fçr Politikwissenschaft, 12 !2002) 2;Governance Beyond the Nation State, in: Journal ofEuropean Public Policy, 9 !2002) 2; Parteien unterDruck. Der neue Rechtspopulismus in den westlichenDemokratien, Opladen 2000.

Christian Deubner

Dr. phil. habil., geb. 1942; 1978±2002 Mitarbeiterder Stiftung Wissenschaft und Politik; seit 2002 imstaatlichen Plankommissariat in Paris.

Anschrift: CPG, 18 rue de Martignac, 75700 Paris 07SP. E-Mail: [email protected]

Veræffentlichungen u. a.: Harnessing Differentiationin EU. Flexibility after Amsterdam, hrsg. von der EU-

Kommission, Brçssel 2000; Wåhrungsunion ohnePolitische Union?, SWP-Studie, Berlin 2001; zahlrei-che Beitråge zu europapolitischen Fragen.

Michael W. Bauer

Ph.D., geb. 1969; Studium der Sozialwissenschaftenan den Universitåten Mannheim, Frankfurt/M.,Wien und an der Humboldt-Universitåt zu Berlin;1997±2000 Europåisches Hochschulinstitut Florenz;seit Juli 2002 Referent fçr Grundsatzfragen in derEuropaabteilung der Hessischen Staatskanzlei.

Anschrift:Hessische Staatskanzlei, Bierstadter Straûe 2,65189Wiesbaden. E-Mail: [email protected]

Zahlreiche Veræffentlichungen zu Fragen der euro-påischen Integration.

Ralf Knæll

Dr. jur., geb. 1968; 1988±1993 Studium der Rechts-wissenschaften in Heidelberg; seit 2002 Referats-leiter Internationale Angelegenheiten, Mittel-/Ost-europa in der Hessischen Staatskanzlei in Wiesbaden.

Anschrift: Hessische Staatskanzlei, Bierstadter Straûe 2,65189Wiesbaden. E-Mail: [email protected]

Zahlreiche Veræffentlichungen zu Rechtsfragen derEuropåischen Union.

Nåchste Ausgabe

Brigitte SauzayDeutschland ± Frankreich. Die Herausforderungenfçr die gemeinsame Zukunft

Peter A. Zervakis/S�bastien von Gossler40 Jahre Elys�e-Vertrag: Hat das deutsch-franzæsische Tandem noch eine Zukunft?

Ulrike Gu�rotDie Bedeutung der deutsch-franzæsischenKooperation fçr den europåischen Integrationsprozess

Michael MeimethDeutsche und franzæsische Perspektiven einerGemeinsamen Europåischen Sicherheits- undVerteidigungspolitik

Joachim SchildEuropåisierung nationaler politischer Identitåtenin Deutschland und Frankreich ± politische Eliten,Parteien, Bçrger

Hartmut KaelbleDie kulturellen und sozialen Beziehungen Frankreichsund Deutschlands seit 1945

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Peter Glotz EssayDie letzte Chance fçr ein vereintes EuropaDer Kopenhagener Gipfel in realistischer PerspektiveAus Politik und Zeitgeschichte, B 1 ± 2/2003, S. 3 ±6

n Das Selbstlob der europåischen Regierungschefs çberden Kopenhagener Gipfel ist nur berechtigt, wenn dieAufnahme neuer Mitgliedstaaten durch einen vom¹Konvent zur Zukunft Europasª entwickelten und vonden Regierungschefs akzeptierten Verfassungsvertragflankiert wird, der dafçr sorgt, dass die EuropåischeUnion auch mit 25 Mitgliedern handlungsfåhig bleibt.Die kçhne Entscheidung, nicht auf Assoziationsabkom-men, sondern auf Vollmitgliedschaft fçr eine groûe Zahlvon Staaten zu setzen, brachte auch erhebliche Risikenmit sich. Sie sind nur dann ertråglich, wenn der Konventmit seinem Entwurf fçr einen Verfassungsvertrag Erfolghat.

Barbara LippertVon Kopenhagen bis Kopenhagen: Eine ersteBilanz der EU-ErweiterungspolitikAus Politik und Zeitgeschichte, B 1 ± 2/2003, S. 7 ±15

n Vom Gipfel in Kopenhagen 1993 bis zum Erweite-rungsgipfel im Dezember 2002 in derselben Stadtstanden politisch-moralische und zunehmend auch sta-bilitåtspolitische Motive im Zentrum der EU-Erweite-rungspolitik gegençber Mittel- und Osteuropa. Wåh-rend die EU die Erweiterungspolitik routiniert undzugleich innovativ betrieb, schob sie wichtige interneReformen und eine Ûbereinkunft çber die Lastenteilungin der erweiterten Union immer wieder auf. Auf demGipfel von Kopenhagen wurde zwar ein Finanzpaketverabschiedet und die historische Entscheidung zur Auf-nahme von zehn neuen Mitgliedern gefeiert. Die neueEU-25 steht jedoch mit Blick auf den Verfassungskon-vent, die neue Agenda 2007 und ihre Politik gegençberden neuen Nachbarn vor groûen Herausforderungen.

Frank DeckerParlamentarisch, pråsidentiell oder semi-pråsi-dentiell? Der Verfassungskonvent ringt um diekçnftige institutionelle Gestalt EuropasAus Politik und Zeitgeschichte, B 1 ± 2/2003, S. 16 ±23

n Nachdem das Pråsidium des EU-Konvents im Oktoberden Vorentwurf eines Verfassungsvertrages pråsentierthat, ist das Ringen um die kçnftige institutionelle Struk-tur der Gemeinschaft in eine entscheidende Phasegetreten. Die aktuelle Debatte kreist insbesondere umden von Groûbritannien, Spanien und Frankreich ein-gebrachten Vorschlag eines neu zu schaffenden undauf der Ratsebene anzusiedelnden Pråsidentenamtes,

der die EU in Richtung eines ¹semi-pråsidentiellenªRegierungssystems transformieren wçrde. Dieser Vor-schlag wird abgelehnt, da er die Gemeinschaft hinterden heutigen Zustand funktionell und demokratischzurçckwerfen wçrde. Stattdessen sollten die Reform-bemçhungen beim bestehenden Amt des Kommissions-pråsidenten ansetzen, der kçnftig entweder durch dasParlament oder unmittelbar durch das Volk bestellt wer-den mçsste.

Christian DeubnerDifferenzierte Integration: Ûbergangserschei-nung oder Strukturmerkmal der kçnftigenEuropåischen Union?Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1 ± 2/2003, S. 24 ±32

n Die EU der Zukunft dçrfte zunehmend von Unter-schieden im Integrationswillen und in der Integrationsfå-higkeit der Mitgliedstaaten geprågt werden. Schon seitihrer Entstehung trågt sie solchen Unterschieden durchden Einsatz ¹differenzierter Integrationª Rechnung,indem unterschiedliche Gruppen von Mitgliedstaatenbestimmte Politiken verwirklichen, wåhrend andere Mit-gliedstaaten fernbleiben. Seit den neunziger Jahren ver-sucht die EU, diese Methode zu verbessern: Sie wurde inAmsterdam als ¹verstårkte Zusammenarbeitª ausdrçck-lich in den Vertrag eingefçgt und in Nizza nochmalsmodifiziert. Zukunftsszenarien differenzierter Integra-tion in einer heterogeneren Union werden vorgestelltund gefragt, wie die ¹verstårkte Zusammenarbeitª fçrdie weitere Integration zu nutzen wåre, ohne dass dieSchåden fçr die grundsåtzliche Einheitlichkeit der Inte-gration zu groû werden.

Michael W. Bauer/Ralf KnællDie Methode der offenen Koordinierung:Zukunft europåischer Politikgestaltungoder schleichende Zentralisierung?Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1 ± 2/2003, S. 33 ±38

n Die EUwird immer heterogener, undmit den wachsen-den europapolitischen Herausforderungen steigt gleich-zeitig auch der Druck, gemeinsame Læsungenvorzulegen und schnell umzusetzen. Neuerdings wirddaher in immer mehr Politikbereichen auf die sogenannte ¹Methode der offenen Koordinierungª !MOK)zurçckgegriffen. Der Rat formuliert dabei Ziele, derennationalstaatliche Umsetzung durch ein indikatorenge-stçtztes Monitoring transnational çberwacht wird. Die-ses Instrument erweist sich in der Praxis als çberaus effizi-ent. Dem unleugbaren Effizienzzuwachs stehen jedochBedenken demokratietheoretischer wie verfassungs-rechtlicher Natur gegençber, insbesondere was die Mit-wirkungsmæglichkeiten der deutschen Lånder betrifft.

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