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Edwin Czerwick Systemtheorie der Demokratie

Edwin Czerwick Systemtheorie der Demokratie · Edwin Czerwick Systemtheorie der Demokratie Begriffe und Strukturen im Werk Luhmanns JJ_Ti-B-Czerwick_15644-6 27.09.2007 16:32 Uhr Seite

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Edwin Czerwick

Systemtheorie der Demokratie

JJ_Ti-B-Czerwick_15644-6 27.09.2007 16:32 Uhr Seite 1

Edwin Czerwick

Systemtheorie der DemokratieBegriffe und Strukturenim Werk Luhmanns

JJ_Ti-B-Czerwick_15644-6 27.09.2007 16:32 Uhr Seite 3

.1. Auflage 2008

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008

Lektorat: Monika Mülhausen

Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media.www.vs-verlag.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes istohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesonderefür Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei-cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesemWerk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solcheNamen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachtenwären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergSatz: Anke VogelDruck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., MeppelGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in the Netherlands

ISBN 978-3-531-15644-6

Bibliografische Information Der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

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3.1 Zentrale Kennzeichen sozialer Systeme: Umwelt, Komplexität und Selbstreferenz 5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort................................................................................................................. 7

Einleitung: Niklas Luhmann und die Theorie der Demokratie ...................... 9

1 Systemtheorie und Demokratietheorie.................................................. 19

2 Luhmanns Demokratiekonzeption und die politikwissenschaftliche Demokratiediskussion ................................... 29

3 Demokratie in der Systemtheorie Niklas Luhmanns ........................... 39 3.1 Zentrale Kennzeichen sozialer Systeme: Umwelt, Komplexität und

Selbstreferenz ............................................................................................ 39 3.2 Luhmanns Demokratieverständnis ............................................................ 45

4 Gesellschaftliche Evolution und Demokratie........................................ 53 4.1 Demokratie als evolutionäre Errungenschaft ............................................ 53 4.2 Funktionale Ausdifferenzierung und Demokratie..................................... 63 4.3 Demokratie und die Positivierung des Rechts........................................... 69

5 Die Demokratie des politischen Systems ............................................... 75 5.1 Das politische System der Gesellschaft..................................................... 76 5.2 Die Subsysteme des politischen Systems.................................................. 81 5.2.1 Die Politik des politischen Systems .......................................................... 82 5.2.2 Das Publikum des politischen Systems..................................................... 85 5.2.3 Die Verwaltung des politischen Systems .................................................. 88 Exkurs: Der Staat im (des) politischen System(s) ............................................... 90 5.2.4 Die Beziehungen zwischen den Subsystemen des politischen Systems ... 94 5.3 Selbstbeobachtung des politischen Systems: die öffentliche Meinung... 100

6 Inhaltsverzeichnis

6 Demokratie als Strukturbegriff der Politik des politischen Systems 105 6.1 Regierung und Opposition....................................................................... 105 6.2 Parteien .................................................................................................... 114 6.3 Politische Wahlen.................................................................................... 116 6.4 Politisches System und Demokratie ........................................................ 122

7 Selbstverständnis des politischen Systems als Demokratie ............... 127 7.1 Demokratie und Staat als Selbstbeschreibungsformeln des

politischen Systems ................................................................................. 127 7.1.1 „Demokratie“ als Selbstbeschreibungsformel......................................... 127 7.1.2 Die Selbstbeschreibungsformel „Staat“ .................................................. 130 7.2 Reflexionstheorien der Demokratie......................................................... 133 7.3 Demokratie als Legitimationsformel....................................................... 136

8 Die politische Praxis der Demokratie: Problemlösung ...................... 143

9 Gefährdungen der Demokratie ............................................................ 153 9.1 Selbstüberforderungen der Demokratie im Wohlfahrtsstaat................... 153 9.2 Demokratisierung der Demokratie? ........................................................ 155

10 Demokratie, Komplexität und Systemrationalität ............................. 161 10.1 Gesellschaftliche Komplexität und die Demokratie des

politischen Systems ................................................................................. 161 10.2 Systemrationalität der Demokratie.......................................................... 169 10.3 Demokratie – (k)ein Exportmodell!(?).................................................... 172

11 Die Demokratie des Niklas Luhmann.................................................. 179 11.1 Luhmanns Demokratiekonzeption .......................................................... 180 11.2 Demokratie und ihre Werte ..................................................................... 183 11.3 Demokratie und der menschliche Faktor................................................. 186 11.4 Luhmanns Theorie demokratischer politischer Systeme ........................ 191

12 Literaturverzeichnis .............................................................................. 195 12.1 Verzeichnis der zitierten Literatur von Niklas Luhmann........................ 195 12.2 Sekundärliteratur ..................................................................................... 200

Vorwort 7

Vorwort Mit der vorliegenden Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, ob es gerecht-fertigt ist, von einer eigenständigen Systemtheorie der Demokratie zu sprechen, die sich deutlich von anderen Demokratietheorien unterscheiden lässt. Wie auch immer man diese Frage angeht, die Antwort darauf hängt natürlich davon ab, was man unter „Theorie“ versteht, welche Elemente sie aufweisen muss, welche Qualifikationskriterien sie beinhaltet, und welchen Anforderungen sie gerecht werden muss. Es hängt also im Wesentlichen davon ab, welche Maßstäbe man anlegt, um von „Theorie“ sprechen zu können. Um eine Antwort auf die Ein-gangsfrage zu geben, wird vor allem auf die Arbeiten Niklas Luhmanns zurück-gegriffen, weil er sich von allen Systemtheoretikern noch am intensivsten mit dem Gegenstand „Demokratie“ auseinandergesetzt hat. Allerdings gilt zu beden-ken, und dies darf nicht als bereits vorweggenommene Antwort missverstanden werden, dass Luhmann nie die Absicht gehabt hat, eine Demokratietheorie zu entwickeln. Dennoch wird zu prüfen sein, ob er, auch wenn er dies nicht beab-sichtigt haben mag, nicht doch im Zusammenhang mit seinen systemtheoreti-schen Überlegungen zumindest die Konturen einer Theorie der Demokratie ent-wickelt hat, die sich im Kontext systemtheoretischen Denkens mit seinen Namen verbinden lässt. Dabei soll auf einige Verbindungslinien zwischen seinen demo-kratietheoretischen Überlegungen und, um seine Terminologie zu verwenden, „klassischen“ Demokratietheorien1 aufmerksam gemacht werden. Mit dieser Vorgehensweis verbindet sich die Erwartung, durch die Konfrontation der sys-temtheoretisch inspirierten Überlegungen Luhmanns zur Demokratie mit den „klassischen“ Demokratietheorien auf Erkenntnisse und Fragen zu stoßen, die

1 Es ist nicht ersichtlich, was Luhmann unter „klassischen“ Demokratietheorien versteht. Zu

vermuten ist, dass er darunter alle gegenwärtigen, also nicht systemtheoretischen Demokratie-theorien zählt. Ihre Kennzeichen sind eine auf Normen („Menschenrechte“, „Bürgerrechte“) ausgerichtete Konzeptualisierung von „Demokratie“ als „Volkssouveränität“, in der Bürgern das Recht zugesprochen wird, auf den Prozess der Herstellung kollektiv verbindlicher Ent-scheidungen (vor allem durch Wahlen) einzuwirken, die politischen Eliten gegenüber den Bür-gern Rechenschaft ablegen müssen, und die Politik keine Einheit bildet, sondern aus einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure (Staatsorgane, Parteien, Verbände) besteht, die sich wech-selseitig kontrollieren („Gewaltenteilung“). Auch Jürgen Habermas spricht von „klassischen Demokratietheorien“. Dazu zählt er solche Demokratietheorien, die von der Idee einer Gesell-schaft ausgehen, die über den Gesetzgeber auf sich selbst einwirkt (Habermas 1992: 621).

8 Vorwort

der Demokratieforschung neue Impulse zu geben vermögen.2 Ob dies gelungen ist, wird der Leser entscheiden müssen.

Als ich mich im Jahre 2001 erstmals mit Luhmanns Überlegungen zur Demo-kratie zu beschäftigen begann, wusste ich nicht, wo dies einmal hinführen würde. Eine Publikation war zum damaligen Zeitpunkt nicht beabsichtigt, sondern mich trieb vor allem die Frage um, worin denn die Besonderheit von Luhmanns Beiträ-gen zur Demokratie im Vergleich zu anderen demokratietheoretischen Vorstellun-gen, Positionen und Ansätzen bestanden. Auch interessierten mich die Gründe für seine skeptische Einstellung zur Demokratisierung der Demokratie. Naiver Weise glaubte ich, dass es ausreichen würde, mich auf seine wenigen Beiträge zur Demo-kratie konzentrieren zu können, um meine Wissensdefizite zu schließen. Dieser Glaube erwies sich aber relativ schnell als Irrglauben. Vor der Entscheidung ste-hend, entweder meine Auseinandersetzung mit Luhmanns demokratietheoretischen Überlegungen aufzugeben oder aber seine Arbeiten einigermaßen systematisch nach Stellungnahmen zur Demokratie zu durchsuchen und zu untersuchen, ent-schloss ich mich für die zuletzt genannte Alternative. Das Problem bestand dabei vor allem darin, die verschiedenen Versatzstücke seiner Ausführungen zur Demo-kratie in einen systematischen Zusammenhang zu integrieren, der mehr als nur fragmentarischen Charakter hat und der zugleich im Einklang mit seinen system-theoretischen Überlegungen steht. Denn von wenigen Ausnahmen einmal abgese-hen, hat Luhmann seine demokratietheoretischen Ausführungen nur selten direkt aus seiner Systemtheorie hergeleitet und mit ihr verknüpft. Wieder und wieder schien es mir deshalb nötig, die Konzeption, in die ich Luhmanns demokratietheo-retische Ausführungen eingebettet hatte, zu revidieren und neu zu arrangieren.

Die Arbeit an dieser Thematik wurde aus verschiedenen Gründen immer wieder für längere Zeit unterbrochen. Ein nicht ganz unwichtiger Grund für die Unterbrechungen war, dass mich immer wieder der Mut verlassen hat, jemals zu einem präsentierbaren Ergebnis zu gelangen. Zwar ist meine Skepsis nicht voll-ständig ausgeräumt, aber doch so weit gemildert, dass ich die Arbeit guten Ge-wissens jetzt einer an Luhmanns Werk oder an Demokratietheorie interessierten Öffentlichkeit präsentieren und zur Diskussion stellen kann. Gewidmet ist die Arbeit den „Unofanten“, allen voran Werner Dörr sowie: Tanja Brandt, Andreas Busa, Franziska Everts, Mona Gillmann, Kathrin Hendrischk, Martina Jahn, Dorle Lampert-Keitsch, Inna Linnik, Roman Paulus, Mathias Purr, Irina Spang, Tina Speiser, Gülsah Tokgöz, Caroline Wagner, Yvonne Wetzel, Daniel Willms und Isabelle Wittmer.

2 Nicht ganz zu unrecht sprechen Buchstein/Jörke (2003) von einem „Unbehagen an der Demo-

kratietheorie“.

Niklas Luhmann und die Theorie der Demokratie 9

Einleitung: Niklas Luhmann und die Theorie der Demokratie Einleitung: Niklas Luhmann und die Theorie der Demokratie Es ist interessant zu beobachten, mit welcher Unverfrorenheit, Naivität, Unbe-denklichkeit oder Skrupellosigkeit gelegentlich von und über Demokratie ge-sprochen wird und von wem und wofür sie alles in Anspruch genommen wird. Dementsprechend groß ist auch die Verwirrung darüber, was Demokratie ist und wofür und für wen sie denn eigentlich gut sein soll. Es ist insofern relativ leicht möglich, die vermeintliche Verteidigung der Demokratie zu ihrem Abbau zu nutzen oder ihre angebliche Ausweitung zur Beförderung spezifischer, gegen das Allgemeinwohl gerichteter Interessen zu missbrauchen. Dass im Namen der Demokratie sogar Gewalttaten und Verbrechen begangen werden, ist, wie ein Blick in die Tageszeitung zeigt, aktuell wie eh und je, auch wenn dieser Tatbe-stand bisher wissenschaftlich nicht systematisch aufgearbeitet worden ist. Es hat den Anschein, als ob diejenigen, die ihr Handeln auf „Demokratie“ gründen, für sich eine „höhere“ Moral in Anspruch nehmen, die selbst massive Verstöße ge-gen die Demokratie einschließt. Darüber, warum dies immer wieder möglich ist, lässt sich nur spekulieren. Es scheint zumindest auf den ersten Blick so, als wür-de die Idee der Demokratie und ihre vielfältigen Verheißungen ein kritisches Hinterfragen der politischen Praxis erschweren. Die mit der Idee der Demokratie verbundenen Normen gewinnen das Übergewicht gegenüber einer politischen Praxis, welche die Einhaltung dieser Normen zwar systematisch verfehlt, aber gerade dadurch die Bedeutung dieser Normen stärkt. Dass an dieser Situation viele Demokratietheorien nicht ganz schuldlos sind, hat Jürgen Habermas zu Recht hervorgehoben: „Denn die Annahme, daß die politische Willensbildung unmittelbar theoriefähig sei und sich nach einer vorgängig konsentierten Ver-nunftmoral richten könne, hatte für die Demokratietheorie mißliche, für die poli-tische Praxis verheerende Folgen“ (Habermas 1992: 608). Hellsichtig haben deshalb Robert A. Dahl und Charles Lindblom schon vor langer Zeit den Vor-schlag unterbreitet, auf die Verwendung des (normativ überdehnten) Demokra-tiebegriffs zu verzichten und stattdessen besser von „Polyarchie“ zu sprechen. Zur Begründung wird angeführt: „Es bleibt fraglich, ob die Demokratie, sei es nun in ihrer realen oder nur vorgestellten Erscheinungsform, alle diese Tugenden oder auch nur eine davon besitzt. Ob in irgendeinem real existierenden politi-schen System die Herrschaftskontrolle seitens der Beherrschten tatsächlich in

10 Einleitung

hohem Grade wirksam ist, muß ebenfalls bezweifelt werden. Das einzige, was wir von diesem System wissen, ist zunächst einmal die Tatsache, daß in ihnen das soziale Instrumentarium der Herrschaftskontrolle in einer einzigartigen und spezifischen Form ausgebildet ist. Um diesen Typ von System zu analysieren, sollte man nicht mit Annahmen über einen erst noch zu beweisenden Sachverhalt operieren, sondern lieber einen anderen Namen wählen und seine fünf Sinne beisammen halten“ (Lindblom 1983: 214). Zu denjenigen, die ihre fünf Sinne beisammen gehalten haben und hieraus die notwendigen wissenschaftlichen Konsequenzen gezogen haben, gehört Niklas Luhmann. Obwohl auch er den Demokratiebegriff verwendet, ist er im Gegensatz zu den „klassischen“ Demo-kratietheorien jedoch weit davon entfernt, in der Demokratie eine aus „ethi-schen“ oder „normativen“ Gründen besonders zu bevorzugende politische Herr-schaftsordnung zu sehen. Natürlich will er damit nicht ausschließen, dass die Demokratie über eine Reihe von Vorzügen gegenüber anderen politischen Herr-schaftsordnungen verfügt, doch sieht er diese Vorzüge gerade nicht im Bereich spezieller Normen oder Tugenden, sondern in Strukturen, Verfahren und politi-schen Arrangements. Insofern ist Luhmanns Beobachtung der Demokratie sehr viel nüchterner als viele zeitgenössische Verfechter der Demokratie und ihrer theoretischen Rechtfertigung. Sie ist zugleich aber auch sehr viel aufklärerischer, weil sie nicht etwas behauptet, das die Demokratie gar nicht leisten kann. Nicht zuletzt diese Gründe dürften ein wichtiger Anlass sein, sich intensiver mit Luh-manns Überlegungen zur Demokratie zu befassen. Es wird deshalb der Versuch unternommen, die Vielzahl der in seinem Gesamtwerk verstreuten demokratie-theoretischen Überlegungen mit dem Ziel zu systematisieren, die Konturen einer „Systemtheorie der Demokratie“ herauszuarbeiten, die einige Annahmen der „klassischen“ Demokratietheorien als Mythen entlarven und die vielleicht dar-über hinaus der Demokratieforschung neue Erkenntnisse und weiterführende Impulse zu geben vermögen.

Am Beginn steht zunächst aber Luhmanns Frage, „(o)b systemtheoretische Analysen in einem Gegenstandsbereich wie Politik Vorteile bringen oder gar als wissenschaftlicher „Fortschritt“ angesehen werden können“ (Luhmann 1995: 109). Selbst wenn man den in der Frage mitschwingenden kokettierenden Unterton nicht weiter ernst nimmt, darf man sie heute doch mit Fug und Recht bejahen (Czerwick 2001a). Wäre Luhmann nämlich nicht davon überzeugt gewesen, dass systemtheo-retische Analysen zu einem besseren Verständnis der Politik führen, warum hätte er sich so intensiv mit dem politischen System beschäftigen sollen? Auch haben seine eigenen Beiträge zur Systemtheorie der Politik im Rahmen seiner Theorie der Gesellschaft, wie immer man sie auch im Einzelnen beurteilen mag, überzeugend demonstriert, dass systemtheoretische Analysen nicht nur neue Perspektiven auf alte politische Probleme werfen können, sondern auch den Blick auf Probleme zu

Niklas Luhmann und die Theorie der Demokratie 11

richten vermögen, die zuvor gar nicht oder nicht angemessen wahrgenommen worden sind. Von daher haben sie ohne Einschränkung zu einem besseren Ver-ständnis von Politik geführt.3 In dem Luhmann zugleich im Zusammenhang mit der Formulierung seiner Frage darauf hingewiesen hat, dass „es nicht um Wahr-heitsgewinne der Art (geht), daß das, was vorher für wahr gehalten wurde, nun-mehr als unwahr zu gelten hat“ (Luhmann 1995: 109), hat er es gleichzeitig ver-mieden, die bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten zur Politik abzuwerten. Was er zu bieten hat, ist ein wissenschaftliches Angebot zur Analyse von Politik, das zu zusätzlichen und weiterführenden Erkenntnissen über Politik führt.

Luhmanns Systemtheorie führt aber nicht nur zu einem besseren Verständ-nis von Politik, sondern auch zu einer besseren Einsicht von dem, was landläufig als „Demokratie“ bezeichnet wird. Er hat sich im Laufe seiner wissenschaftli-chen Tätigkeit immer wieder mit Fragen nach der funktionalen und strukturellen Bedeutung, dem politischen Stellenwert, den charakteristischen Merkmalen und der Überlebensfähigkeit von Demokratien auseinandergesetzt. Von daher kann der Versuch gewagt werden, das Potential seiner Arbeiten zur Demokratie für ein erweitertes oder auch für ein anderes Verständnis von Demokratie und für eine Weiterentwicklung der Demokratietheorie abzuschätzen. Es soll dabei auch untersucht werden, inwieweit und in welcher Weise Luhmanns Demokratievor-stellungen Anschlussmöglichkeiten für die Demokratiediskussion bieten und inwieweit seine Ausführungen zur Demokratie ihrerseits an die Demokratietheo-rien anschließen. Insgesamt geht es also darum, welche neuen Perspektiven sich für die Demokratieforschung durch Luhmanns Arbeiten eröffnen. Um diese Aufgaben durchführen zu können, soll Luhmanns Konzeption von Demokratie (re-)konstruiert werden. Es soll aus den in seinem Werk verstreuten und nur selten kohärent entwickelten Vorstellungen von Demokratie sein Demokratiever-ständnis systematisch beschrieben und darauf hin geprüft werden, welche Mög-lichkeiten sie für eine theoretische Weiterentwicklung von Demokratie bieten. Eine solche Vorgehensweise scheint nicht nur deshalb vielversprechend, weil es bis jetzt abgesehen von einzelnen Arbeiten noch keine systematische Untersu-chung zu Luhmanns Vorstellungen von Demokratie gibt, sondern vor allem auch deshalb, weil sich zwischen seinem Verständnis von Demokratie und demjeni-gen, das in den „klassischen“ Ansätzen und Theorien zur Demokratie zum Vor-schein kommt, ein, zumindest auf den ersten Blick, tiefer Graben aufzutun scheint. Um sich von den „klassischen“ Demokratietheorien abzugrenzen, weist

3 Hier wird ausdrücklich nicht die Auffassung von Walter Reese-Schäfer (2002: 115) geteilt,

welcher der Meinung ist, dass sich Luhmanns Systemtheorie im politikwissenschaftlichen Kontext nur „in der Heuristik“ als hilfreich erweisen könne und der zugleich betont hat, dass sie bei der Beantwortung der so aufgeworfenen Fragen kaum weiter helfe, „so dass wir hier wieder auf die herkömmliche politikwissenschaftliche Forschung zurückverwiesen sind.“

12 Einleitung

Luhmann zum Beispiel darauf hin, dass der Demokratiebegriff nicht mehr länger als ein normatives Postulat verwendet werden könne, sondern als Richtungsan-gabe für Problemlösungen dienen müsse, „die mit hoher struktureller Unbe-stimmtheit und Variabilität komplexer System vereinbar, ja durch sie gefordert ist und gar nicht durch wertenden Vorentscheid von außen an das System heran-getragen werden muß“ (Luhmann 1983c: 35-36). Die Normen der Demokratie, die von den „klassischen“ Demokratietheorien in der Regel als Ergebnis der Vereinbarungen von Menschen über die Art und Weise ihres Zusammenlebens und die Gestaltung ihres Gemeinwesens interpretiert werden, werden bei ihm vom politischen System absorbiert und zu Systemkategorien transformiert, die von menschlichen Intentionen und Handlungen weitgehend unabhängig gedacht werden.4 Es ist das soziale (hier das politische) System, das sich selbst die „Norm“ gibt, wobei der Gehalt der „Norm“ durch die gesellschaftliche Evoluti-on, die zu einer Steigerung der gesellschaftlichen und politischen Komplexität führt, bestimmt wird. Im Unterschied zu den „klassischen“ demokratietheoreti-schen Ansätzen ist für Luhmann Demokratie also nicht das Ergebnis menschli-cher Intentionen, Interessen und Aktionen, sondern vielmehr das „systemische“ Resultat evolutionärer Prozesse, die sich menschlicher Absichten und Steue-rungsversuchen entziehen, trotzdem jedoch auf diese angewiesen bleiben. De-mokratie ist also nicht „menschengemacht“, selbst wenn Menschen an ihrem Zustandekommen natürlich beteiligt sind, sondern sie verdankt ihre Existenz zunächst eher Zufällen als planvollen Handlungen. Es gibt für Luhmann insofern auch keinen „Masterplan“ der Demokratie, sondern nur politische Kommunika-tionen, die strukturelle Folgen haben, die wiederum zu dem führen, was wir uns angewöhnt haben als „Demokratie“ zu beobachten und zu beschreiben. Das schließt mit ein, dass dort, wo sich demokratische Strukturen erst einmal durch-gesetzt haben, diese Strukturen den Möglichkeitsraum für weitere evolutionäre Zufälle einschränken. Hat sich Demokratie erst einmal etabliert, spricht nach Luhmann Einiges dafür, dass sie jetzt auch in der Lage ist, sich selbst zu repro-duzieren. Allerdings würde es zu weit gehen, wollte man aus diesen Aussagen die Schlussfolgerung ableiten, dass damit Demokratie auf ewig garantiert und man am Ende der Geschichte angekommen sei. Vielmehr bleibt die Demokratie als eine spezifische Form von politischer Ordnung trotz „eingebauter“ Stabilisie-rungsmechanismen wie jede andere Ordnung gefährdet.5 Das betrifft nicht nur 4 Dies hat Claus Offe offenbar übersehen, der Luhmann vorgeworfen hat, „einen normativ bis

auf die Knochen abgemagerten Demokratiebegiff zum Ausgangspunkt zu wählen“ (Offe 1986: 218). In ähnlicher Weise argumentiert auch Jürgen Habermas, wenn er von einer „fetischieren-de(n) Verfremdung einer Systemtheorie“ spricht, „die alles Normative abräumt und die Mög-lichkeit einer fokusbildenden Kommunikation der Gesellschaft über sich als ganze analytisch ausschließt“ (Habermas 1992: 620).

5 Grundlegend Eckstein (1992).

Niklas Luhmann und die Theorie der Demokratie 13

die sogen. „Transformationsländer“, die sich dem westlichen Demokratiemodell verpflichtet fühlen und darum bemüht sind, trotz vielfältiger Widerstände und Hindernisse demokratische Strukturen aufzubauen. Es gilt, wenn auch in anderer Form, selbst für die Staaten, in denen die Demokratie sich erfolgreich durchge-setzt hat. In diesen Ländern ist die Demokatie heute vor allem in vierfacher Wei-se gefährdet. Zum einen durch den Abbau von Freiheitsrechten und den unkon-trollierten Ausbau der Sicherheits- und Geheimdienste im Zuge des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus. Damit werden nicht nur die normativen und moralischen, sondern auch die strukturellen Voraussetzungen der Demokra-tie ausgezehrt bzw. überdehnt, die zu ihrer Rechtfertigung als unverzichtbar erscheinen. Zum zweiten sind sie dadurch in Gefahr, dass sich die Möglichkeiten politischer Interventionen in ökonomische Abläufe durch die Globalisierung immer mehr abschwächen (Crouch 2004: passim). Von daher wird der Bereich, in dem Demokratie politisch überhaupt wirksam werden kann, drastisch einge-schränkt und in zunehmenden Maße auf „sekundäre“ Probleme beschränkt. Drit-tens stehen die demokratischen politischen Systeme vor dem Problem, dass sie immer weniger in der Lage zu sein scheinen, die Probleme „ihrer“ Gesellschaf-ten zu lösen, weil sie sich immer mehr selbst blockieren. Und schließlich macht sich viertens allenthalben Ernüchterung darüber breit, dass die mit der Demokra-tie verbundenen ideellen und ökonomischen Erwartungen nicht eingelöst werden (können). Das utopische Potential, das in der Demokratie angelegt ist und aus dem viele Menschen ihre Bereitschaft ableiten, sich politisch zu engagieren, hat sich ganz offensichtlich abgeschwächt (Habermas 1992a: 105-129). Insofern ist die Zukunft der Demokratie6, die für Luhmann so wichtig ist, keineswegs gesi-chert, zumal aus seiner Perspektive die Demokratie den Keim ihrer Beseitigung schon immer in sich trägt. Als eine höchst unwahrscheinliche Errungenschaft ist die Demokratie für ihn, zumindest mittel- und langfristig, immer in Gefahr. Des-halb ist die Zukunft der Demokratie prinzipiell offen. Das Einzige, was nach Luhmann in dieser Situation möglich und erfolgversprechend ist, ist nicht politi-sches Handeln, also Praxis, sondern Theorie. Nur durch bessere Theorien ist es möglich, Demokratie und ihre Gefährdungspotenziale zu verstehen. Dies mag für viele auch deshalb nur ein schwacher Trost sein, weil nach Luhmann eine besse-re Theorie nicht zwangsläufig auch eine vernünftigere Praxis zur Folge hat.

Schon diese wenigen Anmerkungen zu Luhmanns Überlegungen zur De-mokratie lassen erkennen, dass er, im Gegensatz zu den meisten Demokratietheo-retikern, der politischen Praxis in der Demokratie und den Möglichkeiten, die Demokratie gezielt zu stabilisieren oder zu demokratisieren, keine großen Chan-cen einräumt. Es kommt ihm deshalb auch nicht darauf an, mehr oder weniger

6 Hierzu ausgreifend Schmidt (2006).

14 Einleitung

kluge Ratschläge für die Bewahrung und Weiterentwicklung der Demokratie zu geben. Worauf er stattdessen großen Wert legt, ist auf die strukturellen bzw. „systemischen“ Voraussetzungen der Demokratie aufmerksam zu machen. In ihnen sind die Maßstäbe enthalten, um die Demokratie vor noch so gut gemein-ten politischen Anforderungen zu schützen. Luhmann begibt sich damit in die Rolle eines Beobachters der Demokratie. Dabei beobachtet er aber nicht „die“ Demokratie, sondern er beobachtet vielmehr, wie wirtschaftliche, wissenschaftli-che oder politische Akteure die „Demokatie“ wahrnehmen, und er beobachtet weiterhin, welche Folgerungen sie aus ihren jeweiligen Wahrnehmungen für „die Demokratie“ ziehen. Für diejenigen, die beobachten wie Luhmann Demokratie beobachtet, stellt sich die Frage, von welchem Standpunkt aus er eigentlich „Demokratie“ beobachtet.7 Man kann ja nicht davon ausgehen, dass er seine Beobachtungen ohne eigenen Referenzpunkt vornimmt oder sich allein auf die Beschreibung dessen zurückzieht, wie die von ihm beobachteten Akteure Demo-kratie beobachten.8 Es wird in dieser Arbeit also auch darum gehen müssen, Luhmanns Beobachtungsstandpunkt zu beschreiben, der in erster Linie in seiner Theorie der Gesellschaft zu suchen ist. Aber auch für uns stellt sich natürlich die Frage, von welchem Standpunkt wir eigentlich Luhmanns Demokratiebeobach-tungen beobachten. Denn auch wir müssen ja, ob wir es wollen oder nicht, einen Beobachtungsstandpunkt beziehen. Wir werden uns bei der Wahl des Standpunk-tes von unserer Fragestellung leiten lassen. Wir werden also Luhmanns Beobach-tungen der Demokratie darauf hin beobachten, ob seine demokratietheoretischen Ausführungen den Referenzpunkten und dem Stand der politik- bzw. sozialwis-senschaftlichen Demokratieforschung entsprechen. In einem zweiten Schritt werden wir, sozusagen über Luhmann hinausgehend, danach fragen, ob sich aus seinen Beobachtungen für die Demokratieforschung neue und weiterführende Fragestellungen und Erkenntnisse ergeben. Referenzpunkte wären in diesem Fall die „blinden Flecken“9 der „klassischen“ Demokratietheorien.

Im ersten Kapitel stehen das Verhältnis von Systemtheorien und Demokra-tietheorien sowie die Besonderheiten systemtheoretischen Denkens und die Mög-lichkeiten, sie auf „Demokratie“ zu übertragen, im Vordergrund der Ausführun-gen. Im Anschluss daran sollen die politikwissenschaftliche Demokratiediskussi-on und Luhmanns Demokratiekonzeption in Beziehung gesetzt und nach dem Stellenwert von Luhmanns Arbeiten in der Politikwissenschaft gefragt werden. In den darauf folgenden Kapiteln werden die verschiedenen Facetten seiner De-

7 Zu den damit verbundenen Problemen Luhmann (1994, 1996d, 2002b). 8 Siehe hierzu auch die von Luhmann in einem anderen Zusammenhang angestellten Überlegun-

gen (Luhmann 1993: 17). 9 Zur Beobachtung der Beobachter und zu den „blinden Flecken“ siehe von Foerster (1981),

Luhmann (2002b: 65 und die Zusammenfassung von Esposito (2005).

Niklas Luhmann und die Theorie der Demokratie 15

mokratiekonzeption aufgearbeitet. Zunächst geht es um die nähere Bestimmung der Stellung und Bedeutung von Demokratie innerhalb seiner Gesellschaftstheo-rie und um eine Rekonstruktion seines Verständnisses von Demokratie. Daran anschließend wird der Zusammenhang von gesellschaftlicher Evolution und Demokratie thematisiert und Demokratie als eine unwahrscheinliche evolutionä-re Errungenschaft konzipiert, für die die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft ebenso unverzichtbar ist10 wie die Positivierung des Rechts. Beide, sowohl die gesellschaftliche Ausdifferenzierung als auch die Positivierung des Rechts bewirken ein Maß an gesellschaftlicher Komplexität, das für die Durch-setzung und Stabilisierung von Demokratie eine unverzichtbare Voraussetzung darstellt. Da Luhmann Demokratie aber nicht als eine gesellschaftliche, sondern als eine politische Ordnungskonzeption ansieht und sie von daher auf den enge-ren Bereich des politischen Systems reduziert11, werden in den folgenden Kapi-teln das politische System der Demokratie und das demokratische System der Politik diskutiert. Hierbei geht es zum einen um die gesellschaftliche Stellung des politischen Systems, seine Subsysteme und deren jeweiliges Verhältnis zur Demokratie sowie um die öffentliche Meinung als eine Form „demokratischer“ Selbstbeobachtung und Selbstvergewisserung des politischen Systems. Zum anderen geht es hierbei aber auch um Luhmanns Beschreibung von Demokratie als Strukturbegriff des politischen Systems, in dessen Mittelpunkt neben dem Verhältnis von Regierung und Opposition auch die Beziehungen zwischen den Parteien und Wahlen stehen sowie um das Selbstverständnis des politischen Systems als Demokratie. Dabei werden vor allem die Selbstbeschreibung des politischen Systems als Demokratie, die Reflexionstheorien der Demokratie sowie der Einsatz der Demokratie als Legitimationsformel im Mittelpunkt der Überlegungen stehen. Damit ist auch die Überleitung gefunden zur Praxis der Demokratie und zu der Frage, warum eigentlich Demokratie?

Im Gegensatz zu den meisten Demokratietheoretikern, die trotz ihrer unzäh-ligen Defekte in der Demokratie die beste politische Ordnung zur Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte und zur Selbstbestimmung des Volkes sehen, ist sie für Luhmann vor allem eine spezifische Form zur Lösung politischer Probleme. Genau darin sieht er auch die größten Gefährdungen für die Demokratie, die in einer doppelten Selbstüberforderung zum Ausdruck kommen können: sie ent-steht zum einen dadurch, es allen Menschen bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme recht zu machen, was schließlich zu einem nicht mehr kontrollier- und steuerbaren „Wohlfahrtsstaat“ führt. Zum anderen kommt es zur Selbstüberfor-

10 So ähnlich übrigens auch schon Laski (1934: 84). 11 Im Gegensatz dazu siehe zum Beispiel die republikanische Auffassung von Demokratie, wie

sie insbesondere von Hannah Arendt vertreten wird (Arendt 1953, 1958, 1993: 9-133; zusam-menfassend Breier (1992).

16 Einleitung

derung durch Versuche, die Demokratie zu demokratisieren. Neben diesen For-men der Selbstüberforderung der Demokratie befürchtet Luhmann aber auch, dass im Zuge der Lösung politischer Probleme die gesellschaftliche Komplexität zu weit abnehmen könnte, wodurch sie als notwendige Voraussetzung für die Demokratie ausfallen würde. Aus der Perspektive Luhmanns betrachtet kann die erfolgreiche Lösung gesellschaftlicher Probleme durch das politische System also von zweifelhaften Wert sein. Um Komplexitätseinbußen zu vermeiden, böte es sich deshalb an, die Engführung der Demokratie auf das politische System aufzugeben und die Demokratie als politische Ordnung auf die Gesellschaft insgesamt auszuweiten. Für Luhmann ist dies jedoch keine sinnvolle Alternative, und Demokratie insofern auch kein Exportmodell für die Gesellschaft bzw. für ihre Subsysteme. Er befürchtet nämlich, dass durch den Import von Demokratie seitens der anderen gesellschaftlichen Subsysteme die Logik des politischen Systems auf die gesamte Gesellschaft übertragen werden könnte, was für ihn zugleich bedeuten würde, dass die erreichte gesellschaftliche Ausdifferenzierung wieder rückgängig gemacht werden würde. Letzten Endes würde diese Entdiffe-renzierung eine so starke Reduktion der gesellschaftlichen Komplexität beinhal-ten, dass damit zugleich auch die Lebensfähigkeit der Demokratie in Frage ge-stellt wäre. Am Ende dieser Arbeit soll schließlich der Versuch unternommen werden, den wissenschaftlichen Stellenwert von Luhmanns Demokratiekonzep-tion zu bilanzieren und eine Antwort auf die eingangs aufgeworfenen Fragen nach ihrer Anschlussfähigkeit und ihrem Weiterentwicklungspotenzial zu geben. Es soll aber auch versucht werden, den normativen Kern seiner demokratietheo-retischen Vorstellungen herauszuarbeiten. Dieser beruht auf einer Freiheit, die nichts oder nur wenig mit der Freiheit des oder der Individuen zu tun hat, son-dern als eine „systemische“ Freiheit betrachtet werden muss, die auf Kontin-genzerhalt und Kontingenzsteigerung gerichtet ist. Alles in allem ist also weder daran gedacht, eine Art Wirkungsgeschichte der Luhmannschen Ausführungen zur Demokratie zu schreiben, noch soll es vordergründig darum gehen, seinen Vorstellungen von Demokratie Widersprüche, Inkonsistenzen und Mängel nach-zuweisen12, obwohl dies aufgrund der Unklarheiten vieler seiner Äußerungen natürlich nicht vermieden werden kann und auch nicht vermieden werden soll.

Um Luhmanns demokratietheoretische Überlegungen zu untersuchen und zu systematisieren, werden seine öffentlich zugänglichen Publikationen herangezo- 12 Zur Kritik an Luhmann siehe Rödel u.a. (1989: 143-154), die auf der Basis einer völlig unzureichen-

den Literaturanalyse zu dem folgenden Ergebnis kommen: „Indem der Systemtheoretiker diese Per-spektive (gemeint ist „das symbolische Dispositiv einer demokratischen Republik und seiner institu-tionellen Umsetzungen“, E.C.) abwehrt und von Demokratie nicht viel hält, gibt er sich als eher ängstlicher Ordnungsfreund zu erkennen, dem es darum geht, möglichst ungestört die heile System-welt theoretisch zu verwalten“ (Ebenda: 154). Im Gegensatz zu dieser simplifizierenden „Kritik“ sie-he Habermas (1988: 426-445); Brodocz (2001: 485-489); Greven (2001); Krumm/Noetzel (2001).

Niklas Luhmann und die Theorie der Demokratie 17

gen. Bei ihrer Auswertung wird in vielen Fällen der Kontext ausgeblendet, in dem er seine Ausführungen zur Demokratie gemacht hat. Dies betrifft vor allem solche Bemerkungen zur Demokratie, die er immer wieder „nur so nebenbei“ in seinen Büchern und Aufsätzen hat einfließen lassen13, und für die deswegen der Kontext keine so große Bedeutung für die Analyse seines Demokratieverständnisses hat. Dennoch stellt sich in diesem Zusammenhang das Problem, in welcher Form Luhmanns Ausführungen zur Demokratie am sinnvollsten untersucht werden kön-nen. Soll man eine chronologische Vorgehensweise wählen oder soll man einer systematischen Vorgehensweise den Vorzug geben? Eine chronologische Vorge-hensweise wäre vor allem dann angemessen, wollte man die Entwicklung des Luhmannschen Verständnisses von Demokratie beschreiben, um eventuell einige im Laufe der Zeit sich einstellende Veränderungen aufzuzeigen. Da dies nicht intendiert ist, bietet sich stattdessen für die hier verfolgte Fragestellung eine syste-matische Vorgehensweise an, die vor allem auch deshalb angemessen ist, weil sich Luhmann nicht kontinuierlich, sondern nur sporadisch mit dem Thema Demokratie beschäftigt hat. „Systematische Vorgehensweise“ soll heißen, dass der Versuch unternommen wird, seine demokratietheoretischen Anmerkungen, Hinweise und Beiträge nach bestimmten Begriffen und Sachverhalten zu ordnen, in den allge-meinen Rahmen seiner Gesellschaftstheorie zu verorten und schließlich die zwi-schen ihnen bestehenden Verbindungen und Abhängigkeiten darzustellen.

Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass es aus prinzipiellen Erwä-gungen heraus nur sehr beschränkt möglich ist, die Überlegungen einer anderen Person zu „verstehen“. Man wird deshalb davon ausgehen müssen, dass Luh-manns Vorstellung und Verständnis von Demokratie immer nur unvollständig erschlossen werden kann. Bei der Rekonstruktion seines Demokratieverständnis-ses ist man außerdem ständig der Gefahr ausgesetzt, nicht Luhmanns Vorstellun-gen von Demokratie heraus zu arbeiten, sondern stattdessen die eigenen Vorstel-lungen von Demokratie in Luhmanns Arbeiten hervortreten zu lassen. Dieser Gefahr wird man wohl nie vollständig begegnen können.14 Sie soll aber dadurch abgemildert werden, dass Luhmann immer wieder in Zitatform selbst zu Wort kommen wird.

13 Dieser Umstand führt Hans-Joachim Giegel (2002: 195) zu der interessanten Frage, ob man

Luhmanns Systemtheorie benötige, „um die Aussagen zur Demokratie zu gewinnen, wie wir sie bei Luhmann finden?“ Die Antwort, die ich im folgenden geben werde, lautet: „teilweise schon!“, wobei nicht immer klar sein dürfte, welche Teile seiner Systemtheorie Beachtung fin-den müssen und welche ignoriert werden können.

14 Was in Beiträgen zu und über Luhmann immer wieder auffällt, ist, dass viele Autoren zunächst an seine Überlegungen anknüpfen, dann aber sehr schnell zu ihren eigenen Arbeitsgebieten vorstoßen. Dabei wird nicht selten Luhmanns Begrifflichkeit „ersetzt“ oder sogar „weiterent-wickelt“. Die Mixtur, die hierbei entsteht, ist gelegentlich kaum nachvollziehbar.

1 Systemtheorie und Demokratietheorie 19

1 Systemtheorie und Demokratietheorie Schaut man sich die einschlägige politikwissenschaftliche Literatur zur Demo-kratietheorie etwas näher an, stellt man rasch fest, dass den Systemtheorien15 keine Bedeutung für ein besseres Verständnis der Theorie und Praxis demokrati-scher Systeme und ihrer Theorie(n) zugebilligt wird.16 Selbst wenn zugestanden wird, dass sozialwissenschaftliche Systemtheorien wichtige Beiträge zum besse-ren Verständnis der Politik erbracht haben, so wird ihre Leistung zur Weiterent-wicklung der Demokratietheorie anscheinend sehr gering eingeschätzt, trotz der vielen empirischen Studien über die Demokratie, die auf eine Reihe systemtheo-retischer Konzepte wie der politischen Kultur, der Performanz oder der Unter-stützung („support“) politischer Systeme zurückgegriffen haben. Dennoch hat sich in den letzten Jahren mit einer Ausnahme (Massing/Breit (Hrsg.) 2005) keiner der zur Demokratietheorie publizierten Sammelbände näher mit den poli-tikwissenschaftlichen Systemtheorien auseinandergesetzt. In den folgenden Aus-führungen soll es deshalb zunächst ganz allgemein um die Bedeutung und den Stellenwert von Demokratie im Kontext systemtheoretischer Analysen gehen, um vor diesem Hintergrund die Relevanz der demokratietheoretischen Ausfüh-rungen Luhmanns besser abschätzen und in einen größeren theoretischen Zu-sammenhang einordnen zu können. Jedoch ist sogleich darauf aufmerksam zu machen, dass sich die Vertreter der Systemtheorie, zu nennen wären hier in erster Linie David Easton, Karl W. Deutsch und Gabriel A. Almond für die Politikwis-senschaft und neben Niklas Luhmann Talcott Parsons, Richard Münch und Hel-mut Willke für die Soziologie, zumeist nur am Rande mit demokratietheoreti-schen Fragen auseinandergesetzt haben. Angesichts dieser Ausgangslage darf man also keine allzu großen Hoffnungen hinsichtlich der Existenz einer wie auch immer elaborierten Systemtheorie der Demokratie hegen. Allerdings wäre es

15 Wenn hier und in den folgenden Ausführungen von „Systemtheorie“ die Rede ist, sind immer

die sozialwissenschaftlichen Systemtheorien gemeint. Diese können wiederum grob unterteilt werden in politikwissenschaftliche Theorien des politischen Systems und in Gesellschaftstheo-rien des politischen Systems.

16 Anders wohl Waschkuhn, der in seinem Buch über Demokratietheorien zwar auf wichtige Aspekte in den Arbeiten bekannter Systemtheoretiker eingeht, allerdings ohne dabei, mit Aus-nahme einiger allgemeiner Bemerkungen zu Luhmanns Demokratieverständnis, den Bezug zur Demokratie herzustellen (Waschkuhn 1998: 356-410).

20 1 Systemtheorie und Demokratietheorie

aber auch falsch, wenn aus diesem Tatbestand die Schlussfolgerung gezogen werden würde, dass die Vertreter der Systemtheorie kein Interesse an oder keine Vorstellung von Demokratie und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung gehabt hät-ten. Für Talcott Parsons zum Beispiel sind demokratische Associationen eine von sieben „evolutionären Universale“ (Parsons 1979: 69-72)17 und bei Gabriel Almond hat die Demokratie Modell- und Leitbildcharakter für die vergleichende Analyse politischer Systeme.

Ausgangspunkt des systemtheoretischen Denkens ist die Unterscheidung zwischen System und Umwelt. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie sich soziale Systeme gegenüber ihren Umwelten behaupten, wie sie mit den Anforde-rungen aus den Umwelten umgehen, wie sie auf die Umwelten einwirken und welche Reaktionen sie mit ihren Aktionen sowohl in den Umwelten als auch in Bezug auf sich selbst auslösen. Im Gegensatz zu den „klassischen“ Demokratie-theorien, die davon ausgehen, „daß die politische Willensbildung unmittelbar theoriefähig sei und sich nach einer vorgängig konsentierten Vernunftmoral richten könne“(Habermas 1992: 608), besteht die zentrale gesellschaftliche Funktion demokratischer Systeme aber nicht darin, demokratisch zu sein oder Demokratie zu praktizieren, sondern vielmehr in der Vorbereitung, Durchsetzung und Rechtfertigung von allgemeinverbindlichen Entscheidungen, die auf die Lösung politischer und/oder gesellschaftlicher Probleme gerichtet sind. Diese Problemlösungen sind wiederum zwangsläufig mit der (in der Regel) konflikt-haften Verteilung gesellschaftlicher Güter und Werte verbunden, so dass politi-sche Systeme bei der Durchsetzung ihrer Entscheidungen auf die Androhung oder den Einsatz von Macht zurückgreifen müssen. Als oberstes Ziel allgemein-verbindlicher Entscheidungen wird die Stabilisierung im Sinne einer dynami-schen Selbsterhaltung der politischen Systeme angenommen, wobei die Selbster-haltung nicht, wie fälschlich immer wieder behauptet wird, auf die Systemstruk-turen gerichtet ist, sondern auf die Sicherstellung der Funktionen, die die politi-schen Systeme für die Gesellschaft (als Umwelt) und für sich selbst erbringen. Solange es den politischen Systemen gelingt, ihre Funktionen aufrecht zu erhal-ten und allgemeinverbindliche Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, so lange gilt ihre Existenz als gesichert, unabhängig davon, wie sehr sich im Laufe der Zeit ihre Strukturen und Ideologien auch verändern mögen.

Die gesellschaftliche Funktion politischer Systeme, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen, gilt sowohl für demokratische politische Systeme als

17 Unter „evolutionäre Universale“ versteht Parsons „jede in sich geordnete Entwicklung oder

„Erfindung“, die für die weitere Evolution so wichtig ist, dass sie nicht nur an einer Stelle auf-tritt, sondern dass mit großer Wahrscheinlichkeit mehrere Systeme unter ganz verschiedenen Bedingungen diese „Erfindung“ machen“ (Parsons 1979: 55). Zu Parsons Demokratievorstel-lung siehe Baum (1998) sowie Gerhardt (2002: 75-79, 260, 276-280).

1 Systemtheorie und Demokratietheorie 21

auch für autoritäre und totalitäre politische Systeme. Unterschiede bestehen zwi-schen den verschiedenen Typen politischer Systeme zum einen darin, wie offen sie jeweils gegenüber ihren Umwelten sind. Folgt man systemtheoretischen Über-legungen, zeichnen sich demokratische Systeme nicht zuletzt dadurch aus, dass die Zugangskanäle zum politischen Entscheidungssystem sehr vielfältig sind, die Besetzung der politischen Führungsämter durch freie, gleiche, allgemeine und geheime Wahlen an das Volk zurückgebunden sind und die Möglichkeiten, aus der Umwelt auf das politische System ein- und mitzuwirken, breit ausdifferen-ziert sind. Darüber hinaus sind demokratische politische Systeme durch ein ho-hes Maß an Subsystemautonomie gekennzeichnet. Die Subsysteme in autoritären oder totalitären politischen Systemen sind dagegen funktional, personell und ideologisch engstens mit der jeweiligen Staatspartei verknüpft, während sie in demokratischen Systemen weitgehend unabhängig gegenüber den Parteien und dem Staat sind. Almond/Powell differenzieren demokratische Systeme sogar noch einmal nach dem jeweiligen Grad der Autonomie ihrer Subsysteme. Sie unterscheiden zwischen „premobilized democratic systems“, „low-autonomy de-mocratic systems“, “limited-autonomy democratic systems” und “high-autonomy democratic systems” (Almond/Powell 1978: 72-76).18 Schließlich heben sich die demokratischen politischen System von autoritären oder totalitären Systemen neben den bereits erwähnten Unterschieden noch dadurch ab, dass sie über typi-sche Formen der Selbstbeschreibung und der Legitimation politischer Herrschaft verfügen. Aufgrund ihrer Besonderheiten wirken demokratische politische Sys-teme auf dem ersten Blick sehr viel instabiler als zum Beispiel autoritäre politi-sche Systeme. Aber gerade aus dieser Instabilität ergibt sich für die demokrati-schen Systeme ein höheres Maß an Stabilität, weil mit ihr eine größere Zahl von Handlungsoptionen verbunden ist19, während die vermeintliche Stabilität autori-tärer politischer Systeme paradoxer Weise eher zur Instabiliät neigt, da sie nur auf wenige Handlungsoptionen zurückgreifen können.20

Der Unterscheidung zwischen den verschiedenen Typen von politischen Systemen liegt in den meisten Fällen implizit die Differenzierung zwischen Poli-tik und Demokratie zugrunde. Man vermeidet es also, Politik von vornherein mit

18 Siehe auch Almond/Powell (1966: 259-260, 291-298, 310-311). Eine andere Klassifikation

findet sich noch bei Almond (1979: 221-226). Dort wird unterschieden zwischen Vormund-schaftsdemokratien, Immobilistische Demokratien und Stabile Demokratien.

19 Siehe hierzu Harry Ecksteins „Theory of stable democracy“ (1992) sowie am Beispiel politi-scher Kultur Almond (2002: 198-200).

20 Aus der Zahl der einem politischen System zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen lassen sich also Annahmen über den Charakter politischer Systeme und ihrer Stabilität ableiten. Aber dies allein reicht natürlich nicht aus. Hinzutreten muss auch die Bereitschaft, die zur Ver-fügung stehenden Handlungsoptionen ernsthaft hinsichtlich ihrer Praxistauglichkeit zu prüfen und flexibel und variabel einzusetzen.

22 1 Systemtheorie und Demokratietheorie

einer bestimmten politischen Herrschaftsordnung zu identifizieren. David Easton, dessen Ausführungen hierzu beispielhaft herangezogen werden können, zweifelt sogar daran, „whether we can ever secure the most reliable understand-ing of how democracies emerge and function unless we are able to invent a con-ceptual framework that applies to a much broader range of system types“ (Easton 1965: 15). Er geht davon aus, dass es erst im Rahmen einer allgemeinen und vergleichend angelegten (Easton 1959)21 Theorie der Politik und politischer Systeme möglich ist, Aussagen über demokratische politische Systeme und daran anschließend auch über Demokratie zu machen. Demokratietheorien sind für ihn deshalb auch nur „partial theories“ (Easton 1965: 480-481), und Analysen über die Probleme von Demokratien, zumindest auf theoretischer Ebene, demzufolge auch nur von zweitrangiger Bedeutung (Easton 1965: 481). Da der Politikbegriff der Systemtheorien also über politische Ordnungskonzeptionen hinaus reicht, ist für sie Demokratie nur eine besondere Form politischer Strukturen, die sich ge-genüber nichtdemokratischen Politiken abgrenzen lassen.22 Erst demokratische und nichtdemokratischen Politiken zusammengenommen erlauben nach dieser Auffassung verallgemeinerbare Aussagen über Politik. Programmatisch haben dies Almond/Powell (1972: 414) wie folgt auf den Punkt gebracht: „But our purpose is to develop an analytical scheme which will enable us to explain the characteristics of any political system.“

Sozialwissenschaftliche Systemtheorien neigen jedoch dazu, einem sehr pragmatischen Verständnis von Demokratie zu folgen, man könnte es auch als zirkulär bezeichnen. Wenn politische Systeme bestimmte Strukturen und Eigen-schaften aufweisen, die als „demokratisch“ gelten, werden sie als Demokratien bezeichnet. Demnach ist die Klassifikation politischer Systeme als Demokratie von formalen Merkmalen abhängig, von denen man, wie bei freien Wahlen, Gewaltenteilung oder Rechtsstaatlichkeit, der Auffassung ist, dass sie zur Demo-kratie gehören. Von daher besteht bei Systemtheorien trotz der Trennung zwi-schen Politik und Demokratie die Neigung, demokratische politische Systeme ohne jede weitere Differenzierungen mit „Demokratie“ gleichzusetzen. Daneben orientiert sich der systemtheoretische Demokratiebegriff aber auch an allgemein anerkannten Normen und Werten, die jedoch nicht isoliert betrachtet werden, sondern die als eng verbunden mit den demokratischen Strukturen angesehen werden. Dementsprechend ist es für die Vertreter der Systemtheorie von zentra-ler Bedeutung, dass die Strukturen politischer Systeme so gestaltet sind, dass

21 „By classifying systems as democratic, authoritarian, totalitarian, traditional, or modernizing,

we are attributing to each type of system different characteristic modes of operation“ (Easton 1965a: 93).

22 Easton spricht in diesem Zusammenhang von den „essential variables“ der verschiedenen Typen politischer Systeme (Easton 1965a: 92-97).

1 Systemtheorie und Demokratietheorie 23

diese in der Lage sind, demokratischen Werten wie Freiheit, Gleichheit oder Gerechtigkeit praktische Geltung zu verschaffen. Ihr Ausgangspunkt ist dabei das Modell eines voll entwickelten politischen Systems, das über ein hohes Maß an Eigenkomplexität sowie über Eigenschaften verfügt, wie sie nur demokrati-sche politische Systeme besitzen (besonders deutlich bei Almond u.a. 1995: 29-40). So wird immer wieder darauf hingewiesen, dass demokratische Systeme eine außerordentlich komplexe innere Organisation aufweisen, offen gegenüber Umweltanforderungen sind, ein hohes Maß an Lernfähigkeit besitzen und über die Kapazität verfügen, „to transform themselves, their goals, practices, and the very structure of their internal organization (Easton 1965a: 99). So gesehen ori-entieren sich die Vertreter der Systemtheorie, ohne dies jedoch immer auszu-sprechen, an den westlichen demokratischen Staaten, die als Vorbilder für den am weitesten fortgeschrittenen Entwicklungsstand politischer Systeme betrachtet werden. Abweichungen von diesem (demokratischen) Entwicklungsstand wer-den dementsprechend als defizitär verstanden. Zusammenfassend lässt sich fest-stellen, daß das Politikverständnis der Vertreter der Systemtheorie auf einem demokratischen Politikmodell aufbaut. Diese Modell beruht konzeptionell auf dem Zusammenwirken von vier politischen Dimensionen, die eine Vielzahl von Überschneidungs- und Berührungspunkten zu den „klassischen“ Varianten von Demokratietheorien erkennen lassen. Im Einzelnen sind dies die Anforderungen, die aus der Umwelt an das politische System gestellt werden („Input“), die Um-wandlung der Umweltanforderungen in politische Entscheidungen („Konversi-on“ oder „Transformation“), die Durchsetzung von politischen Entscheidungen („Output“) und schließlich die Auswirkungen der Entscheidungen auf das politi-sche System und auf seine Umwelt („Rückkopplung“). „Demokratisch“ ist nach diesem Modell ein politisches System, wenn die Politik gegenüber Umweltan-forderungen „offen“ und „responsiv“23 ist, wenn die Bürger in freien Wahlen Einfluss auf die personelle Zusammensetzung des politischen Entscheidungssys-tems nehmen und die gesellschaftlichen Akteure auf den politischen Entschei-dungsprozess unmittelbar einwirken können und wenn die politischen Entschei-dungen den Bedürfnissen einer Mehrheit der Bevölkerung entgegen kommen. Der Akzent systemtheoretischer Analysen liegt demnach also neben den Kon-struktionsmerkmalen politischer Systeme vor allem auf den Prozessen, die das Verhältnis zwischen dem System und seiner Umwelt überbrücken. Systemtheo-retiker gehen deshalb auch mehr oder weniger explizit davon aus, dass in demo-kratischen Systemen der für das Operieren und das Überleben politischer Syste-me so entscheidende Rückkopplungsprozess zwischen Bürgern und politischen 23 “In democracies outputs of regulation, extraction, and distribution are more affected by inputs

of demands from groups in the society. Thus we may speak of democracies as having a higher responsive capability” (Almond/Powell 1972: 409).