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Ein Überblick über die Geschichte von Sc · PDF file12 Erwin Ratz, Einführung in die musikalische Formenlehre , S. 33. 13 Ebda. Scherzo A Trio B Scherzo A Da Capo . 8 Nbsp. 1, Beethoven,

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Inhaltsverzeichnis:

Seite

Vorwort

1. Historische Perspektiven………………………………………………………..4

1.1 Tendenzen in der Geschichte des Scherzos……………………………..4

1.2 Gustav Mahler und das Scherzo…………………………………………..9

2. Form und Harmonik…………………………………………………………….11

2.1 Form……………………………………………………………………...11

2.2 Harmonik………………………………………………………………...22

3. Satztechnik……………………………………………………………………...29

3.1 Stimmführung und Variantenprinzip ………………………………....29

3.2 Kadenztypen und Markierungen der Abschnitte………………....35

4. Das Verhältnis zum Lied……………………………………………………....40

5. Zusammenfassung……………………………………………………………..43

Literaturverzeichnis………………………………………………………….....45

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Vorwort

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Besonderheiten der Scherzoform in

Gustav Mahlers „Wunderhorn-Symphonien“ 2-4 analytisch und historisch

herauszuarbeiten. Die eingenommene Position lässt sich dabei mit der einer

Kartographin vergleichen, die sich zunächst nur auf eine grobe Perspektive

beschränken kann. In diesem Sinne versuche ich nach einer knappen Darstellung

der Gattungsgeschichte des Scherzos bis zu Mahler zunächst einen Überblick über

die großformale Anlage dieser drei Sätze geben. Vor dem Hintergrund der

Abweichungen (Deformationen) vom modellhaften Schema werden spezifische

analytische Perspektiven entworfen, die u.a. Satztechnik (Stimmführung und

Variantenprinzip) und die Einarbeitung von Liedelementen betreffen.

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1. Historische Perspektiven

1.1 Tendenzen in der Geschichte des Scherzos

Den Begriff „Scherzo“ verbindet man spontan wohl in erster Linie mit den Scherzi

Beethovens. Das mag daran liegen, dass sich die Gattung des (symphonischen oder

Sonaten-) Scherzos erst mit Beethoven herausbildet. Ein kurzer Überblick über die

Tendenzen in der Geschichte des Scherzos soll Einblick in die unterschiedlichen

Physiognomien dieser Gattung gegeben.

„Das italienisierte scherzo bzw. dessen Verbalform scherzare erscheinen als

Lehnwörter aus dem Mittelhochdeutschen, wo scherz soviel wie ‚Vergnügen, Spiel‘ -

scherzen svw. ‚fröhlich springen, sich vergnügen‘ bedeutet.“1

Bis ins 16. Jahrhundert wird der Begriff Scherzo nicht im musikalischen

Zusammenhang verwendet. Die ersten Benennungen dieser Art kommen erst

Anfang des 17. Jahrhunderts vor und beziehen sich auf Tanzstücke. „Wenn sich

auch der Name Scherzo bereits zu Bachs Zeiten gelegentlich vorfindet (vgl. seine

Partita in a-Moll), so gehört dessen Kunstform doch einer viel späteren Zeit an und

gelangte erst seit Beethoven zur allgemeinen Geltung.“2

Im Barock verstand man unter dem Begriff Scherzi musicali eine Folge von Suiten;

wie z.B. in den Scherzi musicali Claudio Monteverdis. Außerdem wurden kurze

Sätze, die scherzando (als Spielanweisung) gespielt werden sollten, als Scherzo

bezeichnet.

In der Klassik taucht der Begriff Scherzo (als auch scherzando) zum ersten Mal in

den Streichquartetten op. 33 (1781) von Joseph Haydn auf, es bezeichnet hier

menuettähnliche Binnensätzen.

„…Allerdings hatte Haydn schon in seinen sechs Streichquartett op. 33 (Hob. III: 37-42) die

Tanzsätze mit Scherzo überschrieben, die Bezeichnung später jedoch nicht wieder verwendet,

obgleich die Kriterien, derentwegen die Sätze wohl Scherzo heißen, durchaus auch in zahlreichen

jüngeren Menuetten Haydns anzutreffen sind.“3

1 Josef Gmeiner, Menuett und Scherzo, S. 159. 2 Richard Stör, Musikalische Formenlehre, S. 163. 3 Wolfram Steinbeck, Scherzo und Menuett, S. 644.

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Bei allen sechs Quartetten in Haydns op. 33 wird der Titel Scherzo an der Stelle der

Menuettsätze verwendet. „Während sich Scherzando bei den geradtaktigen Sätzen

mehr auf den Charakter (scherzhaft, tändelnd) bezieht und auch als

Interpretationshinweis gelten kann (Allegro scherzando), ist mit der Überschrift

Scherzo in op. 33 eher die eigenwillige kompositorische Struktur angesprochen.“4

Man bezeichnet Haydn als denjenigen Komponisten, der den Übergang vom

Menuett zum Scherzo einleitete. Die Wendung zum typischen Scherzosatz vollzieht

sich allerdings erst bei Beethoven. „Bemerkenswert wäre immerhin, daß Beethoven

dann Haydns Entschluß, die Bezeichnung wieder fallen zu lassen, für sich dadurch

revidierte, daß er einen gewissen Typus seiner eigenen Menuette nun selbst so

benennt.“5

In den Werken Beethovens nimmt das Scherzo fast durchweg die Stelle des

Menuetts ein. Das Scherzo unterscheidet sich vom Menuett hauptsächlich durch

seinen lebhafteren, oft zum Grotesken neigenden Charakter, die lebhafte Bewegung

und der größere Tonumfang, sowie ein rascheres Tempo. Die Scherzi Beethovens

sind weit entfernt von der herkömmlichen Funktion und dem Charakter eines

Tanzsatzes.6 „Seit Beethoven ist das Scherzo bekanntlich der Satz, der in vielfältiger

Weise das Moment der Bewegung und das des Rhythmischen thematisiert.“7 Wie

der Gattungsbezeichnung zu entnehmen ist, spielt der Humor beim Scherzo eine

wichtige Rolle. Der Humor zeigt sich, vor allem bei den Scherzi Haydns und

Beethovens in unerwarteten Pausen, Akzenten, Synkopen, in der kontrastierenden

Dynamik und den raffiniert komponierten Staccati.

Das Scherzo ist in der Regel ein Mittelsatz eines mehrsätzigen Werkes.

“Im Blick auf die Gattungsgeschichte kommt dem Scherzo in der Tat eine besondere Bedeutung zu.

Der Tanzsatz erweitert nämlich die Dreisätzigkeit von Konzert und Sonate zur symphonischen

Viersätzigkeit und ist damit ein Stück Gattungsgarant. Seine Funktion liegt vor allem in der

Kontrastbildung zum Adagio.“8

4 Riemann, Musik Lexikon, S. 847. 5Wolfram Steinbeck, Scherzo und Menuett, S. 644. 6 Das Menuett ist ein französischer Hoftanz um 1650. Gegen 1670 wurde es in die Komposition von Suiten integriert und stilisiert. Da damals die Kompositionslehre anhand des Menuetts unterrichtet wurde, spielte es in der Musik der damaligen Zeit eine besondere Rolle. 7 Wolfram Steinbeck, Gustav Mahler und das Scherzo, S. 64. 8 Ebda, S. 64.

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Das Scherzo hat eine klare Struktur und einen präzisen Aufbau. Das Taktmaß ist

ungeradzahlig (meistens in 3/4 oder 3/8), steht jedoch auch gelegentlich in geradem

Taktmaß, (etwa 2/4, vgl. Schumann: Symphonie Nr. 2 C-Dur op. 61). Ein

traditionelles Scherzo hat eine Dacapo-Form, die durch einen kontrastierenden

Mittelteil, das Trio, gegliedert wird, auf das die Wiederholung des ersten Teils folgt.

Der Scherzoabschnitt besteht aus drei Teilen, von denen meist der erste wiederholt

wird (häufig mit Veränderungen: a b a’).

Der zweite Abschnitt, das Trio, besteht ebenfalls aus drei Teilen. Das Trio entwirft in

Bezug auf das Scherzo einen deutlichen Kontrast, der sich meistens durch im

Legato geführte Melodielinien, einfache Hornquinten oder eine bordunartige

Satzweise ausprägt.

„Der Terminus [Trio] weist darauf hin, daß es sich ursprünglich um einen im Unterschied zur

Vollbesetzung der Rahmenteile 3st. Satz handelte […]. In Menuett und Scherzo hat das Trio seit der

Wiener Klassik vollere Besetzung, ist in der Regel jedoch ruhiger gehalten als der Hauptsatz und

weist kantable Melodieführung, häufig auch Tonart- und Tempowechsel auf.“9

Im traditionellen Schema steht das Trio häufig in der gleichen Tonart wie der

Scherzo- oder der Menuettabschnitt (vgl. Beethovens Symphonien Nr. 2 D-Dur op.

36, Nr. 4 B-Dur op.60 und Nr. 6 F-Dur op. 68).10

Daneben wird häufig auch die Varianttonart eingesetzt; wenn der erste Abschnitt

(Scherzo oder Menuett) in Dur steht, folgt das Trio in der Mollvariante, oder

umgekehrt (vgl. Mozart: Symphonie Nr. 40 g-Moll, KV 550; Beethoven Symphonie

Nr. 5 c-Moll op. 67, Nr. 9 d-Moll op. 125). Ein weiterer möglicher Fall ist, dass das

Trio in einer kontrastierenden Tonart erscheint (Beethoven: Symphonie Nr. 7 A-Dur

op. 92).

Sowohl beim Scherzo als auch beim Trio handelt es sich also in der Regel um eine

dreiteilige Liedform (vgl. Tab. 1). Manchmal findet sich eine kurze Überleitung

zwischen Trio und Scherzo. Am Ende kann eine Coda stehen, deren Material sowohl

auf Scherzo als auch auf Trio zurückgreifen kann.

9 Michael Kube, Trio, S. 1075. 10Ein interessanter Aspekt bei diesen und vielen anderen Beispielen ist, dass sie in der gleichen Tonart stehen wie der erste Satz. “When the slow movement had been in a nontonic key, the minuet normally restores the tonic. […] The minuet/Scherzo represents the return of many of the main principles oft the first movement, but on different terms.” James Hepokoski und Warren Darcy, Elements of Sonata Theory, S. 330f.

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Tab. 1, typische Scherzoform

Gerade die Einfachheit des Schemas macht eine Belebung durch individuelle

Einschübe, Hervorhebungen etc., durch „Deformationen“ zu einem entscheidenden

Aspekt der Individualisierung des Formtyps seit Beethoven.

“Wesentlich für die Scherzi Beethovens dürfte ihre schon früh erkennbare innere Tendenz zur

Aufhebung der Form durch sich selbst sein, einer Form, die durch Motorik und metrische Strenge zu

kreisender Bewegung neigt und durch feine witzige Kunstgriffe wie falsche Betonungen oder

metrische Hermetik reflektiert und von ihr ihre besondere Wirkung erhält.“11

So gibt es in der Vierten und Siebten Symphonie Beethovens zum ersten Mal im

Scherzosatz einer Symphonie eine Wiederholung des gesamten Trioteils, so dass

eine fünfteilige Großform A-B-A-B-A entsteht.

Eine weitere wichtige Neuerung der Scherzi Beethovens gegenüber dem Menuett ist

die Tendenz, das Durchführungsprinzip in die Scherzoform einfließen zu lassen. „Bei

der Scherzoform beschränkt sich die Durchführung häufig auf die Aufstellung eines

Modells und seine Sequenz (so z. B. im Menuett aus Op. 22 von Beethoven).

Meistens folgt aber noch ein kürzerer Abspaltungsprozeß, der auf die Dominante der

Haupttonart führt.“12

Ein besonders anschauliches Beispiel findet man im Scherzosatz der Klaviersonate

op. 28 (Nbsp. 1). Das Thema (T. 1-16) ist eine Periode, die in den Takten 17 bis 32

wiederholt wird. Die „Durchführung“ beginnt mit einem viertaktigen Modell (T. 33-36),

das zweimal sequenziert wird (T. 37- 44). In den Takten 45-48 wird die Dominante

erreicht und ab Takt 49 beginnt die Reprise des Scherzothemas.13

11 Wolfram Steinbeck, Scherzo und Menuett, S. 646. 12 Erwin Ratz, Einführung in die musikalische Formenlehre, S. 33. 13 Ebda.

Scherzo A Trio B Scherzo A

Da Capo

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8

Nbsp. 1, Beethoven, op. 28, 3. Satz

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekommt das Scherzo je nach Komponist

individuelle Gesichter und wird gelegentlich auch als eine selbstständige Form, als

ein einsätziges Stück, komponiert (sowohl für Klavier14 als auch für Orchester)15.

Mendelssohn entwickelt das sogenannte Elfenscherzo, das „das tänzerische

Moment in einer flimmernden Leichtigkeit bewahrt“.16 Schumann hingegen hat

Scherzi mit zwei verschiedenen Trios komponiert (Symphonien Nr. 1 B-Dur op. 38

und Nr. 2 C-Dur op. 61). Bei Liszt spielt das Scherzando eine wichtige Rolle. „Liszt

verwendet den Terminus als Ausdrucksbezeichnung, und zwar nicht nur in

ausgesprochenen Scherzi und in scherzoartigen Sätzen, sondern auch bei anderen

Charakteren.“17 Brahms verwendet die Bezeichnung Scherzo nur in Klavier- und

14„virtuose Klavierstücke nach Art von Caprices oder Konzertetüden“, Riemann, Musik Lexikon, S. 847. 15 Beispiele für Klavier sind die vier Scherzi op. 20, 31, 39 und 54 von Frédéric Chopin oder das es-Moll-Scherzo op. 4 von Johannes Brahms; Beispiele für Orchester sind das Scherzo fantastique op. 3 (1909) oder das im Original für Jazzband geschriebene Scherzo à la Russe (Orchesterfassung 1944) von Igor Stravinsky. 16 Wolfram Steinbeck, Scherzo, Sp. 1060. 17 Costantin Floros, Gustav Mahler II, S. 169.

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Kammermusik. Die dritten Sätze der 1. und 3. Symphonie sind wohl von der Form

her am Scherzo orientiert, entwerfen aber einen grundlegend anderen Charakter.18

„Der Scherzo-Charakter ist bei Brahms markant, virtuos und dem pulsierenden Staccato-Duktus bei

Beethoven verwandt. Schnelle Mittelsätze ohne Scherzo-Bezeichnung neigen dagegen zum

ruhigeren, wiegenden Ton in gemäßigterem Tempo. In den Symphonien scheint er wie Mendelssohn

das Scherzo geradewegs zu meiden.“19

Sämtlichen Scherzosätze Bruckners haben eine dreiteilige Anlage (Scherzo-Trio-

Scherzo) und sind immer mit der Überschrift „Scherzo“ bezeichnet, was bei Mahler

nicht immer der Fall ist.

„Im Gegensatz zu Brahms hat Bruckner in all seinen Symphonien am Scherzo festgehalten [...] Sie

reduzieren das Thematische auf das primär Rhythmische und die permanente Wiederholung,

Variierung und orchestrale Schichtung kurzgliedriger, scharf begrenzter Formeln. Mit seinen Scherzi

gestaltet Bruckner die ebenso scharf gegliederte Form, durch die sich eine Steigerungsbewegung

zieht, deren absoluter Höhepunkt im Abbruch des Schlusses erreicht ist. Die Mitte der Sätze bildet

dabei – in äußerstem Kontrast – ein beschaulich-ländlerhaftes Trio, […].“20

1.2 Gustav Mahler und das Scherzo

In den ersten vier Symphonien Gustav Mahlers fehlt der Begriff „Scherzo“, obwohl es

in jeder dieser Symphonien einen Satz mit eindeutigem Scherzocharakter gibt.21 In

den nächsten Symphonien, nämlich der Fünften, Sechsten und Siebten, wird die

Bezeichnung „Scherzo“ dagegen verwendet. Insgesamt ist in den ersten

Symphonien das Vermeiden von traditionellen Satzüberschriften auffallend, in den

mittleren Symphonien tauchen sie dagegen regelmäßig auf.

Ein anderer Aspekt im Bezug auf das neue Gesicht des Scherzos im 19.

Jahrhundert betrifft die Beziehung zwischen dem Scherzo und anderen Tanztypen.

„Bei Mahler wird das Scherzo gleichsam auf alle Dimensionen der

kompositionsgeschichtlichen Möglichkeiten des Tanzes hin ergründet und auf einen

Höhepunkt von geradezu unüberbietbarer Vielseitigkeit geführt.“22

18 Vgl. Wolfram Steinbeck, Scherzo, Sp. 1061. 19 Ebda., Sp. 1061. 20 Ebda., Sp. 1061-1062. 21 Auch in allen anderen Sätzen der ersten vier Symphonien finden sich keine Überschriften. 22 Wolfram Steinbeck , Scherzo, Sp. 1062.

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Constantin Floros etwa betont die enge Beziehung zwischen dem Scherzo und dem

Ländler in der Musik Gustav Mahlers:

„Es sei gestattet, daran zu erinnern, dass Mahlers Scherzi und scherzoähnliche Sätze viele

ländlerartige Partien aufweisen, von einzelnen Melodien und Motiven ganz zu schweigen […]. Mitchell

geht von der Auffassung aus, dass Mahler in seinen frühen Symphonien die Charaktere Scherzo und

Ländler in der Regel auseinander halte. Nur das Scherzo der Ersten Symphonie bilde mit seiner

unzweifelhaft ländlerähnlichen Physiognomie einen Sonderfall. In der Zweiten Symphonie lasse

Mahler auf einen Ländler (zweiter Satz) ein Scherzo (dritter Satz) folgen. In der Dritten Symphonie

reihe er ein Menuett (zweiter Satz) und ein Scherzo (dritter Satz) aneinander. In der Vierten

Symphonie lege er den Kontrast zwischen Scherzo und Ländler in den zweiten Satz: der ‚Hauptsatz‘

sei ein Scherzo, das Trio ein Ländler […]. Mahlers spezifischer Scherzotypus unterscheidet sich vom

Ländler hauptsächlich durch das schnellere Tempo, die lebhaftere und gleichmäßiger Rhythmik sowie

durch die Artikulation. Die Vorliebe für das Staccato ist wohl das sinnfälligste Wesensmerkmal des

Scherzos.“23

Um die Musik Gustav Mahlers verstehen und sich seinem kompositorischen Denken

nähern zu können, ist es notwendig die besondere Funktion der Scherzosätze in

seinen symphonischen Werken zu erfassen, wurde jedoch mehrfach schon

herausgestellt, „daß das Scherzo bei Mahler […] als Satztyp aufgefaßt [werden

kann], an dem sich wesentliche Aspekte der Kompositionstechnik Mahlers und des

Gehalts seiner Musik zeigen lassen.“24

Eine spezielle Problematik der Scherzi in den Symphonien 2-4 stellt die Frage dar,

inwiefern diese Sätze von der modellhaften Scherzoform abweichen, welche Gehalte

durch die Kategorie der Abweichungen vermittelt werden und wo der Vergleich mit

dem traditionellen Schema überhaupt sinnvoll ist.

23 Constantin Floros, Gustav Mahler II, S. 165ff. 24 Wolfram Steinbeck, Gustav Mahler und das Scherzo, S. 66.

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2. Form und Harmonik

2.1 Form

Ohne Zweifel folgen die drei Scherzi in Mahlers Zweiter, Dritter und Vierter

Symphonie in vieler Hinsicht dem Standardmodell der Scherzoform, obwohl

einerseits die Überschrift „Scherzo“ bei allen drei Sätzen fehlt und andererseits bei

jedem Satz wichtige Charakteristika vom Modell abweichen.25

Eine tendenziell „klassizistische“ Form weist das fünfteilige Scherzo der Vierten

Symphonie auf. Das Scherzo der Dritten bringt mit der Posthornepisode und dem

katastrophischen Einbruch gegen Ende markante Eigenheiten, die das

vorgezeichnete Modell nachhaltig deformieren. Das Scherzo aus der Zweiten hat im

Gegensatz zu den Scherzi der Dritten und Vierten eine dreiteilige Form, die durch

eine Reminiszenz an das Trio mitten in der Scherzoreprise und zwei kleinere

Episoden erweitert ist.

Das Scherzo der Vierten erscheint in formaler Hinsicht am unproblematischsten. Der

Satz ist fünfteilig angelegt, als dreigliedriges Scherzo mit einem wiederholten Trio.

Allerdings kommt es bei jeder Reprise zu einer Ausweitung des Materials und einer

dadurch bedingten Verlängerung der Formteile (vgl. Tab. 2).

Tab. 2, Vierte Symphonie (1899-1900):

Formabschnitte Taktumfang Tonart

Scherzo a: T.1-33 33 68 c-Moll b : T. 34-45 12 C-Dur a: T. 46-68 23 c-Moll Trio a: T. 69-93 25 41 F-Dur b: T. 94-109 16 F-Dur a: T. 110-144 35 93 c-Moll Scherzo b: T. 145-156 12 C-Dur a: T. 157-184 28 c-Moll b: T. 185-202 18 C-Dur Trio a: T. 203-220 18 78 F-Dur b: T. 221-253 33 F-Dur a/b: T. 254-280 27 D-Dur Scherzo a: T.281-313 33 84 d-Moll b: T. 314- 328 15 C-Dur a: T. 329-364 36 C-Dur

25 Im Bezug auf die Dritte muss klar sein, dass die Bezeichnung „Scherzando“ als eine Stütze fungiert. „Die Bezeichnung ‚Scherzando‘ ist über die Charakterbestimmung hinaus eine traditionelle Satzbezeichnung für geradtaktige Scherzosätze.“ (Riemann, Musik Lexikon, S. 846f).

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12

Der am Beginn in sich dreiteilige Scherzoteil wird bei der ersten Reprise vierteilig.

Das Trio, das am Anfang zweiteilig ist, wird bei der Wiederholung dreiteilig; der letzte

Scherzoabschnitt ist wieder dreiteilig. Die Hinzufügungen in der Scherzoreprise, eine

Variante des b-Abschnittes (b´), und in der Trioreprise, ein aus a- und b-Abschnitt

zusammengesetzes Material, weichen deutlich vom Modell ab. Bei dem

hinzugefügten dritten Teil des 2. Trios kann man annehmen, dass es sich hier

einerseits in der Manier Mahlers um eine Art Höhepunkt gegen Ende des Satzes

handelt, der durch eine plötzliche Wendung in der Harmonik (Rückung von F-Dur

nach D-Dur) und eine neue Klangfarbe dargestellt wird. Andererseits kann er auch

die Rolle einer Episode haben (Nbsp. 2).

Nbsp. 2, T. 251-261

Beim Scherzo aus der Dritten Symphonie gibt es wie bei dem aus der Vierten eine

Wiederholung des Trios, wobei hier die abweichende Teile sich auf den ersten Blick

innerhalb des traditionellen Schemas zu bewegen scheinen (vgl. Tab. 3).

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13

Tab. 3, Dritte Symphonie (1893-1896): 68

52

90

45

91

85

28

25

44

28

34

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thor

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(T. 1

21-2

10)

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55)

1.

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60-4

85)

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68

50

137

91

85

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44

28

34

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tum

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33

23

12

50

57

23

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27

91

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19

44

28

34

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(a)

T. 3

4-56

(b)

T. 5

7-68

(a)

T. 6

9-11

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0)

T. 1

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21)-

175

(a)

T. 1

76-1

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b)

T. 1

99-2

28 (

a)

T. 2

29-2

55

T. 2

56-3

46

T. 3

47-4

31

T. 4

32-4

65

T. 4

66-4

84

T. 4

85-5

28

T. 5

29-5

56

T. 5

57-5

90

3. S

ymph

onie

T. 1

-68

T. 6

9-11

8(12

0)

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19(1

21)-

255

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56-3

46

T. 3

47-4

31

T. 4

32-4

84

T. 4

85-5

28

T. 5

29-5

56

T. 5

57-5

90

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14

Dieser Satz ist durch zwei gedehnte Episoden, die sogenannten Posthornepisoden

charakterisiert.

Einer häufigen Meinung nach erfüllen diese beiden Posthornepisoden die Rolle

eines Trios.26 Eine interessante Analyse hat Monika Tibbe entwickelt. Diese basiert

auf der Annahme, das erste Trio beginne ab T. 256, wo die erste Posthornepisode

erscheint (vgl. Tab. 3); gleichzeitig lässt sie aber auch die Auffassung, das erste Trio

beginne bereits in T. 69, gelten:

„Die Beschaffenheit des A-Teiles [T. 1-68] macht es möglich, ihn als vollständiges Scherzo mit

verkürzter und veränderter Reprise anzusehen. Als erstes Trio kann der B-Teil wegen der eigenen

Thematik und des gegensätzlichen Charakters gelten. Zudem ist auch der B-Teil dreiteilig angelegt,

mit Exposition (T. 69-88), durchführendem Mittelteil (T. 89-101) und verkürzter Reprise (T. 102-

111).“27

Eine ähnliche Stellungnahme im Bezug auf die Stelle des Trios kann man auch bei

Eggebrecht finden. Einerseits ist er der Meinung, dass die Posthornepisoden die

Rolle eines Trios haben:

„Formal nimmt die Posthornepisode in dem quasi als Scherzo fungierenden 3. Satz der III.

Symphonie die Stelle des Trios ein. Genauer muß von zwei Posthornepisoden gesprochen werden:

dem Posthorntrio (Z. 14-17= erste Posthornepisode) und dem Einschub des Trios in verkürzter und

veränderter Form innerhalb der variierten Wiederholung des Scherzos (Z. 27-30 = zweite

Posthornepisode).“28

Andererseits bestätigt er die außerformale oder episodenhafte Eigenschaft der

Posthornabschnitte:

„Die Posthornweise repräsentiert das gegenüber der Tierwelt Andere, ein gegenüber ihrem Humor,

ihrer Fratzenhaftigkeit und Skurrilität, ihrer Tragik, ihrer Gefangenheit und dumpfen

Erlösungssehnsucht schlechthin Anderes, das nicht anders dargestellt werden kann als durch ein

Anderes selbst und nicht anders als Episode , ein im Formungslauf anderes und Vorübergehendes

[…] Die Idee der Posthornepisode ist das – nur als Episode möglich - Einbrechen des Anderen in

der Weise des Einschaltens einer anderen Musikart und das Reagieren des Orchesters, der

grotesken, gefangenen, gequälten Wesenheit der Tiere, auf dieses Andere.“29

26 Vgl. Friedhelm Krummacher, Gustav Mahlers III. Symphonie, S. 96. 27 Monika Tibbe, Über die Verwendung von Liedern und Liedelementen in instrumentalen Symphoniensätzen Gustav Mahlers, S. 61. 28 Hans Heinrich Eeggebrecht, Die Musik Gustav Mahlers, S. 170. 29 Ebda., S. 181ff.

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15

Meiner Meinung nach beinhaltet der Scherzoteil nur die Takte 1-68, die der

dreiteiligen Anlage des zugrunde liegenden Liedes Ablösung im Sommer (vgl. 4.)

entsprechen, ab Takt 69 beginnt dann das Trio.

Ein wichtiger Grund, der diese Sichtweise rechtfertigt, ist das Auftauchen eines

musikalisch stark kontrastierenden neuen Abschnittes (Nbsp. 3).

Nbsp. 3, T. 69ff

Die kontrastierenden Eigenschaften dieses neuen Abschnittes sind:

1) Neue Taktart, 6/8, im Kontrast zum 2/4 Takt des Scherzos;

2) C-Dur statt c-Moll;

3) Der das Scherzo prägende Liedbezug entfällt;

4) Neue Behandlung des Orchesters (Tendenz zum Tutti);

5) Neue Handhabung der Harmonik; ab Takt 88 bis 110 gibt es eine lange

dominantische Fläche in C-Dur (Orgelpunkt auf G);

6) Man hört keine prägnante Melodielinien im Sinne von Vogelstimme, wie das

im Scherzoteil der Fall ist;

7) Das variierte Wiederauftreten des Scherzoteils ab Takt 121;

8) Die Proportionen des Satzes wären verzerrt, wenn das Trio erst ab T. 256

beginnen würde.

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16

Die zwei Posthornepisoden können also besser als exterritoriale Bereiche oder

Einschübe innerhalb des traditionellen Schemas des Scherzos verstanden werden.

Sie stehen außerhalb der Scherzoform. Im Bezug auf das Prinzip des Einschubs

oder der Episode muss ergänzt werden, dass dieses Prinzip auch innerhalb der

ersten Posthornepisode vorkommt, wo das Thema des Posthorns für kurze Zeit

unterbrochen wird (T. 310-321, Nbsp. 4).

Nbsp. 4, T. 306-314

Auf die erste Posthornepisode folgt wieder das Scherzo, dieses Mal stark variiert.

Das zweite Trio beginnt ab Takt 432. Diesem Teil lässt Mahler die gleiche

Behandlung des Orchesters zukommen wie dem ersten Trio. Die

Vortragsbezeichnung „Grob!“ (T. 432, Nbsp. 5) taucht zum ersten Mal auf, die einen

Kontrast zu den vorhergehenden Spielanweisungen verdeutlicht („Mit

geheimnisvoller Hast“, T. 347 oder „Lustig“, T. 374, Nbsp. 6 und 7).

Nbsp. 5, T. 429-36

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17

Nbsp. 6, T. 346-356

Nbsp. 7, T. 368-377

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18

An das zweite Trio schließt sich die (kürzere) zweite Posthornepisode an, auf die

unmittelbar ein ausbruchsartiger Höhepunkt auf es-Moll folgt. In der Coda (T. 557ff)

kann man Elemente aus Scherzo und Trio erkennen. Auch das ist ein Grund dafür,

das Trio bereits ab T. 69 anzusetzen.

Diese zwei Betrachtungsweisen, den Posthornteil entweder als einen Trioteil oder

als einen exterritorialen Bereich zu sehen, kann man wohl beide gelten lassen,

obwohl jede dieser Lesearten ihre Problematik hat. Wenn man der Meinung ist, dass

die Posthornepisode als Trioteil fungiert, dann bleibt die Frage, wie ein

„episodisches“ Material die Rolle eines Hauptteiles spielen kann. Dieser Sichtweise

führt auch dazu, dass sowohl Scherzos- als auch Triosteile immer kürzerer werden

(vgl. Tab. 3).

Außerdem ist bei diesem Fall der A-Teil (als der erste Teil des Scherzoteils, T. 1-68)

selbst dreiteilig (der Form des Liedes Ablösung im Sommer entsprechend), was

nicht dem Modell der Scherzoform entspricht. Wenn man dagegen die

Posthornepisoden als die exterritorialen Bereiche annimmt, bleibt die Frage, warum

Mahler den Posthornabschnitt wiederholt. Diesen Überlegungen machen die

Schwierigkeiten bei der formalen Analyse dieses Satzes deutlich.

Die Form des Scherzos der Zweiten Symphonie kann man als eine dreiteilige Form

betrachten, die durch eine Reminiszenz des Trioabschnittes mitten in der

Scherzoreprise gekennzeichnet ist (vgl. Tab. 4).

Über die Formgliederung dieses Satz existieren, ähnlich wie bei der Dritten

Symphonie, unterschiedliche Meinungen. Rudolf Stephan geht davon aus, dass

dieser Satz eine fünfteilige Anlage habe (A B A´ B´ A´´).30

Bei der Analyse von Stephan wird klar, dass er den B´-Teil (T. 441-544) für einen

selbstständigen Abschnitt hält. Eine andere Akzentuierung würde man dieser

Sichtweise geben, wenn man die Takte 348-581 als einen großen musikalischen

Abschnitt auffasst, der durch einen Einschub (T. 441-544) als Erinnerung an das Trio

unterbrochen wird.

30 Rudolf Stephan, Gustav Mahler: Zweite Symphonie, S. 56f.

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19

Tab. 4, Zweite Symphonie (1888-1894):

Ein

leitu

ng

a b a c d: 1

. kon

tras

tiere

nder

Tei

l

c d: 2

. Kon

tras

tiere

nder

Tei

l

1. E

piso

de

Rüc

klei

tung

a a d: 3

. kon

tras

tiere

nder

Tei

l H

öhep

unkt

(T

. 465

-480

)

2.E

piso

de

Rüc

klei

tung

a

Ein

leitu

ng

Sch

erzo

Trio

Sch

erzo

Ste

phan

Ein

leitu

ng

A

B

A´´

12

Tak

tum

fang

12

102

46

41

22

23

22

15

56

120

59

34

40

41

23

8 29

Ton

art

c-M

oll

F-D

ur

c-M

oll

C-D

ur

D-D

ur/fi

s-M

oll

fis-M

oll/D

-Dur

E-D

ur

E-D

ur

c-M

oll

F-D

ur

c-M

oll

F-D

ur

C-D

ur/c

-Mol

l

C-D

ur

C-D

ur

F-D

ur

c-M

oll

For

mab

schn

itte

T. 1

3-10

2

T. 1

03-1

48

T. 1

49-1

89

T. 1

90-2

11

T.

212-

234

T. 2

35-2

56

T. 2

57-2

71

T. 2

72-3

27

T. 3

28-3

47

T. 3

48-4

06

T. 4

07-4

40

T. 4

41-4

80

T. 4

81-5

21

T. 5

22-5

44

T. 5

45-5

52

T. 5

53-5

81

2. S

ymph

onie

T. 1

-12

T. 1

3-18

9

T. 1

90-3

47

T. 3

48-4

40

T. 4

41-5

44

T. 5

45-5

81

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20

Eggebrecht hält diesen Satz für einen dreiteiligen Scherzosatz, obwohl er feststellt,

dass eine „Analyse des B-Teils unter dem Aspekt des überkommenen Triobegriffs

überhaupt verfehlt“31 sei.

Claudia Maurer Zenck vertritt die Ansicht, dass das Trio die Takte 272-347 umfasst,

weil die melodische Linie in der 1. Trompete „das einzige typische Triothema“

darstellt (Nbsp. 8).32

Nbsp. 8, T. 267-276

Meiner Meinung nach gibt es auch hier das Prinzip der exterritorialen Bereiche,

ähnlich wie in der Dritten Symphonie. Ich möchte dabei zwischen zwei Aspekten

unterscheiden: einerseits den Aspekt des kontrastierenden Abschnittes, der durch

vollen Orchesterklang und große Dynamik (ff) charakterisiert wird (Z. 37,39 u. 49,

Nbsp. 9),

Nbsp. 9, T. 212-220

31 Hans Heinrich Eggebrecht, Die Musik Gustav Mahlers, S. 220. 32 Claudia Maurer Zenck, Technik und Gehalt im Scherzo von Mahlers Zweiter Symphonie, S. 180.

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21

andererseits der Aspekt der Episode, die in einem niedrigen dynamischen Bereich

(s. Z. 40, „sehr getragen und gesangvoll“) angesiedelt ist (Nbsp. 10).

Nbsp. 10, T. 267-276

Das Trio beginnt ab Takt 190. Der erste kontrastierende Teil findet sich im ersten

Trio (T. 212-234), und wird in den Takten 257-271 wiederholt. Der erste

episodenartige Abschnitt erscheint unmittelbar nach der Wiederholung des zweiten

kontrastierenden Teils (T. 272-327). Dieser Teil und die Episode tauchen dann noch

einmal mitten in der Wiederholung des Scherzos als Erinnerung an das Trio auf. Hier

folgt zunächst der kontrastierende Teil, der vom Höhepunkt gefolgt wird, danach

schließt sich die Episode an. Der Trioeinschub steht an der gleichen Stelle wie die

zweite Posthornepisode in der Dritten Symphonie.

Es erscheint mir sinnvoll diesen Einschub nicht als einen eigenständigen Formteil im

Sinne eines zweiten Trios zu betrachten, sondern als einen Einschub, der mitten in

die Scherzoreprise hineinmontiert ist, also die gleiche Rolle wie die

Posthornepisoden der Dritten spielt. In dieser Sichtweise haben die Scherzi aus der

Zweiten und Dritten eine wichtige Gemeinsamkeit.

Wie wir anhand dieses kurzen Überblicks über die drei Scherzosätzen gesehen

haben, ist es meist nicht einfach sich für eine bestimmte Interpretation der Form zu

entscheiden, obwohl alle diese drei Sätze prinzipiell dem Modell der Scherzoform

folgen. Ein wichtiger Punkt, den Mahler aus dem traditionellen Schema übernommen

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22

hat, ist das Kontrastprinzip zwischen Scherzo und Trio, obwohl diesem Prinzip in

seinen Scherzi neue Aspekte abgewonnen werden. In der üblichen Form hat das

Trio eher eine kleinere Besetzung, was in diesen drei Symphonien (besonders in der

Dritten) nicht der Fall ist. Eine anderer neuer Aspekt ebenfalls besonders ausgeprägt

in der Dritten, ist, dass Scherzo und Trio dazu tendieren, sich durch die Verarbeitung

einander anzunähern. Mahlers Scherzo lenken die Aufmerksamkeit – durchaus in

der Tradition Beethovens – auf Abweichungen und Erweiterungen des klassischen

Scherzoprinzips, sei es durch Episode, Einschub oder Deformation von Abschnitten,

die der Form des Scherzos eine lebendige Physiognomie verleihen.

2.2 Harmonik

Die Wechselwirkung zwischen Form und Harmonik ist ein Spannungsfeld, das sich

seit dem Beginn der Mehrstimmigkeit durch die Musikgeschichte zieht. Diese beiden

Aspekte der musikalischen Komposition lassen sich nicht schlüssig voneinander

trennen. Die Scherzi aus Mahlers Zweiter und Dritter Symphonie haben viele

Gemeinsamkeiten im Bezug auf die Harmonik, während es sich bei der Vierten um

eine deutlich unterschiedliche Konzeption handelt.

Die Scherzi der Zweiten und Dritten stehen in c-Moll. Bei beiden Scherzi dominieren

die Tonarten c-Moll, C-Dur und F-Dur (vgl. Tab. 3 und 4)33, wobei F-Dur in der

Zweiten im Mittelteil des Scherzoabschnittes vorkommt. Bei der Zweiten ist die

Antwort auf die Frage, warum sich Mahler hier für F-Dur entschieden hat, klar. Er

verwendet die gleichen Tonarten wie im zugrunde liegenden Lied Des St. Antonius

zu Padua Fischpredigt34, obwohl der Entschluss zu dieser Tonart im Mittelteil des

Scherzoabschnittes (b) keine traditionelle Wahl ist. Bei der Dritten steht das

zugrunde liegende Lied in a-Moll, während der Mittelteil nach A-Dur gerückt ist; die

Tonarten erscheinen im Scherzoteil des Symphoniesatzes transponiert als c-Moll

und C-Dur.

33 Wie es später gezeigt wird, hat die Vierte auch bei diesem Punkt eine Gemeinsamkeit mit den vorherigen Scherzi, nämlich die Auswahl der Tonarten. 34 Siehe die vierte Strophe des Liedes (T. 99-132).

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23

Das Trio der zweiten Symphonie baut einen harmonischen Kontrast zu den Tonarten

im Scherzoabschnitt auf, dagegen gibt es im C-Dur-Trio der Dritten Symphonie

keinen so deutlichen Kontrast im Bezug auf die dominierenden Tonarten, da C-Dur

bereits im Scherzo auftritt. In dieser Hinsicht ist die harmonische Disposition im Trio

der Zweiten weniger statisch (vgl. Tab. 4).

Die zugrunde liegende Harmonik hat sowohl in der Zweiten als auch in der Dritten

unterschiedliche Charakteristik. Einerseits ist sie auf ganz einfache Elemente

reduziert, andererseits wird sie durch Instrumentation oder kontrapunktische

Satzweisen verzerrt, wobei dem zweiten Aspekt mehr Gewicht zukommt.

Beispiele für den ersten Punkt, die Reduktion auf einfache Elemente, sind die erste

Episode aus der Zweiten (T. 272ff, Nbsp. 10) oder die Posthornteile aus der Dritten,

wo die Harmonien sich auf einfache Stufen beschränken (Nbsp. 11 und 12).

Nbsp. 11, 1. Posthornepisode, T. 256-264

Nbsp. 12, 2. Posthornepisode, T. 485-496

Harmonische „Verzerrungen“ finden häufig vor einer harmonischen Fläche statt, die

als Hintergrund dient. Vor diesem Hintergrund werden Dissonanzen, vielschichtige

Kontrapunkte oder ungewöhnlichen Instrumentationstechniken eingeführt. Diese

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24

Verfahren führen schließlich zu einer Verschleierung der Hintergrund-Harmonie.

Diese Verfahren werden in der Dritten am häufigsten angewandt, etwa in den Takten

89-110 oder die Takte 454-459, die beide durch ein dominantisches Feld in C-Dur

(Orgelpunkt auf G) charakterisiert werden (Nbsp. 13).

Nbsp. 13, T. 454-459

Häufig finden sich in solchen Zusammenhängen deutlich harmonische

„Destabilisierungen“, etwa in der Dritten: in den Takten 52-60 gibt es einen ständigen

Wechsel zwischen Dur und Moll (Nbsp. 14).35

Nbsp. 14, T.52-60

35 Vgl. das Lied Ablösung im Sommer.

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25

Ein ähnlicher Fall findet sich in den Abschlusstakten des Satzes (T.575-583). Ab

Takt 557 beginnt die Coda, die ein terzloses Feld darstellt. Ab Takt 575 findet sich

darüber ein ständiger Wechsel von Dur- und Mollterz (Nbsp. 15).

Nbsp. 15, T. 572-580

Man kann hier nicht mehr entscheiden, ob es sich um einen Dur- oder Mollbereich

handelt. Darauf folgen wieder „terzenlose“ Takten, mit denen der Satz schließt.

Ähnlicher Wechsel zwischen der Dur- und der Molltonart desselben Grundtons

finden sich bei Mahler ausgesprochen häufig.

Eine weitere harmonische Besonderheit im Scherzo der Dritten findet sich in den

Takten 541-556. Der Höhepunkt wird durch einen F-Dur-Klang vorbereitet (ab T.

529), dem eine plötzliche harmonische Wendung nach es-Moll folgt (Nbsp. 16).

Diese Rückung wird in den nächsten Takten auf des-Moll übertragen, vier Takten

danach wird C-Dur erreicht.36 Hier wird der Höhepunkt nicht nur mittels der

Steigerung in Dynamik und Orchestration dargestellt, sondern auch mittels einer

plötzlichen Wendung in der Harmonik. 36 Ähnliche ganztönige bzw. stufenweise absteigende harmonische Rückungen finden sich bei Mahler häufig. Man kann sie etwa in der Zweiten finden, wo die Molltonika durch Rückungen der Akkorde, im Abstand einer großen Sekunde, erreicht wird (T. 27-30). Aber natürlich hat diese plötzliche Wendung in der Dritten eine andere Bedeutung als in der Zweiten, nämlich den Einbruch eines vollkommen neuen harmonischen Bereichs.

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26

Nbsp. 16, T. 541-546

In der Zweiten37 gibt es eine ähnliche Höhepunktbehandlung, ein b-Moll-Klang steht

auf dem Orgelpunkt C (T. 465-468, Nbsp. 17).

Nbsp. 17, T. 460-466

37„Nicht ein musikalisches Gebilde, vielmehr ein Ereignis, wenngleich ebenfalls vokabular in seiner Nennkraft, ist der chaotische Ausbruch, der Aufschrei des Orchsters, der – mit Mahlers Worten (MB, S. 189) – ‚Schrei des Ekels‘ “. (Eggebrecht, Die Musik Gustav Mahlers, S. 206).

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Über den Vergleich der Kulminationspunkte in der Dritten und der Zweiten schreibt

Monika Tibbe:

„Die Steigerung [im Scherzo der Dritten] kulminiert in T. 541, vergleichbar mit dem Kulminationspunkt

des Scherzos der Zweiten Symphonie (dort T. 465). Außer Oboen und Tamtam werden hier wie dort

dieselben Instrumente eingesetzt; der höchste Ton beider Akkorde ist b´´´´. Allerdings ist hier der

Akkord ‚konsonant’, nämlich der Molldreiklang über Es, dort liegt unter dem Molldreiklang über B noch

C als Orgelpunkt.“ 38

Eine feldhafte Harmonik spielt im Scherzo der Vierten eher eine untergeordnete

Rolle. Stärkere Bedeutung hat der kontrapunktische Aspekt, vor allem im ersten und

dritten Teilen der Scherzoabschnitte. Dieser Satz steht ebenfalls in c-Moll. Die

Auswahl der wichtigsten Tonarten zeigt auffällige Ähnlichkeiten mit den beiden

vorhergehenden Scherzi, nämlich c-Moll, C-Dur und F-Dur.

Eine interessante Stelle, bei der die Auswahl der Tonart im Gegensatz zu den drei

dominierenden Tonarten steht, ist der dritte Teil des zweiten Trios (T. 254ff, Nbsp.

2). Wie schon erwähnt wird hier D-Dur mittels einer Rückung erreicht. Es handelt

sich hier jedoch nicht um einen „Höhepunkt“ im Sinne einer Steigerung der Dynamik

oder im Sinne des Gebrauchs des Orchestertuttis, wie in der Zweiten und Dritten,

sondern um eine plötzliche Veränderung der Tonart. Mahler baut hier ein

unerwartetes Klangfeld auf, obwohl es aus schon bekannten Materialien geschaffen

ist. Man kann diese plötzliche Wendung in der Harmonik mit der Wendung aus der

es-Moll-Stelle aus der Dritten auf einer gleichen Ebene betrachten, jedoch mit dem

Unterschied, dass bei der Dritten zur Gestaltung des Höhepunkts andere, schärfer

kontrastierende Mittel verwendet werden, die schließlich beim Auftauchen des es-

Moll-Klangs zu höchster Entfaltung kommen.

Die Vierte Symphonie und vor allem deren Scherzosatz hat (im Vergleich mit den

beiden vorherigen Scherzosätzen) im Bezug auf die Behandlung des

Orchesterklangs einen „kammermusikalischen“ Charakter.

“Mahler also called attention to a change in his style with the completion of the Fourth Symphony.

Abandoning the larger forms and gestures that occurred in his early symphonies, he attempted to

employ a different means of expression in the Fourth. […] In comparison with his earlier music, the

Fourth Symphony requires more intimate, ensemble-like playing for the shifting sonorities that occur in

the work. He avoided the thicker textures associated with his first three symphonies to use timbres 38 Monika Tibbe, Über die Verwendung von Liedern und Liedelementen in instrumentalen Symphoniensätzen Gustav Mahlers, S. 65.

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consisting of increasingly pure tone colours rather than mixtures. Individual instrumental lines became

clearer through his use of single players on a part, thus anticipating the chamber-music-like sonorities

of his late works, Das Lied von der Erde and the Ninth Symphony”.39

Vor diesem Hintergrund kann man vielleicht die neue Art des Höhepunkts, den

Mahler im Scherzosatz der Vierten verwendet hat, besser verstehen, oder anders

formuliert, muss man diese neue Höhepunktgestaltung mit dem Charakter der

ganzen Symphonie in Verbindung bringen.

In diesem Kapitel wurde versucht zu zeigen, dass die Harmonik der Scherzi aus der

Zweiten und Dritten stärker zur feldhaften Harmonik tendieren, während in der

Vierten den einzelnen Stimmen mehr Gewicht zukommt.

Als wichtigste Kennzeichen der Harmonik aller drei Sätze kann man dennoch

folgende Aspekte zusammenfassen:

- Rückung oder unerwartete harmonische Wendungen

- Wechsel zwischen Dur und Moll (auf dem gleichen Grundton)

- Feldhafte Harmonik statt zielgerichteter Modulation

- Das Prinzip der „Verfremdung“ der Harmonik durch vielschichtigen

Kontrapunkt, Dissonanzen oder ungewöhnliche Instrumentation

39 James L. Zychowicz, Mahler´s Fourth Symphony, S. 14f.

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3. Satztechnik Der Aspekt „Satztechnik“ wird im Folgenden unter zwei Gesichtspunkten untersucht:

Stimmführung und Variantenprinzip sowie Kadenztypen und Markierungen der

Abschnitte.

Das Prinzip der Variante ist von Adorno als zentrale mikrostrukturelle

Kompositionstechnik Mahlers beschrieben worden.40 Auch in den drei

Scherzosätzen der Symphonien 2-4 spielt es eine große Rolle, obwohl es

unterschiedlich gehandhabt wird. Auf der Ebene der Stimmführung weisen die

Scherzi aus der Zweiten und Dritten Symphonie starke Ähnlichkeiten auf. Auch unter

dem Aspekt der Kadenztypen und Markierung der Abschnitte haben die Zweite und

Dritte mehr Gemeinsamkeiten.

3.1 Stimmführung und Variantenprinzip

In der Zweiten und Dritten finden sich häufig das Phänomen, dass der

Hauptgedanke bei der Reprise als eine Nebenstimme erscheint. Anders gesagt wird

bei jeder Wiederholung ein neuer Kontrapunkt zur Hauptstimme hinzugefügt, so

dass ein zunehmend dichtes Gewebe von Linien entsteht.

Ein besonders anschauliches Beispiel dafür findet man in der Scherzoreprise der

Zweiten (T. 372-375, Nbsp. 18). Die Hauptstimme, die von Piccolo und 1. Fagott

gespielt wird, ist durch eine kontrapunktische Stimme, die aus dem Trio (T. 235-238,

Nbsp. 19) stammt, ergänzt.

40 Vgl. Adorno, Mahler. Eine musikalische Physiognomie, S. 230-252.

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30

Nbsp. 18, T. 368-377

Nbsp. 19, T. 230-238 (Analogstelle aus dem Trio)

Ein ähnlicher Fall findet sich in den Takten 388 bis 396 (Nbsp. 20). Es wird ein

Frage-und-Antwort-Spiel zwischen den 1. und 2. Violinen wieder aufgegriffen, das

am Beginn sehr deutlich zu bemerken war (T. 46-52), nun aber durch einen neuen

Kontrapunkt, der von der 1. Flöte gespielt wird, ergänzt wird und dadurch an

„Kontrastschärfe“ verliert.

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31

Nbsp. 20, T. 388-397

In der Dritten bieten die Takte 121-129 ein analoges Beispiel (Nbsp. 21). Hier wird

die Anfangsmelodie (s. T. 4-15, Piccolo, 1. Kl. in Es und 1. Fl.) in den Flöten gespielt,

gleichzeitig taucht ein neuer Kontrapunkt in der 1. Violine auf. Diese Beispiele zeigen

zugleich eine wichtige Besonderheit dieser zwei Sätze, nämlich das

Variantenprinzip. Es findet sich fast nirgends eine wörtliche Wiederholung

melodischpolyphoner Texturen. Bei jeder Wiederholung wird entweder eine

zusätzliche Stimme als Kontrapunkt hinzugefügt und/oder es finden sich

Veränderungen in der Instrumentation.

Nbsp. 21, T. 121-130

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32

Monika Tibbe beschreibt das Prinzip der „Variation“ im Scherzo der Dritten als

„Prinzip der Entwicklung“:

„In diesem Satz kommen zu dem Variationsverfahren noch durchführungstechnische Mittel dazu […]

Das wichtigste technische Prinzip dieser Entwicklung ist aber auch hier das Variationsverfahren […]

Das Variationsverfahren vermittelt eine Folge von virtuell gleichen Abschnitten („Reihungsform“) mit

dem Prinzip der stetigen Veränderung der musikalischen Ereignisse („Entwicklungsform“).“ 41

Sie beschreibt dieses Prinzip wie folgt:

„Veränderung der Instrumentation; andere oder zusätzliche Begleitstimmen, Umspielungen und

Gegenstimmen; Erweiterung, Verkürzung, Vertauschung von Phrasen; Veränderung oder Substitution

einiger Takte; Veränderung der ganzen Strophe in einem, mehreren oder allen Bereichen des

Tonsatzes (Harmonik, Melodik, Rhythmik) unter Beibehaltung des Umrisses, der Gliederung und

einiger charakteristischer Einzelmomente.“42

Es muss darauf hingewiesen werden, dass Tibbe den Begriff „Variation“ statt

„Variante“ verwendet. Sie fügt hinzu: „Vor allem auf diese letzte [Veränderung der

Gliederung und einiger charakteristischer Einzelmomente] der Variations-

möglichkeiten trifft Theodor W. Adornos Begriff der ‚Variante‘ zu (der sich allerdings

mehr auf die Veränderung einzelner Themen als auf die größerer Abschnitte

bezieht).“43

Wenn wir den ersten Teil (a-Teil) jedes Scherzoabschnittes der Vierten als Beispiel

auswählen, wird klar, wie die Reprisen sich von den Scherzoexpositionen durch die

zusätzlichen Stimmen oder durch die Veränderung in der Instrumentation

unterscheiden (Nbsp. 22).

Im Bezug auf die Taktanzahl haben diese drei Teile fast die gleiche Proportion (vgl.

Tab. 5).

Tab. 5

T. 1-33 T. 110-144 T. 276-313

33 Takte 35 Takte 38 Takte

41 Monika Tibbe, Über die Verwendung von Liedern und Liedelementen in instrumentalen Symphoniensätzen Gustav Mahlers, S. 66f. 42 Ebda. S. 67. 43 Ebda. S. 67.

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33

Nbsp. 22, T.1ff (I. Scherzo)

Nbsp. 22, T. 113ff (II. Scherzo)

Nbsp. 22, T. 274ff (III. Scherzo)

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Die Unterschiede im zweiten Abschnitt (T. 110-114) gegenüber dem ersten Abschnitt

(T. 1-32) sind:

- Die Verwendung eines größeren Orchesters.

- Die Stimme der Solo-Violine wird durch die Harfe antizipiert (T. 16-17).

- Die Streicher (T. 15-17) treten an die Stelle der Holbläser (T. 5-6).

- Die kontrapunktische Linie im Horn (T. 7-9) wird weitergeführt (T. 118-125).

- Die kontrapunktische Linie in den Takten 138-141 wird durch Klarinette statt

der Solo-Bratsche (T. 27-30) gespielt.

Im dritten Abschnitt wird wieder ein kleineres Orchester verwendet (T. 275ff). Das

Anfangsmotiv wird durch eine zweitaktige Pause unterbrochen (T. 277-278) und es

wird auf die charakteristische repetitive Figur (s. T. 3, Ob., 1. Fag.) verzichtet.

Auffällig in diesen Teil ist das ständige Unterbrechen des melodischen Vorgangs

besonders in der Solo-Violine. Keine Figur erscheint in gleicher Gestalt wie zuvor:

„Auch im Scherzo der Vierten Symphonie werden die wiederkehrenden Teile nicht wörtlich wiederholt,

sondern variiert. Doch sind die Variierungen zum großen Teil Zusätze (von Instrumenten,

Begleitstimmen, Gegenstimmen), selten eingreifende Veränderungen (solche gibt es bei der

Wiederkehr des Trios). Geringfügige veränderte Wiederholungen sind hier häufiger als im Scherzo

der Zweiten, als in dem der Dritten ohnehin. Damit nimmt das Scherzo der Vierten Symphonie die

Entwicklung, die vom traditionellen Scherzotyp wegführte, ein wenig wieder zurück.“ 44

Ein wichtiger Aspekt für das Verständnis der Scherzoform bei Mahler (und überhaupt

seiner Musik) ist der durchführungsartige Prozess, das auch mit Schönbergs Prinzip

der „entwickelnden Variation“ beschrieben werden kann. Wie anhand der Beispiele

versucht wurde zu zeigen, ist das Prinzip der „Durchführung“ oder Entwicklung

ständig präsent. In der Vierten wiederholt sich keine Stimme exakt. In der Dritten

vollzieht sich dieser Prozess durch ständige Bearbeitung der Abschnitte. In der

Zweiten ist das Durchführungsprinzip mit dem Strophenprinzip verwoben.

44 Ebda., S. 70f.

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3.2 Kadenztypen und Markierungen der Abschnitte

Kadenzen können bei Mahler sehr unterschiedlich gebaut sein, dennoch gibt es

auch unter diesem Aspekt deutlich Beziehungen zwischen den Scherzi der Zweiten

und Dritten.

Ein häufiger Kadenztyp in beiden Sätzen ist etwa die abwärts geführte chromatische

Linie, bei der auch die Dynamik decrescendiert – ein Verklingen des Geschehens.

Dieser Typus kommt im Scherzo der Zweiten Symphonie insgesamt vier Mal vor, am

Ende des ersten Scherzoabschnittes(T. 99-102, Nbsp. 23), im Übergang vom Trio

zum Scherzo (T. 347), am Ende des ersten Abschnittes vom zweiten Scherzo (T.

402-406) und in der Rückleitung (T. 544).

Nbsp. 23, T. 96-103

Auflösung

Die erste und dritte Stelle haben die gleiche harmonische Anlage; das Ausblenden

des Geschehens erfolgt auf dem Akkord: ges-h-es (Nbsp. 24), der als

Spannungsakkord fungiert und abrupt von einem F-Dur-Akkord (b-Teil des

Scherzoabschnittes) abgelöst wird. Bei der zweiten Stelle handelt es sich um einen

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As7-Akkord, in dessen Folge das zweite Scherzo in c-Moll erscheint. Bei der vierten

Stelle erscheint der spannungsgeladene Akkord c-e-ges/fis-as (Nbsp. 25), der

wiederum von einem F-Dur-Klang gefolgt wird.

Nbsp. 24, T. 99 bzw. 403 Nbsp. 25, T. 544

Die gleiche Art von Kadenztyp kommt auch im Scherzo der Dritten vor. Das erste

Mal im zweiten Scherzoabschnitt (Nbsp. 26).

Nbsp. 26, T. 170-178

Eine analoge Passage findet sich in den Takten 430-431. In beiden Fällen handelt

es sich um eine chromatisch absteigende Linie im Unisono.45 Eine weitere ähnliche

Passage mit abwärts stürzender Linie bringe die Takten 468 und 469. Die

chromatische Linie wird hier, ähnlich wie bei den Violinen (T. 430-431), durch eine

45 Auch in der Zweiten findet sich eine kadenzierende Unisono-Stelle (T. 147-148), in der auch die Dynamik abnimmt; hier handelt es sich allerdings nicht um eine chromatische Linie, sondern um ein stufenweises Rücken nach unten.

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Nebennote verziert. Harmonisch betrachtet handelt es sich um chromatisch

absteigende verminderte Septakkorde.

Im Scherzo der Vierten Symphonie kommt kein Kandenztyp im Sinne einer

chromatisch abstürzenden Linie vor.

Eine weitere häufig bei Mahler verwendete Technik ist es, zwei Teile ohne jegliche

Verbindung aneinander zu „montiert“. Dabei werden meist Elemente des zweiten

Abschnitts kurz vor das Ende des ersten Abschnitts verschoben. Es handelt sich

also um eine Art Verkettung.

Diese Vorgangsweise findet man häufig in den Scherzi der Dritten und Vierten

Symphonie.

Ein Beispiel dafür bieten die Übergangstakte vom ersten Scherzo zum Trio in der

Dritten (T. 65-68, Nbsp. 27). Hier kommt es zu einer Überlappung von den aus

einem 2/4 Takt stammenden Triolen mit dem nachfolgenden 6/8 Takt.

Nbsp. 27, T. 61-68

Bei der Rückkehr zum Scherzoabschnitt (T. 119-120) bereitet uns das 1. Fagott auf

den 2/4 Takt vor. Ein nächstes Beispiel ist das Trompetensignal (T.229-240), das bei

der Überleitung zur ersten Posthornepisode im 6/8 Takt dem übrigen Orchester im

2/4 Takt gegenübergestellt wird (Nbsp. 28).

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Nbsp. 28, T. 229-235

Im Scherzo der Vierten ist der Verkettungs-Typus besonders häufig. Ein Beispiel

dafür bietet der Übergang vom ersten Scherzo zum Trio (T. 65-69, Nbsp. 29).46 Hier

werden die Elemente des kommenden Trios deutlich „verfrüht“ eingeführt.

Nbsp. 29, T. 65-75

46Bei dieser Stelle muss man natürlich sagen, dass die ersten drei Noten von der Anfangsmelodie und die vom Trio identisch sind.

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Auch der Übergang vom zweiten Trio zum Scherzo ist ähnlich gestaltet (T. 275-279).

Während die Kontrabässe noch die abschließende Phrase zu Ende spielen, setzt

bereits das Anfangsmotiv des ersten Horns als Kontrapunkt ein.

In der Zweiten werden die Abschnitte meistens durch Auftakte, die sich dynamisch

deutlich vom vorangehenden Teil abheben, voneinander getrennt (T. 211-212, 256-

257, 440-441, s. Nbsp. 30).

Nbsp. 30, T. 433-440

Die Profilierung der Form erfolgt also in allen drei Sätzen durch den Einsatz

unterschiedlicher, zueinander kontrastierender Kadenztypen, die einerseits das

Prinzip der „Überlappung“ oder „Verkettung“ repräsentieren (häufig in der Vierten),

andererseits Abschnitte abrupt und montageartig aufeinander folgen lassen (häufig

in der Zweiten).

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4 Das Verhältnis zum Lied

Die enge Beziehung zwischen Musik und Text ist ein für Gustav Mahlers Musik

zentraler Aspekt. Den Scherzosätzen aus der Zweiten und Dritten Symphonie liegt

jeweils ein Lied zugrunde. Der Charakter und die Form dieser Sätze werden durch

die Liedvorlage entscheidend geprägt. Das Lied als Vorgabe bezieht sich in den

beiden Sätzen schließlich auf die Scherzoabschnitte, obwohl man den

„Liedcharakter“ als ein wesentliches Element auch zum Teil bei den Trioabschnitten

finden kann (vgl. c-Teil bzw. die Episoden in der Zweiten und die Posthornepisoden

in der Dritten). Das Scherzo der Vierten Symphonie hat keine Liedvorlage47, aber

auch hier sind die Trioabschnitten deutlich liedartig gestaltet. Das liedhafte Element

lässt sich vor allem durch einfache „sangbare“ Melodielinien, schlichte

Begleitstimmen und eine wenig kontrapunktisch gesetzte Linienführung definieren.

Dem Scherzoteil aus der Zweiten liegt das Lied Des Antonius von Padua

Fischpredigt aus der Sammlung Des Knaben Wunderhorn zugrunde. Der Text ist

eine Nachdichtung Clemens Brentanos eines Gedichts aus der Sammlung Judas der

Erzschelm (1686) von Abraham a Santa Clara. Das Gedicht umfasst neun Strophen,

die das Lied in fünf Abschnitten gliedert (vgl. Tab. 6).

Tab. 6, Das Formschema des Liedes Des Antonius von Padua Fischpredigt

Abschnitte

Taktanzahl

Strophen des Gedichtes

Tonart

Einleitung T.1-8 c-Moll

1. Abschnitt T.9-26 1. Strophe c-Moll 2. Abschnitt T. 27-59 2. Strophe C-Dur

3. Abschnitt T.60- 98 3., 4. Strophe c-Moll

4. Abschnitt T. 99-132 5., 6. Strophe F-Dur

T. 133-158 7. Strophe G-Dur

5. Abschnitt T. 159- 197 8., 9. Strophe c-Moll

47 Dieser Symphonie, die auch als „Symphonische Humoreske“, wie sie Mahler selbst bezeichnet hat, (Vgl. Natalie Bauer-Lechner, Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, S. 162) bekannt ist, liegt kein Programm zugrunde. Im vierten Satz setzte Mahler das Lied „Das himmlische Leben“, ebenfalls nach einem Gedicht aus der Sammlung Des Knaben Wunderhorn, das zunächst als Finale der Dritten Symphonie vorgesehen gewesen war.

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Der Symphoniesatz ist eine erweiterte Form des Liedes und das Strophenprinzip

bildet die Grundlage der Scherzoabschnitte:

„Mahler löst in der symphonischen Liedausweitung den Zusammenhang mit einer Textvorlage und

verwendet das strophische Prinzip wie eine eigengesetzliche musikalische Form. Die den

Scherzoteilen der Fischpredigt zugrundeliegende Strophe erscheint im Laufe des Satzes in Umfang

und Erscheinungsform verändert.“ 48

Die Fischpredigt eignet sich in mehrfacher Hinsicht für die Verwendung als

Scherzosatz.

1) 3/8 Takt;

2) durchgängige Sechzehntelbewegung;

3) periodischer Aufbau der Phrasen;

4) „Mit Humor“ als Vortragsbezeichnung beim Lied (Humor als ein wesentliches

Element beim traditionellen Scherzosatz);

5) Inhalt des Liedes mit Rücksicht auf die „inhaltliche“ Konzeption der Symphonie.

Dem Scherzoabschnitt aus der Dritten Symphonie49 (T.1-67) liegt gleichfalls ein Lied

zugrunde, nämlich Ablösung im Sommer50, ebenfalls nach einer Textvorlage aus

Des Knaben Wunderhorn. Das Lied ist im Jahre 1892 erschienen, mit der Arbeit an

dem Symphoniesatz begann Mahler 1895. Das Lied hat eine dreiteilige Form T. 1-31

/ 32-58 / 59-67, aba´), wobei der dritte gegenüber dem ersten Teil deutlich verkürzt

ist. Das Lied wird in der Dritten als Grundlage der Scherzoabschnitte verwendet. Der

Scherzoteil (T. 1-68) hat fast exakt die gleiche Struktur wie das Lied. Es finden sich

nur kleine Veränderungen:

„1) Zwei Einleitungstakte gehen in der Symphonie zusätzlich voran. 2) Durch die Überleitung in den

Orchestersatz kommen zusätzliche Füllstimmen oder eigenständige Stimmen hinzu (z. B. T. 9-11

Oboe, T. 50-52 3. Horn). 3) Die Singstimmenmelodie ist überall dort geändert, wo sie Achteltriolen

hat, außer in T. 12/13; wohl, um hier noch nicht zu verbrauchen, was dann den B-Teil (Trio)

48 Mirjam Schadendorf, Humor als Formkonzept in der Musik Gustav Mahlers, S. 181. 49 Ein wichtiger Punkt bei dieser Symphonie, den man ins Auge fassen muss, sind die Überschriften, die sich in Mahlers Autograph finden. Mahler hat vor Drucklegung der Partitur diese Satzüberschriften wieder zurückgenommen. Bei der Uraufführung (9. Juni 1902 in Krefeld) ließ er allerdings die Satzüberschriften im Programmheft stehen (einzelne Sätze waren bereits vorher aufgeführt worden). Der Scherzosatz war hier übertitelt: „Was mir die Tiere im Walde erzählen“. Obwohl Mahler später verlangte, dass die programmatischen Überschriften in Konzertprogrammen nicht mehr aufscheinen werden sollen, hat er während der Komposition in seinen Briefen immer wieder auf sie hingewiesen. 50 Erschienen im III. Heft der Lieder und Gesänge (1892) aus der Jugendzeit.

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gegensätzlich charakterisiert. 4) Die fünf Schlusstakte des Liedes fallen fort, stattdessen wird ab T. 65

zum B-Teil (Trio) übergeleitet.“51

Obwohl es in den Scherzosätzen der Zweiten und Dritten also jeweils ein Lied als

Grundlage für die Scherzoteile gibt, hat das Lied bei der Dritten eine andere

Funktion im Vergleich mit der Zweiten. Das mag damit zusammenhängen, dass der

Aufbau dieser zwei Lieder vollkommen unterschiedlich ist. Das Lied der Zweiten hat

einen strophigen Aufbau, während das Lied der Dritten einer dreiteiligen Liedform

folgt.

In der Dritten Symphonie gibt es einen ständigen durchführungsartigen Prozess

innerhalb des Liedes. Das Lied entfernt sich mehr und mehr von dem Schema des

Liedes, während in der Zweiten die großformale Struktur des Liedes bis am Ende

erkennbar bleibt.

Über das Scherzo der Dritten schreibt Tibbe so auch: „Das Lied ist in diesem

Scherzo weniger formgebende Grundlage für den Satz, wie noch im Scherzo der

Zweiten Symphonie – es handelt sich hier ja auch nur um ein einstrophiges Lied –,

sondern Ausgangspunkt und Material für die Satzentwicklung.“52

51 Monika Tibbe, Über die Verwendung von Liedern und Liedelementen in instrumentalen Symphoniensätzen Gustav Mahlers, S. 62f. 52 Ebda., S. 66.

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5 Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit über die unterschiedlichen Aspekte der drei Scherzosätzen in

Mahlers Symphonien 2-4 zeigt, dass jeder Satz einerseits bestimmte

Charakteristika hat, die ihm ein individuelles Gesicht verleihen und, andererseits,

dass bei der Analyse jedes Satzes eine eigene Problematik auftritt. Diese

Charakteristika und Problematiken beziehen sich in erster Linie auf die Kategorie der

Abweichungen von der modellhaften Form und Gestalt. Damit eng verknüpft ist die

Frage, in welchem Ausmaß überhaupt noch traditionelle Formtypen für die Analyse

von Mahlers Musik zugrunde gelegt werden soll – eine Frage, die hier nicht

abschließend beantwortet werden kann. Insbesondere sind dafür die

Zusammenhänge zwischen den Scherzosätzen und der Gesamtlage der Symphonie

stärker zu berücksichtigen als es im Rahmen dieser Arbeit möglich war. Erahnen

lässt sich jedoch vor dem Hintergrund der hier vorgenommenen Untersuchung, dass

Gustav Mahlers Musik „doppelgesichtig“ ist: Einerseits wird seine Musik immer

wieder auf ganz elementare Elemente reduziert und scheint dabei sehr „konservativ“

zu sein, andererseits zeigt sie immer wieder Zeichen kühnes Modernität: „In den

Sinfonien Mahlers findet sich gleichzeitig Synthese vergangener Epochen sowie

Voraussetzung für Neuentwicklung.“53

Diese „Voraussetzung für die Neuentwicklung“ hat auch die neue Musik nach 1945

nicht zuletzt in Modernität von Mahlers Scherzi erkannt. Unter diesem Gesichtspunkt

kann man Luciano Berios Auswahl des Scherzosatzes aus der Zweiten, den er als

zentrale Zitatschicht für den dritten Satz seiner Sinfonia (1968) einsetzt, besser

nachvollziehen.

„Der Satz stellt eine Huldigung an Gustav Mahler dar, dessen Werk das Gewicht der ganzen

Musikgeschichte in sich zu tragen scheint. […] Ich habe den Mahlerschen Satz wie ein Gefäß

behandelt, in dessen Wänden eine große Zahl ‚musikalische Mythen‘ und Anspielungen entwickelt, in

gegenseitige Beziehung gesetzt und transformiert werden.“54

Es ist schwierig zu entscheiden, auf welchen der hier behandelten Elemente (Form,

Harmonik, Satztechnik, etc.) der Begriff „Modernität“ am meisten zutrifft, da sie in

jedem Satz jeweils unterschiedlich charakterisiert sind. Jedes dieser

53 Berio zit. nach Peter Altmann, Sinfonia von Luciano Berio, S. 14. 54 Ebda, S. 12.

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kompositorischen Gestaltungsmittel wird also je nach dem Kontext und dessen

Notwendigkeit „deformiert“. So sind Deformationen des Formaspekts in der Zweiten

und Dritten Symphonie bedeutender, während in der Vierten Symphonie der

„Deformation“ der Satztechnik stärkeres Gewicht zukommt. Auch in Hinblick

Harmonik, das Verhältnis zum Lied etc. lassen sich unterschiedliche Gewichtungen

ausmachen. Dabei ließen sich zwischen den Scherzi der Zweiten und Dritten

deutlich mehr analoge „Deformationstechniken“ finden, während das Scherzo aus

der Vierten in mehrfacher Hinsicht – und nicht nur in Bezug auf den

kammermusikalisch gehaltenen Grundton – als Sonderfall erweist, der auf Mahlers

Spätwerk vorausweist.

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- Wiener Urtext Ausgabe, Beethoven Klaviersonaten, Neue Ausgabe revidiert von Erwin Ratz, hrsg. von Karl Heinz Füssl und H. C. Robbins London, Band II.