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Ein besonderes Angebot in einer besonderen Zeit: 10 Seiten aus WELT AM SONNTAG gratis zum Download. Mit allen Infos zu Corona. Und ganz anderen Texten, die für Ablenkung sorgen.

Ein besonderes Angebot in einer besonderen Zeit ... - Die Weltger Planung, Unternehmen mit über 2000 Arbeit- ... rung will Flugzeuge schicken, die Klopapier blatt- ... 2 THEMA DER

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Page 1: Ein besonderes Angebot in einer besonderen Zeit ... - Die Weltger Planung, Unternehmen mit über 2000 Arbeit- ... rung will Flugzeuge schicken, die Klopapier blatt- ... 2 THEMA DER

Ein besonderes Angebot in einerbesonderen Zeit: 10 Seiten aus

WELT AM SONNTAG gratis zumDownload. Mit allen Infos zu

Corona. Und ganz anderen Texten,die für Ablenkung sorgen.

Page 2: Ein besonderes Angebot in einer besonderen Zeit ... - Die Weltger Planung, Unternehmen mit über 2000 Arbeit- ... rung will Flugzeuge schicken, die Klopapier blatt- ... 2 THEMA DER

... AUSSERDEM VIELE TEXTEOHNE CORONA-KRISE, U.A.ZU DIESEN THEMEN:Wie Disney+ denStreaming-Markt erobern will Seite 33 • WarumWerbebetrug im Internet soleicht und lukrativ ist Seite 36 •Welches neueSchönheitsideal Instagramerschaffen hat Seite 57 • Wiesoman immer eine Tischdeckeauflegen sollte Seite 59 •Weshalb sichEnglischunterricht in derGrundschule meist nichtlohnt Seite 55 • Was uns neuausgegrabeneMammutknochen über dasLeben in der letzten Eiszeitverraten Seite 56 • Auf welchenWegen man Deutschland amschönsten mit dem Raddurchquert – eine Tour vonSylt bis Oberstdorf Seiten 62–63

AP/MARKUS SCHREIBER; IMAGO IMAGES / DIRK SATTLER

Empfehlungen von Virologenzwingen uns in die Häuser und

Wohnungen. So soll dasCoronavirus bekämpft

werden. Das Land schlittertin eine Krise, medizinisch,

ökonomisch, gesellschaftlich

Deutschlandschaltetsich ab

Die Lage der Wirtschaft – Seite 2-3

Zum Stand der Pandemie – Seite 4

Tagebuch eines Erkrankten – Seite 13

Der Pfad der Ansteckung – Seite 54

und viele weitere Texte

22. MÄRZ 2020 NR. 12 B DEUTSCHLANDS GROSSE SONNTAGSZEITUNG GEGRÜNDET 1948

D ie Bundesregierung will in der Coro-na-Krise Großunternehmen notfallsauch durch Verstaatlichungen retten.Der sogenannte Wirtschaftsstabili-sierungsfonds (WSF) soll, nach jetzi-

ger Planung, Unternehmen mit über 2000 Arbeit-nehmern und 320 Millionen Euro Jahresumsatz un-ter die Arme greifen, wenn sie wegen der Krise ineine wirtschaftliche Schieflage geraten. Der Fondswird ein Gesamtvolumen von 600 Milliarden Eurohaben. Das geht aus dem Gesetzentwurf von Bun-desfinanzminister Olaf Scholz (SPD) hervor, derdieser Zeitung vorliegt.

VON JAN DAMS, MARTIN LUTZ UND CHRISTOPH B. SCHILTZ

Der WSF ist damit größer als der Bankenhilfs-fonds Soffin in der Finanzkrise 2008/09 mit seinenbis zu 480 Milliarden Euro Volumen. Mit 400 Milli-arden Euro kann der Fonds Schuldtitel und Ver-bindlichkeiten von Unternehmen übernehmen, dieum Hilfe bitten. 100 Milliarden Euro will Scholz al-lein für Kreditermächtigungen für Beteiligungs-maßnahmen an den Firmen in den Fonds packen,weitere 100 Milliarden Euro sollen für Sonderpro-gramme der staatlichen Bankengruppe KfW im Zu-ge der Corona-Krise bereitstehen. Das heißt: Gera-ten deutsche Firmen in eine existenzielle Schiefla-ge, kann die Bundesregierung sie über eine Kapital-spritze sichern. Gleichzeitig müsste die Firma da-für Kapitalanteile an den Bund abtreten. De factowürde sie damit teil- oder vollverstaatlicht. Später,

wenn die Krise vorbei ist, sollen diese Beteiligun-gen wieder privatisiert werden. Finanzkonzerne al-lerdings fallen nicht unter diesen Rettungsschirm.

Der Bundesfinanzminister verspricht sich vondieser Unterstützung unter anderem, dass die be-troffenen Firmen bei den Banken kreditwürdigbleiben und nicht durch Liquiditätsengpässe in dieZahlungsunfähigkeit rutschen. Dem Bund selbstentstünden vorerst keine Haushaltsausgaben,heißt es im Entwurf. Allerdings führe die Kredit-aufnahme zur Refinanzierung des Fonds zu einerhöheren Verschuldung. Da der Fonds Beteiligun-gen an Unternehmen erwerben und Garantieprä-mien erheben könne, dürfte die Belastung der öf-fentlichen Haushalte begrenzt bleiben, hofft dasFinanzministerium. „Selbst wenn man die gesam-ten bisherigen Hilfsprogramme wegen der Coro-na-Krise zusammenrechnet, bewegen wir uns in ei-ner akzeptablen Verschuldungsquote“, hieß es inRegierungskreisen.

Derweil haben verschiedene Spitzenpolitiker dieBevölkerung erneut zur strengen Einhaltung dernötigen sozialen Distanz aufgerufen. Bundesinnen-minister Horst Seehofer (CSU) sagte dieser Zei-tung: „Wer sich jetzt unvernünftig und dadurchgrob rücksichtslos verhält, riskiert Tausende Tote.Wir sind entschlossen, das zu verhindern. DerSchutz unserer Bevölkerung hat oberste Priorität.“

Nordrhein-Westfalens Innenminister HerbertReul rät zu einer bundesweiten Regelung für eineAusgangssperre. Der CDU-Politiker sagte derWELT AM SONNTAG: „Gefragt sind landesweite

oder besser noch bundesweite Regelungen, die An-sammlungen von Menschen und öffentliche Tref-fen von mehreren Personen verbieten.“ Eine allge-meine Ausgangssperre mit unzähligen Ausnahmenvermittele Scheinsicherheit. Deutschland brauchekeinen Wettbewerb um immer schärfere Regeln,sondern wirkungsvolle Maßnahmen.

Die Europäische Kommission fordert die Staa-ten der Europäischen Union im Kampf gegen dieCorona-Epidemie dennoch zu drastischen Maß-nahmen auf. „Es ist lebenswichtig, dass die Maß-nahmen, um soziale Distanz durchzusetzen, früh,entschieden und schnell umgesetzt werden. Nurso lässt sich die Ausbreitung des Virus verlangsa-men und der Druck auf die Gesundheitssystemereduzieren“, sagte die zuständige EU-Gesund-heitskommissarin Stella Kyriakides dieser Zeitung.Zugleich rief sie die Mitgliedsländer der EU zu ei-ner verbesserten Zusammenarbeit gegen das Co-ronavirus auf. So könnten die Maßnahmen, die voneinzelnen EU-Ländern durchgeführt werden, „ei-nen negativen Effekt auf die Eindämmungsversu-che anderer haben“.

Das Robert-Koch-Institut (RKI) kündigte unter-dessen an, die ersten Ergebnisse bei der Auswer-tung von Mobilitätsdaten der Bevölkerung bereitsin der nächsten Woche zu veröffentlichen. Damitsoll erstmals eine Analyse dazu möglich sein, obsich das Mobilitätsverhalten verändert habe unddie Bürger weitgehend zu Hause blieben. Das RKIist die zentrale Einrichtung der Bundesregierungbei der Krankheitsüberwachung und Prävention.

Bundesregierung stellt weitere600 Milliarden Euro bereit Wirtschaftsstabilisierungsfonds soll Unternehmen mit über 2000 Beschäftigten helfen.Innenminister Horst Seehofer ermahnt Bundesbürger zu strikter Einhaltung der Schutzmaßnahmen

??/WAMS/WSBE-HP22.03.20/1/TITBE IKNIPP 5% 25% 50% 75% 95%

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122.03.20 22. MÄRZ 2020 WSBE-HPBELICHTERFREIGABE: --ZEIT:::BELICHTER: FARBE:

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ZIPPERTS WORT ZUM SONNTAG

V iele Bundesbürger verfügen schon jetztüber enorme Vorräte an Klopapier, unddas verursacht logistische Probleme. Die

Polizei musste bisher mehr als 3000 Hunde anAutobahnraststätten einsammeln. Sie waren aus-gesetzt worden, um Platz für die begehrten Rol-len zu schaffen. Manch einer bastelt sich seineWohnzimmereinrichtung aus Zehnerpackungen,andere quartieren ihre Kinder in Erdlöcher oderBesenkammern um. Viele Deutsche fragen sich,ob das Zeug ein Verfallsdatum hat. Bis wann soll-te man das wohl verzehrt haben? Gibt es eine Ga-rantie für das Funktionieren der Perforation? Dieanale Fixierung unseres Landes sorgt weltweitfür Heiterkeit, aber jede Nation hat ihre Eigen-heiten, und im Gegensatz zu den Franzosen wis-

sen die Deutschen, dass ein Kondom sich nichtzum Abwischen eignet, es sei denn, man spültmit Bordeaux nach. Toilettenpapier ist das neueGold, eine Währung, die am Ende stabiler als derEuro sein wird und von der man selbstverständ-lich gar nicht genug besitzen kann. Klopapier-transporter werden bereits von bewaffneten Mo-torradeskorten begleitet. Die chinesische Regie-rung will Flugzeuge schicken, die Klopapier blatt-weise über deutschen Großstädten abwerfen sol-len. Betrüger bieten im Netz teure Apps an, mitderen Hilfe man angeblich sein Klopapier selbstdrucken kann. Experten schätzen übrigens, dassdie meisten Bundesbürger, dank umfangreicherVorräte, noch zehn Jahre nach ihrem Tod aufsKlo gehen könnten.

Roll’s rausANZEIGE ANZEIGE

ISSN 0949 – 7188

Der neue Vorsitzende der Wirtschafts-weisen, Lars Feld, hält die geplanteNeuverschuldung des Bundes für trag-bar. Selbst einen Anstieg der Schuldenvon zwei auf drei Billionen Euro würdeDeutschland verkraften, sagte er im In-terview. Es sei richtig, dass der Staat dieSchuldenbremse in dieser Notsituationaußer Kraft setzt. Seite 32

Höhere Schuldenzu verkraften

WIRTSCHAFTSWEISER

Geldanlage: Wo Sie jetzt noch mit einer Dividende rechnen können · Seite 37

Die Verschiebung der Fußballeuropa-meisterschaft 2020 um ein Jahr sorgtfür erhebliche finanzielle Einbußenbeim europäischen Fußballverband Ue-fa. Das erklärte Uefa-Präsident Aleksan-der Ceferin im Gespräch mit WELT AMSONNTAG. „Klar ist, dass die Uefadurch die Austragung der EM im kom-menden Jahr Hunderte Millionen Euroverlieren wird“, sagte Ceferin. „Die EMist unser Aushängeschild, und sie ist injeder Vier-Jahres-Periode die mit Ab-stand wichtigste Einnahmequelle. Da-her ist klar: Wir haben das größte Opfergebracht.“ Sein Verband habe allerdingsReserven in Höhe von 575 Millionen Eu-ro, die für die Bewältigung der finan-ziellen Ausfälle genutzt werden, erklär-te Ceferin. Seite 19

Sorgen wegenEM-Verlegung

FUSSBALL

PREIS D € 4,80

Niedersachsens Ministerpräsident Ste-phan Weil hält den föderalen Aufbauder Bundesrepublik für solide genug,um die Corona-Epidemie trotz aller Be-lastungen auszuhalten. Im Gesprächmit dieser Zeitung sagte der SPD-Politi-ker: „Ich bin optimistisch, dass wir amEnde dieser Krise – wenn man verglei-chen kann, ob dezentral oder zentral or-ganisierte Gesellschaften die Heraus-forderungen besser bewältigt haben –mit unserem föderalen System gut da-stehen werden.“ Weil kritisierte den-noch einige seiner Länderkollegen. „Alsin der vergangenen Woche mal das eine,mal das andere Bundesland einen be-sonderen Akzent setzen wollte, hat dasinsgesamt nicht zu mehr Vertrauen indie Politik geführt.“ Seite 5

Föderalismusist krisenfähig

STEPHAN WEIL

Dem europäischen FlugzeugherstellerAirbus drohen massive Einnahmeaus-fälle. Gegenüber der Bundesregierungwarnte der Konzern nach Informatio-nen dieser Zeitung vor einer monatlichum gut fünf Milliarden Euro sinkendenLiquidität, bei einem Kassenbestandvon 16 Milliarden Euro. Wichtig sei,dass es Hilfe gebe. Seite 27

Airbus warnt vorMilliardenverlust

LUFTFAHRT

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??/WAMS/WSBE-HP22.03.20/1/Pol1 CPASSLAC 5% 25% 50% 75% 95%

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222.03.20 22. MÄRZ 2020 WSBE-HPBELICHTERFREIGABE: --ZEIT:::BELICHTER: FARBE:

WELT AM SONNTAG NR. 12 22. MÄRZ 20202 THEMA DER WOCHE

Deutschland ist imAusnahmezustand.Wie Rehe imScheinwerferlichtstarren wir auf diesteil ansteigendenKurven der Er-krankten und derToten, während unsVirologen und

Epidemiologen unsere neue Welterklären. Ihre Einschätzung hat längstein Gewicht bekommen, das an dieMacht eines Verfassungsgerichts er-innert. Polizisten kontrollieren, ob wirbeim Spaziergang im Park genügendAbstand einhalten. Die größte Strafesind nicht ein paar Euro für einenVerstoß, die größte Strafe ist die Er-innerung an Bergamo, wo Militärlast-wagen Leichen abtransportieren, wäh-rend ich diese Zeilen schreibe. ImVergleich dazu wirkt jede Einschrän-kung vernünftig.

Die sozioökonomischen Auswirkun-gen der Krise können kaum über-schätzt werden. Die Renaissance bilde-te sich einst auch als Folge der Pestheraus, und nach dem Zweiten Welt-krieg schuf die Welt supranationaleInstitutionen, die einen weiterenWeltkrieg verhindern sollen. Die Co-rona-Krise ist zum Glück bislang sehrviel kleiner. Sie fällt aber in eine Zeit,in der sich ohnehin vieles schnellverändert. Deshalb sehen auch wirschon Verschiebungen im Alltag, diesich kaum werden rückgängig machenlassen. Wir arbeiten von zu Hause aus,selbst Staatschefs fliegen nicht zu-einander, sondern sehen sich auf demBildschirm. Ob die Luftfahrtindustrieje wieder so groß wird, wie sie war?

Und es gibt noch dramatischereFragen: Wird nun ein Zeitalter an-brechen, in dem der Fokus auf Ge-sundheit und Nachhaltigkeit liegt?Eines, das den Siegeszug Chinas be-endet und die Globalisierung so ge-staltet, dass wir nicht länger abhängigsind von einem Land, das zwar Hilfs-lieferungen nach Italien schickt, abergleichzeitig eine Lüge nach der ande-ren über das Virus in die Welt setztund Journalisten, die die Wahrheitherausfinden wollen, aus dem Landwirft? Bislang nutzen die Chinesen dieKrise, die von ihnen zu uns ge-schwappt ist. Bei Daimler zum Beispielkaufen sie derzeit weitere Aktienpake-te zu günstigen Preisen. Ich würde mirfür die Zukunft einen unabhängigerenWesten wünschen.

Herzliche Grüße, bleiben Sie gesund!Johannes BoieChefredakteur WELT AM SONNTAG

PS: Diese Woche finden Sie auf derrechten Seite die Predigt von PfarrerChristoph Heil. WELT AM SONNTAGist nicht plötzlich religiös geworden.Aber ich weiß, dass vielen von Ihnender Gottesdienstbesuch fehlt. Kom-mende Woche schreibt ein Rabbi!

Liebe Leserinnen,

liebe Leser,

T KUNDENSERVICE

Brieffach 2264, 20350 Hamburg

Telefon: 0800/926 75 37*

Fax: 0800/926 77 37

E-Mail: [email protected]

Öffnungszeiten: Mo–Sa 7–19 Uhr, So 9–13 Uhr

(*Gebührenfrei aus dt. Festnetz und

von allen dt. Mobiltelefonen)

Tina Kaiser und ihre Co-AutorenChristina Brause und Ibrahim

Naber haben die Ansteckungskettein einem Berliner Club rekonstruiert,vom Bildschirm aus. Sie recherchier-ten digital: Corona verändert auch denJob von Reportern. Seite 54

WissensredakteurinPia Heinemann

und die Infografike-rinnen Isabell Bi-

schoff , Jutta Set-

zer und Karin

Sturm faszinierendie Daten, die über das Coronavirusveröffentlicht wurden. Sie helfen, dasVirus zu begreifen. Seite 4

AUTOREN

DIESER AUSGABE

Früher, erzählt einer, der schon die Fi-nanzkrise 2008 miterlebt hat, da habeman sich in dramatischen Situationenpersönlich getroffen. Man saß sich imBundeskanzleramt gegenüber, aß Bou-letten. Solche Treffen dauerten ge-wöhnlich bis in die Nacht. Bei so etwasentstand eine Nähe, in der auch Men-schen mit unterschiedlichen politischenAnsichten in der Lage waren, große Pro-bleme gemeinsam zu lösen. Nur ist die-ses Mal alles anders.

VON JAN DAMS, ANJA, ETTEL,

CHRISTINE HAAS, PHILIPP VETTER

Persönliche Treffen mit Vertreternder Wirtschaft? „Gibt es nicht mehr“,sagt ein Verbandsvertreter. Angesichtsder ansteckenden Erkrankung Covid-19wird nur noch telefoniert oder in Video-konferenzen zusammengehockt. Bloßniemandem zu nahekommen. Dann ver-weist er auf Michel Barnier, den Brexit-Beauftragten der EU-Kommission. Bar-nier ist positiv auf das Coronavirus ge-testet worden. Der 69-Jährige sitzt da-heim in häuslicher Quarantäne. „Kön-nen Sie sich vorstellen, wie viele Händeer geschüttelt hat in seinem Job, bevorer getestet wurde“, fragt der Wirt-schaftsmann. Er klingt entsetzt.

Die Angst geht um – nicht nur vordem Virus, seinen potenziell tödlichenFolgen und einem drohenden Kollapsdes Gesundheitssystems. Was vieleMenschen beschäftigt, ist die Frage,was es für unsere Gesellschaft und dieWirtschaft heißt, wenn das Land überWochen in einer Art Shutdown ist. Nie-mand weiß, wann und wo das alles en-

den wird: Gerät nach der Wirtschaftdemnächst auch noch das Sozialsystemins Wanken? Der ganze Staat, so wiewir ihn kennen? Und lässt sich das ver-hindern?

WIE SCHLIMM WIRD

DIE REZESSION?

In der Bundesregierung sitzen Leute,die sich vorstellen können, dass diedeutsche Wirtschaftsleistung in die-sem Jahr um zehn Prozent einbricht.Die Investmentbank JP Morgan rech-net sogar mit einem Minus von 20 Pro-zent für die gesamte Euro-Zone, fallsdiese Situation ein ganzes Jahr andau-ert. Noch kann niemand sagen, wieschlimm das alles genau wird. Aberdass ein weltweiter Einbruch bevor-steht, daran gibt es keinen Zweifelmehr. „Eine Rezession in Deutschlandist jetzt wohl unvermeidlich”, warntder gewohnt sonst so vorsichtige Bun-desbank-Präsident Jens Weidmann.

Virologen und Politiker reden oft da-von, dass die Kurve der Corona-Neuin-fektionen abgeflacht werden muss. DasGesundheitssystem darf nicht überlas-tet werden, um Verhältnisse wie inNorditalien zu verhindern. Das Pro-blem ist nur: Je flacher diese Kurve aus-fällt, umso steiler senkt sich die Linie,die die Wirtschaftsentwicklung be-schreibt. In der großen Rezession nachder Finanzkrise ist die globale Wirt-schaftsleistung um 4,5 Prozent gesun-ken, sagt Ökonom Pierre-Oliver Gou-rinchas von der Berkeley-Universität.Diesmal seien erheblich mehr Jobs inGefahr. „Wir könnten zu Zeugen einesAbschwungs werden, der die große Re-zession noch in den Schatten stellendürfte“, warnt er.

Düstere Szenarien sind das. ZweiSchocks verursacht das Virus. Erstens:Wer krank ist, trägt nichts zur Wirt-schaftsleistung bei und muss ärztlichbehandelt werden. Zweitens: Wer Angsthat, dass morgen alles noch viel schlim-mer wird, hält sein Geld zusammen.Mindestens so lange wie die Seuche um-geht und kein Mittel dagegen gefundenist, brechen Konsum und Investitionenweg. Die Panik lähmt die Wirtschaftund erstickt das, was die Gesellschaft

F

DEUTSCHLANDS

Wirtschaft in der

SCHOCKSTARRE

Tünkers-Nickel: Normalerweise

stellt die Firma aus Troisdorf „voll-

verkapselte Unterbauspanner mit

ausfahrenden Spannbacken und

einfahrendem Dorn zum Spannen

unterschiedlicher Blechdicken“ her.

Doch in diesen Tagen, in denen das

neuartige Coronavirus Sars-CoV-2

über Deutschland und Europa

kommt, ist nichts mehr normal. Tün-

kers-Nickel will jetzt Beatmungs-

geräte bauen. „Wir entwickeln und

produzieren Dosiersysteme. Letzt-

endlich sind unsere Mischsysteme für

Dichtstoffe einem Beatmungsgerät

sehr ähnlich“, sagt Geschäftsführer

Alexander Nickel. Er traue es sich und

seinen Beschäftigten zu, innerhalb

von wenigen Wochen Beatmungs-

apparate entwerfen und bauen zu

können.

Beiersdorf: Der Hamburger Kosme-

tikkonzern Beiersdorf beginnt nach

nur wenigen Tagen der Vorbereitung

in seinen Werken damit, 500 Tonnen

Handdesinfektionsmittel für zentrale

öffentliche Einrichtungen und Ein-

satzkräfte speziell der medizinischen

Versorgung herzustellen – als Spen-

de und mit der Perspektive, bedarfs-

gerecht mehr zu produzieren. Das

Mittel, das sonst nicht in den Regalen

des Nivea-Herstellers steht, sei ein

Beitrag für „den gesamtgesellschaft-

lichen Kampf gegen die Coronavirus-

Pandemie“.

Michelin: Der Reifenhersteller Mi-

chelin stellt Rettungsdiensten und

Krankentransporten im Fall einer

Reifenpanne nun kostenfrei Ersatz-

reifen zur Verfügung. Vorgesehen ist

zunächst ein Kontingent von 1000

Stück. Michelin übernimmt den mo-

bilen Pannenservice direkt und bietet

die Hilfe rund um die Uhr in den

Filialen des Unternehmens Euro-

master an.

Volkswagen: Der Autobauer stellt

aus seinen eigenen Beständen rund

200.000 Atemschutzmasken der

Kategorien FFP-2 und FFP-3 für die

öffentliche Gesundheitsvorsorge zur

Verfügung.

VDA: Der Verband der Automobil-

industrie koordiniert Initiativen seiner

Mitgliedsunternehmen seit einigen

Tagen in einer eigenen „Ideenbörse“ –

vom Angebot des Automobilherstellers

Ford, Fahrzeuge für die lokale Ver-

sorgung zur Verfügung zu stellen, bis

hin zu Überlegungen von Automobil-

konzernen, Zeitarbeiter aus geschlos-

senen Fabriken zu motivieren, den

Landwirten bei der Ernte auf den

Feldern zu helfen.

VDMA: An die Maschinenbauer in

Deutschland hat das Bundesgesund-

heitsministerium eine Eilanfrage

gerichtet, meldet der Branchen-

verband. Dabei geht es um die Pro-

duktion oder auch die Bereitstellung

von Maschinen und Technik zur Her-

stellung von Schutzausrüstung –

angefangen bei Atemschutzmasken

und Brillen über Ganzkörperschutz-

anzüge und Kittel bis hin zu Einmal-

handschuhen und Desinfektions-

mitteln. „Durch die weltweit enorm

gestiegene Nachfrage und den Be-

darf an solchen Produkten werden

dringend zusätzliche Produktions-

kapazitäten für die Sicherstellung

der medizinischen Versorgung ge-

sucht“, heißt es in dem Schreiben an

den VDMA.

Freudenberg: Das Familienunter-

nehmen stellt am Standort Kaisers-

lautern das Basismaterial für Atem-

schutzmasken her, kann dieses aber

nicht selbst verarbeiten. „Wir suchen

jetzt Partner, die das Material kurz-

fristig konfektionieren können“, sag-

te eine Sprecherin. Zwar hat Freu-

denberg eine Maskenproduktion in

Japan und China. Aber: „Die Pro-

dukte werden dort komplett vor Ort

gebraucht und können nicht zu uns

ausgeführt werden.“

Trigema: Der Textilhersteller pro-

duziert ab sofort wiederverwend-

bare Mund- und Nasenschutzmas-

ken. „Wir haben die Produktion um-

gestellt, um dem Mangel entgegen-

zuwirken“, hieß es von dem schwäbi-

schen Unternehmen. Geplant ist nun

die Produktion von 100.000 Masken

pro Woche. Dabei handelt es sich um

eine waschbare und damit wieder-

verwendbare Variante, die für den

normalen Klinikalltag geeignet ist,

nicht aber für den Operationssaal.

Mey: Der Wäschehersteller beginnt

mit der Herstellung von Mund- und

Nasenschutz. „Die Anfragen von

medizinischen Einrichtungen haben

sich in den letzten Tagen derart ge-

häuft, dass wir uns dazu entschlos-

sen haben, zeitnah in die Fertigung

eines funktionalen Mund- und Na-

senschutzes einzusteigen“, erklärt

Managing Partner Matthias Mey der

„Textilwirtschaft“. Der Schutz wird

aus Baumwolle gefertigt, könne bei

90 Grad Celsius gewaschen und

somit mehrfach verwendet werden.

Dr. Wolff: Den Hersteller von Alpecin

haben die Hamsterkäufe dazu bewo-

gen, in die Produktion von Desinfekti-

onsmittel einzusteigen. Eigentlich

sollte erst im Sommer ein neues

Produkt unter der Marke Linola auf

den Markt kommen. Nun hat der

Mittelständler den Einstieg vor-

gezogen. „Wir haben das montags

beschlossen“, sagte ein Sprecher,

„und am Donnerstag konnten die

ersten 10.000 Flaschen an eine Klinik

in Bielefeld übergeben werden.“

C. DIERIG, B. NICOLAI, O. PREUSS

Die Wirtschaft geht in den Kriegsmodus. Jetzt wird produziert, was dringend nötig ist

Wegen der Corona-Pandemie steht die deutsche Ökonomie still. Das Virus wird die Welt

nachhaltig verändern. Es könnte sogar der Anfang vom Ende der Globalisierung sein

„WIR WERDEN EINEN

AUSVERKAUF DEUTSCHER

WIRTSCHAFTSINTERESSEN

VERHINDERN“

PETER ALTMAIER Bundeswirtschaftsminister

„EINE REZESSION IN

DEUTSCHLAND IST JETZT

WOHL UNVERMEIDLICH”

JENS WEIDMANN BUNDESBANK-PRÄSIDENT

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Die Corona-Krise hat das öffentliche Leben in Deutschland lahmgelegt. Wer nicht in den systemrelevanten Berufen arbeitet, soll jetzt andere Menschen meiden. Eine drastische Vereinzelung, deren Ende noch nicht absehbar ist. Deshalb wollen wir von Ihnen hören: Wie erleben Sie die Krise?Was macht Ihnen Sorge, und mit welchen Strategien meistern Sie die neueSituation? Erzählen Sie uns Ihre Geschichte. Wir freuen uns auf Ihre Zuschrif-

ten mit Betreff „Corona“ unter [email protected].

SCHREIBEN SIE UNS!

CORONA-PODCAST

Wie behält man in Corona-Zeiten seinen Humor? Und waserleichtert den Spagat zwischen Homeoffice und Kinder-betreuung? Antonia Beckermann und Sonja Gillert spre-chen im Podcast „Gegen den Corona-Koller“ mehrmalspro Woche mit Experten und Kollegen darüber, wie manden Alltag im Ausnahmezustand meistert – und vielleichtsogar genießen kann. Zu hören auf welt.de/podcasts/

gegen-den-corona-koller/ und in den Podcast-Apps.

schutzanzüge herstellen. Einige Unter-nehmen ermutigen Leiharbeiter, alsErntehelfer zu arbeiten, weil den Bau-ern die Helfer aus anderen EU-Staatenfehlen werden.

Es ist alles ein großes Dilemma, unddie Frage ist: Wie kommt man aus so ei-ner Krisensituation wieder heraus? Klarscheint: Viele der bislang erprobten In-strumente der Ökonomen wirken kaumoder gar nicht. Die einen hoffen, dassmit dem Frühjahr die Zahl der Infizier-ten zurückgeht, und dass irgendwannalles gut wird. Andere glauben, dass Be-völkerung und Wirtschaft so herbe Ein-schnitte in ihre Bewegungsfreiheitnicht lange überstehen werden. „Viel-leicht sieht das Ausstiegsszenario soaus, dass wir irgendwann all die Jungenund Gesunden rauslassen, damit siewieder arbeiten und unter ihnen eineGruppenimmunität entsteht“, heißt esin Regierungskreisen. Alle Risikogrup-pen dagegen würden vor Ansteckunggeschützt – indem sie vorerst weiter zu-hause bleiben müssten.

MEHRWERTSTEUER

AUSSETZEN?

Auch ungewöhnliche Vorschläge ha-ben Konjunktur: Der Ökonom und Au-toexperte Ferdinand Dudenhöfferschlägt vor, dass die Mehrwertsteuer fürbesonders teure Anschaffungen über20.000 Euro ausgesetzt wird. Das wür-de der deutschen Schlüsselbrancherund um VW, BMW und Daimler helfen.Außerdem müsse man jederzeit künd-bare Leasing-Verträge anbieten, um denMenschen die Angst zu nehmen, was siemit dem teuren Auto machen, falls siearbeitslos werden. Dudenhöffer rechnetvor, dass diese Maßnahmen sinnvollerwären als dauerhafte Kurzarbeit in denAutowerken, denn der Stillstand derProduktion würde den Staat monatlichsechs Milliarden Euro kosten.

Andere Volkswirte fordern Helikop-tergeld – von der Europäischen Zentral-bank (EZB) oder vom Bund. In diesemModell bekommen alle Bürger Geldvom Staat – als würde es aus dem Hub-schrauber abgeworfen. Die USA setzendarauf, auch in Hongkong bekamen alleBürger Corona-Geld. Vertreter der No-

zusammenhält, Wachstum und damitverbunden Wohlstand.

Eines ist klar: Kommt es zu einemlangen Stillstand der Wirtschaft, wer-den viele Millionen Menschen in Euro-pa ihre Arbeit verlieren. Schon jetzttrifft es einen Großteil der Branchen –die Großen genauso wie die Kleinen.Auf dem Frankfurter Flughafen wirddie Startbahn zum Parkplatz für Flug-zeuge. Die Bänder bei Volkswagen,Daimler und BMW stehen still. Auchdie Mitarbeiter von Hotels, die Kellnerim Café und fast alle Taxifahrer wissennicht, wie sie in den kommenden Wo-chen, vielleicht Monaten ihr Geld ver-dienen sollen.

Schon jetzt rechnet die Bundesregie-rung mit mehr als zwei Millionen Kurz-arbeitern. Den Solo-Selbstständigenund Kleinunternehmen will die Koaliti-on mit mehr als 40 Milliarden Euro un-ter die Arme greifen. „Das ist fast so vielwie das gesamte Hilfsprogramm in derFinanzkrise“, sagt ein Regierungsvertre-ter. „Und wir können es uns glücklicher-weise noch viel mehr leisten.“ Für So-fortprogramme, Liquiditätshilfen undKurzarbeitergeld soll auch die Schulden-bremse ausgesetzt werden. Es geht nunnicht mehr um Haushaltsdisziplin, dieSchwarze Null ist ein Thema von ges-tern. Die Programme für größere Unter-nehmen und Konzerne werden um zigMilliarden aufgestockt. Und doch bleibtdie bange Frage, ob das reicht. „Die Ner-ven vieler Unternehmer liegen blank,denn sie haben bereits einige WochenDurststrecke hinter sich“, sagt der Prä-sident des Deutschen Industrie- undHandelskammertags Eric Schweitzer.

ATEMSCHUTZMASKEN

STATT PUTZLAPPEN

Die Wirtschaft schaltet, so gut es geht,in den Krisenmodus um – mancherspricht von „Kriegswirtschaft“, in dernur noch das produziert wird, was fürdie Versorgung der eigenen Bevölke-rung benötigt wird. Alles andere musssich unterordnen. Der Nivea-HerstellerBeiersdorf stellt nun Desinfektionsmit-tel statt Kosmetik her, der Vileda-Kon-zern Freudenberg lässt statt PutzlappenStoff für Atemmasken und Einmal-

tenbank aber lehnen ab: „Von uns gibtes kein Helikoptergeld“, heißt es in derBundesbank. Es sei das falsche Instru-ment. „Und vom Finanzminister inDeutschland brauchen wir es derzeitauch nicht.“ Der Grund: Anders als inden USA gebe es funktionierende sozia-le Sicherungssysteme. Wenn das Ganzeaber vorbei sei, dann müsse der Staat ei-nen großen Stimulus setzen.

Das sehen auch andere so, die Frageist nur: Welchen Stimulus? „Die Maß-nahmen zur Bekämpfung der Pandemieversetzen die Wirtschaft in ein künstli-ches Koma. Das ist nötig, um das Ge-sundheitssystem nicht durch zu vieleschwere Covid-19-Fälle zu überlasten”,sagt etwa der frühere WirtschaftsweisePeter Bofinger. „Gleichzeitig muss manjetzt aufpassen, dass der Patient Wirt-schaft richtig beatmet und ernährt wird,damit die Folgeschäden möglichst ge-ring bleiben. Das wird umso schwieri-ger, je länger dieser Zustand andauert.“Die bisherigen Maßnahmen der Bundes-regierung seien „ein guter Anfang”. Al-lerdings werde die Regierung die staatli-chen Hilfen breitflächig verteilen müs-sen, und zwar unabhängig von der Fra-ge, ob der einzelne Betrieb überlebens-fähig ist. „Das ist wie bei einem Feuer:Wenn es brennt, kann die Feuerwehrauch nicht erst schauen, ob das Bieder-meierschränkchen von der Oma eswirklich wert ist, gelöscht zu werden.“

IST CORONA DAS ENDE

DER GLOBALISIERUNG?

Doch selbst wenn die MilliardenhilfenErfolg haben sollten, wird Corona diedeutsche Wirtschaft nachhaltig verän-dern. Das Virus hat gezeigt, dass sich inder Krise zunächst jedes Land selbst dasnächste ist. Da werden Grenzen dichtgemacht, Ausfuhrstopps für Atemmas-ken verhängt und Versuche gestartet,mögliche Impfstoffe exklusiv nur fürseigene Volk zu sichern. Deutschland be-greift gerade schmerzhaft, welche Ge-fahren eine knapp kalkulierteJust-in-Ti-me-Produktion mit sich bringt. Kann essich das Land wirklich erlauben, dassfast 90 Prozent der Medikamente ausIndien und China kommen? Auch dieseDiskussionen werden geführt werden

müssen – nicht jetzt, aber bald. Wird Covid-19 damit der Anfang vom

Ende der Globalisierung? Ausgeschlos-sen ist das nicht. Schon jetzt warnenWirtschaftsminister Peter Altmaier(CDU) und Bayerns MinisterpräsidentMarkus Söder (CSU) vor einem Ausver-kauf der deutschen Wirtschaft. DerKurssturz an den Börsen hat Unterneh-men günstig gemacht. „Angesichts derstark gefallenen Aktienkurse sollte derStaat sich Maßnahmen überlegen, umzu verhindern, dass deutsche Konzernefür einen Schnäppchenpreis aufgekauftwerden”, sagt Bofinger. „Eine Teilver-staatlichung ist dafür gar nicht nötig, eswürde reichen, wenn der Staat in die-sem Fall das Vorkaufsrecht bekommt.“

Doch auch Teilverstaatlichungenschließt die Politik nicht mehr aus. „Wirwerden einen Ausverkauf deutscherWirtschafts- und Industrieinteressenverhindern. Dabei darf es keine Tabusgeben“, sagt Altmaier. „Vorübergehendeund zeitlich begrenzte Staatshilfen, bishin zu Beteiligungen und Übernahmenmüssen möglich sein.“ Auch Ökonomenhalten das für einen möglichen Weg.„Da Kredite als Fremdkapital in letzterKonsequenz immer zurückgezahlt wer-den müssen, wäre eine vorübergehendeEigenkapitalbeteiligung des Staates fürbestimmte Branchen wie etwa Flugge-sellschaften eine große Entlastung”,sagt Stefan Schneider, ChefvolkswirtDeutschland bei der Deutschen Bank.

Solche Aussagen schienen noch vorwenigen Wochen undenkbar. „Ich warnedavor, jetzt das Ende der Globalisierungherbeizureden“, sagt der Präsident desBundesverbandes der Deutschen Indus-trie Dieter Kempf. „Forderungen nachökonomischer Autarkie mögen gut klin-gen, unterschlagen aber den meist gigan-tischen Nutzen, den die weltweite Ar-beitsteilung bringt.“ Aber auch er räumtein, dass sich Dinge ändern müssen:„Starke Abhängigkeit von einzelnen Lie-feranten war und ist keine solide Basisfür erfolgreiches und nachhaltiges Wirt-schaften.“ Und er warnt: Jetzt den Glo-balisierungsgegnern freie Bahn zu lassenund sich abzuschotten, wäre schlecht fürden weltweiten Wohlstand. Es wäre eineweitere fatale Folge des Coronavirus.

„DIE MASSNAHMEN ZUR

BEKÄMPFUNG DER PANDEMIE

VERSETZEN DIE WIRTSCHAFT IN

EIN KÜNSTLICHES KOMA“

PETER BOFINGER Früherer Wirtschaftsweiser

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22. MÄRZ 2020 WELT AM SONNTAG NR. 12 THEMA DER WOCHE 3

UMFRAGE

Union legt zu, AfD

unter zehn Prozent

Die Corona-Krise hat großen Einflussauf die politische Stimmung inDeutschland. Die CDU/CSU verbes-serte sich im „RTL/ntv-Trendbarome-ter“ im Vergleich zur Vorwoche umdrei Punkte auf 32 Prozent. Die AfDverlor zwei Punkte und rutschte aufneun Prozent ab. Die Grünen büßtenebenfalls zwei Punkte ein, sie erreich-ten 20 Prozent. Die Linke verlor ei-nen Punkt, sie kam in der am Sams-tag veröffentlichten Umfrage aufneun Prozent. SPD und FDP konntenum jeweils einen Punkt zulegen (SPDjetzt 15, FDP sieben Prozent). Vorallem drei Unionspolitiker wurden alsbesonders führungsstark empfunden:Das ist außer Kanzlerin Angela Mer-kel und Gesundheitsminister JensSpahn Bayerns Regierungschef Mar-kus Söder. AFP

INFEKTION

Mitarbeiter von

US-Vize betroffen

Ein Mitarbeiter des Büros von US-Vizepräsident Mike Pence ist nachAngaben des Weißen Hauses mit demCoronavirus infiziert. Weder Pencenoch US-Präsident Donald Trump

seien in engem Kontakt mit der Per-son gewesen, teilte die Sprecherin desVizepräsidenten, Katie Miller, in Wa-shington mit. Unter wachsendemDruck hatte sich Trump am Freitagvergangener Woche auf das Coronavi-rus testen lassen – der Test fiel nega-tiv aus. Über einen Test von Pence istbislang nichts bekannt. dpa

NORDKOREA

Abermals Raketen

abgefeuert

Nordkorea hat am Samstag erneutzwei Raketen getestet. Die ballisti-schen Kurzstreckenraketen seien inder nördlichen Provinz Pyongan inRichtung Meer abgeschossen worden,meldete die südkoreanische Nach-richtenagentur Yonhap unter Beru-fung auf die südkoreanische Armee.Das japanische Verteidigungsministe-rium bestätigte die Raketentests. Dieamtliche nordkoreanische Nach-richtenagentur KCNA berichtete,Machthaber Kim Jong-un habe amFreitag einem „Artilleriefeuerwett-bewerb“ beigewohnt. Sie veröffent-lichte Fotos von Kim mit diversenOffizieren, die trotz Corona keinenMundschutz trugen. Nordkorea hatbislang keinen einzigen Infektionsfallvermeldet. Aller Wahrscheinlichkeitnach hat die Pandemie aber auch dasisolierte Land bereits erreicht. AFP

NACHRICHTEN

Normalerweise würden wir in unsererKirchengemeinde heute einen öffentli-chen Gottesdienst feiern. Wir würdenauf ein Wort aus der Bibel hören undmit unseren Gebeten und Liedern ant-worten. Wir würden Brot und Weinmiteinander teilen, als Zeichen der Ge-meinschaft mit Jesus Christus, und un-ter dem Segen Gottes gestärkt zurück-kehren in unsere Familien und Häuser.Aber was ist seit einer Woche nochnormal? Unsere Kirchen sind ver-schlossen. Die Regierung appelliert anuns, dass wir soziale Distanz wahren.Abstand halten ist das Gebot der Stun-de. Viele machen sich Sorgen um dieZukunft. Wir sehnen uns nach Halt inunruhigen Zeiten.

Ich wende mich an Sie, egal welcherKonfession oder Religion Sie auch an-gehören, und möchte Ihnen Mut zu-sprechen. Unsere Kirche hat für diesenSonntag ein Bibelwort bestimmt. Essteht im Buch des Propheten Jesaja, Ka-pitel 66,10. Dort heißt es: „Freuet euchmit Jerusalem und seid fröhlich überdie Stadt, alle, die ihr sie liebhabt! Freu-et euch mit ihr, alle, die ihr über sietraurig gewesen seid.“

„Freuet euch“? – Wie soll das gehen,wenn einem angst und bange wird.Wer kann sich freuen angesichts derNachrichten über Kranke und Tote?

Mein älterer Bruder ist Arzt. Erfürchtet überfüllte Krankenhäuser underlebt, wie Menschen Desinfektions-mittel stehlen. Mein jüngerer Bruder istJungunternehmer. Ihm brechen dieEinnahmen weg, und er fürchtet umseine berufliche Existenz. Wir Brüdermachen uns Sorgen um unsere Elternund um unsere vorerkrankten Nach-barn, Freunde, Verwandte.

Welche Freude spricht uns also die-ser Sonntag in dieser schweren Zeit zu?

Der Sonntag „Lätare“ ist ein besonde-rer Sonntag in der Fastenzeit, in derErwartung der Karwoche und desOsterfestes. Er soll ein Innehalten, ei-ne Aufmunterung ausdrücken auf ei-nem schweren Weg. Die Freude, vonder Jesaja spricht, ist eine Zuversicht,die in einem tiefen Glauben gründet.Im Glauben, dass in der Leidenszeitdie Hoffnung nicht stirbt. Jesajas Freu-de hält die Erinnerung wach, dass Gottbei uns bleibt.

Ich kann mich entscheiden, ob ichmich von dieser Freude, die in einemtiefen Gottvertrauen gründet, anste-cken lassen will. Inmitten aller berech-tigten Sorgen kann ich innehalten undaufatmen und mir Gottes Nähe verge-genwärtigen. Durch Jahrhunderte hin-weg hat der Papst in Rom am SonntagLätare – Freuet euch – eine goldeneRose, die „Tugendrose“, gesegnet undMenschen verliehen, die sich für ande-re selbstlos eingesetzt haben.

Auch heute sehen wir berührendeBilder im Fernsehen von Freude undDank für den aufopfernden Einsatz inBerufen, die unser Zusammenlebenmöglich machen. Zum Beispiel Ärzteund Pflegende an den Krankenbettenoder Mitarbeitende, die an den Super-marktkassen sitzen, die den Laden amLaufen halten. Sie alle haben heute eineRose verdient. Als Ausdruck unsererFreude und unseres Dankes. Ihnenmöchte ich heute Gottes Ermutigungzusprechen: „Ich will euch trösten, wieeinen seine Mutter tröstet; ja, ihr solltan Jerusalem getröstet werden.“ (Jesaja66,13) Amen.

Sich von Freude anstecken lassen

VON PFARRER CHRISTOPH HEIL

Der Autor ist Pfarrer der

Evangelischen Kirchengemeinde in

Berlin Kreuzberg-Mitte

WORT ZUM SONNTAG

„DIE NERVEN VIELER

UNTERNEHMER

LIEGEN BLANK“ERIC SCHWEITZERDIHK-Präsident

„WIR KÖNNTEN ZU ZEUGEN

EINES ABSCHWUNGS WERDEN,

DER DIE GROSSE REZESSION

NOCH IN DEN SCHATTEN

STELLEN DÜRFTE“

PIERRE-OLIVER GOURINCHAS Ökonom an der Berkeley-Universität

Page 5: Ein besonderes Angebot in einer besonderen Zeit ... - Die Weltger Planung, Unternehmen mit über 2000 Arbeit- ... rung will Flugzeuge schicken, die Klopapier blatt- ... 2 THEMA DER

V

or 17 Jahren wurde dieMenschheit aufgeschreckt:Damals schaffte ein Virus es,von Tieren auf den Menschenüberzuspringen. Das Virus,

Sars, war ansteckend, es verbreitete sichinnerhalb von wenigen Tagen um die Welt.Diese erste Pandemie des 21. Jahrhundertswar eine Warnung: Durch die enge Vernet-zung der Welt können Viren leicht zu ei-ner globalen Gefahr werden.

Vor 17 Jahren hatte die Menschheit abernoch einmal Glück. Denn Sars-Cov-1 warzwar sehr tödlich: Von den 8096 Infizier-ten starben 774 – das ergibt eine Letalitätvon 9,6 Prozent. Aber das Virus machte

die Menschen sehr schnell krank. DieSymptome traten bereits auf, bevor die In-fizierten stark ansteckend waren. Damalspassierten die meisten Infektionen imKrankenhaus, wenn bei der Behandlungetwas schieflief. Nicht in einer Einkauf-schlange, einem Großraumbüro oder beieiner Karnevalsveranstaltung.

Heute ist das anders, die Menschheithat weniger Glück. Das neue CoronavirusSars-Cov-2 macht die meisten Menschenzwar nicht besonders krank. Sie haben ei-nen Husten, ein wenig Fieber, etwas, wassie in normalen Zeiten ignorieren würden.Aber genau in dieser vermeintlichenHarmlosigkeit liegt die Gefahr: Die Infi-

zierten sind schon ansteckend, bevor siesich überhaupt schlecht fühlen. MancheInfizierte werden gar nicht krank – undverbreiten den Erreger, ohne es zu ahnen.So konnte das Virus sich weltweit verbrei-ten. Seine Letalität schätzen Experten der-zeit je nach Land und Krankenhausaus-stattung auf einen Wert zwischen 0,4 und3,4 Prozent. Trotzdem wird es es Zehn-, jasogar Hunderttausende Tote geben.

Das ist das Paradox der Virologie: EinErreger, der für die meisten harmlos ist,kann für extrem viele zur Gefahr werden.Ein Blick auf die Zahlen dieser Pandemie(Stand Samstag) zeigt das deutlicher alsalle Worte. PIA HEINEMANN

Paradox der

PANDEMIE

Experten befürchten Hunderttausende von Toten. Denn gerade weil der

Erreger für viele so harmlos ist, kann er zur existentiellen Gefahr werden

INFOGRAFIK: WELT AM SONNTAG/ ISABELL BISCHOFF, JUTTA SETZER, KARIN STURM

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* WELT AM SONNTAG NR. 12 22. MÄRZ 20204 THEMA DER WOCHE

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WELT AM SONNTAG NR. 12 22. MÄRZ 20206 POLITIK

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D

ie Sonne strahlt mitungewohnter Wär-me auf die Felsen,Felder und Obst-bäume. Sogar Bie-nen hört man, Vö-gel. Einer mäht den

Rasen. Einer hackt Holz. In Obertru-bach, einem Dorf in der FränkischenSchweiz, steht „täglich frische Haxen“mit Kreide auf die Tafel vor das Wirts-haus geschrieben. Im Dorfladen bestel-len sie Blumen beim Großhändler. Es istMontag. Ministerpräsident Markus Sö-der hat den Katastrophenfall ausgerufen.

VON FRÉDÉRIC SCHWILDEN

Wegen der Ausbreitung des neuarti-gen Coronavirus schließen alle nicht le-benswichtigen Geschäfte. Die Schulensind schon geschlossen, die Kindergär-ten. Sämtliche Veranstaltungen des öf-fentlichen Lebens sind bis zum 19. Apriluntersagt.

Matthias und Susanne gehen nochwandern. Matthias arbeitet bei der Feu-erwehr. Susanne in einer Apotheke. Eskommt etwas auf sie zu, das wissen sie.Jetzt noch mal raus, die Sonne, dieLandschaft, ein Bier.

Durch die Täler am Fluss. Einerfischt. „Die Nudeln waren aus“, sagt er.Die Kinder sind zu Hause. Er hofft aufForellen. Im nahen Pretzfeld, am Bergder alte Judenfriedhof. Traktoren fah-ren. Im Ortsteil Altreuth sind sie zudritt auf dem Parkplatz vor dem Auto-haus Simon. Sie rauchen L&Ms aus demBigpack. Ein junger Kerl, zwei jungeFrauen. Er hat einen Zollstock, sie dieZigaretten. Auf einem Arm eine Rose, inSchreibschrift darunter: Clarissa, De-nise, Lucy, Joyce.

Er lehnt an seinem Auto. Sie sitzenauf der Kante des Kofferraums. Sie hö-ren Techno mit deutschem Text: „Ichbrauch’ keine Rede / Ich brauch’ keineBlumen / Schmeiß’ Alkohol und Drogenauf mein Grab / Das ist das Beste, wasmein Leben mir jemals gab“.

In Berlin sitzen Jugendliche in großenGruppen im Park und teilen sich Chips-tüten und Bierflaschen. Wissenschaftlersagen: Eineinhalb Meter Abstand zu denMenschen halten. Vor zwei Monatenforderte Fridays for Future noch, derWissenschaft bedingungslos zu folgen.

7:55 Uhr, Mittwoch. Auf dem Wegnach Frankfurt zum Flughafen. BeimRadiosender Antenne Bayern ist Minis-terpräsident Markus Söder zu Gast. DerModerator sagt, dass sich die Gäste ei-gentlich ein Lied wünschen dürften.Aber heute nicht. Und der CSU-Politi-ker sagt: „Das ist nicht meine größteSorge.“ Der Moderator sagt, dass beidiesem Lied sogar der Ministerpräsi-dent „Pipi in den Augen“ haben werde.Irgendjemand hat die Antenne-Bayern-Hymne neu aufgenommen.

36 Kilometer vor Frankfurt. Auf einerRaststätte. Ellen Kern und BirgitRoschkwosky aus Bad Windsheim. Sie ho-len Verwandte ab. Die Kreuzfahrt in derKaribik ist abgesagt. „Die mussten dieLeute ausfliegen.“ „Söder finden wir sehrgut. Es ist niemand in ganz Deutschland,der so ein Rückgrat zeigt.“ In der Krisewerden Helden vom Volk gesucht und ge-funden. So wie Markus Söder, so wie derVirologe Christian Drosten, so wie dasPersonal der Krankenhäuser.

In Berlin streiten sich Grüne und Lin-ke und die SPD derweil darüber, ob manSpielplätze offen lassen sollte. Die Ber-

liner Gesundheitssenatorin Dilek Kalay-ci (SPD) verkündet schließlich: „BeimSpielen sollen die Kinder selbst auf ei-nen Abstand von 1,5 Meter achten.“

Es riecht noch immer nach Kerosinam Flughafen. Bei der Lufthansa findennoch fünf Prozent der Flüge statt. Ter-minal 1 ist verlassen. Kamerateams su-chen nach Gesprächspartnern. Reza Ah-mari, der Pressesprecher der Bundespo-lizei, wirkt wie ein Tambourmajor inseiner Uniform. Er geht von Kamera zuKamera. Er sagt immer das Gleiche:„Wir rechnen heute mit 120 Flügen und9000 Passagieren, die relevant sind.“Nicht-EU-Bürgern wird die Einreise in-zwischen verweigert. Zwei Reptilien-händler aus Korea reisen ab. Sie wolltenEchsen und Schlangen verkaufen. Fami-lien warten mit Blumen auf die letztenHeimkehrer.

Im Hotel „25hours“ in Düsseldorf.Acht Gäste, über 200 Zimmer. Nur nochGeschäftsreisende dürfen übernachten.500.000 Euro minus hat man im Märzgemacht.

Ich rufe Dominik Meiering, den Pfar-rer des Kölner Doms an. Er war zumWanderfasten in den Schwarzwald ge-fahren. Die Gottesdienste finden nichtmehr statt. Der Dom ist aber noch of-fen. Selbst als Bomben aus dem Himmelauf Köln regneten, feierte der Stadtde-chant Robert Grosche Messen, sagtMeiering. Er schickt mir ein Gebet perE-Mail, das jetzt im Dom ausliegt: „Seiallen Menschen nahe, die am Coronavi-rus erkrankt sind, und sorge dich um al-le, die Angst haben vor einer Infektion,um alle, die sich nicht frei bewegen kön-

nen, um die Ärztinnen und Pfleger, diesich um die Kranken kümmern, und umdie Forschenden, die nach Schutz undHeilmittel suchen. Und segne unserLand und die ganze Welt! Amen.“

In der Schrebergartenkolonie am Dah-lerdyk in Krefeld macht Familie BozkurtHühnchen. Seit 20 Jahren haben sie denGarten hier. Die Kinder spielen. DieWohnung wird zu klein in nächster Zeit.Der Großvater, ein Taxifahrer, fährtschon seit einer Woche nicht mehr. „Wirbrauchen den Lockdown“, sagt er, „dieLeute kennen keine Vernunft.“

500 Meter von der Schalke-Arena. Imkleinen Lokal „Destille“ in Gelsenkirchentreffen sich 13 Wirte und zwei Hotelierszur Krisensitzung Es gibt Pommes undGulasch. Neben dem Bier steht Desinfek-tionsmittel auf dem Tisch. Sie schauendie Ansprache von Angela Merkel. „Ichwende mich heute auf diesem ungewöhn-lichen Weg an Sie“, sagt sie.

Einer der Wirte meint: „Die Solidari-tät ist unfassbar. Einer fragt bei derBank, der nächste bei der KfW nach demKurzarbeitergeld.“ An Kneipen hängenhäufig mehr als zehn 450-Euro-Kräfte.Das sind Hausfrauen, die aufstocken, da-mit sie ihren Kindern etwas gönnenkönnen. Dazu noch die Festangestellten.Ein Hotelier hat gerade für 4,5 Millionensein Hotel renoviert. „Wir brauchen kei-ne Kredite von der Regierung. Wir brau-chen echtes Geld“, ruft einer. Das Kurz-arbeitergeld für die Angestellten würdeauch nicht viel bringen. „Die leben vomTrinkgeld. Wir brauchen nicht 80 Pro-zent. Wir brauchen 120.“

Um halb acht am Donnerstagmorgentelefoniere ich mit Bodo de Vries vomJohanneswerk. Das ist ein evangelischerTräger. Sie betreiben über 70 Pflegeein-richtungen in Nordrhein-Westfalen, ha-ben 7000 Mitarbeiter, betreuen fasteben so viele Menschen. Alte, Demente,Kranke, Behinderte. De Vries sagt, dassman den desorientierten Personen vonder Krise nichts erzählt. Das würde sienur noch mehr durcheinanderbringen.Wenn sie fragen, wo die Verwandtenbleiben, erinnert man sie lieber an schö-ne Dinge in der Vergangenheit. Dannsagt er: „Wir möchten, dass unsere Mit-arbeiter bevorzugt getestet werden. Daspassiert aber nicht. Wir erreichen in derPolitik gerade niemanden. Wir habenEngpässe in der Versorgung, im Perso-nal, wir bekommen keinen Mundschutz,keine Desinfektionsmittel.“

Von Düsseldorf nach Berlin. Fast 600Kilometer. Auf Deutschlandfunk Kulturreden sie über „Runzelsex“ in irgendei-nem Buch. Rechts und links die Indus-trie der alten Bundesrepublik. Duisburg.Essen. Bochum. Dortmund. An der Lan-desgrenze von Nordrhein-Westfalen zuNiedersachsen: Im Radio sagt Verteidi-gungsministerin Annegret Kramp-Kar-renbauer (CDU), dass sie die Bundes-wehr im Inland einsetzen möchte. Aufder gegenüberliegenden Fahrspur tau-chen drei Transportfahrzeuge der Bun-deswehr auf.

Abends ist Berlin leer. Keiner auf denStraßen. Das Sternelokal „Nobelhart &Schmutzig“ liefert jetzt Essen. 50 Eurokostet das pro Person. Die Köche fahrendie Speisen selber aus.

Am Freitag beschließt Markus Södereine Ausgangssperre in Bayern. Er nenntes natürlich nicht Ausgangssperre. Jetztschließen auch die Baumärkte und dieRestaurants und die Friseure. Man darfnoch einkaufen oder zu Arbeit oderSport machen. Aber nicht in Gruppen.

Am Nachmittag telefoniere ich mitHendrik Streeck. Er ist Professor für Vi-rologie an der Uni Bonn. Seine Stimmeklingt ein bisschen wie die von TillSchweiger. Er sagt: „Die Regierung be-schließt Maßnahmen, ohne sie mit derWissenschaft zu diskutieren. Es wird all-gemein gesagt, man soll die Kurve flachhalten, aber es wird kein konkretes Zielbeschlossen. Auf unserer Intensivstationhaben wir bisher noch keinen einzigenFall von Covid-19, und trotzdem wirdweiter über deutschlandweite Ausgangs-sperren gesprochen.“ Es sollten sich jetzt

alle Wissenschaftler vernetzen, sagt er,und sich nicht gegenseitig kritisieren.

Freitagnachmittag. Der Platz vor demBrandenburger Tor ist verlassen. 15 De-monstranten stehen aber vor der ameri-kanischen Botschaft. „Wir reden nichtmit den Mainstreammedien“, sagen ei-nige. „Sie schreiben ja wieder nur, dasswir Nazis und Reichsbürger sind.“

Corona mache ihnen keine Angst.Aber sie hätten da was gehört. „Wenndie Börsen jetzt in den Keller gehen,verkaufen nur die Kleinanleger. Die Fir-men kaufen denen dann die Aktien weg.

Dann erholt sich die Börse wie von Zau-berhand. Das ist Umverteilung von un-ten nach oben. Dafür ist Corona da.“

Ein anderer erzählt, dass dort, wo dasCoronavirus zuerst aufgetreten sei, 5G-Handymasten aufgestellt worden seien.Kurz danach hätten Kinder aus den Oh-ren und Nasen geblutet. Sie seien schließ-lich gestorben. Um die Toten zu vertu-schen, hätte man das Virus losgelassen.Glauben Sie das denn, frage ich. „Wir stel-len nur Fragen“, sagen die Männer. Fürdiesen Sonntag werden neue Antwortenvon der Bundesregierung erwartet.

In der ersten Woche der Corona-Krise

fuhr unser Autor einmal quer durch die

Bundesrepublik. Von Süden nach Norden,

nach Westen und Osten. Eine Reise in den

Alltag der Menschen, die jetzt wandern, im

Schrebergarten sitzen oder die letzten

Heimkehrer am Flughafen abholen

2000 Kilometer

Ausnahmezustand

Nicht-EU-Bürgern wird die Einreiseverweigert: Bundespolizist Reza Ahmari

Desinfektionsmittel und Bier: in der Gelsenkirchener „Destille“

Er mit Zollstock, sie mit Zigaretten: Ju-gendliche auf einem Parkplatz in Altreuth

„Wir brauchen den Lockdown, die Leute

kennen keine Vernunft“: Die Bozkurts in ihrem

Krefelder Schrebergarten

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TAG 1

Es fängt tatsächlich nicht an wie einenormale Erkältung. Da ich wegen einerdurch Nahrungsmittel ausgelösten He-patitis E Erkrankung vor einigen Jahrenweiß, wie man sich bei einem schwere-ren Virusinfekt fühlt, habe ich sofortden Verdacht, dass es keine normale Er-kältung ist, und so eher eine richtige In-fluenza sein muss. Weil ich zu diesemZeitpunkt weder mit einer Risikopersonzusammen noch in einem Risikogebietgewesen war, schien mir eine Corona-Infektion völlig unrealistisch. Zusätz-lich war es ja auch erst der Beginn derKrise. Als Opernsänger erlebe ich natür-lich jede Erkältung als Ärgernis. Ichmelde mich krank. Im Fernsehen ist voneinzelnen Fällen in Bayern und Nord-rhein-Westfalen die Rede.

TAG 2

Das Fieber steigt auf 38,8. Starke Glie-derschmerzen und ein gewisses„Vergiftungsgefühl“ stellen sichein. Heftiger Schüttelfrost undWechsel von Heiß- und Kalt-phasen. Sehr schwach. Ichkomme kaum aufs Klo.

TAG 3

Das Fieber stagniert aufdiesem mittelhohenWert. Weiterhin keinSchnupfen. Wenig Hu-sten, aber Schmerzenin der Brust und Kurz-atmigkeit. Die Aus-atemluft hat einenmetallischen Ge-schmack. Von den Ge-schehnissen der Au-ßenwelt bekomme ichkaum etwas mit. Inzwi-schen wird empfohlen,größere Veranstaltungenabzusagen, wie mir mei-ne Familie berichtet.

TAG 4

Das Fieber sinkt. Leicht er-höhte Temperatur bleibt bei37,6. Die Schmerzen sind fastweg, allerdings bleibt auf derHaut, vor allem am oberen Rücken,ein schmerzhaftes Gefühl zurück, wiebei einem heftigen Sonnenbrand. Au-ßerdem starke Kopfschmerzen. Mahl-zeiten schmecken nicht mehr so wiegewöhnlich. (Dass das später ein klas-sisches Corona-Symptom werden soll-te, wusste ich natürlich da noch nicht.)Immer mehr Theater müssen ihrePforten für das Publikum schließen.

TAG 5

Es geht mir wieder gut. Das Fieber istkomplett unten. Ich fühle mich gesundund bin zuversichtlich, zudem sicherer,dass es nicht Corona gewesen ist, son-dern die Standardinfluenza oder einenormale Erkältung. Ich bin auch wiederdraußen und bei der Arbeit: Probe amTheater Osnabrück für Wagners „Mei-stersinger“. An diesem Tag werde ichnun die meisten, für später kritischenKontakte haben. Aber da ich keine Sym-ptome mehr hatte und nicht in Risiko-gebieten gewesen war, schätzte ichmein Handeln auch weiterhin nicht alsverantwortungslos ein. Die damaligenEmpfehlungen des Robert-Koch-Insti-tuts (RKI) boten keinerlei Anhaltspunk-te, nicht zur Probe zu gehen. Damalsund wohl in weiten Teilen noch heutewerden nur Personen getestet, die Sym-ptome haben, die zum CoronavirusSars-CoV-2 passen (beispielsweise Er-kältung, Halsschmerzen) und innerhalbder letzten 14 Tage Kontakt zu einembestätigten Coronavirus-Fall hatten so-

wie diejenigen Personen, die Symptomehaben und innerhalb der letzten 14 Tagein einem vom RKI festgelegten Risiko-gebiet waren.

TAG 6

Der Husten nimmt nun wieder zu. DasFieber steigt zwar nur abends leicht an,aber ich suche nun doch den Arzt auf.Er macht einen Abstrich. Wie befürch-tet wird es einige Zeit dauern, bis dasErgebnis vorliegt. Während in Italienschon die ersten Ausgangssperren ver-hängt werden, ist in Deutschland nochfast alles beim Alten. Meine Schwesternberichten von verlän-gerten Seme-sterferien

in Süd-deutschland.Mein Bruder, der inden USA arbeitet, überlegt, seinenDeutschlandurlaub an Ostern umzupla-nen. Aber es ist noch keine Panikstim-mung zu spüren.

TAG 7

Der Husten wird nun immer schlim-mer. Allmählich beschleicht mich einunangenehmes Gefühl, da überall inden Medien von Krankheit gesprochenwird und man tatsächlich selbst krankist. Nur rechne ich immer noch miteiner Standardinfluenza A. Ich bin mitmeinem sich rührend kümmerndenArzt in engem Kontakt. Die Laboresind mittlerweile überlastet, somitdauert es noch, bis das Ergebniskommt. Zudem werden immer nochnur die Personen auf Corona getestet,die in Risikogebieten waren oder Kon-takt zu Infizierten hatten. Man be-fürchtet eine Überlastung der Labore,sollten zu viele Menschen mit schein-bar niedriger Infektionswahrschein-lichkeit getestet werden.

TAG 8

Eigentlich hatte das Labor ja gar nichtvor, auf Corona zu testen. Allerdings tat

es das wohl doch, da alle anderen Testsergebnislos blieben. Über meinen Arztwird mir mitgeteilt, dass ich mich tat-sächlich mit dem Coronavirus infizierthabe. Ich melde mich umgehend beimeinem Arbeitgeber und beim Gesund-heitsamt. Leider komme ich erst nachfast 24 Stunden über die Notfallleitungzum Gesundheitsamt durch … Man hät-te wohl lieber eine Info-Hotline für alleund separat eine Leitung für bestätigteInfizierte einrichten sollen. Ich erstelleeine Liste mit meinen Kontaktperso-nen. Es sind leider relativ viele. MeinTheater reagiert sehr verantwortungs-

voll und informiert,Gott sei Dank,

schnellst-

möglichalle Mitarbei-

ter, während das Ge-sundheitsamt offensichtlich mit der

Information der Betroffenen nicht hin-terherkommt. Außerdem werden umge-hend alle Räumlichkeiten des Theaters,nun auch für die Proben, geschlossen.Weiterhin ist es mir ein Rätsel, wo ichmich angesteckt haben könnte. Der Hu-sten nimmt immer mehr zu. GroßeSchwierigkeiten beim Atmen. Sprechenreizt sehr. Ich bin sehr schwach. Jegli-che Anstrengung führt zu Schweißaus-brüchen.

TAG 9

Nun bin ich natürlich in Quarantäne,zusammen mit meinem Vater, der gera-de mit mir in der Opernproduktion vonWagners „Meistersingern“ singt. Ihmgeht es gut, obwohl er sich natürlichbeim tagelangen Aufenthalt in dersel-ben Wohnung sicher auch infiziert hat.Schnell räumen wir letzte Dinge ausdem Keller in die Wohnung im 3. Stock.Eine letzte Wäsche in die Maschine.Wir überlegen, wer in der Stadt nunmit Nahrungsmitteleinkäufen aushel-fen könnte. In Osnabrück bin ich zudiesem Zeitpunkt einer von nur 50 of-fiziell Infizierten bei 160.000 Einwoh-

nern. Die Dunkelziffer könnte aberentsprechend höher sein, und viele In-fizierte bewegen sich unwissentlich,teils vielleicht auch komplett sym-ptomfrei, in der Öffentlichkeit.

TAG 10

Das Gesundheitsamt scheint schonjetzt überlastet und muss Kollegen ausanderen Ämtern rekrutieren. Die fürmich zuständige Dame ist allerdingssehr nett und geduldig bei allen Fragen.Mit meinem Arzt, der sich trotz Urlaubausgiebig telefonisch um mich küm-mert, erstelle ich Strategien, wie es nunweitergeht und ob ein Krankenhausauf-enthalt sinnvoll ist. Das Atmen fälltweiterhin schwer.

TAG 11

Der Husten nimmt ein wenig ab, aberkörperlich bin ich schwächer. Ich

schlafe immer wieder ein undschwitze sehr, trotz nur niedrigem

Fieber. Inhalationen helfen.Weiterhin hoffe ich, um einen

Krankenhausaufenthalt her-umzukommen. Ich bin sehr

froh, dass mein Vater im-mer noch keine Sympto-me hat und hier bei mirist. Er versorgt michmit Suppe und Tee.Seit etlichen Tagen ister jetzt mit mir aufengstem Raum – gutmöglich, dass er dasVirus bereits bekom-men und ohne Sym-ptome durchgestan-den hat. Draußensind nun fast alle Lä-den geschlossen. Beimeiner Familie in Ba-

den-Württemberg, dieich seit Monaten nicht

gesehen habe, ist nunauch ein Corona-Fall zu

vermelden. Ansteckungs-weg ebenfalls ungeklärt.

Meine Mutter und Geschwi-ster sind in Quarantäne.

TAG 13

Wie schon am Vortag geht es mirmorgens am besten. Ich wache sehr er-holt auf und bin zuversichtlich, auf demWege der Besserung zu sein. Die deut-schen Theater haben nun richtig guteIdeen, um den Menschen weiterhineinen Zugang zur Kultur zu gewährlei-sten. Kleine Videoclips von Proben,gratis Livestreams oder Mitschnittevergangener Produktionen stehen on-line zur Verfügung. Alle Schulen habengeschlossen. Man soll nicht mehr alsnötig nach draußen gehen. Lebensmit-telläden werden überrollt mit Hamster-käufen.

TAG 14

Ich bin noch weit davon entfernt, gesundzu sein, bin aber langsam in der Verfas-sung, mir auch einmal selbst eine TasseTee machen zu können. Mein Vater undich schauen gemeinsam die Anspracheder Kanzlerin …

T Nachdem Daniel Wagner diesen Text

an die Redaktion schickte, verschlech-

terte sich sein Zustand. Er ist mitt-

lerweile im Krankenhaus. Ein solcher

Verlauf erscheint nicht untypisch. Auch

die FDP-Politikerin Karoline Preisler, die

auf Twitter über ihre Erkrankung be-

richtet, wurde vor wenigen Tagen und

kurz, nachdem sie glaubte, Besserung

habe sich eingestellt, ins Krankenhaus

eingeliefert. Die Redaktion wünscht

Daniel Wagner und allen Erkrankten

schnelle und vollständige Genesung.

14 TageCorona

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22. MÄRZ 2020 WELT AM SONNTAG NR. 12 LEBEN 13

Sie sollen helfen – jetztbrauchen sie selber HilfeEin Landarzt, ein Berliner Klinikarzt und ein

Münchener Lungenarzt sagen, wo es wehtut

A

ls die Frau des Kollegen positivgetestet wird, weiß OberarztTim Pagel, was das heißt. „Vor

Tagen saßen wir noch zusammen beimFrühstück.“ Dann kamen die Sympto-me beim Kollegen und seiner Frau, erstleicht, dann hohes Fieber mit starkenKopfschmerzen und Husten. BeideÄrzte arbeiten im Klinikum Neuköllnin Berlin. „Wir dürfen weiterarbeiten,wenn wir Mundschutz tragen und Ab-stand halten. Daheim bleiben müssenwir, wenn der Test positiv ausfällt.“Zwei Tage später sei es dem Ehepaarschon deutlich besser gegangen, er-zählt Pagel, und ihm auch – denn aucher hatte leichte Symptome. Am Mitt-woch sagt er das, da steht sein Tester-gebnis noch aus.

Im Klinikum herrsche die Ruhe vordem Sturm. „Was wir zurückstellenkönnen an geplanten Eingriffen, wurdeabgesagt. Besucht werden dürfen nurnoch Schwerstkranke und Kinder.“ Ei-ne gespenstische Stille empfindet derOberarzt in den Fluren. Mehrere Coro-na-Patienten sind im Haus, einer liegtauf der Intensivstation. Die Ruhe könnesich schlagartig ändern, „darauf berei-ten wir uns vor. Wir haben neue Inten-sivbetten für Covid-Patienten geschaf-fen. Dafür haben wir einen Aufwach-raum freigemacht und eine Station ge-schlossen.“

Materialmangel – das Corona-The-ma schlechthin. „Als es losging, ist vie-les verschwunden.“ Von Wagen etwa,von denen Besucher sich Schutzkittel,Masken und Hauben nehmen können.„Diese Sachen wurden geklaut. AuchDesinfektionsmittel. Die Spendermussten stündlich aufgefüllt werden.“Nun werde das Mittel nur noch auf An-weisung herausgegeben. Schutzklei-dung sei noch genug da. „Ich weißnicht, wie es sein wird, wenn der An-sturm kommt. Und der wird kommen.Ich hoffe, nicht so massiv wie in Ita-lien. Deutschland ist ja ein Land, daseine Krisenprävention hat.“ Pande-miepläne gebe es, Katastrophenpläne,Pläne für Flugzeugabstürze und Bom-benanschläge. Das werde auch regel-mäßig geübt. „Eine Pandemie hatteman aber offenbar nicht so im Auge,das wurde etwas vernachlässigt.“

Am Freitag dann die Entwarnung,für ihn selbst. Test negativ. „Ich hatteGlück.“ Am Tag, an dem die Symptomebeginnen und dem davor sei manhochinfektiös, an den Tagen vorherweniger. Das Gruppenfrühstück warein paar Tage vor der hochinfektiösenPhase. „Hätten wir später gefrühstücktund nur einer hätte sich infiziert – dieganze Abteilung wäre ausgefallen, biszu 30 Personen.“

V

irusalarm auch auf dem Dorf.Tobias Flotho ist Landarzt imnordhessischen Breuna. „Bis

zum Wochenende war es hier relativ ru-hig, aber jetzt kommt die Welle kom-plett hier an. Ich gehe davon aus, dasswir spätestens übernächste Woche eineAusgangssperre haben.“ Die Unruhewachse. „Leute werden von verunsi-cherten Arbeitgebern zum Arzt ge-schickt. Gesunde wollen eine Krank-

schreibung für vier Wochen.“ Das deut-sche Krisenmanagement findet er rechtgut. „Aber man hätte vor vier bis sechsWochen den Leuten sagen sollen, wirfahren jetzt Schutzmaßnahmen. Daswurde versäumt, und dann kamen dieHorrormeldungen: kein Fußball, Groß-veranstaltungen abgesagt, Schulendicht. Und woanders feierte man wei-ter. Das hat Leute in Panik versetzt.“

Auch hier: „Material ist für uns einProblem.“ Über Schutzausrüstung ver-füge er nur marginal. „Wir sind froh,noch Handschuhe zu haben und teuresDesinfektionsmittel. Aber wenn wiruns vollbunkern, schmeißen wir es ineinem Jahr weg, wir müssen schon auchwirtschaftlich denken. Den Katastro-phenfall auszurufen, würde helfen, sagtFlotho. Die Bundeswehr könnte dannetwas tun. Wie es weitergeht? „Ist eineWundertüte.“ Der Optimist ihn ihmsagt: „Wir alle werden es überleben.“Dann, bitterer: „Aber einige nicht.“

I

m reichen München, sollte man mei-nen, kennt man solche Sorgen nicht.Ein Irrtum – Frank Powitz, Arzt

dort, teilt sie mit den Kollegen, egal woim Land. „Unsere Lungenpatientensind Risikopatienten schlechthin. Siemüssen wir extrem schützen und unsÄrzte auch.“ Als größte MünchenerLungenpraxis habe man immerhinnoch Bestände von Schutzkleidung ge-habt. „Aber als wir sahen, wir brauchenjetzt mehr, war nichts zu bekommen,außer zu irrwitzigen Preisen.“ Aberauch damit sei man am Limit.

Man schaffe es noch, den Betrieb auf-rechtzuerhalten, jeden Tag mit extre-mem Aufwand die Logistik neu anzu-passen. „Wir haben viel zu wenigSchutzkleidung“, das Personal sei inder Infektsaison ohnehin ausgedünnt.„Abstrichröhrchen, Desinfektionsmit-tel, alles kaum noch zu bekommen.“ Ei-nen ganzen Vormittag habe er telefo-niert, um Abstrichröhrchen zu beschaf-fen. „Jetzt behelfen wir uns mit gynäko-logischen Röhrchen. So ist die Lage.“ Esgebe meist nur einen Arzt in Schutz-kleidung samt Hilfskraft in einem sepa-raten Raum. „Steckte ich das gesamtePersonal in Schutzkleidung, müsste ichnach einem Tag die Praxis zumachen.“

Alle müssen klingeln. „Einer steht ander Tür und fragt eine Checkliste ab,bevor ein Patient rein darf.“ Die Groß-praxis bietet einen Extraeingang fürCorona-Fälle an, die meisten Praxenkönnen das nicht. Ein Arzt berät am Te-lefon Patienten, die nicht unbedingthermüssen. Es gebe viel Panik, sagt Po-witz: „Was ist, wenn ich huste? Aber diePraxen sind am Limit. Ich würde amliebsten auf die Seite eins jeder Zeitungschreiben: Bleibt daheim! Rennt nichtbei jedem banalen Infekt zum Arzt.Lasst euch telefonisch beraten.“

Powitz ist Chef des Berufsverbandesder Pneumologen in Bayern. „Seit Wo-chen versuche ich, mit der Landesregie-rung über das Problem der ambulantenVersorgung zu reden – keine Antwort.“Viele Hausarztpraxen schlössen jetzt,weil ihnen Schutzkleidung fehle. „Derambulante Sektor wurde verpennt.“

WOLFGANG BÜSCHER

Wochen schrieb Leßmann – parallel zuseinen Anfragen an Kliniken – an diezuständige Hamburger Senatsverwal-tung für Gesundheit und Verbraucher-schutz: ob man ihm einen Einsatzortnennen könne und ob nun geplant sei,eine zentrale Vermittlungsstelle einzu-richten, die bereitstehendes Fachperso-nal und suchende Kliniken zusammen-bringe. Bis heute habe auf seine E-Mailniemand geantwortet.

Dabei müsste solche Koordinierungs-arbeit spätestens jetzt laufen. Das Bun-desgesundheitsministerium weist daraufhin, dass sich Bundeskanzleramt undBundesländer am Dienstag auf ein raschumzusetzendes Konzept für die Infra-struktur der Krankenhäuser geeinigt ha-ben. Das Konzept, das WELT AM SONN-TAG vorliegt, sieht vor, möglichst schnelldie Zahl der Intensivpflegeplätze in denKliniken zu verdoppeln – und dafür „Ärz-te und Pflegekräfte aus dem Ruhestandoder anderen Bereichen zur Unterstüt-zung“ zu aktivieren.

T

anja Jansen ist ausgebildete In-tensivkrankenschwester. Leutewie sie werden in den kommen-

den Wochen dringend in den Klinikengebraucht – denn es fehlt dort nicht nuran Beatmungsgeräten, sondern auch anIntensivpflegern, die sie bedienen kön-nen. Jansen, die vor acht Jahren aus derPflege ausgestiegen war und nun mit ih-rem Mann ein Tattoo-Studio betreibt,fasste deshalb vor zwei Wochen einenEntschluss: Sie wollte wieder in einerKlinik arbeiten. Mit anpacken, solangedie Krise dauert.

VON ANETTE DOWIDEIT

„Der Entschluss fiel nicht leicht,mein Mann gehört zur Hochrisikogrup-pe“, sagt sie. „Trotzdem haben wir ent-schieden: Das muss sein.“ Also rief siebei drei Hamburger Kliniken an undfragte: Könnt ihr mich gebrauchen? Undwar ernüchtert. „In den Personalabtei-lungen war man freundlich distanziert.

Man sagte mir, ich solle eine Bewerbungschicken, man werde sie auf dem nor-malen Dienstweg prüfen und sich in einpaar Wochen melden.“

Diese Erfahrung machte auch MirkoLeßmann, Rettungsassistent mit zehnJahren Berufserfahrung, als er sich um-hörte, ob er Intensivpflegepatientenhelfen könnte. Derzeit studiert er, setztseit Studium aber für ein Semester aus –weil er in der Corona-Krise mit anpa-cken will. Auch er versucht seit zweiWochen, einen Einsatzort in einem

Hamburger Krankenhaus zu finden.Ohne Erfolg. Das frustriere, sagt er.„Wir wollen helfen, aber werden vonPontius zu Pilatus geschickt.“

Das Problem, das die beiden be-schreiben, existiert nicht nur in Ham-burg: Ehemalige Fachkräfte, die aus derPflege ausgestiegen sind, versuchenderzeit vergeblich, ihre Arbeitskraft fürdie Corona-Krise zur Verfügung zustellen. Das Defizit liegt offenbar beiden Behörden der Bundesländer undKommunen. Die Deutsche Kranken-hausgesellschaft berichtet auf Anfragevon WELT AM SONNTAG: In den ver-gangenen Wochen seien bei ihr vielederartige Anfragen von Helfern aufge-laufen. Weil man dort selbst aber kei-nen Überblick darüber habe, welcheKlinik aktuell Personal suche, habe mandie Menschen an die zuständigen Bun-desländer und Städte verweisen müs-sen. Zentrale Anlaufstellen habe manihnen nicht nennen können. Denn diegebe es nicht. Laut Deutscher Kranken-

hausgesellschaft ist dies ein ernst zunehmendes Defizit. „Solche Anlaufstel-len könnten ein wichtiger Bausteinsein, um die Krise zu bewältigen“,schreibt die Gesellschaft.

Welche Dimension das brach liegen-de Potenzial besitzt, zeigt eine Ende2018 veröffentlichte Umfrage desMarktforschungsinstituts Psyma.Demnach gibt es bundesweit mindes-tens 120.000 Pfleger, die wegenschlechter Arbeitsbedingungen aus derPflege ausgestiegen sind, sich aber ge-nerell eine Rückkehr in den Beruf vor-stellen könnten. Leßmann und Jansensind überzeugt, dass Tausende von ih-nen dieser Tage genau wie sie untätigzu Hause sitzen – obwohl sie soforthelfen würden, wenn man sie ließe.„Wenn man sich einmal für den Pflege-beruf entschieden hat, will man natür-lich helfen, gerade in einer solchen Si-tuation“, sagt Leßmann.

Wie wenig sich bei den Behördenderzeit tut, lässt ihn staunen. Vor zwei

Auf die Frage, warum es dafür bislangkeine Koordinierungsstellen gibt, antwor-ten etwa die Senatsverwaltungen in Ham-burg und Berlin nicht. In München, woebenfalls viele ehemalige Pfleger auf derSuche nach einem Einsatzort sind, teiltedas Gesundheitsamt mit, „auflaufendeAnfragen“ würden derzeit „kanalisiert“.Man unterstütze Maßnahmen, bald „ei-nen Pool für schnell einsetzbare medizi-nische Kräfte“ auf die Beine zu stellen.Bis solche Stellen aber tatsächlich ge-schaffen sind, müssen sich die Kliniken inEigenregie um pragmatische Personalge-winnung bemühen. In Berlin etwa starte-te die dortige Krankenhausgesellschaftbereits einen Aufruf über soziale Netz-werke: Fachpersonal, bitte melden!

Tanja Jansen ist skeptisch, dass sie inder Corona-Krise noch zum Einsatzkommen wird. „Bis ein Vermittlungs-system anläuft, ist es wohl viel zu spät“,meint sie. Trotzdem wäre die Einrich-tung von Anlaufstellen sinnvoll. „Wennnicht jetzt, dann für die nächste Krise.“

„Wir werden von Pontius zu Pilatus geschickt“Berufsaussteiger aus

der Pflege berichten

von ihren vergeblichen

Versuchen, in

Krankenhäusern

mitarbeiten zu können

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Covid-19 verläuft höchst

unterschiedlich. Daniel Wagner glaubt zunächst,

Grippe zu haben. Dann erhält der 35-jährige

Opernsänger das Laborergebnis.

Ein Protokoll

Page 8: Ein besonderes Angebot in einer besonderen Zeit ... - Die Weltger Planung, Unternehmen mit über 2000 Arbeit- ... rung will Flugzeuge schicken, die Klopapier blatt- ... 2 THEMA DER

W

enn Sina fei-ert, dann istsie glücklich.Sie sagt, Tan-zen ist für sieFreiheit, derBeat, der ih-

ren Körper erfasst, die Menschen um sieherum, die sich bewegen, die lachen, sichumarmen, sich küssen. Der Berliner Club„Kater Blau“ und seine Stammgäste, siesind ihre zweite Familie. Wenn sie in den„Kater“ geht, dann fühlt sich das an, wienach Hause zu kommen.

TANZ AUF DEM VULKAN

Samstagmorgen, 7. März, halb drei. Sinasteigt vor dem „Kater Blau“ in Fried-richshain aus dem Taxi. Der Club liegtdirekt an der Spree, auf einem schmalenAreal zwischen Fluss und S-Bahntrasse.Die Schlange vor der Tür ist lang,manchmal warten die Leute Stunden,um reinzukommen. Sina steht auf derGästeliste, der Türsteher winkt siedurch. Die 34-jährige Personalmanage-rin hat lange schwarze Haare, dunkle,funkelnde Augen. Im Club trifft sie di-rekt auf eine Gruppe internationalerGeschäftsleute, die zur kurzfristig abge-sagten Touristikmesse ITB nach Berlingereist sind. Einer von ihnen erzählt ihr,er sei gerade aus China gekommen. Erhustet viel. Sina flaxt: „Hast du Coronaoder wie?“ Ein Witz, nur ein Witz.

VON CHRISTINA BRAUSE, TINA KAISER

UND IBRAHIM NABER

Das alles ist zwei Wochen her, dieStadt ist da noch eine andere. WELTAM SONNTAG hat mit mehr als einemDutzend Menschen gesprochen, diesich am zweiten Märzwochenende im„Kater Blau“ aufhielten. Sie alle habennur unter der Bedingung mit uns gere-det, dass ihre Namen nicht veröffent-licht werden. Wenn man ihre Ge-schichten hört und ihre Wege durch dieStadt an den Tagen darauf nachver-folgt, sie erzählt, dann wird klar, wiesosich das Virus in Berlin so rasant aus-breiten konnte.

„Wir wollten noch einmal richtig fei-ern, bevor es nicht mehr geht“, sagt ei-ner. „Ich dachte, Corona sei Panikma-che“, eine andere. War das naiv? Zumdamaligen Zeitpunkt sind 19 Corona-In-fizierte in Berlin gemeldet. Bekannt istallerdings schon, dass die meisten sichim Schöneberger Club „Trompete“ an-gesteckt haben. Die Zeitungen berich-ten jeden Tag. Trotzdem scheint kaumjemand die Gefahr ernst zu nehmen. Inden Clubs pulsiert das Leben wie an je-dem Wochenende, alle Theater, Kon-zerthallen und Bars sind geöffnet, imOlympiastadion wird am Samstagnach-mittag vor vollen Rängen Hertha BSCgegen Werder Bremen spielen, in derausverkauften Mercedes Benz Arenader Rapper Kontra K auftreten. Die Poli-tik unternimmt nichts dagegen.

Allein im „Kater Blau“ feiern an die-sem zweiten Märzwochenende vieleHundert Menschen, vielleicht mehr alstausend. Laut Definition des Robert-Koch-Instituts reichte eine infiziertePerson unter ihnen, um alle anderenim Club zu „Kontaktpersonen der Ka-tegorie 1, höheres Infektionsrisiko“ zumachen. Drei von ihnen, teilen die Be-hörden WELT AM SONNTAG mit,wurden bis Redaktionsschluss positivauf das Coronavirus getestet. Nach al-lem, was Virologen sagen, dürfte dieDunkelziffer deutlich höher liegen. DerClub „Trompete“ etwa ist viel kleinerund hat kürzere Öffnungszeiten als derKater. Der Berliner Gesundheitssenatzählt unter den dortigen Besuchernnun 55 Infizierte.

Unter den Menschen, mit denen die-se Zeitung gesprochen hat, sind die dreiBesucher des „Kater Blau“, die sich infi-ziert haben. Ob sie sich wirklich imClub angesteckt haben oder auf demWeg dorthin, lässt sich im Nachhineinkaum feststellen. Sicher ist, dass sie inden Tagen danach krank wurden, einige

schwer. Allein sie und ihre Cliquen sum-mieren sich zu einem Kreis von rund100 Leuten, die im Club waren.

Inzwischen weiß man, dass es in an-deren Ländern wie Südkorea vor allemjunge Erwachsene sind, die das Virusverbreiten. Weil sie besonders viel un-terwegs sind. Und weil sie denken, ih-nen könne nichts passieren. Genau des-halb können sie zu Superverbreitern ei-ner Seuche werden.

Als Sina am Samstagmorgen vor zweiWochen um halb drei den „Kater Blau“betritt, ist der Laden gerammelt voll.Die Party hat um Mitternacht begon-nen, sie dauert 60 Stunden, bis Montag-mittag. Das ist nicht ungewöhnlich inBerlins Clubszene. Sina wird 30 Stun-den durchhalten, bevor sie nach Hausegeht. Sie wird, so schätzt sie, 50 Leuteumarmen oder küssen.

Die Beteiligten erzählen: Im Barraumquetschen sich die Leute vor der Theke,auf beiden Tanzflächen bewegen siesich dicht an dicht. Um vier Uhr kommtSinas Kumpel Alexander, 33, Kellner,dazu. Um fünf Uhr dann Peter, 45, Me-diengestalter. Die drei Freunde werdenspäter die Einzigen sein, die einen Co-rona-Test machen – und positiv getestetwerden. Alle drei trinken im „Kater“ ausden gleichen Flaschen, reichen Wasserherum, teilen Zigaretten. Vor den Toi-letten lange Schlangen, zwischendurchknutscht Sina mit einem Fremden. Diemeiste Zeit tanzt sie direkt vor dem DJ-Pult. Tage später, nachdem sie ihren po-sitiven Corona-Test erhält, schreibt sieeinem der DJs eine Textnachricht, weilsie ihm so nah gekommen ist. Der ant-wortet, er sei auf Mallorca.

Vor dem DJ-Pult tanzt in der Nachtauf Samstag auch Jana, 37, Sekretärinim Bundestag. Dort gab es Tage zuvorden ersten Corona-Fall, trotzdem ist Ja-na unbesorgt. Sie sagt, sie habe die Auf-

regung um das Virus da noch für einenMedienhype gehalten. Im Bundestag seiman daran gewöhnt, dass öfter mal derWahnsinn tobt. Für sie ist der „Kater“der schönste Club in Berlin. Man merke,dass er von einem Kollektiv aus Künst-lern und Hippies geführt werde. VieleBesucher tragen Kostüme, sind als El-fen, rosafarbene Hasen oder Marsmen-schen verkleidet. „Alle sind so freund-lich, offen, nett zueinander.“

Ein paar Meter weiter, zwischenWand und DJ-Pult, bewegt sich Fran-ziska, 26, Assistentin bei einer Filmfir-ma, zur Musik. Die Ecke ist ihr Lieb-lingsplatz, dort ist etwas weniger Ge-dränge. Franziska kommt Freitag umMitternacht im „Kater“ an und bleibtbis Samstagmittag, geht ein paar Stun-den zum Schlafen heim, von Samstag-abend bis Sonntagmittag ist sie wiederda. Anders als Sina und Jana ahnt Fran-ziska, dass Corona vielleicht kein Me-dienhype ist. Ihr ist das Virus unheim-lich. Sie hat sich vorgenommen, keineGetränke mit anderen zu teilen, lässtaber Freunde an ihren Zigaretten zie-hen. Später schätzt sie, sich mit rund 60Leuten unterhalten zu haben, Gesichtan Gesicht, gegen den Bass anschreiend.

Auch Christian, 32, Büroangestellterin einem großen deutschen Unterneh-men, schreit Franziska ins Ohr. Zusam-men mit seiner Lebensgefährtin und ei-ner Clique von neun weiteren Freundenbetritt er am Samstagmittag gegenzwölf den Club. Franziska begrüßt ihn,drückt ihn an sich. Auf der Tanzflächetrifft Christian auch auf Sina, die zuvormit dem Geschäftsmann aus China ge-redet hat und später positiv auf Coronagetestet wird. Sie übergießt ihn mitGlitzer. Christian und seine Freundebleiben bis Sonntagmorgen im Club. Ersagt: „Corona war in Smalltalks das gan-ze Wochenende Thema Nummer eins.“

Einige erzählen ihm Verschwörungs-theorien, die meisten machen Witze.Christian bestellt sich Corona-Bier. Erahnt, dass es bis auf Weiteres das letzteFeierwochenende sein könnte: „UnserMotto lautete: ‚Ein letztes Mal noch.‘“

Als Christian am Sonntagmorgen umdrei den „Kater“ verlässt, ist Klaus, 35,Mitarbeiter der Berliner Verwaltung,seit etwa einer Stunde im Club. SeineClique, zehn Leute, feiert einen Ge-burtstag mit viel Sekt und Schnaps.

Gegen sechs Uhr früh kommt Milan,Anfang 30, Supermarktmitarbeiter, al-lein in den „Kater“. Er hat am Vortagbeim Fußballspiel im Olympiastadionangefangen zu trinken, war danach inmindestens fünf Bars, so genau weiß erdas nicht mehr. „Im ‚Kater‘ war dannschnell Game over“, sagt er. Ob er sichdort angesteckt hat oder davor, wirdauch er nie erfahren.

SYMPTOME

Montag, 9. März: Als Erstes trifft es SinasKumpel Alexander, den Kellner. Derfühlt sich am Montag so schlapp, dass ersich krankmeldet. Sina geht es noch gut.Sie arbeitet als Personalmanagerin in derGastronomie, hat ein Meeting mit 15 Kol-legen, alle umarmen sich zur Begrüßung.Dienstag, 10. März: Schon beim Aufwa-chen geht es Sina schlecht, trockenerHusten, Fieber, die Brust verengt sich,Rückenschmerzen. Sie geht zum Haus-arzt, der stellt Fieber fest, schreibt siekrank, sagt aber laut Sina: „Alles in Ord-nung, nur eine Erkältung.“ Der Dritte inihrer Clique, Peter, der Mediengestalter,wird am Dienstag mit dem Rettungswa-gen ins Krankenhaus gebracht. Er be-kommt keine Luft mehr. Mittwoch, 11. März: Sinas Kumpel Ale-xander, der Kellner, bekommt Panik. Erstellt sich im Krankenhaus zum Corona-Test an.

Donnerstag, 12. März: Franziska, dieFilmassistentin, Jana, die Sekretärin ausdem Bundestag, Milan, der Supermarkt-mitarbeiter, Christian, der Büromitar-beiter, und seine Lebensgefährtin sindkrank. Alle sind diese Woche trotzdemzur Arbeit gegangen, sind Taxi, U- undS-Bahn gefahren, waren in Supermärk-ten, „so voll wie vor Weihnachten“. Zu-sammen kommen diese fünf Menschenauf rund 1000 Kontakte in den erstenTagen der Krankheit. Rund die Hälftedieser Kontakte hatte allein Milan, derSupermarktmitarbeiter. Er schätzt, dasser rund 500 Menschen näher als 1,5 Me-ter gekommen ist. Das ist laut Virologender sichere Minimalabstand.

Zählt man Klaus dazu, den Behörden-mitarbeiter, kommen 700 Kontakte hin-zu. Klaus hat keine Symptome – aberwas beweist das? Keiner von ihnen lässtsich auf Corona testen. Sinas KumpelPeter, der Mediengestalter, wird imKrankenhaus weiter behandelt. Ein Arztteilt ihm am Donnerstag mit: Corona-positiv. Sinas Kumpel Alexander, derKellner, erhält am gleichen Tag einenAnruf vom Gesundheitsamt. Auch er istCorona-positiv. Er gibt dem Behörden-mitarbeiter Sinas Telefonnumer.Freitag, 13. März: Das Gesundheitsamtruft bei Sina an, verspricht, jemandenzum Abstrich vorbeizuschicken. Siesagt, dass niemand gekommen sei.

Um 14 Uhr schickt Alexander eine E-Mail an den „Kater Blau“: Er sei im Clubgewesen, jetzt habe er Corona.

Die Geschäftsführer des Clubs wun-dern sich: Laut dieser E-Mail weiß dasGesundheitsamt seit mindestens einemTag von seiner Infektion, hat den Clubaber nicht informiert. Die Chefs be-schließen, an diesem Abend nicht zu öff-nen. Einen Tag später macht der BerlinerSenat alle Diskotheken offiziell dicht.Mitarbeiter des „Kater“ versuchen, das

zuständige Gesundheitsamt Friedrichs-hain-Kreuzberg zu erreichen, kommennicht durch. Sie rufen auch beim Ge-sundheitssenat an, bei der Corona-Hotli-ne, vergebens. Wieder vergeht Zeit, nach24 Stunden beschließen sie, selbst an dieÖffentlichkeit zu gehen.Samstag, 14. März: Um 14.02 Uhr postetder „Kater Blau“ auf seiner Facebook-Seite, dass ein Besucher vom Wochen-ende mit Corona infiziert sei. Es dauerteinen weiteren Tag, bis die Behördenreagieren: Am Sonntag um 13.20 Uhrveröffentlicht der Senat für Gesundheitauf seiner Website einen Aufruf: Weram Freitag, 6. März, oder Samstag, 7.März, im „Kater Blau“ gewesen sei, sollesich beim Gesundheitsamt Friedrichs-hain-Kreuzberg per E-Mail melden undsich selbst zwei Wochen in Quarantänebegeben – egal, ob er Symptome hatoder nicht. Dass die Party noch bisMontag weiterging, schreiben die Be-hördenmitarbeiter nicht. Bis Redakti-onsschluss stand die falsche Zeitspanneauf der Website des Senats.

FREIHEIT ÜBER ALLES

In der Woche nach dem Aufruf der Be-hörden an die „Kater“-Gäste werdenzwei Dinge klar: Erstens, das zuständigeGesundheitsamt Friedrichshain-Kreuz-berg kommt mit der Prüfung der Ver-dachtsfälle nicht hinterher. Allein inden ersten 24 Stunden nach dem Aufrufmelden sich laut Bezirksverwaltungüber 1000 Personen bei der Behörde.Zweitens, einige der Clubgänger haltenfreiwillige Quarantäne selbst in Zeiteneiner Pandemie für einen Angriff auf ih-ren Lebensstil.

Die Behörde schreibt auf Anfrage die-ser Zeitung, zu den Verdachtsfällen sei„derzeit keine Auskunft möglich“. Alle„Kater“-Besucher, mit denen diese Zei-tung gesprochen hat, haben sich nach ei-genen Angaben beim zuständigen Ge-sundheitsamt gemeldet. Die Behördehabe ihnen gesagt, um den Test müsstensie sich selbst kümmern. Das Amt habekeine Kapazitäten mehr. Kliniken aller-dings auch kaum noch. Jana, die Bun-destagsmitarbeiterin, sagt: „Als ichbeim Krankenhaus ankam, standen dahustende, fiebrige Leute in der Schlan-ge, die teilweise schon seit fünf Stundenwarteten. Ich war viel zu krank, ummich so lange auf den Beinen zu hal-ten.“ Also sei sie wieder heimgegangen.

Oder Franziska, die Filmassistentin:Das Gesundheitsamt schickte sie zuFuß zu einer Klinik, die gar keine Coro-natests macht. Oder Milan, der Super-marktmitarbeiter: Als er bei einer Klinikim Westen von Berlin ankam, warendem Krankenhaus gerade die Tests aus-gegangen. Milan, der Supermarktmitar-beiter, und Klaus, der Behördenange-stellte, halten sich auch weiterhin nichtan die Quarantäneanweisungen des Ge-sundheitsamtes. Milan, weil er Angstvor dem Arbeitgeber hat: „Wer sich beiuns krankschreiben lässt, ist schnell sei-nen Job los.“ Klaus hat seinem Chef ge-sagt, dass er im „Kater“ war. Der Behör-denleiter und er hätten beschlossen, dieQuarantäne sei übertrieben. Wenn sichselbst ein Mitarbeiter der Stadt nicht andie Vorschriften hält, wer dann?

Sina hat es derweil geschafft, sich tes-ten zu lassen. Sie sagt, sie habe das Ge-sundheitsamt mit Telefonaten terrori-sieren müssen und schließlich gedroht,sonst außer Haus zu gehen, als wärenichts. Dann sei ein Mitarbeiter inSchutzmontur gekommen. Jetzt weißauch sie: Sie ist positiv.

Sina sagt, nicht die Angst vor dem Ar-beitgeber erkläre, warum sich so viele„Kater“-Besucher nicht testen ließen.Sondern die Angst, zu Hause bleiben zumüssen. Sie hat rund 30 Menschen ge-schrieben, die sie an jenem Wochenen-de im Club getroffen hat. „Ungefähr je-der Zweite von denen ist krank, aberkeiner hat ernsthaft versucht, sich tes-ten zu lassen“, sagt sie. Sie versucht ei-ne Erklärung: So lange man nicht posi-tiv getestet sei, könne man weiter drau-ßen herumlaufen.

Im Fieber der NachtHunderte Menschen feierten vor zwei Wochen im Berliner Club „Kater Blau“. Drei von ihnen

wurden später positiv auf Covid-19 getestet. Die Dunkelziffer aber dürfte viel höher sein. Eine

Geschichte über die Generation der Superverbreiter und überlastete Behörden

Als Feiern noch erlaubt war: Schlange stehen vor dem Berliner Club „Kater Blau“

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54 WISSEN WELT AM SONNTAG NR. 12 22. MÄRZ 2020

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D

Stuhlkreis der STEINZEIT

In Russland

haben Archäologen

mysteriöse

Bauten aus

Mammutknochen

gefunden. Sie

lassen erahnen,

wie die Menschen

während der

letzten Eiszeit

überlebten

Die Gegend rund um Kostenki in Russ-land, etwa 500 Kilometer südlich vonMoskau, ist bei Steinzeit-Forschern alswahre Schatzgrube bekannt. Auf etwa30 Quadratkilometern lässt sich aller-hand finden. Es ging schon im Jahr 1703los. Der niederländische Maler und Rei-sende Cornelis de Bruyn fand etlicheMammutzähne und nahm einen davonmit. Aus Neugier, wie er notierte. DeBruyn konnte sich den Fund nicht er-klären, er hielt die Stücke für Elefanten-zähne und mutmaßte, Alexander derGroße sei auf seinem Zug nach Indienwomöglich hier samt Elefanten vorbei-gekommen. Tatsächlich lagen die Stoß-zähne der Mammuts schon 10.000 bis20.000 Jahre länger in der Erde.

VON HOLGER KREITLING

Noch faszinierender ist, was dieMenschen vor 20.000 Jahren mit denMammutknochen anstellten. Sieschichteten Hunderte davon zu kreis-förmigen Strukturen auf, bauten Wän-de damit, vielleicht Behausungen oderLagerstätten. Insgesamt hat man etwa70 dieser Kreise in der Ukraine und inRussland nachgewiesen. Ein neuerFund verschafft nun eine genauere Vor-stellung davon, wie Menschen damalslebten und was es mit den mysteriösenKnochenkreisen auf sich hatte.

Z

ahlreiche Funde in Kostenkistammen aus der Jungsteinzeit,die vor etwa 40.000 Jahren be-

gann und bis um etwa 9700 v. Chr. dau-erte. Unter anderem tauchten etwa20.000 Jahre alte Venusfigurinen auf,die ähnlich wie die bekannte Venus vonWillendorf modelliert sind. Homo sa-piens war zuvor aus Asien nach Europa

Feuersteinspäne. Vermutlich stelltendie Bewohner daraus Werkzeuge undWaffen her. Damit konnten sie jagenoder Tierhäute schaben. Das allein wärenicht verwunderlich, überraschend imVergleich zu anderen Ausgrabungsstät-ten ist die Menge der Steinfragmente.Es sind zu wenig Splitter. Wenn dortGruppen kontinuierlich gelebt und ge-arbeitet haben, müsste es mehr solcherÜberreste geben.

D

ie Forscher schließen daraus,dass die Jäger und Sammlersich nicht ausschließlich in der

Anlage aufgehalten haben, jedenfallsweniger als möglich gewesen wäre. Wa-rum haben sie sich dann die Mühe ge-macht, einen derart großen Knochen-kreis zu bauen, der obendrein zu großwar, um vollständig mit Fellen über-dacht zu sein? Denkbar ist für Pryorund seine Kollegen, dass Kostenki 11 an-ders genutzt wurde als vergleichbareKreise, etwa für rituelle Zwecke. Odernur zu bestimmten Zeiten. Oder dochals Lagerstätte.

Warum die Gegend von Kostenkiüber so einen langen Zeitraum attraktivwar, dass Menschen trotz der hartenBedingungen dortblieben und die Krei-se errichteten, ist ebenfalls unklar. Ale-xander Pryor sieht eine mögliche Be-gründung. Es könnte dort Frischwas-serquellen gegeben haben, die das gan-ze Jahr über sprudelten. Mammutstranken bis zu 100 Liter Wasser am Tag.Vielleicht war das Wasser von Kostenkiwärmer als anderswo, sagt er, die Tieremussten nicht nahezu gefrorenes Was-ser trinken und erwärmen, ihre Körpersparten so Energie. „Und wenn die Tie-re davon angezogen sind, folgen dieMenschen den Tieren“, so Pryor. Es seiaber schwer, so etwas zu beweisen.

In einem nächsten Schritt werdendie Archäologen die gefundenen Zähnemithilfe von Isotopenanalysen untersu-chen. Sie hoffen, damit auf Bewegungs-profile der Mammuts zu schließen undob sich die Tiere in bestimmten Jahres-zeiten in Kostenki aufhielten. Vielleichtwar es ja so, dass die Jäger zu diesenZeiten dort auf ihre riesige Beute lauer-ten. Den Speer bereit, in der Hoffnungauf den einen entscheidenden Wurf,der das Überleben des Clans in der Ei-seskälte sicherte.

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WELT AM SONNTAG NR. 12 22. MÄRZ 2020 SEITE 56

WISSEN

Den Namen Jennifer Haller sollteman sich merken. Sie ist der ersteMensch, der an einem Test für einenCorona-Impfstoff teilnimmt. AmDienstag wurde ihr in den USA dieerste Spritze gesetzt, weitere 44 ge-sunde Menschen im Alter von 18 bis55 Jahren sollen folgen. Drei Freiwil-lige haben so wie Haller bereits ihreerste Dosis erhalten.

Jennifer Haller und die anderenTestteilnehmer sind weder mit demneuartigen Coronavirus infiziert,noch haben sie andere Erkrankun-gen. Sie sind kerngesund, so wie essich für eine klinische Studie derPhase I gehört. Darin wird vor allemgetestet, ob das Mittel mRNA1273überhaupt verträglich ist – oder obunvorhergesehene Nebenwirkungenauftreten. In dieser Phase wird auchgenau überwacht, wie das Mittel immenschlichen Körper wirkt – also ob,wie schnell und wie nachhaltig sichder Immunschutz aufbaut.

Der Direktor des amerikanischenNationalen Instituts für Infektions-krankheiten, Anthony Fauci, sagte,die erste Testphase finde in „Rekord-zeit“ statt. Für diese Woche habenallerdings auch andere Unterneh-men angekündigt, Wirkstoffe in einePhase-I-Studie schicken zu wollen.

Das ist ein Hoffnungsschimmer.Allerdings werden alle diese Sub-stanzen noch einige Hürden nehmenund Testphasen durchlaufen müs-sen, bevor sie als offizielle Impfstof-fe zugelassen werden. Der ein oderandere wird scheitern, Nebenwir-kungen auslösen oder wirkungslossein. Menschen wie Jennifer Hallerhelfen, dies frühzeitig herauszufin-den, damit die Medizin sicher wird.

Weltweit sind derzeit mehr als300.000 klinische Tests angemeldet– um ganz unterschiedliche Krank-heiten in den Griff zu bekommen.Vielleicht ist jetzt ein guter Zeit-punkt, um all jenen Freiwilligen zudanken, die sich für diese Tests zuVerfügung stellen.

Einfach nur:

Danke!

VON PIA HEINEMANN

QUANTENSPRUNG

QUÄNTCHEN

können Riffmantas (Mobula alfredi)tauchen. Bislang ging man davonaus, dass sie maximal 300 Meter tiefkommen. Die Fische haben eineSpannweite von bis zu 5,5 Metern,leben im Roten Meer und im Indo-pazifik und fressen Plankton.

672Meter tief

Ob Flugverbote oder Fleischver-zicht: Die meisten Maßnahmen ge-gen den Klimawandel begeistern nurwenig. Anders der Vorschlag, dennun Forscher vom Centrum für Erd-systemforschung und Nachhaltigkeit(CEN) der Universität Hamburg ma-chen. Das Team um Christian Beerschreibt im Journal „Scientific Re-ports“, dass große Herden von Wild-pferden theoretisch 80 Prozent derweltweiten Permafrostböden rettenkönnten. Die Huftiere trampeln dieSchneeschicht platt – und bewirken,dass der Boden stärker durchfriert.P

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Englisch in der Grundschule: Sinnvoll oder nicht? S. 55

Mehr als zwölfMeter Durch-messer hat dernun erforschteKnochenkreisvon Kostenki

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eingewandert und hatte den Neander-taler abgelöst. Die Menschen hattenauf dem Höhepunkt der letzten Eiszeitvor etwa 23.000 Jahren mit zunehmen-der Kälte und dem Mangel an Beutetie-ren zu kämpfen. Zunächst zogen sichdie Menschen aus den nördlichen Ge-bieten Europas in Richtung Süden zu-rück. In Teilen der osteuropäischenEbenen, darunter auch Kostenki, über-lebten die Jäger und Sammler länger,bevor sie die Gegend dann ebenfallsverlassen mussten.

Die Fundstätten in Kostenki werdenseit 1879 wissenschaftlich untersucht.Sie sind mittlerweile nummeriert bis 21;schon das zeigt die verblüffende Dichtesteinzeitlicher Existenz. Jetzt habenForscher um den Archäologen Alexan-der Pryor von der Universität in Exetereine neue Fundstelle bei Kostenki 11 inder Fachzeitschrift „Antiquity“ prä-sentiert. In der Regel liegen an ei-nem Platz mehrere Knochen-kreise nebeneinander. Bereits1951 gab es in Kostenki 11 ersteFunde, seit den 1960er-Jahrensystematische Ausgrabungen.2013 schließlich fand man nur20 Meter entfernt von denbisherigen Funden eine neueStruktur, die die bisherigenan Größe und, wie sich nunzeigt, an Alter deutlich über-trifft. „Jetzt bei einer neuenFundstelle frisch anzufangenerlaubt es uns, alle modernenTechniken der archäologi-schen Untersuchung einzuset-zen, um zu verstehen, was Men-schen da gemacht haben und wa-rum sie es bauten“, sagt AlexanderPryor am Telefon.

Vier Sommer lang wurde an Kostenki11 gegraben. Die Forscher legten nachund nach einen Kreis mit 12,5 MeterDurchmesser frei, der vorwiegend ausMammutknochen besteht. Aber auchKnochen von Rentieren, Pferden, Wöl-fen, Rot- und Polarfüchsen wurden ge-nutzt, um Wände zu befestigen. Einigeder Knochen sind mehr als 20.000 Jah-re alt. Die übrigen Fundstellen von Kos-tenki 11 sind zum Teil 3000 Jahre jünger.

Im Detail legten die Archäologen 51Unterkieferknochen und 64 Schädelvon Mammuts sowie zahllose Langkno-chen frei. Das ist eine sehr hohe Zahl,

die auch auf eine hohe Mammut-Popu-lation schließen lässt. Über welchenZeitraum die Tiere lebten, kann Pryornoch nicht genau sagen, wahrscheinlichist, dass es ein Spektrum unterschiedli-chen Alters gibt. Daher stellt sich dieFrage, ob die Menschen einfach gefun-dene Knochen verbauten oder ob sie diegewaltigen Tiere jagten, töteten, dasFleisch aßen und erst dann die Knochennutzten. Grundsätzlich war Homo sa-piens dazu in der Lage. Es gibt anderePlätze mit Beweisen, dass Mammutsgejagt und erlegt wurden, sagt Pryor.Die Jäger und Sammler benutzen in derletzten Eiszeit wohl Speere mit ausStein gehauenen Spitzen, möglicher-weise bereits Pfeil und Bogen.

W

ährend der letzten Eiszeitwaren die Bedingungen ex-trem lebensfeindlich. Win-

ter mit minus 20 Grad Celsius dauertenlang – man muss sich schnell alle Moon-boots, Outdoorjacken, Goretexhand-schuhe und Wollmützen wegdenken.Die Sommer waren kurz und kühl. We-

gen des Permafrosts wuchsen auf denkargen Böden kaum Pflanzen, ent-sprechend gab es wenig Brennma-terial. Die Wände des Ringwallsvon Kostenki 11 wurden mit kalk-haltigem Sediment gefüllt. Außer-halb des Kreises befinden sichmehrere Gruben, die vielleicht fürAbfall oder als Lager genutzt wur-den, vielleicht aber auch durch

Löss-Entnahme entstanden; auchdas ist üblich für die Knochenkreise.

Im Innern des Kreises fand dasTeam Überbleibsel von verkohltemHolz. Die Menschen nutzen offenbarsowohl Holz wie auch Knochen alsBrennstoff. Das ist neu, denn bisherging die Wissenschaft davon aus, dassin der kargen Steppe nur Knochen alsBrennmaterial benutzt wurden. Mehrals 50 verkohlte Pflanzensamen weisendarauf hin, dass Menschen außerdem inder Lage waren, die wenigen essbarenPflanzen ausfindig zu machen – sie viel-leicht aber auch für die Herstellung vonGiften, Medikamenten, Schnüren oderStoffen zu verwenden.

Die größte Überraschung fand sichebenfalls im Innern des Knochenkrei-ses. Die Archäologen entdeckten etwa300 kleine Feuersteine und winzige

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Die EU-Außengrenze: dicht für Tou-risten. Der deutsche Reisepass, dernormalerweise weltweit Tür und Toröffnet, erlaubt noch nicht einmal dasPassieren der Grenze zu Polen oderÖsterreich. Eine Bundeskanzlerin, dieohne mit der Wimper zu zucken, dasUrlauben verbietet. Schleswig-Hol-stein, das über Nacht alle Inselnsperrt und eine komplette Einreise-sperre für Touristen verhängt. DasAuswärtige Amt, das generell vornicht notwendigen touristischen Rei-sen ins Ausland warnt, als sei die gan-ze Welt ein Kriegsgebiet wie Afghanis-tan oder Syrien. Nicht zu vergessendie vielen Flugzeuge, die komplett amBoden bleiben, und die Kreuzfahrt-schiffe, die weltweit eingemottet wer-den, sofern sie noch irgendwo einenHafen zum Anlegen finden.

Was sich in den vergangenen Tagenrund um den Globus abgespielt hat,ein quasi weltweites Reise- und Ein-reiseverbot von Marokko über dieMongolei bis zu den Marshallinseln,ist beispiellos in der Geschichte derMenschheit. Die erfolgsverwöhnte Gu-te-Laune-Reisebranche hat es beson-ders schwer getroffen: Waren 2019noch 1,5 Milliarden Urlauber weltweitunterwegs, wirddiese Zahl 2020 insBodenlose fallen.Um den Schockmo-ment zu begreifen,muss man sich dreiWochen zurückver-setzen. Da wurdeaußerhalb Asiensnoch munter geflo-gen und gebucht.Anfang März wurdesogar noch tagelangdarüber debattiert,ob man die welt-größte Tourismus-messe, die ITB inBerlin, wirklich ab-sagen müsse, was würde denn das füreinen Eindruck machen? Keine dreiWochen später fahren Hotels, Flugge-sellschaften, Veranstalter, Reisebüros,Kreuzfahrtreedereien ihre Aktivitätenradikal herunter und sind in ihrer Exis-tenz bedroht. Überall auf der Welt.

Eine Erfolgsbranche und die Ur-laubslust, die bisher für über 300 Mil-lionen Jobs und ein Zehntel der globa-len Wirtschaftsleistung standen, wur-den von einem unsichtbaren Virusbinnen weniger Tage fast komplett da-hingerafft. Venedig, Mallorca, MountEverest: Was gestern noch ein begehr-tes, oft überlaufenes Ziel war, ist überNacht zum Ladenhüter geworden.Und wird es erst einmal bleiben, dennkaum jemand macht sich in diesen Ta-gen Gedanken darüber, wohin dienächste Reise gehen soll. Die Leutesind eher mit hamstern beschäftigtoder damit, es sich in den eigenen vierWänden gemütlich zu machen. ImReisebüro (das inzwischen auch nichtmehr betreten werden darf – Anste-ckungsgefahr!) meldet man sich nurnoch, um umzubuchen oder den Ur-laub gleich ganz zu stornieren.

Das ist verständlich und mensch-lich. Aber die Lage wird nicht so blei-ben. Weil das Virus, so wie es in Tai-wan bereits gelungen ist, auch bei unsin einigen Wochen, vielleicht aucherst in ein paar Monaten, an Virulenzeinbüßen und sich nicht mehr so ra-sant verbreiten wird. Allerdings giltes, nicht trübsinnig zu werden in die-ser Wartezeit, bis die Grenzen wiederöffnen, die Schiffe wieder ablegen unddie Flieger wieder abheben. Es gibt einziemlich einfaches Mittel, um diesesZiel zu erreichen: das Fernweh. Das istim Menschen, zumal im reiselustigenBundesbürger, quasi im Erbgut veran-kert und lässt sich gewiss nicht durchein dahergeniestes Virus ausmerzen.

Wenn Sie also demnächst durchAusgangssperre oder Corona-Quaran-täne gezwungen sind, wochenlang zuHause zu bleiben, wenn Ihnen dort dieDecke auf den Kopf fällt, verfallen Sieder Reiselust. Träumen Sie vom nächs-ten Urlaub, egal ob im „TropicalIsland“ in Brandenburg oder auf einerechten Tropeninsel. Stellen Sie sich

Ihre nächste Radtour an der Elbe vor(mit Meißen-Abstecher), Ihre längstgeplante Südsee-Kreuzfahrt (endlichBora Bora sehen), das Erklimmen einesBergs (egal ob Brocken oder Mont-blanc) oder einfach eine Wanderung(durch den Spessart oder auf dem Ja-kobsweg). Reisen Sie mit dem Kopf inandere Gegenden und andere Länder,bleiben Sie neugierig, genießen Sie dieVorfreude auf den ersten Champagnerin der Champagne, auf die nächste Oli-venernte auf Sizilien, auf Sex on theBeach auf einer einsamen Insel, wobeiwir hier natürlich, wie es sich gehört,vom Cocktail reden.

Wir werden unseren Teil dazu bei-tragen, dass das gelingt. Und in derWELT AM SONNTAG weiterhin Rei-sereportagen und Länderporträts ver-öffentlichen, die eine Pause vomCorona-Grübeln versprechen und diezum Schwelgen und Nachdenken an-regen, vielleicht auch zum Nachreisen– in der Realität oder in der Fantasie.Es werden nicht nur Friede-Freude-Eierkuchen-Stücke sein, denn auchvor der Pandemie war die Welt keinParadies, so wie der Reiseteil dieserZeitung nie ein kritikloser, klischee-besoffener Reisekatalog war.

In der kom-menden Zeit desStillstands, des er-zwungenen Nicht-reisens, lohnt essich, besondersüber ein Gutnachzudenken,das viel zu vieleseit Jahrzehntenfür selbstver-ständlich genom-men haben, ob-wohl es alles an-dere als sicherund unantastbarist: die Reisefrei-heit. Jetzt, da sie

uns vorübergehend abhandenkommt,wissen wir ihren Wert hoffentlichhöher einzuschätzen. Wer plötzlichvor einer unüberwindbaren europäi-schen Grenze steht, wird merken, wasfür eine großartige Errungenschaftder Schengen-Raum für uns Europäerin normalen Zeiten eigentlich ist. Unddass wir alles dafür tun sollten, umuns diesen „Freiraum“ vom Nordkapbis nach Kreta, vom Atlantik bis zumBaltikum zu erhalten. Der eine oderandere wird sich jetzt vielleicht auchdaran erinnern, wofür und wogegen1989 Millionen DDR-Bürger und Ost-europäer auf die Straße gegangensind: für freie Wahlen und Reisefrei-heit, gegen Bevormundung und Ein-gesperrtsein.

Und da wir gerade beim Nachden-ken sind: Über Klimaschutz redet ge-rade kein Mensch mehr. Der wird abernach dem Reise-Revival weiterhin ei-ne wichtige Rolle spielen. Also viel-leicht jetzt schon mal überlegen, obman die nächste Urlaubsreise nichtauch mit dem Fahrrad oder Zug ma-chen kann, und gerne schon mal gu-cken, auf welchem Portal man Aus-gleichszahlungen für Umweltschutz-projekte leisten kann, um die Abgasedes nächsten Fernflugs, der nächstenKreuzfahrt zu kompensieren.

Und irgendwann wird er da sein,der Tag, an dem das Virus offiziell ein-gehegt ist und uns die Reisefreiheit –hoffentlich in vollem Umfang – zu-rückgegeben wird. Was dann? Es wärevielen geholfen, wenn wir dann nichtalle (so wie derzeit die peinlichenToilettenpapierjäger im Supermarkt)hemmungslos die Billigportale stür-men und die allergünstigsten Last-Mi-nute-Schnäppchen buchen würden.Stattdessen könnte man ins Reisebürooder zum kleinen Spezialveranstaltergehen und sich dort von echten Men-schen, die sich besser auskennen alsAlgorithmen, beraten lassen unddamit deren Arbeitsplätze sichernhelfen. Wenn das ein paar Euro mehrkostet als die Onlinebuchung, solltedas zu verkraften sein, schließlichhaben wir in der Corona-Krise jamonatelang keine Möglichkeit, Geldfür Reisen auszugeben.

Tief hängen die Wolkenüber den sattgrünen All-gäuer Hochalpen. EineGewitterformation rücktüber das mächtige Ge-birgsmassiv heran. Auchdas ist ein Grund, warumdas Haldenwanger Eck, 17Kilometer südwestlichvon Oberstdorf gelegen,an diesem Nachmittagnoch menschenleerer istals sonst. Neben dem Rau-

schen des Windes ist nur Vogelgezwit-scher und das Läuten der Kuhglockenzu hören. Und dann, nach einer letzten,mit Felsbrocken gespickten Anhöhe, ister erreicht, der auf 1883 Meter Höhe ge-legene Grenzstein 147 zwischen Bayernund Österreich. Hier, an der südlichstenStelle Deutschlands und am Endpunkteiner 1600 Kilometer langen Tour durchunser Land, von der nur die ersten zwei

und letzten zwölf Kilometer nicht perPedale, sondern per pedes bewältigtwurden, ist der Reisende allein mit sichund der Natur – wie so oft auf den vo-rangegangen 20 Etappen.

VON NIKOS SPÄTH

Drei Wochen zuvor auf Sylt, auf HöheNormalnull und mehr als 12.000 Hö-henmeter noch vor der Brust, beginntauf dem Ellenbogen, einer Landzungeoberhalb von List, die Reise. Markiertvon einem unscheinbaren Schild, befin-det sich zwischen Dünen und Meer dernördlichste Zipfel der Bundesrepublik.Sand, Sonne, Seemöwen, das Rauschender Wellen, und sonst nur ein jungesPaar, das kurz für ein Foto posiert undwieder weg ist. Ein aus Strandgut ge-bautes vogelscheuchengleiches Wesenist der einzige dauerhafte Bewohnerdieses Inselzipfels.

BALSAM GEGEN

DIE REIZÜBERFLUTUNG

Die Einsamkeit und Weite der Land-schaft ist eine wiederkehrende Erfah-rung, die der Reisende am Meer und inden Bergen macht, sobald er sich in denSattel schwingt. Es ist kaum zu glauben,dass ein mit 83 Millionen Bewohnernrelativ dicht besiedeltes Land wieDeutschland so viele idyllische Eckenhat, in denen kaum eine Menschenseeleunterwegs ist.

Wer kennt nicht die Reizüberflutungim Alltag, die Sehnsucht, anstatt desKopfes mal wieder den Körper richtigzu nutzen? Da ist Fortbewegung aus ei-gener Kraft in frischer Luft das besteMittel. Und klimafreundlich ist dieseReiseform noch dazu. Dabei bietet dasFahrrad gegenüber den Füßen den Vor-teil der größeren Reichweite, sodass einhalbwegs fitter Mensch das ganze Landdurchqueren kann, ohne dafür gleich

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Ich RADLE,

also bin ichVom nördlichsten zum südlichsten Punkt

Deutschlands, meist durch menschenleere Natur:

Eine Radreise im eigenen Land ist ein perfektes Mittel

gegen die alltägliche Reizüberflutung. Und eine

Urlaubsform, von der man jetzt schon träumen kann

FERNWEH IST

UNSTERBLICH:

Warum wir bald

wieder reisen werden

VON SÖNKE KRÜGER

UNTERWEGS

??/WAMS/WSBE-VP122.03.20/1/Rei1 SPROBST 5% 25% 50% 75% 95%

Abgezeichnet von:

ArtdirectorAbgezeichnet von:

TextchefAbgezeichnet von:

ChefredaktionAbgezeichnet von:

Chef vom Dienst

6222.03.20 22. MÄRZ 2020 WSBE-VP1BELICHTERFREIGABE: --ZEIT:::BELICHTER: FARBE:

WELT AM SONNTAG NR. 12 22. MÄRZ 202062 REISEN

ERST DURCH DIE

CORONAKRISE

MERKEN VIELE,

WAS FÜR EIN

WERTVOLLES

GUT DIE

REISEFREIHEIT IST

Page 11: Ein besonderes Angebot in einer besonderen Zeit ... - Die Weltger Planung, Unternehmen mit über 2000 Arbeit- ... rung will Flugzeuge schicken, die Klopapier blatt- ... 2 THEMA DER

ein Sabbatical zu benötigen. Sobald einTretrhythmus gefunden ist, der Winddie Nase umspielt und sich der Blickgen Horizont richtet, setzt ein ent-schleunigter, fast meditativer Zustandein: Ich radle, also bin ich. Dabei spieltes keine Rolle, welche Route man vonNord nach Süd, West nach Ost oder um-gekehrt wählt. Der Weg ist das Ziel, dasgilt besonders auf einer solchen Tour.

BEEINDRUCKENDE

NATURSCHÖNHEITEN

Zunächst ist es die Vielfalt der deut-schen Naturlandschaften, die fasziniert,wenn man sie „erfährt“. Das fängt an inden Dünen und an den roten Kliffs aufSylt. Im flachen Nordfriesland reiht sichein endloses Kornfeld ans andere. Vonder Sonne golden gefärbt, wiegen sichdie Halme wie Wellen im Wind. Die We-sermarsch beeindruckt mit sanftenSchilfauen und Sandbänken. In derBerg- und Tallandschaft des Sauerlandeserfreut sich der Radfahrer an naturbe-lassenen Mischwäldern und verweilt anBachläufen wie aus dem Tourismuskata-log. Und wer im Rheingau einen Son-nenuntergang inmitten von Weinbergenganz für sich erlebt, weiß, was wirklicheSchönheit ist. So geht es weiter – vorbeian markanten Felsformationen in derSchwäbischen Alb, azurblauen Seen imbayerischen Voralpenland und durchsaftige Weiden im Allgäu, die man sichallein mit dem kräftigen Braunvieh teilt.

Auf dem Weg liegen, ganz gleich, wel-che Route gewählt wird, unzählige Kul-turschätze, die der Reisende nicht linksliegen lassen sollte. Ob die Altstädtevon Münster und Heidelberg, derWormser Dom, der Englische Garten inMünchen oder das unvermeidlicheSchloss Neuschwanstein des Märchen-königs Ludwig II. – all das erfreut dieAugen. Aber selten üben touristische,normalerweise überlaufene Hotspotsdie gleiche Faszination aus wie Orteund Erlebnisse, die auf Instagram oderTripadvisor keine Rolle spielen: ein Feldaus Millionen Sonnenblumen, in dessenHintergrund sich Windräder vor einemsurreal gefärbten purpurnen Himmeldrehen; ein Nachtspaziergang unterLinden, deren Blüten die Luft schwän-gern; oder der heiß ersehnte Sprung voneiner Brücke ins kühle Nass eines Fluss-kanals irgendwo in der Provinz.

OFFENE TÜREN

UND HERZEN

Dass links und rechts der Verkehrstras-sen viel Schönes wartet, an dem man imAuto stets vorbeigeprescht ist, hat mangeahnt. Aber was wirklich überrascht,unterwegs in Deutschland, sind die vie-len herzerwärmenden Begegnungen.

Vielleicht sind es besondere Sympa-thien, die einem entgegenfliegen, wennman auf Durchreise ist? Mitmenschensehen die Fahrradtaschen und schonentspinnt sich ein Gespräch über Gottund die Welt: „Woher kommen Sie?“ –„Wohin fahren Sie heute noch?“ – „Wasist das Ziel und der Sinn Ihrer Tour?“Vielleicht liegt es aber auch an einemselbst? Man nimmt sich bewusst Zeitfür sein Gegenüber – ganz anders als imeng getakteten Alltag, den man selbstmeist mit Scheuklappen durchlebt. Undwomöglich hat man auch ein zu negativgefärbtes Bild einer erregten Gesell-schaft vor Augen, das in Wahrheit nurvon einer lauten, im Horizont be-schränkten Minderheit bestimmt wird.

Eine Fahrt durch Deutschland jeden-falls vermittelt etwas völlig Gegenteili-ges. Wer ein Privatzimmer als Unter-kunft bucht, ist jedes Mal erstaunt, mitwelchem Vertrauensvorschuss Men-schen ihre Türen und Herzen öffnen.Abends auf ein Bier oder morgens beieiner Tasse Kaffee hört man von Bezie-hungskrisen, Selbstheilung, Sinnsuche

und verrückten Lebensmodellen, reistin den Geschichten der Gastgeber inferne Länder und lässt sie an eigenenGedanken und Plänen teilhaben. DerReisende hat Zeit und Raum für solcheBegegnungen – und gerade der Fakt,dass man sich so schnell nicht wieder-sieht, schafft Nähe.

Dazu trifft man auf große Hilfsbe-reitschaft. Regina aus Menden im Sau-erland etwa ist sich nicht zu schade,sonnabends kurz vor Mitternacht eineWaschmaschine mit verschwitztenFahrradklamotten anzuschmeißen.Die Münsteraner Studenten Yannickund Käthe bauen flugs ein Zelt mit-samt Komfortmatratze im Garten auf,weil der Gast die Buchungsdatendurcheinandergebracht hat und nunalle Betten belegt sind.

Gleiches widerfährt dem Radreisen-den unterwegs: Da ist der Schraubereiner Heidelberger Fahrradwerkstatt,der trotz hoffnungslos überfülltemLaden bereit ist, kurzerhand ein Ku-gellager zu reparieren. Da sind diePassanten, die bei der Orientierung inder Stadt helfen wollen, sobald mankurz anhält, und die Radler, die unge-fragt stoppen und Hilfe bei der Repa-ratur eines Plattfußes anbieten. Be-zeichnend ist auch, dass währendmehr als 100 Stunden im Sattel nurzwei Autofahrer das langsame Zweiradvor ihnen per Hupe auffordern, Platzzu machen. Vom viel zitierten Kriegauf der Straße keine Spur.

BEGEGNUNGEN

DER BESONDEREN ART

Nach mehr als 1600 Kilometern durchDeutschland sind es zwei Begegnun-gen, die in besonderer Erinnerungbleiben und der Urlaubsreise etwasvon einer Pilgerfahrt geben.

In Plüderhausen an der Rems, zwi-schen Waiblingen und SchwäbischGmünd, hält der hungrige Radler an ei-nem Imbisswagen. 3,50 Euro kostethier das Landmetzgersteak im Bröt-chen. Und weil gerade nicht viel los ist,hat Chefin Julia Zeit für einen Plausch.Mit ihrer Mutter sei sie immer gern andie Küste gefahren, sagt sie. Die Nord-deutschen seien so offen, ganz andersals die Schwaben. Nun, das ist wohlAnsichtssache; Julia zumindest ist dieHerzlichkeit in Person. „Darf ich Ihnenwas mit auf den Weg geben?“, fragt sie,greift ins Wandschränkchen über derSpüle und drückt dem Reisenden einenblumenverzierten Zettel mit einem Bi-belspruch in die Hand. Vers 9,10 Predi-ger: „Alles, was dir vor die Händekommt, es zu tun mit deiner Kraft, dastu“, steht dort geschrieben. Ein Motto,das für die verbleibenden Kilometerbesser nicht passen könnte, und eineGeste, die rührt.

Julias Zettel reist im Portemonnaiemit, bis fünf Tage später – aus eigenerKraft – der granitgraue Grenzstein mitder Nummer 147 erreicht ist. Für einHappy End braucht es dann aber höhe-re Mächte, und die treten in Form desDorfjägers Bernhard in Erscheinung.Als sich hinterm Haldenwanger Eckdas plötzlich aufziehende Gewitterdonnergrollend entfaltet, fährt Bern-hard mit seinem Pick-up durchs men-schenleere Tal. „Komm, steig ein. Daswird heftig“, ruft er, nimmt den Wan-dernden mit und bald auch dessenweiter unten an einer Alm abgestelltesFahrrad. Während riesige Regentrop-fen gegen die Frontscheibe prasseln,unterhalten sich Einheimischer undReisender über die Kraft der Naturund die Winzigkeit der Menschen inden Bergen. Im Gästehaus in Oberst-dorf angekommen, ist das Ziel in dop-pelter Hinsicht erreicht – zwar nass,schmutzig und erschöpft, aber dank-bar und erfüllt.

Unvergessliches Erlebnis: Menschenleere Hügelland-schaft im Rheingau zum Sonnenuntergang

1600 Kilometerdurch Deutschland:Der Schatten desAutors in einemnorddeutschenKornfeld, der Start-punkt der Tour aufSylt, der Autor am Grenzstein zu Österreich, demEndpunkt der Reise(v. l. n. r.)

Der heilige Pillendreher ist ein kleiner,ovaler Käfer aus der Familie der Blatt-hornkäfer. Man nennt ihn bei unsMistkäfer, weil er den Dung von Pflan-zenfressern isst. Da kann man jetzt sa-gen, igitt, oder es wie die alten Ägyp-ter halten, die ihn als heiligen Gottund Symbol der Auferstehung verehr-ten. Diese Annahme beruht allerdingsauf einer Fehleinschätzung.

Im alten Ägypten waren Nachbil-dungen des Pillendrehers, auch Sca-rabaeus sacer genannt, begehrteGlücksbringer. Man nannte ihn„Anech“, der Lebendige, als Zeichenimmer neu entstehenden Lebens. Dieältesten Skarabäen stammen ausGräbern aus der Zeit um 2000 v. Chr.In Form kleiner Figuren aus Speck-stein, Ton, Edelsteinen oder sogar inGold gefasst, gab man sie als Symboldes sich erneuernden Lebens den To-ten mit in ihre Gräber, sie solltendem Verstorbenen bei seiner Wieder-auferstehung helfen.

Das Missverständnis der Ägypter,den Käfer als Symbol für Leben undAuferstehung zu sehen, liegt an seinerLieblingsbeschäftigung, dem Rollenvon Kot. Der männliche Käfer formtnach der Paarung eine Kugel aus Mist,die um einiges größer ist als er selbst.Diese Kugel rollt er mit seinen Bein-chen rückwärts zu einer geeignetenStelle, um sie dort zu vergraben. Indiese Kugel legt das Weibchen ihrebefruchteten Eier ab. Später ernährensich die Larven von dem Kot undkrabbeln irgendwann als kleine Käferaus der Erde. Da die Ägypter überse-hen hatten, dass das Weibchen die Ei-er in die Mistkugel legt, dachten sie,es würde sich um eine zeugungsloseGeburt handeln, um große Magie.

Das Rollen der Kotkugel symboli-sierte für sie den Lauf der Sonne. Imalten Ägypten dachte man damals, die

Sonne werde jeden Tag aus der Erdegeboren und wieder in ihr untergehen.Fast so wie der Käfer, der aus der Erdekrabbelte. Die Sonne gehörte damalsals Sonnengott Re zu den großenSchöpfungsgöttern, die sich auf dieWelt begaben, um sie zu erschaffen.Nachdem Re mit den anderen Götterndie Erde erschaffen hatte, zog er sichwieder zurück. Seitdem fährt er jedenTag auf der Sonnenbarke durch denHimmel und steigt nachts in dieNachtbarke, um durch das Reich derToten zurückzureisen. Am nächstenMorgen tritt er dann wieder die Spa-zierfahrt in der Sonnenbarke an. Rehat drei Gestalten: Als Chepre mitdem Körper eines Menschen unddem Kopf eines Skarabäus symboli-siert er den Sonnenaufgang und stehtfür Auferstehung. Als Harachte ver-körpert er die Mittagssonne und alsAtum die Abendsonne.

Seine positive Reputation verdanktder Skarabäus auch einem überliefer-ten Phänomen: Immer wenn er inden Häusern der Ägypter auftauchte,kam es kurz danach zu einem Hoch-wasser am Nil, worüber man sichfreute, weil es gut für die Ernte war.

Als Massenware stapeln sich Ska-rabäen heute in jedem Museum miteiner altägyptischen Abteilung bisunter die Decke. Sie gehören auch zuden beliebtesten Souvenirs des Lan-des. In allen erdenklichen Formen,vom Ring bis zum Briefbeschwerer,aus Materialien wie Lapislazuli, grü-nem Feldspat oder Quarz. Zum Ein-kaufen empfiehlt sich der Khan-El-Khalili-Markt in Kairo, den es seitdem 14. Jahrhundert gibt. VerhandelnSie dort hart und geben Sie nicht auf,bis Ihnen der Preis angemessen er-scheint. So ein Skarabäus in der Ta-sche wirkt angeblich Wunder. Unddie Erinnerung an die stetige Wieder-kehr des Lebens ist gerade in heuti-gen Zeit unbezahlbar.

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22. MÄRZ 2020 WELT AM SONNTAG NR. 12 REISEN 63

Der Mistkäferals Glücksbringer

VON KATHARINA KOPPENWALLNER

Die Autorin bereist für ihren

Berliner Laden „International

Wardrobe“ die Welt. Was sie

dort findet, stellt sie hier vor

SOUVENIR

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NW

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Der Scarabäusaus Ägyptensymbolisiert denGlauben an dieAuferstehung

ROUTE

A Es gibt nicht die eine Route durch

Deutschland, sondern so viele, wie es

Straßen gibt. Wer das ganze Land

durchqueren möchte, muss früher

oder später mindestens eines der

Mittelgebirge überwinden. Mit

Gepäck, und sofern man kein

E-Bike fährt, ist das eine sportliche

Herausforderung.

A Alternativ bieten sich Radfernwe-

ge wie der Elbe-, Mosel- oder Ostsee-

küstenradweg an, die überwiegend

durch flaches Terrain führen.

A Pauschalreiseangebote gibt es

zum Beispiel beim Allgemeinen

Deutschen Fahrrad-Club (ADFC):

www.radurlaub-online.de

NAVIGATION

A Ein Outdoor-Routenplaner wie

Komoot ist praktisch, weil die App

Wegtypen, Fahrbahnbeschaffenheit,

Steigungsgrade und Höhenmeter

anzeigt. Die Sprachansage beim

Fahren ist klar und die Navigation bis

auf wenige Meter genau.

A Das Routenprofil sollte vor dem

Start geprüft werden, denn zuweilen

plant die App Steigungen von bis zu

20 Prozent ein. Wem das zu viel ist,

der kann die Route durch Hinzufügen

von Wegepunkten anpassen. Zwar

bedeutet das meist Mehrkilometer,

aber dafür weniger Plackerei am

Berg.

ÜBERNACHTUNG

A Nicht nur Metropolen, auch Städte

wie Oldenburg, Münster, Osnabrück

oder Heidelberg sind in der Saison

gut gebucht. Daher rechtzeitig Un-

terkünfte reservieren.

A Das gilt auch für AirBnB-Privat-

zimmer und Jugendherbergen,

die bei Radreisenden besonders

beliebt sind.

AUSRÜSTUNG

A Je weniger Gepäck, umso besser:

Jedes Kilo in der Gepäckträgertasche

macht sich bemerkbar.

A Ein Muss sind nahtfreie Sport-

unterwäsche, gepolsterte Radlerho-

sen, atmungsaktive Oberbekleidung,

Regensachen und Fahrradschuhe.

A Wechselschlauch, Multiwerkzeug

und Luftpumpe sollte man immer

dabeihaben. Hat man einen Platten,

wenn möglich vor der nächsten Etap-

pe einen neuen Reserveschlauch

kaufen.

A In jede Radlerapotheke gehören

hoch dosiertes Magnesium für die

Muskulatur und eine Wund- und

Heilcreme wie Bepanthen.

A Den richtigen Sattel für eine län-

gere Tour findet man am besten im

Fachgeschäft, das die Sitzknochen

vermisst und den Sattel nach einer

Testphase wieder zurücknimmt, soll-

te er unbequem sein.

A Eine Powerbank hilft dabei, dass

der Handyakku trotz Dauernavigati-

on und GPS-Empfang nicht vor dem

Etappenziel schlappmacht.

ESSEN & TRINKEN

A Morgens ordentlich frühstücken

und mittags kohlenhydratreiche Nah-

rung essen. Unterwegs geben Bana-

nen, Studentenfutter, Müsliriegel und

Traubenzucker schnell Energie.

A Viel trinken: Bei Hitze und langen

Etappen braucht der Körper schon

mal sechs Liter Flüssigkeit. Mit zwei

Trinkflaschen je 0,75 Liter kommt

man da nicht weit, daher sollte man

sie unterwegs rechtzeitig auffüllen.

Tipps für eine Radtour

quer durch Deutschland