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1 Eine lange verborgener «anderer Islam»: der alevitische Weg © Hans-Lukas Kieser Vortrag in der Offenen Kirche Elisabethen, Mittwoch 31. Mai 2006, 19.00. Das Museum der Kulturen zu Gast in der Offenen Kirche Elisabethen Wahrlich ich schäme mich dieser Welt. Ich bringe dir meine Klage Imam Hüseyin. […] Ich bringe meine Klage dem aufrichtigen Ali Sowohl dem aufrichtigen Ali als auch Bektasch Veli. […] Ich bin Mahzuni Scherif, ich bin ein Verrückter. Zu wem soll ich gehen – Erbarmen – ich bin verwirrt – was bin ich – oh Hüseyin: Weder ein bärtiger Hodscha noch ein Mekkapilger. […] Bring diese Klage in Ordnung, oh Hüseyin. Du bist nicht Muawiye Hüseyin Hüseyin. Diese Worte stammen aus einem Lied Mahzuni Scherifs und führen uns mitten in eine zentrale Quelle der alevitischen Tradition, nämlich das Lied. Mahzuni (siehe auf Foto mit dem Saiteninstrument saz) ist vor vier Jahren verstorben. In der zweiten Hälfte des 20. Jahr- hunderts, als die traditionelle dörfliche Organisation der Aleviten vielerorts auseinander- brach, lauschten weiterhin viele Tausende säkularer Aleviten solchen Liedern. Obgleich sie nicht mehr an Gottesdiensten, cem, teilnahmen, und nicht mehr in Verbindung mit Dedes, erblichen Priestern, standen. Wir kommen darauf noch zu sprechen. Und ich werde Ihnen auch Mahzunis Lied am Ende noch von der Kassette abspielen. Zuerst möchte ich mit Ihnen etwas in die Geschichte

Eine lange verborgener «anderer Islam»: der alevitische Weg · 2017-02-20 · Hüseyins blutigen Tod und das Verdurstenlassen der Seinigen bei Kerbela – die schiitische Passionsgeschichte

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Eine lange verborgener «anderer Islam»: der alevitische Weg © Hans-Lukas Kieser

Vortrag in der Offenen Kirche Elisabethen, Mittwoch 31. Mai 2006, 19.00. Das Museum der Kulturen zu Gast in der Offenen Kirche Elisabethen

Wahrlich ich schäme mich dieser Welt. Ich bringe dir meine Klage Imam Hüseyin. […] Ich bringe meine Klage dem aufrichtigen Ali Sowohl dem aufrichtigen Ali als auch Bektasch Veli. […] Ich bin Mahzuni Scherif, ich bin ein Verrückter. Zu wem soll ich gehen – Erbarmen – ich bin verwirrt – was bin ich – oh Hüseyin: Weder ein bärtiger Hodscha noch ein Mekkapilger. […] Bring diese Klage in Ordnung, oh Hüseyin. Du bist nicht Muawiye Hüseyin Hüseyin.

Diese Worte stammen aus einem Lied Mahzuni Scherifs und führen uns mitten in eine zentrale Quelle der alevitischen Tradition, nämlich das Lied. Mahzuni (siehe auf Foto mit dem Saiteninstrument saz) ist vor vier Jahren verstorben. In der zweiten Hälfte des 20. Jahr- hunderts, als die traditionelle dörfliche Organisation der Aleviten vielerorts auseinander- brach, lauschten weiterhin viele Tausende säkularer Aleviten solchen Liedern. Obgleich sie nicht mehr an Gottesdiensten, cem, teilnahmen, und nicht mehr in Verbindung mit Dedes, erblichen Priestern, standen. Wir kommen darauf noch zu sprechen. Und ich werde Ihnen auch Mahzunis Lied am Ende noch von der Kassette abspielen. Zuerst möchte ich mit Ihnen etwas in die Geschichte

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zurückgehen, damit Sie verstehen können, aus welchen Quellen die alevitische Tradition schöpft. Für mehr als einige Einblicke reicht die Zeit heute Abend allerdings nicht. Wir haben ein langes Programm vor uns. Und Sie sollen auch genug Zeit für Fragen haben.

I. Frühislamische Aspekte II. Der spätmittelalterliche Nährboden. Die Heiligengestalt Bektaş Veli

III. Die Aleviten seit dem 16. Jahrhundert als ± geschlossene Gruppen: kızılbaş (Rotköpfe) IV. Vom isolierten dörflichen zum urbanen Alevismus im 20. Jahrhundert V. Tragende Säulen: Lied und Liebesgespräch (muhabbet)

VI. Alevitischer Weg und christlicher Glaube VII. Mahzunis Lied I Die Namen Ali, Hüseyin, Hacı Bektaş sind über die Jahrhunderte hinweg konstante Bezugspunkte alevitischer Lieder gewesen. Die Lieder fassen den geistlichen Puls, das seelische Befinden, das eigene Ergehen und politische Misstände in Wort und Musik. Mit Ali, dem Schwiegersohn von Muhammed, und Alis Sohn Hüseyin sind wir in der Frühgeschichte des Islams im 7. Jahrhundert. Und zwar auf der Seite jener schiitischen Minderheit, die nach Mohammeds Tod Ali und seine Nachkommenschaft, die ehl-i beyt, als legitime Führer der Gottergebenen, der Muslime, betrachtete. Die somit nicht wie die Sunniten die Nachfolge über die Kalifen Muawiye, Yezid und Merwan akzeptieren. «Du bist nicht Muawiye!» singt Mahzuni in unserem Lied. Muawiye war Gegner Alis und machte diesem erfolgreich das Kalifat streitig. Muawiyes Sohn Yezid war verantwortlich für Hüseyins blutigen Tod und das Verdurstenlassen der Seinigen bei Kerbela – die schiitische Passionsgeschichte – im Jahre 680. Entsprechend wichtig ist den Aleviten das Trauerfasten, matem oruçu, im Monat Muharrem des islamischen Kalenders. Die wenigsten Aleviten machen beim Fasten im Monat Ramadan mit. Gemeinsam mit den übrigen Muslimen feiern die Aleviten hingegen das Opferfest, Kurban Bayramı, 20 Tage vor dem Trauerfasten, zum Gedächtnis an Abrahams Opferung eines Tiers, anstelle seines Sohnes. Aleviten verbinden eine machtkritische Version der islamischen Frühgeschichte mit der Überzeugung, der Koran – den die Aleviten grundsätzlich respektieren – sei von den Kalifen teilweise zu deren Gunsten verfälscht worden.

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Obwohl diese Version sich mit der schiitischen deckt, ist der alevitische Weg etwas anderes als das Schiitentum. Denn er kennt keine Moscheen, keine Scharia und auch nicht die sog. fünf Säulen des Islams. II Der Boden, auf den wir den alevitischen Weg historisch und gesellschaftlich zurückführen können, ist Kleinasien im späten Mittelalter. Der Heilige Bektaş Veli ist ein zentraler Bezug dieser Tradition. Er geniesst Verehrung sowohl beim Orden, der seinen Namen trägt, dem Bektaschi-Orden, als auch bei den verschiedenen alevitischen Gruppen, türkisch-, albanisch-, kurdisch- oder anderssprachigen, und zwar unabhängig davon, ob diese organisatorisch mit dem Bektaschi-Orden verbunden waren oder nicht. Bektaş Veli war im 13. Jahrhundert in ungefähr ein Zeitgenosse von Mevlana in Konya, von Yunus Emre, dem bekannten Sufi (Mystiker) und Wanderprediger sowie von Osman, dem Begründer der osmanischen Dynastie.

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Sie sehen auf diesem Bild Bektaş Veli, der Lamm und Löwe friedlich auf seinem Schoss vereint. Es handelt sich um eine moderne Gestaltung eines alten Gemäldes, die hier aus lauter alevitischen Schlüsselworten und -sätzen zusammengesetzt ist, z.B. «barış» (Friede),

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«dostluk» (Freundschaft), «ara bul» (wer sucht, der findet), «eline, diline, beline sahip ol» (gehe verantwortlich um mit deiner Hand, deiner Zunge und deinen Lenden = Kurzfassung der alevitischen Sittenlehre). (Die Darstellung stammt vom Künstler Mithat Bektaş und ist einem Plakat für das jährliche Festival in Hacı Bektaş-Dorf entnommen.) Religiöser Grenzen und formale Gebote zu überschreiten, um eins zu werden mit Gott, ist zentral sowohl für die eher urbane, auf Persisch verfasste Mystik eines Mevlana als auch die volksreligiösere, türkischsprachige eines Yunus. Hinzu kommt das Bewusstsein, Fremdling und Pilger auf dieser Erde zu sein. Das entsprach auch dem existentiellen Bewusstsein vieler Stämme, die damals aus dem Osten nach Anatolien gelangten. Darunter türkischsprachige Stämme aus Zentralasien, die via N-Persien einwanderten, und unter ihnen der Vater Osmans, der sich im 13. Jahrnundert zwischen Bursa und Eskischehir niederliess. Der Chronist Derwisch Aşıkpaşazâde legte im 15. Jahrhundert dem zum Lokalherren gewordenen Osman – einem Secondo – diese Worte in den Mund: «Sie sind unsere Nachbarn. Wir sind als Heimatlose in dieses Land gekommen, und sie haben uns gut aufgenommen.» Dies als Antwort auf die Frage, wieso Osman die ansässigen Christen gut behandle. Zweifellos geht Mahzunis Satz Wahrlich ich schäme mich dieser Welt über das Fremdsein des Heimatlosen hinaus und drückt das noch tiefere, sufische und existentielle Befremdetsein aus. Kleinasien war damals politisch und kulturell hin- und her gerissen zwischen Byzanz, Seldschuken, Kreuzrittern und Mongolen. Lokalfürsten, wie die frühen Osmanen, konnten sich etablieren. Bektaş Veli war eine unter mehreren religiösen Persönlichkeiten bzw. Derwischen, die den Migranten, ansässigen Christen und weiteren Gruppen Halt und Orientierung boten. Glaubwürdig beim Volk war, wer über Gruppengrenzen hinaus die Herzen anzusprechen wusste. In jener Zeit wurden zahlreiche Derwischklöster, tekke oder zaviye, gegründet. Als geistige Zentren, Knotenpunkte der regionalen Wirtschaft und Suppenküchen leisteten sie Integrationsarbeit. Musik und Tanz waren Teil der Religiosität und der Gemeinschaft; dabei verschmolzen regionale Traditionen mit solchen, die die Migranten mitbrachten. Bektaş Velis wichtigste Schülerin und Nachfolgerin war eine Frau, Hatun Ana. Es gab keine Geschlechtertrennung wie bei streng religiösen Gruppen. Osmanische Chronisten bemühten sich Ende des 15. Jahrhunderts, nach der Eroberung Konstantinopels, eine direkte Verbindung von Osman und Bektaş Veli zu konstruieren. Sie

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wollten das Prestige, das mit dem Namen Bektaş Veli und seinem Orden verknüpft war, für die osmanische Dynastie gewinnen. Da es zunehmend zentralistisch und sunnitisch wurde, entfremdete sich das expansive Osmanische Reich einem grossen Teil der Bevölkerung. Aber auch wohlhabende Bauern und Städter waren unzufrieden. III Viele dieser Unzufriedenen sprach Schah Ismail, auch Hata'î genannt, an. Die Basis seiner Herrschaft waren v.a. türkischsprachige, dem Sultan entfremdete Stämme. Ismail war ein charismatischer, z. T. als mahdi (Messias) verehrter Führer des safavidischen Ordens und suchte seine Macht über den Iran inklusive Teile Ostanatoliens aufzubauen. Die Sprache, in der er religiöse Lieder schrieb, war ein einfaches Türkisch. Manche seiner Lieder sind noch in heutigen alevitischen Sammlungen anzutreffen. Sultan Yavuz Selim – Selim der Grausame, wie er in der abendländischen Tradition heisst – entschied sich definitiv für eine sunnitische Ausrichtung der osmanischen Herrschaft. Diese Ausrichtung schien ihm geeignet für sein Grossreich und zur Abgrenzung von der rasch aufsteigenden Safavidenherrschaft im Iran. Sultan Selim verfolgte jene Gruppen, die er der Sympathie mit dem «Rotkopf», dem jungen Schah Ismail von Persien, verdächtigte. Ein zeitgenössischer osmanischer Historiker spricht von 40'000 «Ketzern» und «Verrätern», die massakriert oder eingekerkert wurden – allein in den zwei Jahren noch vor der grossen Schlacht, 1514, gegen Ismail bei Çaldıran (zwischen Van und Doğubayazıt). Diese Schlacht fiel zugunsten der osmanischen Herrschaft aus. Ostanatolien blieb für die kommenden Jahrhunderte osmanisch. Bis in neueste Zeit bezeichnete der Name kızılbaş abwertend die Aleviten. Sultan Selim verfasste Gedichte in der persischen Hochsprache, seine Palastverwaltung bediente sich einer osmanischen Hofsprache mit viel mehr arabischen als türkischen Wörtern. Das ist nur aus heutiger Sicht paradox. Ismail entstammte vermutlich einer ursprünglich kurdischen Familie. Kurdische Stämme schlossen sich je nach Lage dem einen oder anderen Machthaber an. Persisch setzte sich am safavidischen Hof erst nach der Etablierung der Herrschaft durch, zugleich mit einer klar geregelten schiitischen Religion. Diese hatte nur mehr wenig mit den anatolischen Aleviten zu tun. Es kam zu weiteren kızılbaş-Aufständen und kızılbaş-Verfolgungen im 16. Jahrhundert. Pir Sultan Abdal aus Sivas, auf den manche alevitischen Lieder Bezug nehmen, scheint im frühen 17. Jahrhundert einer der letzten Führer eines solchen Aufstandes gewesen zu sein und, wie andere vor ihm, vergeblich auf Hilfe vom Schah gehofft zu haben.

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Der häufige Anruf an den Schah in alevitischen Liedern ist fortan übertragen zu verstehen: Schah bezeichnet – unabhängig vom jeweiligen Herrscher im Iran – den Mahdi, den «schönen Imam», den vollendeten Ali und Hüseyin, den Messias, dessen Kommen und Herrschaft die verfolgte marginalisierte Gemeinschaft sehnsüchtig erwartet. Muawiye und Yezid hingegen stehen in denselben Liedern für den Fürsten dieser Welt, den osmanischen Sultan und Kalifen, und seine als übel wahrgenommene Herrschaft. Solche kızılbaş-Erfahrungen ebenso wie moderne Erfahrungen klingen an, wenn Mahzuni singt: Ich hatte Dir vertraut nun ist mein Heim zerbrochen Der Sohn jenes Grausamen hat mein Leben zerrissen Hüseyin Meine zarten Kinder sind auf den Bergen geblieben Ich bringe dir meine Klage Imam Hüseyin Im 16. Jahrhundert setzte sich die gesellschaftliche Trennung zwischen Aleviten und Sunniten durch. Die Aleviten blieben in ländliche, oft bergige Regionen zurückgezogen, wo der Zentralstaat wenig Zugriff hatte. Die Berge wurden zu einem Symbol der Zuflucht und des Widerstandes. Doch das allein genügte nicht zum Überleben. Für viele Aleviten, v.a. solche in West- und Zentralanatolien, bot eine lose Verbindung mit dem Bektaschi-Orden Schutz vor Nachstellungen. Dieser Orden, der noch heute seine Zentral-Tekke bei Kırşehir hat, reorganisierte sich im 16. Jahrhundert. Trotz seiner suspekten Nähe zu kızılbaş-Sympathisanten konnte er sein altes Prestige nutzen und sich für den Staat unentbehrlich machen: Er leistete erstens Integrationsarbeit unter wirklichen oder möglichen kızılbaş und betreute zweitens weiterhin die Janitscharen-Truppe, das heisst die osmanischen Elitetruppe, die sich aus bekehrten Christenknaben vom Balkan rekrutierten. Eine Minderheit von kızılbaş distanzierte sich vom Bektaschi-Orden. So eine Gruppe im heutigen Bulgarien, die sich auf Bedreddin zurückführt, und die dem Bektaschi-Orden seine Betreuung der Janitscharen vorwirft. Andere, wie die Aleviten in der Region Dersim, waren dem Bektaschi-Orden organisatorisch nicht verbunden. Die Aleviten wurde in jener Zeit zu einer abgeschlossenen Gruppe, die nur unter sich heiratete. Anders als bei den Bektaschi bestimmte die Abstammung fortan weitgehend die Zugehörigkeit. Die Dede-Organisation; das cem, an dem beide Geschlechter teilnehmen, die Liturgie und soziale Bedeutung des cem, einschliesslich seiner gerichtlichen Funktion; verschiedene Arten des Semâ’-Tanzes; die wichtige Einrichtung der Wahlverwandtschaft,

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musahiplik; und die strikte Heimlichkeit im Umgang mit der Aussenwelt wurden zu klaren Eigenschaften der alevitischen Gemeinschaft. Moscheen gab es keine in ihren Dörfern. Das cem wurde im grössten Haus des Dorfes oder im freien abgehalten. Erst der Sultan Abdulhamid II. begann Ende des 19. Jahrhunderts eine Politik des Moscheenbaus in alevitischen Dörfern, die sich bis in jüngste Zeit fortsetzt. IV Zarte alevitische Ansätze, aus der Abgeschlossenheit an die Öffentlichkeit hervorzutreten, vom Land in Städte zu migrieren gab es im frühen 20. Jahrhundert. Aber der Erste Weltkrieg zerstörte dies und vieles mehr. Manche v.a. kurdische Aleviten folgten dem Aufruf des Bektaşi-Oberhauptes nicht, für Enver Pascha in diesen Krieg zu ziehen, der auch ihre Heimat verheerte und die armenischen Nachbarn vernichtete. In den 20er Jahren begrüssten die Aleviten hingegen, dass die junge Republik Türkei das Kalifat abschaffte, das bei ihnen ja verhasst gewesen war. Eine wirkliche Veränderung im Leben der Aleviten trat jedoch erst mit der Binnenmigration in die Städte ein, seit den 50er, und der Migration nach Europa, seit den 60er Jahren. Obwohl die Aleviten rund ein Viertel der Bevölkerung der Republik ausmachen, vertritt sie bis heute das Direktorium für religiöse Angelegenheiten nicht, das bei der Abschaffung des Kalifats eingeführt wurde und für das auch sie Steuern zahlen. Erst seit den 80er Jahren getrauen sich die Aleviten, ihr religiöses Erbe in ihrer neuen, urbanen Umgebung einzubringen – in Europa, der Türkei und auch in Basel. Sie organisieren sich neu in Vereinen und gründen Häuser für ihre Versammlungen, cemevi, um für die sozialen und religiösen Bedürfnisse ihrer Gemeinschaft zu sorgen. Sie arbeiten daran, sich und ihr Erbe neu zu verstehen und lassen das cem wieder aufleben. Parallel zur neuen Selbstfindung seit den 80er Jahren gibt es auch eine vertiefte internationale Forschung. Eindimensionale Vorstellungen vom Islam und islamischer Gesellschaft werden dadurch gründlich in Frage stellt, ebenso die Vereinnahmung alevitischer Traditionen durch moderne Ideologien, ob türkischer Nationalismus, kurdischer Nationalismus oder materialistischer Sozialismus.

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V Mit der Migration aus den Dörfern seit den 50er und 60er Jahren hat der herkömmliche Dorfalevismus an vielen Orten zu funktionieren aufgehört. In Kraft blieben jedoch das religiöse Gedicht und die Musik, Wort und Saitenklang, saz ve söz, zusammen mit dem herzlichen, ungezwungenen «Liebesgespräch», muhabbet. Das sind Säulen des alevitischen Weges jenseits organisatorischer Stukturen. Ein schönes Beispiel dafür ist Melûli Baba, der von 1892–1989 all diese Umbrüche des 20. Jhs. durchlebte und sich mit ihnen im offenen Gespräch und als Dichter auseinandersetzte. Wie Mahzuni stammt Melûli aus dem Kreis Afşin der Provinz Maraş, anders als Mahzuni jedoch aus einer kurdischen, kurmanc-sprachigen Familie.

Als junger Mann hatte sich Melûli von seinem Vater, einem einflussreichen Ağa, von seinem Dorf, das ihm verkrustet vorkam, und von den Dedes, die ihm zu unwissend waren, distanziert. Aber mit Freunden und seiner Familie pflegte er intensiv einen alevitischen Geist. Und die Lieder, die er schrieb, verbreiteten alsbald seinen Ruf weit über seine Heimatregion hinaus. (Die Fotos und Gedichte Melûlis sind diesem Buch entnommen: Melûli Divanı ve Aleviliğin, Tasavuffun, Bektaşiliğin Tarihçesi, hg. von H. Erbil und L. Özpolat, Ankara, o. J.) Seine Lieder tragen die Botschaft von der Liebe und Menschlichkeit, die Botschaft davon, dass Gott im Herzen des Menschen wohnt und der Mensch sein Bild ist, weiter: İnsanız insana saygı bizdedir Muhabbet ehliyiz sevgi bizdedir Gerçek vicdandaki duygu bizdedir Bırakmaz insafı elimiz bizim Wir sind Mensch, bei uns gilt menschliche Rücksicht Wir sind die Gemeinde des Liebesgesprächs, bei uns ist Liebe

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Bei uns hat die Empfindung des Gewissens Raum Unsere Hand gehorcht der gerechten Einsicht. […] Melûliyim kıblem kâmil insandır Kâmil insan kalbi beyt-i rahmandır Ich bin Melûli, meine Gebetsrichtung [kıble] ist der vollendete Mensch Des vollendeten Menschen Herzen ist das Haus Gottes Ähnlich Mahzuni: İnsanlar Kâbe misali Gören derviş seven hacı. Der Mensch ist das Mass der Kaaba Wer ihn erkennt ist Derwisch wer ihn liebt Mekkapilger Nochmals Mahzuni: Adem olan adem sever Adalete boyun eğer Kul hakkı dünyayi değer Biz cana kıyar değiliz. Wer Mensch ist liebt die Menschen Beuge dich der Gerechtigkeit Des Gottesknechten [Menschen] Recht wiegt die Welt auf Wir lassen nicht zu, dass Leben versehrt wird Die alevitische Tradition räumt Ali gerne den Vorrang vor Muhammed ein, so auch in diesem Gedicht Melûlis über Muhammeds Himmelfahrt: Melûlim Muhammed miraca vardı İzzetle hürmetle içeri girdi Kaldırdı perdeyi Aliyi gördü Aşikâr oldu rahmanımız bizim. Ich bin Melûli, Muhammed gelangte zur Himmelfahrt Mit Würde und Respekt trat er hinein Er hob den Vorhang auf und sah Ali Offenbar wurde ihm unser Gott. Dann erst – nachdem ihm dieses Offenbarung zuteil geworden war – habe Muhammed an der himmlischen Versammlung der vierzig Heiligen, dem Kırklar Meclisi, teilnehmen dürfen. Das Kırklar Meclisi gilt als «Ur-cem», nach dessen Vorbild jedes cem gefeiert wird.

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VI Die Brücken hin zum christlichen Glauben interessieren, zumal wir hier in einer Kirche sind. Auf das stark Messianische habe ich schon hingewiesen. Die gottgleiche Stellung Alis ähnelt derjenigen von Christus, dem sowohl im Geist Präsenten als erst noch – wie der verborgene Imam – in Macht Kommenden. Nach Melûli ist es «der Helfer Ali» gewesen, der Muhammed den Koran eingeflüstert hat. Ali habe von Anfang an, vor der Schöpfung, schon existiert und, in Einheit mit dem Schöpfer, den Kosmos, die Erde und den Menschen erschaffen.

Ali sei eins mit Jesus, äusserten sich verschiedene Dedes, und sein Geist habe die Propheten zuvor erfüllt. Zu Ali wird gebetet wie zum Parakleten, dem Tröstergeist von Jesus. Melûli: Ali sevmek muradımız kastımız O yarattı bizi, odur dostumuz Her zaman her yerde odur üstümüz Esiger mürüvvetkânımız bizim Ali zu lieben ist unser Wunsch und Ziel Er schuf uns, er ist unser Freund Jederzeit, überall ist er über uns bewahrt uns, unsere Quelle der Menschlichkeit. Die Tradition des saz ve söz steht in Querverbindung mit armenischer Lyriktradition. Melûli selbst, der ja noch vor dem Ersten Weltkrieg aufwuchs, hatte enge armenische Freunde. Er schreibt: «Mein Vater gab mich in eine armenische Familie in Afşin, wo ich die armenische Schule besuchte. Meine erste spirituelle Nahrung [tasavvuf gıdamı] empfing ich von dieser Familie. Die Frau des Hauses besass wirklichen Glauben, während ihr Gatte Penes ein abergläubischer Mensch und [oberflächlicher] Kirchgänger war. […] Ich habe in der armenischen Schule Arabisch und Armenisch, Mathematik und Literatur gelernt und Gelegenheit gehabt, die Religionen zu erforschen; aber den wahrhaften Glauben und die wahrhafte Denkart hat mir diese Frau beigebracht.» In alevitischen Liedern ist mehrfach von Jesu Kreuzigung die Rede, dies im Widerspruch zur Version des Korans, aber natürlich im Einklang mit dem grossen Stellenwert, den das Leiden des Gerechten im Falle Kerbelas geniesst. Das Hinblicken und unabdingbare sich Beugen, secde-i âdem, vor dem vollendeten Menschen, dem insân-i kâmil ist ein zentrales Element vieler Liedern. Das erinnert an den Menschensohn des Evangelium als dem Weg zu Gott.

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VII Hören Sie sich zum Schluss Mahzunis Lied an – ein inniges Gebet, in dem der Sänger wie Hiob mit Gott rechtet, sich auf Hüseyin bezieht und seine Klage mit quälenden Identitätsfragen verbindet. Vallahi utandım ben bu dünyadan Şikayetim sana İmam Hüseyin Hüseyin Eski dostlar şimdi düşman kesildi Şikayetim sana İmam Hüseyin Hüseyin Wahrlich ich schäme mich dieser Welt Ich bringe dir meine Klage Imam Hüseyin Alte Freunde haben sich zu Feinden gemacht Ich bringe dir meine Klage Imam Hüseyin Yandım aman Hüseyin Hüseyin Öldüm aman Hüseyin Hüseyin Yandım aman Hüseyin Hüseyin Ich verzehre mich ach Hüseyin Ich bin tot ach Hüseyin Ich verzehre mich ach Hüseyin Şikayetim vardir Merdan Ali’ye Hem Merdan Ali’ye Bektas Veli’ye Hüseyin Hüseyin Hüseyin Evvel akıllıydım döndüm deliye Şikayetim sana İmam Hüseyin Ich bringe meine Klage dem aufrichtigen Ali Sowohl dem aufrichtigen Ali als auch Bektasch Veli Hüseyin Hüseyin Hüseyin Zuvor war ich vernünftig jetzt bin ich verrückt geworden Ich bringe dir meine Klage Imam Hüseyin Yandım aman Hüseyin Hüseyin Öldüm aman Hüseyin Hüseyin Ich verzehre mich ach Hüseyin Ich bin tot ach Hüseyin Sana güvenmiştim yuvam dağıldı O zalimin oğlu ömrümü böldü Hüseyin Körpe yavrularım dağlarda kaldı

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Şikayetim sana İmam Hüseyin Hüseyin Ich hatte dir vertraut nun ist mein Heim zerbrochen Der Sohn jenes Grausamen hat mein Leben zerrissen Hüseyin Meine zarten Kinder sind auf den Bergen geblieben Ich bringe dir meine Klage Imam Hüseyin Yandım aman Hüseyin Hüseyin Öldüm aman Hüseyin Hüseyin Ich verzehre mich ach Hüseyin Ich bin tot ach Hüseyin Mahzuni Serif’im ben bir deliyim Kime gidem kurban şaştım neciyim Hüseyin Ben ne kırpık hoca ne de hacıyım Şikayetim sana İmam Hüseyin Hüseyin Ich bin Mahzuni Scherif ich bin ein Verrückter Zu wem gehen Erbarmen ich bin verwirrt was bin ich Hüseyin Ich bin weder ein bärtiger Hodscha noch ein Mekkapilger Ich bringe dir meine Klage Imam Hüseyin Yandım aman Hüseyin Hüseyin Öldüm aman Hüseyin Hüseyin Ich verzehre mich ach Hüseyin Ich bin tot ach Hüseyin Yiğit isen bu davayı pakla Hüseyin Muaviye degilsin Hüseyin Hüseyin Wenn du ein Held bist bring diese Klage in Ordnung Hüseyin Du bist nicht Muawiye Hüseyin Hüseyin