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11. Literatur Einleitung: Eine Literatur des Konsenses und der Autonomie - Für eine Topographie der Stimmen 51 Thomasin von Circlaria (1185-1238?) hat von sich geschrieben: »Tiutschiu zunge, enphähe wol, / als ein guot husvrouwe sol, / disen dinen welhschen gast / der din ere minnet vast.« (>Deutsche Sprache, nimm, / wie es sich für eine gute Hausherrin gehört, / diesen deinen welschen Gast gut auf,/ der dein Ansehen sehr liebt.<) Nicht anders hat sich Elias Canetti (1905-1994) im Jahr 1969 vor der Bayerischen Akademie der Schönen Künste definiert: »Ich bin nur ein Gast in der deutschen Sprache, die ich erst mit acht Jahren erlernt habe«. Und dann gab es u. a. den gebürtigen Franzosen Louis Charles Adelaide de Chamisso (1781-1838), der durch Peter Schlemihl's wun- dersame Geschichte und seine Balladen zum deutschen Nationaldichter Adelbert von Chamisso wurde. Ferner hat Theodor Fontane (1819-1898) in seinem autobio- graphischen Werk Meine Kinderjahre gezeigt, wie im Lauf der Generationen die Zweisprachigkeit unter den Hugenotten in Brandenburg einem deutschsprachigen jedoch bikulturellen Gedächtnis gewichen ist. Unter den Autor/innen des 20. Jahr- hundert läßt sich über die Sprachentscheidung z. B. von Franz Kafka, Paul Anczel (alias Paul Celan), Rose Ausländer und Jurek Becker nachdenken. Solche Autor/innen und ihre Werke weisen auf eine interkulturelle Kontinuität innerhalb der deutsch- sprachigen Literatur hin, die nach wie vor auf eine kongruente Auslegung wartet. Dennoch läßt sich schon heute behaupten, daß es die deutsche Literatur nie als reine >Monokultur< gegeben hat. Das literarische Phänomen, das im folgenden >interkulturelle Literatur< genannt wird, ist also seinem sprachlichen Wesen nach so alt wie die deutsche Literatur selbst. Das Neue an dieser interkulturellen Literatur ist jenseits der Sprachentscheidung der einzelnen Autor/innen zu suchen. Vordergründig handelt sich um eine kulturüber- greifende und vielsprachige Literaturbewegung. Dies hängt mit folgenden Fakten zusammen: die Einwanderung aus dem Mittelmeerraum (ab 1955), das politische Exil aus Osteuropa (ab 1968), aus Lateinamerika (ab 1973) und aus Ländern des Nahen Ostens wie Libanon, Syrien und Iran im Lauf der 70er Jahre sowie eine intensivierte Repatriierung deutschstämmiger Familien aus Ost- und Südosteuropa in der zweiten Hälfte der 80er Jahre. Für die Auswanderung aus Fernost sowie aus dem schwarz- afrikanischen Kulturraum sind unterschiedliche Ursachen zu berücksichtigen. In knapp fünf Jahrzehnten hat diese kulturübergreifende Literatur eine sprachliche Vielfalt gewonnen, die es im deutschen Kulturraum bisher noch nicht gegeben hat.

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11. Literatur

Einleitung: Eine Literatur des Konsenses und der Autonomie - Für eine Topographie der Stimmen

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Thomasin von Circlaria (1185-1238?) hat von sich geschrieben: »Tiutschiu zunge, enphähe wol, / als ein guot husvrouwe sol, / disen dinen welhschen gast / der din ere minnet vast.« (>Deutsche Sprache, nimm, / wie es sich für eine gute Hausherrin gehört, / diesen deinen welschen Gast gut auf,/ der dein Ansehen sehr liebt.<) Nicht anders hat sich Elias Canetti (1905-1994) im Jahr 1969 vor der Bayerischen Akademie der Schönen Künste definiert: »Ich bin nur ein Gast in der deutschen Sprache, die ich erst mit acht Jahren erlernt habe«. Und dann gab es u. a. den gebürtigen Franzosen Louis Charles Adelaide de Chamisso (1781-1838), der durch Peter Schlemihl's wun­dersame Geschichte und seine Balladen zum deutschen Nationaldichter Adelbert von Chamisso wurde. Ferner hat Theodor Fontane (1819-1898) in seinem autobio­graphischen Werk Meine Kinderjahre gezeigt, wie im Lauf der Generationen die Zweisprachigkeit unter den Hugenotten in Brandenburg einem deutschsprachigen jedoch bikulturellen Gedächtnis gewichen ist. Unter den Autor/innen des 20. Jahr­hundert läßt sich über die Sprachentscheidung z. B. von Franz Kafka, Paul Anczel (alias Paul Celan), Rose Ausländer und Jurek Becker nachdenken. Solche Autor/innen und ihre Werke weisen auf eine interkulturelle Kontinuität innerhalb der deutsch­sprachigen Literatur hin, die nach wie vor auf eine kongruente Auslegung wartet. Dennoch läßt sich schon heute behaupten, daß es die deutsche Literatur nie als reine >Monokultur< gegeben hat.

Das literarische Phänomen, das im folgenden >interkulturelle Literatur< genannt wird, ist also seinem sprachlichen Wesen nach so alt wie die deutsche Literatur selbst. Das Neue an dieser interkulturellen Literatur ist jenseits der Sprachentscheidung der einzelnen Autor/innen zu suchen. Vordergründig handelt sich um eine kulturüber­greifende und vielsprachige Literaturbewegung. Dies hängt mit folgenden Fakten zusammen: die Einwanderung aus dem Mittelmeerraum (ab 1955), das politische Exil aus Osteuropa (ab 1968), aus Lateinamerika (ab 1973) und aus Ländern des Nahen Ostens wie Libanon, Syrien und Iran im Lauf der 70er Jahre sowie eine intensivierte Repatriierung deutschstämmiger Familien aus Ost- und Südosteuropa in der zweiten Hälfte der 80er Jahre. Für die Auswanderung aus Fernost sowie aus dem schwarz­afrikanischen Kulturraum sind unterschiedliche Ursachen zu berücksichtigen. In knapp fünf Jahrzehnten hat diese kulturübergreifende Literatur eine sprachliche Vielfalt gewonnen, die es im deutschen Kulturraum bisher noch nicht gegeben hat.

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PoLiKunst-Tagung "Ziele der Betroffen­heit« am 25.126. Sep­tember 1982 im Cafe des Theaters am Turm in Frankfurt/Main; auf dem Podium von links: Rafik Schami, Gino Chiellino, ~inasi Dik­men und Suleman Taufiq.

Inzwischen ist vor allem der deutschsprachige Teil dieser interkulturellen Literatur in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Angesichts der Vielzahl der geschriebenen Sprachen, die kein leichtes Durchkommen erlaubt, ist dies verständlich, wenngleich es auch den Blick einschränkt und zu falschen Einschätzungen führen mag. Daher ist es an der Zeit, auch den Autor/innen gebührende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die im Kontext der eigenen Sprachkultur Wesentliches zur ästhetischen und inhaltli­chen Komplexität dieser Literaturen beigetragen haben. Zwei Gründe sprechen für das Vorhaben: Nur eine Darstellung, die die zwei Sprachebenen in der jeweiligen kultur-ethnischen Minderheit berücksichtigt, kann die nötige Klarheit über die Rolle der einzelnen Autor/innen erbringen. Der muttersprachlichen Literatur kommt insbe­sondere deshalb eine zentrale Bedeutung zu, da sie die interkulturelle Literatur in der Bundesrepublik begründet hat. Mit ihren ersten Werken haben die muttersprachli­chen Autor/innen die Grundtendenz für die gesamte Entwicklung festgelegt. Indem gerade diese Autor/innen an die Öffentlichkeit gelangen, wird die bisherige Wahr­nehmung korrigiert, vervollständigt und zwangsläufig von jeder deutschsprachigen Priorität befreit.

Um die sprachliche und kulturelle Tragweite dieser interkulturellen Literatur zu erfassen und sie den Leser/innen zugänglich zu machen, reicht es nur bedingt aus, im Bereich der kultur-ethnischen Minderheiten synchron und zweisprachig vorzugehen. Zwar liegen die Anfänge der interkulturellen Literatur bei den Minderheiten der Einwanderer, aber ihre Entwicklung ist ebenso von Exil und Repatriierung geprägt. Zudem haben Arbeitsmigration, Exil und Repatriierung eine existentielle Dimension, die sich dem Blickwinkel des Aufnahmelands nicht erschließt. Für die Bewohner/ innen des Aufnahmelands sind Arbeitsmigration, Exil und Repatriierung drei ver­schiedene Wege, die das gleiche Ziel verfolgen, nämlich die Niederlassung innerhalb einer wohlhabenden und beschützenden Gastgesellschaft. Aus dem Blickwinkel der Arbeitsmigranten, Exilierten und Repatriierten gestalten sich die Wege und die Ziele als ein vielschichtiges Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Zukunft. Da Ver-

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Im Saal: von links: Giuseppe Fiorenza DiII'Elba; entlang der Wand zwei Vertreter des Con-Verlags (Bremen); unter dem Lautsprecher: Franco Biondi, rechts von ihm: Hülya Özkan und Jose F. Oliver (kaum zu er­kennen).

gangenheit und Zukunft unterschiedlichen Kulturräumen zugeordnet werden, geraten Raum und Zeit aus dem Gleichgewicht und erhalten unterschiedliche Stellenwerte. Während die Aufnahmegesellschaft die Priorität des Ortes hervorhebt, negiert sie die mitgebrachte Vergangenheit der Ankommenden. Dem gegenüber setzen die An­kommenden die Kontinuität ihrer Vorgeschichte, d. h. die Priorität der Zeit. Diese Kerndiskrepanz erweist sich als besonders ausschlaggebend bei der Gestaltung der Werke sowie bei deren Rezeption innerhalb der Gastgesellschaft. Das Erkennen dieser gestaltgebenden Kerndiskrepanz bildet die entscheidende Voraussetzung für die Ausle­gung der Werke und trägt dazu bei, die kulturenübergreifende Komplexität dieser Literatur zu erfassen.

Für die Zusammenführung der räumlichen und zeitlichen Dimension der interkul­turellen Literatur ist das Modell einer ,Topographie der Stimmen< besonders nützlich und führt weiter als ein rein chronologischer Abriß. Eine vollständige Topographie der Stimmen kann wiederum nur mit Hilfe von grenzüberschreitenden Bezugs­systemen entworfen werden. Sie erlauben es, gerade die Autor/innen zu berück­sichtigen, die außer halb der Bundesrepublik ihre bundesrepublikanische Erfahrung dargestellt haben. Durch die Erweiterung der Raum-Zeit-Dimension jenseits der bundesdeutschen Grenze können Werke einbezogen werden, die in anderen literari­schen Kontexten entstanden sind. Hierzu zählen Werke von Autor/innen, die vorüber­gehend im Lande tätig waren und später darüber geschrieben haben; so z. B. der türkischsprachige Roman Türkler Almanyada (Die Türken in Deutschland, Istanbul 1966) von Bekir YlldlZ, der Gedichtband Lingua e Dialetto (Nuoro 1971) des Sarden Antonio Mura, die Reportage des griechischen Journalisten Giorgos Matzouranis Man nennt uns Gastarbeiter (Athen 1977). Um die grenzüberschreitende Gesamtheit der interkulturellen Literatur zu erfassen, sollten auch Werke wie Tutti dicono Germania Germania. Poesie dell'Emigrazione des Italieners Stefano Vilardo (Milano 1975), Theo­dula, leb wohl der Griechin Lili Sografou (Athen 1976) oder Gost (Gast, Belgrad 1979) von Dragi BugarCic als extreme literarische Ergebnisse einbezogen werden, da sie von Autor/innen verfaßt worden sind, die keine Einwanderer waren.

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Eine Topographie der Stimmen, die chronologische Abläufe und sprachlich-in­haltliche Zusammenhänge des gesamten Phänomens erfassen soll, bedarf einer ver­bindlichen Ausgangsposition. Und diese lautet: Bei dem betreffenden literarischen Phänomen handelt es sich um eine kulturen übergreifende Literatur, die aus Werken und Autor/innen besteht. Die Betrachtung der Werke unabhängig von den Bio­graphien der Autor/innen ist deswegen notwendig, weil im Kontext von Arbeitsmigra­tion, Exil und Repatriierung Werke entstehen, die zu keiner thematischen Kontinuität bei ihren Verfassern führen. Dies kann aus existentiellen Zwängen geschehen, für den Fall, daß der Autor Land und Inhalt seines Schreibens verläßt, oder weil er seine schriftstellerischen Interessen, aus welchem Grund auch immer, neu definiert, oder weil der Literaturbetrieb vor Ort kein Interesse an seinem Werdegang zeigt. Zu dieser Art von Werken gehären z. B. die Reportage bzw. der Roman des italienischen Gastarbeiters Gianni Bertagnoli Arrivederci, Deutschland! (Stuttgart 1964), die Auto­biographie der jugoslawischen Arbeiterin Vera Kamenko Unter uns war Krieg (Berlin 1978), der Erstling von Akif Pirin~ci Tränen sind immer das Ende (München 1980), der Erzählband der exilierten Russin Raissa Orlowa-Kopelew Die Türen öffnen sich langsam (Hamburg 1984) und der englischsprachige Roman Der verkaufte Traum (Stuttgart 1991) der ghanesischen Autorin Amma Darko. Die innere Zusammen­setzung der einzelnen Stimmen dieser Literatur ist unterschiedlich. Einige Stimmen haben sich als »monophon«, wenn auch interkulturell, und andere haben sich als polyphon entwickelt.

Am Anfang artikulierte sich diese literarische Bewegung polyphon. Sie setzte sich aus den nationalen Sprachen der kultur-ethnischen Minderheiten zusammen, die seit 1955 eingewandert sind. Innerhalb der italienischen Minderheit haben sich u. a. folgende Autor/innen für ihre Herkunftssprache entschieden: Giuseppe Fiorenza Dill'Elba, Marisa Fenoglio, Giuseppe Giambusso und Salvatore A. Sanna. Für die türkische Minderheit sind die folgenden Autor/innen als Beispiel zu nennen: Aras Ören, Güney Dal, Aysel Özakm und Habib Bekta~. Zugleich haben Antonio Her­nando, Kostas Karaoulis und Irena Vrkljan jeweils innerhalb der spanischen, griechi­schen und der jugoslawischen Minderheit für die Kontinuität der mitgebrachten Sprachen votiert.

Die zweite Stimme ist die Stimme aller Autor/innen aus den Minderheiten, die sich für die deutsche Sprache als Mittel ihrer Kreativität entschieden haben. Zu ihnen gehären u. a. Vera Kamenko, Zvonko Plepelic und Srdan Keko aus dem ehemaligen Jugoslawien; Franco Biondi, Gino Chiellino, Lisa Mazzi und Fruttuoso Piccolo aus Italien; Luisa Costa Hälzl aus Portugal sowie Yüksel Pazarkaya, Emine Sevgi Özdamar, ~inasi Dikmen, Kemal Kurt u. a. aus der Türkei.

Die dritte Stimmen ist die deutsche Stimme jener jüngeren Autor/innen, die auf grund ihrer Sozialisation und ihrer schulischen Erziehung Deutsch als Mutter­sprache in der Schule und im sozialen Umfeld sprechen, jedoch nicht in der fami­liären Umgebung. Hier sind als Beispiel zu nennen: Jose F. A. Oliver mit andalusischer Herkunft, Zehra ~lrak, Zafer ~enocak und Feridun Zaimoglu mit türkischer Her­kunft, Aglaia Blioumi mit griechischer Herkunft, Harris Dzajic mit bosnischer Her­kunft und Sonja Guerrera mit italienischen Herkunft.

Die vierte Stimme im Bereich der Einwanderung ist von Deutschland aus nur

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schwer zu vernehmen. Sie lebt in Kontexten anderer nationaler Literaturen weiter. Hierzu gehören zurückgekehrte Autor/innen, die zwar Deutschland aber nicht die thematische Zugehörigkeit zur Einwanderung aufgegeben haben, wie der Italiener Giuseppe Fiorenza Dill'Elba oder der Grieche Napoleon Lasanis. Extreme Beispiele sind jene Autor/innen, die das erste Einwanderungsland verlassen und in der Sprache eines zweiten Einwanderungslands Werke verfassen, die in unmittelbarer Beziehung zu ihren Werken aus der Muttersprache oder aus der Sprache des ersten Ein­wanderungslands entstehen. Dazu gehören Bekir YIldlz und Antonio Mura. Und dies trifft auf den englischsprachigen Roman Faith, Lust and Airconditioning der türkisch­und deutschschreibenden Autorin Aysel Özakm zu. Der Roman ist erstmalig als Glaube, Liebe, Aircondition in München (1991) erschienen. Und es gibt Autor/innen, die nie in Deutschland waren, und dennoch über Einwanderung in Deutschland schreiben, indem sie über die Auswanderungsgeschichte der eigenen Familie be­richten. Dies macht z. B. der italo-kanadische Autor Romano Perticarini aus Vancou­ver, der in seinem italienischsprachigen Werk Via Diaz (Montreal 1989) auf die Erfahrung seines Vaters im Deutschland der 60er Jahre eingeht.

Bei den Autor/innen, die in Deutschland politisches Asyl suchen, ist gleichfalls eine polyphone und eine monophone, d. h. deutschsprachige Stimme zu vernehmen. Die polyphone besteht aus allen mitgebrachten Sprachen von politischen Flüchtlingen aus dem Mittelmeerraum, Osteuropa, Lateinamerika und aus der ehemaligen Sowjet­union. Diese polyphone Stimme ist aus zwei Gründen schwer zu orten. Die Exilwerke erscheinen in der Regel bei Verlagen, die sich nicht unbedingt in dem Land befinden, in dem die Autor/innen Aufnahme gefunden haben. Zusätzlich werden Exilwerke als interne Auseinandersetzung mit der Opposition im Herkunftsland entworfen und daher selten übersetzt. Man vermutet zum Teil einen schwierigen Zugang zu den Inhalten, und zum Teil kaum Interesse für politische Vorgänge, die die deutsch­sprachigen Leser/innen nicht direkt berühren. Dies trifft z. B. auf die Mehrheit der international bekannten russischen Autor/innen zu, die in der Bundesrepublik lebt und auf Russisch schreibt (s. Kap. 11.8). Leichter zu vernehmen war von Anfang an die deutschsprachige Stimme der Exilautor/innen, die schon vor ihrer Ankunft hier im Lande bekannt waren oder stellvertretend für ihre Landsleute Adressat der politischen Solidarität gegenüber ihrem Land waren. Das trifft besonders für deutschsprachige oder prominente Autor/innen wie Ota Filip aus Tschechien, Antonio Skarmeta aus Chile, Said aus dem Iran, György Dalos aus Ungarn und für den Syrer Adel Karasholi in der ehemaligen DDR zu.

Eine besondere Schnittstelle zwischen politischem Exil und Einwanderung hat sich auf Grund der politischen Entwicklung in klassischen Auswanderungsländern wie Griechenland, Spanien, Portugal und Türkei ergeben. Sei es, weil Autor/innen aus diesen kultur-ethnischen Minderheiten Werke verfaßt haben, in denen die Grenze zwischen Arbeitsemigration und Exil aufgehoben worden ist, sei es, weil exilierte Autor/innen sich inhaltlich der Arbeitsmigration der eigenen Minderheit zugewandt haben. Für den ersten Fall sind zu erwähnen: der Grieche Chrisafis Lolakas mit dem Roman Soweit der Himmel reicht (Köln 1985) und der Spanier Antonio Hernando mit dem Gedichtband Emigration/Emigraci6n (Berlin 1989), aber auch der Libanese Jusuf Naoum, der in seinem Erzählband Der Scharfschütze (Fischerhude 1983) seine Erfah-

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rungen aus dem Gastarbeiterleben mit den Erfahrungen aus dem Bürgerkrieg im Libanon zusammenführt. Einen extremen Fall stellt der Zaza-Kurde Kemal Astare (geb. 1960) aus der Türkei dar, da er auf zaza-kurdisch schreibt und seine Gedichte (Tausend Wogen im Herzen / Hasar Denzige Zerre Mi De, 1992) und Erzählungen (Cer Hard, Hor Asmen; 1994 in Stockholm bzw. in Istanbul veröffentlicht). Für den zweiten Fall stehen der portugiesischsprachige Lyriker Luciano Caetano da Rosa und der türkischsprachige Erzähler und Romancier Fakir Baykurt. In der ersten Hälfte der 90er Jahre wiederholte sich das Gleiche, jedoch auf verwirrende Weise, innerhalb der Minderheiten aus dem ehemaligen Jugoslawien.

Einzigartig ist die Stimme jener Autor/innen, die weder zu den politischen Flücht­lingen noch zu den klassischen Einwanderern gehören. Ihr Weg nach Deutschland hatte besondere Gründe, entweder weil sie aus Ländern stammen, in denen weder politische noch ökonomische Auswanderung vorkommt, oder weil sie auf Grund ihres Lebenslaufs davon nicht berührt worden sind. Dazu gehören Cyrus Atabay aus Iran, die Japanerin Yoko Tawada, Libuse Monikova aus Tschechien, der Tuviner Galsan Tschinag aus der Mongolei, aber auch Rajvinder Singh aus Indien und der US­Amerikaner John Linthicum. Sie alle haben sich für die Sprache des Gastlandes entschieden.

Die achte Stimme stammt aus dem schwarzafrikanischen Kulturraum. Sie ist per se vielsprachig, weil in den Herkunftsländern neben den National- oder Regionalspra­chen wie Swahili oder Ibo, infolge der politischen Landesvergangenheit auch Englisch, Französisch oder Portugiesisch geschrieben wird. Die Tradition der Vielsprachigkeit wird in der Bundesrepublik fortgesetzt. Exilautoren wie Ebrahim Hussein und Said Khamis aus Tansania schreiben weiterhin Swahili genauso wie Senouvo Agbota Zinsou weiterhin Französisch als Sprache seiner Kunst pflegt. Unter diesen Autoren haben einige sich auch für die Sprache der Aufnahmegesellschaft entschieden, näm­lich EI Loko aus Togo, Chima Oji aus Nigeria, Thomas Mazimpaka aus Ruanda und Daniel Mepin aus Kamerun. Zur seIben Zeit verfaßt Elias Anwuantudo Dunu aus Tschad englischsprachige Lyrik, Alain Patrice Nganang aus Kamerun schreibt Ge­dichte auf Französisch, und Paul Oyema Onovoh aus Nigeria setzt in seiner Lyrik alle Sprachen ein, die ihm zur Verfügung stehen: die Muttersprache Ibo, Englisch, Franzö­sisch und Deutsch.

Die neunte Stimme setzt sich aus den Sprachen zusammen, die rußlanddeutsche SchriftstellerIinnen bei ihrer Repatriierung mitgebracht haben: Deutsch und Russisch. Die zwei Sprachen können je nach Autor getrennt oder zusammen auftreten. Für die Mehrheit der Autor/innen ist Deutsch die Sprache der Kreativität, darunter Lia Frank oder Viktor Heinz, das Russische hingegen ist die Sprache z. B. der Gedichte von Agnes Giesbrecht. Vor allem ist das Russische die Sprache, in die ihre Werke am meisten übersetzt worden sind und die Sprache des interkulturellen Austausches vor und nach der Repatriierung. In besonderen Fällen wie bei Waldemar Weber liegt eine operative Zweisprachigkeit vor: Deutsch ist die Sprache seiner Lyrik und Russisch die Sprache der Literaturvermittlung. Nicht zu vergessen ist die vorläufig kaum hörbare Stimme jener Schriftsteller/innen, die mit anderer kultureller Herkunft ebenfalls aus Osteuropa kamen. Sie sind im Strudel der Auswanderung nach Deutschland geraten und schreiben weiterhin in ihrer mitgebrachten Sprache.

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Soweit zur Topographie der Stimmen, die dazu beitragen soll, die äußeren Merkmale dieser interkulturellen Literaturbewegung zu beschreiben. Eine solche Betrachtungs­weise stellt kulturgeschichtliche Auslöser und inhaltliche Schwerpunkte in den Vor­dergrund und verliert nicht die jeweiligen Sprachen aus dem Blick. An dieser Topographie der Stimmen läßt sich z. B. deutlich ablesen, daß die Literaturbewegung durch die Einwanderung aus dem Mittelmeerraum in Gang kam und daß den Anfängen im Alltag der Gastarbeiter wellenartige Erweiterungen im Bereich der Sprachen, der Inhalte und der Textsorten gefolgt sind. Dennoch wäre es verfehlt, nach einer einheitsstiftenden Homogenität in dieser Literatur zu suchen, gerade weil sie eine externe Hilfskonstruktion ist, die sich nicht in ein analytisches Verfahren um­wandeln läßt. Daher verfährt dieser Band anders als die germanistische Literaturwis­senschaft der 80er Jahre, die die Deutschsprachigkeit zum Kernauslöser der gesamten Bewegung erhoben hat (s. Kap. IY.2).

In den einzelnen Kapiteln wird ein chronologisches Vorgehen angestrebt, um Her­kunftskultur, Sprachoption und Themen so differenziert wie möglich zu erfassen. Im Mittelpunkt der ersten sechs Kapitel, die dieser Einführung folgen, wird eine Rekon­struktion der literarischen Prozesse innerhalb der jeweiligen kultur-ethnischen Min­derheit stehen. Im Zuge der Arbeitseinwanderung haben sich sechs Minderheiten gebildet, die hier chronologisch eingeführt werden: die italienische, die griechische, die spanische, die türkische, die portugiesische und die Minderheiten aus dem ehemaligen Jugoslawien.

Bei der Rekonstruktion der literarischen Prozesse werden kollektive sowie in­dividuelle literarische Aktivitäten unabhängig von der Sprache, in der sie geschrieben sind, gleichermaßen berücksichtigt. Ferner werden die Initiativen vorgestellt, die besonders zur Entstehung und zur Verbreitung der Werke beigetragen haben, dar­unter literarische Zirkel und Wettbewerbe, Zeitschriften und Verlage.

Die darauffolgenden sechs Kapitel sind Kultur- bzw. Sprachräumen gewidmet, wo politische Machtstrukturen und Umwälzungen Exilwellen oder Repatriierungspro­zesse ausgelöst haben. Zuflucht in Deutschland fanden beispielsweise Autor/innen aus dem vorderen Osteuropa, aus Iran, aus Lateinamerika mit seinen zwei Sprachkon­texten und aus dem arabischen Kulturraum. Die Repatriierungsprozesse betreffen Autor/innen aus den Republiken der ehemaligen Sowjetunion. Exil und Repatriierung treffen jedoch nicht auf alle in der Bundesrepublik wirkenden Autor/innen zu, die aus den genannten Kultur- und Sprachräumen kommen. Einige von ihnen würden mit Recht behaupten, daß sie den eigenen Kulturraum aus freiem Willen verlassen haben. Der Aufbau dieser Kapitel weicht zwangsläufig von dem der ersten Kapitel ab. Dies ist notwendig, weil Ausgangsposition und Zielsetzungen der exilierten oder repatriierten Autor/innen in unterschiedlichen Bezugssystemen eingebettet sind, die weder unter­einander noch mit denen der Arbeitsmigration vergleichbar sind.

Es folgen dann drei Kapitel über den schwarzafrikanischen, den arabischen und den asiatischen Kulturraum. Vor allem für das Asienkapitel stellt die Überschrift eine Hilfskonstruktion dar, die primär als geographischer Orientierungshinweis für die Benutzer/innen des Bandes gedacht ist. In der Tat bietet das Kapitel »Asien« keine einleitende Darstellung über existentielle Erfahrungen oder Gemeinsamkeiten unter

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den dargestellten Autor/innen, die sie zu einer homogenen Gruppe zusammenschwei­ßen könnten. Für den schwarzafrikanischen Kulturraum bestehen andere Bedingun­gen, hier liegen mit der Kolonisation und der Sprachoption gemeinsame, entschei­dende Erfahrungen vor.

Wenn es auf der einen Seite angebracht ist, unterschiedliche sozioökonomische, politische Voraussetzungen sowie die sprachlich-kulturellen Besonderheiten der ein­zelnen Kontexte scharf herauszustellen, so ist es auf der anderen Seite um so notwendiger, die Gemeinsamkeiten zu beachten, die sich für die Autor/innen in dem neuen Land oder in der neuen Sprache aus unterschiedlichen Gründen ergeben haben. Mit anderen Worten: Trotz der unterschiedlichsten prägenden Erfahrungen der einzelnen >Stimmen< lassen sich parallele Entwicklungen in der gesamten Litera­turbewegung kaum übersehen.

Insbesondere bis in die zweite Hälfte der 80er Jahre haben sich Autor/innen aus den verschiedenen Minderheiten den gleichen Themenkomplexen gewidmet. Daher ist folgender Kernfrage nachzugehen: Entsteht die thematische Nähe mancher Werke aus einem inneren Bedürfnis der sich herausbildenden Minderheiten oder aus dem Wunsch der angehenden Autor/innen, sich an der bundesdeutschen Literatur zu beteiligen? Anders gefragt: Stand die kulturübergreifende Bewegung der interkultu­rellen Literatur schon bei ihrer Entstehung unter dem Einfluß der bundesdeutschen Literatur, oder ist sie fast wie ein notwendiges Projekt über die Minderheiten hinweg entstanden? Um auf diese Frage eine nachvollziehbare Antwort zu formulieren, werden einige der Hauptaspekte dieser interkulturellen Literatur thesenartig heraus­gestellt, nämlich: Die Themen, das kultur-literarische Projekt, ein Spannungsfeld aus Nähe und Ferne, der Leser als Gesprächspartner oder der Autor als Identifikations­figur, die Sprache der Provokation und die Vielfalt des Ichs gegen Zeit und Raum.

Die Themen

Da es sich hier um eine Literaturbewegung handelt, die ihren Ursprung in sozio­kulturellen sowie wirtschaftlichen und politischen Prozessen findet, wundert es nicht, daß ihre Ursachen und Entwicklungen zu den bevorzugten Themen für die Autor/ innen geworden sind. Zu den Inhalten, die den Autor/innen seit der Anfangszeit nahelagen oder die von Leser/innen als Adressaten zu Hause oder als Gesprächs­partner vor Ort erwartet wurden, gehören: die Auseinandersetzung mit der persönli­chen Vorgeschichte, die zu Auswanderung, Exil oder Repatriierung geführt hat; die Reise in die Fremde; die Begegnung mit einer fremden Kultur, Gesellschaft und Sprache; das Projekt einer neuen paritätischen Identität zwischen Inländer/innen und Ausländer/innen; die Eingliederung in die Arbeitswelt und in den Alltag des Aufnah­melandes, bzw. der alten und neuen Heimat; die Auseinandersetzung mit der politi­schen Entwicklung im Herkunftsland; die geschlechtsspezifische Wahrnehmung der eigenen Anwesenheit innerhalb eines ethischen Wertesystems mit anderen Prioritäten und Zielsetzungen.

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Das kultur-literarische Projekt

Angesicht der Pluralität der Sprachen, der literarischen Traditionen und der Kulturen, die hier aufeinandertreffen, scheint es naheliegend, die Werke über sozio-ökonomi­sche Stichwörter, wie >Gastarbeiter< oder >Ausländer<, >Exil< und >Repatriierung<, zu verbinden und somit von Ausländer- oder Exilliteratur zu reden. Dennoch ist kaum zu verkennen, daß die Autor/innen an einem Projekt arbeiten, das nicht als innere Angelegenheit dieser kulturellen Minderheiten zu betrachten ist. Das Projekt, das mittlerweile zum Bestandteil des offiziellen Kulturbetriebs geworden ist, zielt darauf ab, die deutsche Sprache und Literatur soweit zu sensibilisieren, daß die ethnozen­trischen Prioritäten abgebaut werden, die dem Umgang mit fremden Kulturen im Wege stehen. Andere westeuropäische Sprachen und Literaturen, wie die englische, die französische, die spanische, die portugiesische oder die niederländische, sind in diesem Lernprozeß mit sichtbarem Gewinn schon wesentlich weiter.

Ein Spannungsfeld aus Nähe und Ferne

Unmittelbare Nähe zur bundesdeutschen Literatur der Gegenwart ist bei jenen Autor/ innen festzustellen, die gezielte Verknüpfungen mit Themen und Erzähltechniken der Literatur der Arbeitswelt gesucht haben. Das gilt auch für die Frauenthematik, wenn manche Autorinnen am Leben in der Fremde besonders Grundsituationen aus der europäischen Frauenliteratur als das Verbindende thematisieren.

Und doch ist eine Betrachtung der betreffenden Autor/innen und Werke aus­schließlich unter der Perspektive der Nähe zur bundesdeutschen Literatur der Gegen­wart nach wie vor irreführend. Mehr als um die Nähe geht es ihnen um das Spannungsfeld, in dem sich eine Literatursprache entwickelt, mit der das Aufein­andertreffen der Kulturen in der Bundesrepublik zum Ausdruck gebracht wird. Nähe zu einer fremden Kultur ist die Voraussetzung dafür, daß die Muttersprache aufgebro­chen wird und von ethnozentrischen Steuerungsmustern befreit wird, bzw. daß die Fremdsprache nicht zur Synthese der Kulturen mißbraucht wird, sondern zu Auf­deckung interkultureller Vorgänge eingesetzt wird.

Der Leser als Gesprächspartner oder der Autor als Identifikationsfigur

Aus einer derartigen existentiellen und doch ästhetischen Grundsituation leitet sich das Hauptmerkmal dieser interkulturellen Literatur ab, das sie als eine Literatur im kulturellen Spannungsfeld zwischen heterogenen kultur-ethnischen Minderheiten und monokultureller Mehrheit besonders hervorhebt. Die meisten Autor/innen, abge­sehen von den muttersprachlichen Exilautor/innen, wenden sich an Leser/innen aus der deutschen Mehrheit, die die verbindliche Rolle eines Gesprächspartners erhalten. In diesem unausweichlichen Drang nach einer Zwiesprache mit dem Leser, um sich als Autor konstruktiv an der Zukunft der Republik zu beteiligen, liegt das Haupt­merkmal einer interkulturell engagierten Literatur. Das Fehlen des Lesers als Ge-

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sprächspartner bei einigen Autorinnen ergibt sich aus der Tatsache, daß in ihren Reportagen, ihren Erzählungen, ihren Märchen, ihrer Lyrik und ihren Romanen die Aufnahmegesellschaft nicht im Spannungsverhältnis zur kulturellen Andersartigkeit der Protagonistinnen aufgebaut wird. Sie gilt bewußt als beschützendes Niemands­land, wo eine Auflehnung gegen männliche Willkür, die sich in der Fremde fortgesetzt und verschärft hat, gelingen kann. Dieses emanzipatorische Anliegen verleiht den Werken eine Appellfunktion, die nicht im Streitgespräch relativiert werden darf, da der kultureigene Konflikt das beschützende Niemandsland nicht belasten darf.

Das Fehlen des Lesers als impliziten Gesprächspartner ist auch in einigen der erfolgreichsten Werke über die Fremde in der Bundesrepublik zu verzeichnen, die von bundesdeutschen Autor/innen verfaßt worden sind. Hierzu gehört an erster Stelle Ganz unten (Köln 1985) von Günter Wallraff. Das Fehlen des Gesprächspartners ist in diesem Fall mit der komplexen Frage der Verantwortung zu erklären. Die implizite Frage lautet: Wer unter den Mitgliedern der Mehrheit ist für unbedachte bis rassisti­sche Handlungen gegen Einwanderer, Exilierte oder Repatriierte verantwortlich? Die Tatsache, daß in solchen Werken den Leser/innen eine Identifikation mit dem ausländerfreundlichen Autor anstelle des Gespräches über Ursachen und Folgen angeboten wird, zielt darauf ab, die Leser/innen von jeder Verantwortung freizu­sprechen. Diese Grundhaltung der bundesdeutschen Autoren macht ihre Werke besonders lesbar, aber dadurch unterscheiden sie sich auch von denen der nicht bundesdeutschen Autor/innen. Für letztere würde ein derartiges Identifikationsange­bot den Verzicht auf ihr Projekt bedeuten. In der Tat ist interkulturelle Literatur ohne impliziten Gesprächspartner undenkbar.

Die Sprache der Provokation

Nach einer verbreiteten Definition zielt jedes Kunstwerk auf Provokation. Daß ein Gespräch zwischen Minderheit und Mehrheit erst recht der Provokation bedarf, um entstehen zu können, ist einleuchtend. Daher ist die Entscheidung für die Sprache des Landes ein Entgegenkommen. Sie signalisiert die Gesprächsbereitschaft der Autor/ innen. Da dieses Signal vom Gesprächspartner nicht als Gesprächsbereitschaft son­dern als Teil der sprachlichen Normalität im Lande verstanden wird, hat das Gespräch außerhalb der Werke bis heute kaum eine Chance, sich zu entfalten. Das Reden »über« Einwanderung, Exil und Repatriierung setzt sich fort.

Indessen entsteht der Provokationscharakter einiger Werke aus den 80er Jahren nicht durch das ausgesuchte Thema - Gewalt gehört zu den Archetypen jeder Literatur -, vielmehr entspringt er aus der Ungleichzeitigkeit, mit der Mitglieder der Minderheit und der Mehrheit gesellschaftliche Vorgänge erkennen. Gegenüber der Toten in der Novelle Abschied der zerschellten Jahre (1984) von Franco Biondi beweisen die Toten von Solingen (1994) erneut, daß jede Ankündigung durch die Minderheit erst durch die Tat verbürgt werden muß, bevor die Mehrheit sie zur Kenntnis nimmt. Gespräche, die darauf abzielen, Schaden abzuwenden, erfüllen eine notwendige Funktion. Sie ist jedoch nicht identisch mit der Gesprächsbereitschaft, die zu einer neuen Gemeinsamkeit verbindet. Ob es den Romanautor/innen und Lyriker/

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innen der jüngsten Generation gelingen wird, Lernprozesse bei der Mehrheit durch »kanakenhafte« Sprachprovokation (wie z.B. Feridun Zaimoglu und Imran Ayata) zu beschleunigen, ist abzuwarten.

Vielfalt der Ichs gegen Zeit und Raum

Anstelle eines einzigen Ich, oder eines gespaltenen Ich, oder eines Ich und seines Alter Ego greifen Autor/innen der interkulturellen Literatur wie Franco Biondi, Aras Ören, Aysel Özakm eine Vielfalt und Gleichzeitigkeit von Ichs auf. Dies ist notwendig, um die interkulturelle Lebensläufe der Protagonisten darstellen zu können. Dabei geht es um die Zusammenfügung von Lebensläufen, die sich in unterschiedlichen Kultur­räumen ereignet haben. Die Rekonstruktion des interkulturellen Lebenslaufs der Protagonisten ist die Voraussetzung, ohne die keine soziale Emanzipation erreichbar wäre. Dennoch operieren die interkulturellen Autor/innen immer mit einem voll­ständigen Ich. Seine Vollständigkeit ist darin zu erkennen, daß jedes Ich im Roman über eine autonome und abgeschlossene Entwicklung im Einklang mit der frei­gelegten Herkunft verfügt. Jedes Ich bedeutet einen vollendeten Abschnitt ein und desselben interkulturellen Lebenslaufs. Ein vielversprechender Vorschlag, mit dem interkulturelle Autor/innen gegen die sogenannte Zerrissenheit eines Lebens in der Fremde vorgehen. In interkulturellen Romanen werden die Leser/innen keine zer­rissenen sondern kontroverse, widersprüchliche und konkurrierende Lebensläufe finden. Sie werden gezielt als solche aufgebaut, weil sich dadurch die Ungleichzeitig­keit von gleichwertigen Kulturen thematisieren läßt. Interkulturelle Lebensläufe wer­den bewußt gegen jede monokulturelle Priorität von Raum und Zeit eingesetzt.

Hierzu gehören Archetypen wie der Lebenslauf eines erfolgreichen Gastarbeiters im Vergleich mit dem des verarmten Schriftstellers bei Aras Ören, oder die Vita der erfolgreichen Autorin gegenüber dem Lebenslauf der gescheiterten Widersacherin bei Aysel Özakm. Oder der Streit der Protagonisten um die Authentizität ihrer Lebens­läufe bei Franco Biondi. Konsequenterweise werden Raum und Zeit im Leben der Protagonisten durch ständige Bewegung ersetzt. Dadurch werden ihnen monokultu­relle Räume als Lebensräume entzogen. Die Lebensläufe der Protagonisten erwachsen nach wie vor aus dem Spannungsfeld zwischen den Kulturen, aber sie sind von der Geschwindigkeit geprägt, mit der interkulturelle Autor/innen die Spannungspole in Berührung bringen. Eine chronologische Vermittlung der Zeitläufe und Kulturräume ist jedoch nicht mehr erforderlich, weil interkulturelle Lebensräume in Städten wie Frankfurt, Berlin, Zürich oder Istanbullängst entstanden sind.

Schließlich kann die bisherige Entwicklung auch durch externe Kategorien wie >Konsens< und >Autonomie< auf den Punkt gebracht werden. Konsens hat sich durch die Beteiligung an den bundes deutschen Literaturströmungen gezeigt: Konkrete Poe­sie, Literatur der 68er-Generation, Literatur der Arbeitswelt, Frauenliteratur, mär­chenhafte Literatur und Rap-Literatur. Ästhetische Autonomie offenbart sich immer mehr durch die Fokussierung von interkulturellen Themen und durch das Beharren auf einen kreativem Umgang mit der neuen Sprache. Dieses insbesondere liegt weit

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entfernt von der Erwartung jener Sprachhüter, die sich eine Revitalisierung der bundesdeutschen Sprache durch Zufuhr von unbekannten Redewendungen und Metaphern wünschen. Die damit verbundene Vorstellung, daß es sich um eine zeitbefristete »kleine Literatur« handelt, die sich mit der dritten Einwanderergenera­tion auflösen wird, ist eine irreführende Hoffnung, hinter der sich der Wunsch verbirgt, weiter monokulturell denken zu können. Schon eine kongruente Auslegung der Literatur von Thomasin von Circlaria bis Jurek Becker beweist, daß die deutsche Literatur als reine Monokultur ein Konstrukt der nationalen Literaturwissenschaft ist.

Aber wie sieht es nun mit der Zukunft aus? Die bisherige Entwicklung der interkulturellen Literatur in der Bundesrepublik beweist, daß es sich keineswegs um eine »kleine Literatur« handelt. Realistischerweise ist festzustellen, daß das Deutsche kaum zu einer kulturübergreifenden Weltsprache wie Englisch, Französisch oder Spanisch werden kann. Dennoch ist ein Dialog der Kulturen auf deutsch mehr denn je notwendig. Dafür sprechen die Etablierung der kultur-ethnischen Minderheiten in der Bundesrepublik und die geopolitische Lage des wiedervereinten Deutschlands. Deutschland als Kernland zwischen West- und Osteuropa ist längst vom Mittelmeer eingeholt worden. Die Zukunft der interkulturellen Literatur läßt sich daher folgen­dermaßen wiedergeben: Autor/innen aus bekannten und neuen kultur-ethnischen Minderheiten werden Werke in deutscher Sprache und in anderen Sprachen verfassen, die eine kulturübergreifende Literatur als eigene ästhetische Herausforderung vor­antreiben. Diesen Werken und ihren Verfasser/innen ist zu verdanken, daß Deutsch­lands Literatur zu Beginn des 21. Jahrhunderts Anschluß an die führende Welt­literatur findet, die überall in der Welt von Autor/innen geschrieben wird, die nicht in ihrer Muttersprache schreiben oder die muttersprachliche Werke jedoch außerhalb ihrer Herkunftskultur verfassen.