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Handbuch der Kulturwissenschaften Band 3

Handbuch der Kulturwissenschaften Band 3 - Springer978-3-476-05012-0/1.pdf · 12.1 Die Kontingenzperspektive der ,Kultur

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Handbuch der Kulturwissenschaften Band 3

Handbuch der Kulturwissenschaften

Themen und Tendenzen

Herausgegeben von Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen

V erlag J. B. Metzler Stuttgart · Weimar

Band 3

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-476-01959-2 ISBN 978-3-476-05012-0 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-05012-0

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urhe­berrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zu­stimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2004 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2004

www.metzlerverlag.de [email protected]

Inhalt

Vorwort VII

Einführung (Friedrich Jaeger / Jörn Rüsen) IX

12 Brennpunkte einer kultur­wissenschaftlichen Interpretation der Kultur

12.1 Die Kontingenzperspektive der ,Kultur<. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungs-programm (Andreas Reckwitz) 1

12.2 Religion in der Kultur - Kultur in der Religion (Burkhard Gladigow) 21

12.3 Wissensgesellschaften (Nico Stehr) 34 12.4 Die Kunst als Sphäre der Kultur

und die kulturwissenschaftliche Transformation der Ästhetik (Ruth Sonderegger) 50

12.5 Natur und kulturelle Deutungsmuster. Die Kulturwissenschaft menschlicher Umwehen (Franz-Josef Brüggemeier) 65

12.6 Leiblichkeit und Emotionalität: Zur Kulturwissenschaft des Körpers und der Gefühle (Eva Labouvie) 79

12.7 Das Unbewusste in der Kultur. Erinnern und Verdrängen als Themen der Kulturwissenschaften (Mario Erdheim) 92

12.8 Menschheitstrauma, Holocausttrauma, kulturelles Trauma: Eine kritische Genealogie der philosophischen, psycho­logischen und kulturwissenschaftlichen Traumaforschung seit 1945 (Wulf Kansteiner) 109

12.9 Das Eigene und das Fremde: Hybridität, Vielfalt und Kulturtransfers (Andreas Ackermann) 139

V

12.10 Gedächtnis und Erinnerung (Harald Welzer) 155

12.11 Naturwissenschaft als Kulturleistung (Peter Janich) 175

13 Wirtschaft und Kapitalismus

13.1 »Kultur« in den Wirtschaftswissenschaften und kulturwissenschaftliche Interpreta­tionen ökonomischen Handelns (Jakob Tanner) 195

13.2 Der Wandel der Arbeitsgesellschaft als Thema der Kulturwissenschaften -Klassen, Professionen und Eliten (Thomas Welskopp) 225

13.3 Macht es die Masse? - eine Problemskizze zur Massenkultur (Gertrud Koch) 247

13.4 Soziale Gerechtigkeit und Sozialstaat (Wolfgang Kersting) 254

13.5 Kapitalismus und globale Gerechtigkeit im cross culture-Diskurs (Olaf Karitzki/Birger P. Priddat) 269

14 Gesellschaft und kulturelle Vergesellschaftung

14.1 Grundzüge einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Gesellschaft (Manfred Hettling) 289

14.2 Kulturelle Faktoren sozialen Wandels (Georg W. Oesterdiekhoff) 303

14.3 Soziale Ungleichheit, Klassen und Kultur (Michael V ester) 318

14.4 Lebensführung und Lebensstile -Individualisierung, Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung im Prozess der Modernisierung (Jürgen Raab/ Hans-Georg Soeffner) 341

14.5 Habitus, Mentalitäten und die Frage des Subjekts: Kulturelle Orientierungen sozialen Handelns (Egon Flaig) 356

VI Inhalt

14.6 Heterogene Männlichkeit. Skizzen zur gegenwärtigen Geschlechterforschung (Martina Kessel) 372

14.7 Offenheit - Vielfalt - Gestalt. Die Stadt als kultureller Raum (Rolf Lindner) 385

14.8 Die Kultur des Alltags und der Alltag der Kultur (Hans-Georg Soeffner) 399

15 Politik und Recht

15.1 Kulturwissenschaft der Politik: Perspektiven und Trends (Thomas Mergel) 413

15.2 Recht und Verrechtlichung im Blick der Kulturwissenschaften (Klaus Lüderssen) 426

15.3 Nationalismus als kulturwissenschaftliches Forschungsfeld (Christian Geulen) 439

15.4 Kulturwissenschaft der internationalen Politik (Christine Chwaszcza) 458

15.5 Politik zwischen Differenz und Anerkennung: Multikulturalismus und das Problem der Menschenrechte (Shingo Shimada) 474

15.6 Zur politischen Kultur von Demokratie und Zivilgesellschaft. Nach der Globali­sierung der Gesellschaft - Vor der dritten demokratischen Transformation? (Rauke Brunkhorst) 489

15.7 Gewalt und Legitimität (Burkhard Liebsch) 503

15.8 Globalisierung als Metamachtspiel der Weltinnenpolitik: Zehn Thesen zu einer Neuen Kritischen Theorie in kosmo-politischer Absicht (Ulrich Beck) 521

Ausblick Sinnverlust und Transzendenz -Kultur und Kulturwissenschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts (Jörn Rüsen) 533

Autorinnen und Autoren 545

Vorwort

Die Kulturwissenschaften befinden sich momentan in einer ambivalenten Lage. Einerseits gewinnen sie zunehmendes Gewicht für die Prozesse der kulturel­len Deutung und Orientierung gegenwärtiger Gesell­schaften, nicht zuletzt im Kontext der interkulturel­len Verständigung in einer globalisierten Welt. An­dererseits ist ihr fachliches, theoretisches und metho­disches Selbstverständnis keineswegs hinreichend geklärt. Auch gibt es derzeit keinen Konsens in der Frage, ob die Kulturwissenschaften im Sinne einer einheitlichen Disziplin institutionalisiert, oder ob sie in der Pluralität teils traditioneller, teils neuer Fach­wissenschaften betrieben werden sollen. Das vorlie­gende Handbuch plädiert für den zweiten Weg. Dazu sollen die trans- und interdisziplinären Fragestellun­gen, die sich bislang erst sehr vereinzelt bemerkbar machen, stärker vernetzt werden, um sie als kultur­wissenschaftliche Forschungsperspektiven in den verschiedenen Disziplinen fruchtbar zu machen. Die­se Tendenz zu einer fächerübergreifenden Koope­ration entspricht zwar einer seit längerem erhobenen Forderung, hat sich aber in jüngerer Zeit verstärkt und zeitigt ermutigende Ergebnisse.

Die Schwierigkeit, das interdisziplinäre Profil der Kulturwissenschaften und die Spezifik ihrer jewei­ligen Erkenntnisleistungen zu bestimmen, hat nicht zuletzt mit der wachsenden Internationalität der Diskussion zu tun. Sie hat dazu geführt, dass eine Verständigung über disziplinäre Strukturen und Abgrenzungen, über methodische Konzepte und Forschungsstrategien sowie schließlich über prakti­sche Aufgabenfelder und Funktionsbestimmungen der Kulturwissenschaften komplexer geworden ist. »Kulturwissenschaften« im Sinne deutscher Tradi­tionen des frühen 20. Jahrhunderts meinen offen­sichtlich etwas anderes als die »Cultural Studies« britischer und amerikanischer Prägung oder als die aus der Annales-Tradition, der Phänomenologie oder dem Poststrukturalismus hervorgegangenen französischen Strömungen kulturwissenschaftli­chen Denkens. Weder die Verwandtschaften und Gemeinsamkeiten noch die Unterschiede und Di-

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vergenzen zwischen diesen verschiedenen Traditio­nen kulturwissenschaftlichen Denkens wurden bis­lang in ausreichender Klarheit herausgearbeitet.

Infolge dieser unübersichtlichen Diskussionslage droht »Kultur« zu einem Allgemeinplatz zu werden, der keinerlei analytische Trennschärfe mehr besitzt und die Fragestellungen, Perspektiven, Methoden, Funktionen und Erkenntnisleistungen der mit ihr befassten Wissenschaften nicht mehr zu bündeln und zu begründen vermag. Damit stehen nicht nur der fachliche Zusammenhang und die Dialogfähig­keit, sondern auch die Legitimität der Kulturwis­senschaften als Instanzen der kulturellen Deutung und Orientierung auf dem Spiel. Angesichts dieser schwierigen Situation möchte das vorliegende Hand­buch, das die Kulturwissenschaften mit ihren bereits erwiesenen Stärken, aber auch mit ihren offenen Fragen vorstellt und aufeinander bezieht, einen über­blick über den Stand der Diskussion bieten, der zu weiterer Klärung und Kooperation motiviert. Zu diesem Zweck wurden von nahezu einhundert Au­toren Beiträge erarbeitet, die einen weit gefächerten Einblick in Grundfragen der kulturwissenschaftli­chen Forschung eröffnen.

Im ersten Band »Grundlagen und Schlüsselbegrif­fe« wird die derzeitige Lage der Kulturwissenschaften anhand der theoretischen Leitkategorien Erfahrung, Sprache, Handlung, Geltung, Identität und Geschich­te sondiert. Dabei werden diese Begriffe stets auch mit ihrem Gegenstand konfrontiert: mit der »gelebten Kultur« und mit den lebenspraktischen Herausforde­rungen, die sie beinhaltet. Die Konzeption des Bandes ist von der überzeugung geleitet, dass die Kulturwis­senschaften sich nicht selbst genügen. Vielmehr sollen sie die dem kulturellen Leben selber inhärenten An­sprüche, Herausforderungen, Probleme und Aporien zur Sprache bringen. Ob das bislang wirklich in an­gemessener Weise geschehen ist, wird ausdrücklich zur Diskussion gestellt. In diesem Sinne präsentieren die Beiträge nicht etwa einen letzten Erkenntnisstand, sondern sollen die kulturwissenschaftliche Arbeit neu inspirieren.

VIII Vorwort

Im zweiten Band geht es unter dem Titel »Para­digmen und Disziplinen« um die epistemologischen, methodologischen und fachlichen Grundlagen der Kulturwissenschaften in einem weiten Sinne. Die Hauptthemen sind hier der Zusammenhang von me­thodischer Rationalität und Lebenspraxis, die grund­legenden wissenschaftlichen Problemstellungen, ein­flussreiche theoretische Ansätze wie Handlungs- und Systemtheorie, Sprachpragmatik, strukturalistische und poststrukturalistische Konzeptionen oder all­gemein relevante Methodenkonzepte. Schließlich werden zahlreiche traditionelle Disziplinen - teilwei­se gegen den Strich ihres jeweils dominierenden Selbstverständnisses - als Kulturwissenschaften prä­sentiert, wobei sowohl historische Rekonstruktionen als auch systematische Reflexionen angestellt werden.

Im hier nun vorliegenden dritten Band »Themen und Tendenzen« liegt der Schwerpunkt auf den in den Kulturwissenschaften gegenwärtig favorisierten und angewandten Interpretationsmodellen von Kultur, Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Recht. In ihm ziehen die Autoren eine Zwischenbilanz aktueller Forschungstrends und präsentieren wich­tige Ergebnisse der empirisch-analytischen Arbeit.

Diese Gliederung soll die Diskussion darum, was Kulturwissenschaft ist, zusammenfassen und einen überblick bieten, der mehr als nur eine Bestands­aufnahme darstellt. Sie versucht eine Ordnung in die Debatte zu bringen, die sie einen Schritt wei­terführt - zu einer systematischen Reflexion von Grundlagen, Kategorien und Erkenntnisfeldern, von transdisziplinären Voraussetzungen, Implika­tionen und Funktionen des kulturwissenschaft­lichen Denkens, von interdisziplinären Konstella­tionen, Verflechtungen und überschneidungen. Schließlich werden mit ausgewählten Forschungs­paradigmen auch Praktiken der kulturwissenschaft­lichen Erkenntnisarbeit präsentiert. Theoretische Grundlagenreflexion, methodologische Selbstver­gewisserung und forschungspraktische Erfahrungen werden in ein systematisches Verhältnis zueinander gesetzt. Dadurch soll die Debatte um den cultural turn in den Humanwissenschaften angeregt, erwei­tert und vertieft werden, - ein überblick über das Ganze, das dem Einzelnen zugute kommen kann und weitere Erkenntnisfortschritte stimulieren soll.

Andererseits soll mit diesem Handbuch kein be­stimmtes Verständnis von Kultur und Kulturwissen-

schaft festgeschrieben werden. Vielmehr soll die Viel­falt von Positionen, Zugriffen und Disziplinen doku­mentiert und ein Beitrag zur Klärung ihres V erhält­nisses zueinander geleistet werden. Zugleich geht es darum, diese Vielfalt der kulturwissenschaftlichen Forschung auf übergreifende Fragen und Problem­stellungen hin zu beziehen. Daher wurden die einzel­nen Bände, Kapitel und Artikel des Projekts so weit wie möglich aufeinander abgestimmt, um die Verzah­nung der Grundbegriffe, Methoden und Themen der Kulturwissenschaften transparent werden zu lassen.

Realisiert werden konnte das Unternehmen allein aufgrund der engagierten Mitwirkung seiner Auto­rinnen und Autoren. Ihnen sei dafür an erster Stelle herzlich gedankt. Nur in wenigen Fällen konnten ursprünglich vorgesehene Artikel und Themen kei­ne Berücksichtigung finden, da ihre Bearbeiter die zugesagten Beiträge nicht fertiggestellt haben.

Der Arbeit der Autorinnen und Autoren gingen jedoch mehrere Schritte voraus, die für die Reali­sierung dieses Handbuch ebenfalls wichtig waren: Hervorgegangen ist es aus Diskussionen, die seit 1997 innerhalb der Studiengruppe »Sinnkonzepte als lebens- und handlungsleitende Orientierungs­systeme« und seit Oktober 1999 zusätzlich in der Studiengruppe »Lebensformen im Widerstreit. Identität und Moral unter dem Druckgesellschaft­licher Desintegration« am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen geführt worden sind. Allen Wis­senschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich entweder als Mitglieder oder als Gäste dieser beiden Studiengruppen an der Vorbereitung des Unter­nehmens beteiligt haben, gilt unser Dank.

Neben ihnen danken wir den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kulturwissenschaftlichen Insti­tuts in Verwaltung und Bibliothek für ihre Hilfe bei der Durchführung dieses Unternehmens, vor allem Ursula Sanders für die Sorgfalt und Kompetenz, mit der sie für die formale Gestaltung und Vereinheitli­chung aller Manuskripte gesorgt hat sowie Kerstin Nethövel und Annelie Rammsbrock für ihre Unter­stützung bei der Endkontrolle des Textes. Bernd Lutz vom Verlag J.B. Metzler danken wir schließlich für die verlegerische Betreuung des Handbuchs.

Essen im März 2003

Friedrich Jaeger / Burkhard Liebsch / Jörn Rüsen / Jürgen Straub

Einführung Friedrich Jaeger / Jörn Rüsen

Gegenüber dem kulturtheoretischen Zugriff des ers­ten Bandes und der methodenreflexiven Perspektive des zweiten besitzt der hier vorliegende, das Hand­buch der Kulturwissenschaften abschließende Band einen eher dokumentarischen Charakter. In ihm geht es darum, Einblicke in eine disziplinär ausdifferen­zierte Forschungspraxis zu geben. Ohne dabei einem Anspruch auf Vollständigkeit genügen zu wollen, markieren die Beiträge angesichts der Heterogenität fachspezifischer Konzepte und einer geradezu un­übersehbaren Vielfalt von Themen stichprobenartig Brennpunkte einer aktuellen Forschungslandschaft und arbeiten an konkreten Sachverhalten leitende Fragestellungen, Forschungsstrategien und Ergebnis­se heraus. Dabei wurde darauf verzichtet, die präsen­tierte Themenpalette kulturwissenschaftlicher Arbei­ten auf die Grundbegriffe des ersten Bandes zu be­ziehen oder gar von diesen abzuleiten. Die dort the­matisierten Begriffe Erfahrung, Sprache, Handlung, Geltung, Identität und Geschichte markieren keine distinkten Existenzweisen der Kultur, noch folgen aus ihnen klar identifizierbare Forschungsgegenstän­de und voneinander abgrenzbare Themenkreise der Kulturwissenschaften. Vielmehr spannen sie ein ka­tegoriales Netz, innerhalb dessen sich kulturwissen­schaftliche Arbeiten aus ganz unterschiedlichen Per­spektiven und Disziplinen flexibel bewegen und je­weils auf ihre Weise unterschiedliche Aspekte einer kulturell vermittelten Lebenspraxis thematisieren. Kulturwissenschaftliche Grundbegriffe im Sinne die­ses Handbuchs sind keine Substanzbegriffe, sondern Erkenntnisinstrumente; ihnen kommt kein ontolo­gisch-essentieller, sondern ein operativ-theoretischer Status zu.

Stattdessen waren vor allem zwei erkenntnisprag­matische Oberlegungen bei der Strukturierung des Bandes und beim Zuschnitt der Beiträge leitend: Zum einen wurde bewusst ein Gliederungsschema gewählt, das an bewährte Themenzuordnungen und Forschungstraditionen anknüpft, um die An­schlussfähigkeit kulturwissenschaftlicher Arbeiten an ältere Fragestellungen und Perspektiven unter

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Beweis zu stellen. Die Artikel gruppieren sich ent­sprechend um einzelne Kapitel zu den Themen­schwerpunkten Kultur, Wirtschaft, Gesellschaft so­wie schließlich Politik und Recht. Zum anderen war das Ziel leitend, aktuelle Kontroversen und Proble­me mit einem hohen Maß an lebenspraktischer Relevanz aufzugreifen und zu Themenbereichen zusammenzustellen, die die Kulturwissenschaften nicht nur gegenwärtig, sondern auch in absehbarer Zukunft noch beschäftigen dürften.

Kapitel 12 reflektiert zunächst Schwerpunkte der kulturwissenschaftlichen Thematisierung der Kultur und wird durch einen Beitrag eingeleitet, der all­gemein den Bedeutungshorizont und die for­schungspragmatische Reichweite des Kulturbegriffs herausarbeitet. Es folgen drei Beiträge zu denjenigen Sphären der Kultur, die sich als Kristallisationskeme kultureller Ideen im Sinne geistiger Instanzen der Sinndeutung und Lebensreglementierung begreifen lassen und lange Zeit auch im Zentrum kulturwis­senschaftlicher Forschungsinteressen standen: Ge­meint ist die Trias von Religion, Wissenschaft und Kunst. Den Anfang macht dabei ein Beitrag zur kulturgenerierenden Kraft von Religionen und zum Verhältnis von Religion und Kultur, das bereits den Problemkern des religionssoziologischen Werks Max Webers bildete. Es folgt ein Beitrag, der den zivilisatorischen Ort der Wissenschaft als Rationali­sierungsmacht menschlicher Lebensordnungen re­flektiert. Im Selbstverständnis der Modeme tritt der kulturelle Geltungsanspruch der Wissenschaft neben oder gar an die Stelle religiöser Geltungs­ansprüche und schafft damit eine Spannung der modernen Kultur, die auch aus der Perspektive der Wissenschaft eigens reflektiert werden muss. Die gegenwärtigen Forschungen zur »Wissensgesell­schaft« thematisieren diesen kulturellen Ort der Wissenschaft im Gefüge moderner Gesellschaften. Mit dem Aufstieg der Wissenschaft als Ordnungs­macht bricht ein Konflikt zwischen kognitiven und normativen Geltungsansprüchen auf, für den etwa

X Einführung

die gegenwärtigen Diskussionen um die Bio-Ethik als Beispiel dienen können. Dieser in der Tendenz zur Verwissenschaftlichung angelegte Konflikt kann die Form einer überwältigung der Lebenspraxis durch die spezifische Rationalität wissenschaftlicher Denkformen annehmen und ist ein kulturwissen­schaftliches Thema von großer Aktualität. Zum tra­dierten Kanon kultureller Sinninstanzen und Ideen­welten gehört schließlich die Kunst, der ein weiterer Artikel dieses Kapitels gewidmet ist. Er zielt auf die neueren Auseinandersetzungen um die Kulturbe­deutung der Kunst sowie auf die von den Kultur­wissenschaften betriebene Transformation der Äs­thetik, die zugleich Probleme einer Ästhetisierung von Politik und Gesellschaft aufwerfen.

Zu diesen klassischen Themen kulturwissen­schaftlicher Forschung sind seit geraumer Zeit neue Fragestellungen hinzugekommen, die auch andere Faktoren der menschlichen Lebensführung in kulturellem Licht erscheinen lassen. Es handelt sich dabei um Aspekte, die auf den ersten Blick jenseits der Grenzen der Kultur als sinnhaft gedeu­teter Welt zu liegen scheinen: Aspekte wie Umwelt und Natur, Leiblichkeit und Emotionen, Unbe­wusstes und Verdrängtes.

Die gegenwärtigen Debatten um Natur und Um­welt, die in einem eigenen Beitrag dieses Kapitels aufgegriffen werden, lassen sich den Kulturwissen­schaften zurechnen, insofern sie im Sinne einer Wahrnehmungsgeschichte der Natur die kulturellen Deutungsmuster thematisieren, mit denen Men­schen ihrer Umwelt begegnen und sie sich aneignen. Der sich daran anschließende, die Phänomene Leib­lichkeit und Emotionalität thematisierende Beitrag steckt ein weiteres kulturwissenschaftliches For­schungsfeld von großer Aktualität ab, das sich um Fragen zur Geschichte des menschlichen Körpers sowie der Sinne und Gefühle herausgebildet hat. Auch die medizinischen Konzeptualisierungen des »kranken Körpers« in seiner Differenz zum gesun­den verdienen in diesem Kontext Beachtung, weil sie ebenfalls die Öffnung der Kulturwissenschaften gegenüber ursprünglich von den Naturwissenschaf­ten besetzten Themen dokumentieren und Natur als ein kulturelles, sinnhaft gedeutetes Phänomen er­fahrbar machen. Unter derartigen Gesichtspunkten erfährt die im ersten und zweiten Band bereits mehrfach aufgegriffene Spannung zwischen Kultur

und Natur in der Konfrontation mit der tatsäch­lichen Forschungspraxis eine empirische Konkreti­sierung.

Dasselbe gilt für die kulturwissenschaftliche The­matisierung des Unbewussten und Verdrängten in der Kultur. In den Ausführungen zum zweiten Band sind bereits die sprachtheoretische Konzeption der strukturalen Psychoanalyse sowie die methodische Bedeutung der Psychologie und Psychoanalyse als Kulturwissenschaften angesprochen worden, die nun unter anderem in der Auseinandersetzung mit dem Werk Freuds ihre Fortsetzung finden.

Der darauf folgende Beitrag dieses Kapitels greift die Frage nach den Grenzen des kulturellen Sinns angesichts der Erfahrungen von Leiden, traumati­schen Ereignissen und Katastrophen auf und re­konstruiert auf breiter empirischer Grundlage den mittlerweile in zahlreichen Disziplinen geführten Traumadiskurs, von dem in den letzten Jahren wichtige Anregungen und Perspektiven für die kul­turwissenschaftliche Erforschung innerpsychischer Prozesse ausgegangen sind, die insbesondere in neueren Arbeiten zu überlebenden des Holocaust und ähnlicher Katastrophen ihren Niederschlag ge­funden haben.

Ein weiterer Artikel verweist auf eine kulturwis­senschaftliche Diskussion, die das im zweiten Band bereits reflektierte Problem des Kulturvergleichs be­rührt und auch in den Kontext der aktuellen Debat­ten um Postkolonialismus und kulturelle Differenz gehört. Das öffentliche Bewusstsein von der Vielfalt der Kulturen ist heute so ausgeprägt wie kaum zu­vor. Damit ist zugleich die Einsicht in Probleme und Chancen gewachsen, die Kulturbegegnungen, Kul­turtransfers, Kulturkonflikte oder bereits die Ab­grenzung kultureller Einheiten voneinander mit sich bringen. In diesem Zusammenhang sind die Begriffe der Hybridität und Interkulturalität ins Zen­trum des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Interesses gerückt. Das Aufeinandertreffen von »Ei­genem« und »Fremdem« fordert zu kulturellen Sinn­bildungsleistungen heraus, die gegenwärtig auf viel­fache Weise kulturwissenschaftlich aufgearbeitet werden.

Die beiden abschließenden Beiträge dieses Kapi­tels sind dem überschneidungsbereich von Kultur­und Naturwissenschaften gewidmet und reflektie­ren das wechselseitige Anregungspotential dieser

gemeinhin streng unterschiedenen Wissenschafts­traditionen füreinander. Der erste arbeitet dabei vor allem die Bedeutung der neueren Kognitions­und Neurowissenschaften für die kulturwissen­schaftlichen Diskussionen um Gedächtnis und Er­innerung heraus und ordnet deren Ergebnisse und Fragestellungen ein. Der zweite nähert sich schließ­lich dem Verhältnis zwischen Naturwissenschaften und Kulturwissenschaften, indem er nach dem kul­turellen Ort und nach der spezifischen » Kulturleis­tung« der Naturwissenschaften fragt und ihre hand­lungstheoretisch bestimmbare, auf Lebenswelt und Praxis bezogene Struktur präzisiert.

Kapitel 13 reflektiert Ökonomie und Kapitalismus als weitere Brennpunkte der kulturwissenschaftli­chen Forschung. Auch hier dient, wie in den übrigen Kapiteln, der erste Beitrag dazu, das Problemfeld, die thematischen Perspektiven sowie die kategorialen Zugriffe einer kulturwissenschaftlichen Interpretati­on ökonomischen Handelns und der kulturellen Vergesellschaftung über Marktmechanismen und Konsumverhalten zunächst übergreifend abzuste­cken. Der sich daran anschließende Beitrag zu Grundstrukturen moderner Arbeitsgesellschaften fragt nach den spezifisch kulturellen Grundlagen der Formierung von Klassen, Professionen und Eli­ten. In dem Maße, in dem sich der Faktor Arbeit als Mechanismus gesellschaftlicher Rollen- und Status­zuweisung verändert, kommt es zu dramatischen Umbrüchen in der kulturellen Konstituierung von Klassen und in der Berufsethik von Professionen, die als Herausforderungen der Kulturwissenschaften wahrgenommen werden müssen und dem aktuellen Aufstieg kulturwissenschaftlicher Forschungsinte­ressen und Perspektiven in der neueren Wirtschafts­und Sozialgeschichte zugrunde liegen. Auch diese Disziplinen vollziehen gegenwärtig einen »cultural turn«, der sie auf neue Weise nach den kulturellen Bedingungen von Arbeits- und Klassenbeziehungen, nach normativen Verhaltensmustern von Berufs­gruppen oder nach den ökonomischen Ideen und Interessen von Eliten fragen lässt.

Im Anschluss an diese verschiedenen Aspekte einer kulturwissenschaftlichen Thematisierung von Ökonomie und Kapitalismus reflektiert ein weiterer Beitrag den Begriff der Massenkultur als eine kul­turwissenschaftliche Kategorie, mit deren Hilfe sich,

Einführung XI

durchaus auch im Anschluss an die Motive der älteren Kulturkritik, die medien- und öffentlich­keitstheoretischen Ansätze der Analyse moderner Massengesellschaften thematisch bündeln lassen.

Schließlich werden unter zwei Gesichtspunkten Gerechtigkeitsfragen moderner Wirtschaftsordnun­gen als Herausforderungen der Kulturwissenschaf­ten angesprochen: zum einen aus der Binnenper­spektive westlich geprägter Gesellschaften als Frage nach den Konsequenzen des Kapitalismus für so­ziale Beziehungen und die etablierten, aber zuneh­mend unter Druck und Legitimitätszwang gerate­nen Systeme der sozialen Sicherung. Das Projekt des Sozialstaats ist in einem Transformationsprozess begriffen, dessen Konsequenzen noch gar nicht hin­reichend absehbar sind. Angesichts des steigenden sozialpolitischen Problemdrucks, den eine neolibe­rale Wendung der Politik erzeugt, wächst den Kul­turwissenschaften ein Deutungsbedarf und eine Orientierungsfunktion zu, denen sie sich stellen müssen, wollen sie sich heuristisch und analytisch in Augenhöhe gegenwärtiger Problemlagen bewe­gen. Zum anderen stellen sich Fragen der Solidarität und sozialen Gerechtigkeit auch auf der interkultu­rellen Ebene, die in ihrer Eigenart als Probleme der Kulturwissenschaften bestimmt werden müssen. Hier geht es um ethische Fragen im Verhältnis zwischen verschiedenen Kulturen und Gesellschaf­ten sowie um die Legitimitätsprobleme einer Poli­tik, die mit Entwicklungsgefällen im Prozess der ökonomischen Globalisierung konfrontiert ist.

Daran anschließend erkundet Kapitel 14 kulturwis­senschaftliche Zugänge zur Gesellschaft. Auch hier geht es in einem ersten Beitrag zunächst darum, überblicksartig den Umriss einer spezifisch kultur­wissenschaftlichen Theorie der Gesellschaft zu skiz­zieren, wobei insbesondere die in der Geschichts­wissenschaft seit einigen Jahren ausgetragene Kon­troverse zwischen Gesellschaftsgeschichte und Kul­turgeschichte von großer Bedeutung ist.

Ein weiterer Artikel greift mit der Frage nach den kulturellen Faktoren sozialen Wandels ein klassi­sches Thema der soziologischen Forschung auf und gibt ihm eine kulturwissenschaftliche Wen­dung. Er zeigt, in welchem Licht die Prozesse so­zialen Wandels erscheinen, wenn man sie nicht allein auf strukturalistisch oder systemtheoretisch

XII Einführung

rekonstruierbare Bedingungsfaktoren zurückführt, sondern kulturelle Faktoren wie Normen, Werte, Handlungsmotive oder innerpsychische Aspekte gleichermaßen berücksichtigt. In Auseinanderset­zung mit Klassikern der Soziologie geht es darum, Prozesse von Modernisierung und sozialem Wandel im Rekurs auf kulturelle Deutungsmuster zu erklä­ren.

Ein zentrales Erkenntnismotiv der Gesellschafts­und Sozialgeschichte seit den 1970er Jahren war die Analyse der Ursachen und Erscheinungsformen so­zialer Ungleichheit. Im Vergleich damit wird den Kulturwissenschaften in diesem Punkt oft ein Man­gel an Sensibilität sowie eine unpolitische Haltung gegenüber Problemen der sozioökonomischen Ver­teilungsgerechtigkeit vorgeworfen. Daher unter­sucht ein weiterer Beitrag dieses Kapitels, wie sich diese Frage im Medium kulturwissenschaftlicher Forschung neu stellt und dabei das Konzept sozialer Ungleichheit in die kulturelle Dimension hinein erweitert werden kann. Dazu gehören auch Refle­xionen darüber, wie das Verhältnis zwischen sozia­ler und kultureller Zugehörigkeit zu begreifen ist und ob die Kulturwissenschaften tatsächlich einer Verschleierung politischer Machtverhältnisse und sozialer Ungleichheit Vorschub geleistet haben, -oder ob sie nicht vielmehr den Blick für neue, bisher unbeachtet gebliebene Dimensionen der Zugehö­rigkeit zu unterschiedlichen sozialen Milieus sowie für spezifisch kulturelle Bedingungen von Lebens­chancen und Mechanismen ihrer Verhinderung ge­schärft haben.

Ein weiteres Forschungsfeld hat sich in den letz­ten Jahren - teilweise in direkter Anknüpfung an Georg Simmel oder an Max Webers Begriff der »Lebensführung« - im Blick auf die Untersuchung kultureller Lebensstile und Lebensformen etabliert. Der sich dabei abzeichnenden Lebensstilsoziologie geht es um Transformationsprozesse der Lebens­führung als Folge von Individualisierungsprozessen und der zunehmenden Erosion tradierter Gemein­schaftsformen; um den Wandel von Familienstruk­turen und Generationenverhältnissen, von Jugend und Alter; um die Veränderung urbaner Räume und Kommunikationsstrukturen; schließlich um die Entwicklung von Subkulturen im Zuge von Migration und der Ausbildung multiethnischer Mi­lieus, um nur einige Tendenzen dieses heterogenen

Feldes zu nennen. Derartige Forschungsstrategien, deren gemeinsame Perspektive durch die Frage nach dem Wandel von Lebensstilen, -formen und -räumen geprägt ist, werden daraufhin befragt, wel­ches übergreifende Konzept kulturwissenschaftli­cher Forschung in ihnen sichtbar wird.

Ferner werden am Leitfaden der Begriffe »Habi­tus« und »Mentalität« kulturelle Orientierungen sozialen Handelns herausgearbeitet. Vor allem Bourdieus Begriff des Habitus hat innerhalb der kulturwissenschaftlichen Diskussionen der letzten Jahre eine breite Wirkung entfaltet und wird hier in Applikation auf konkrete Forschungsprobleme aus der alten Geschichte auf seine analytischen Im­plikationen, Leistungen und Grenzen hin unter­sucht.

Ebenfalls geht ein Beitrag dieses der Gesellschaft und den Formen der Vergesellschaftung gewidme­ten Kapitels der Frage nach den kulturellen Grund­lagen von Geschlechterverhältnissen nach, die einen Schwerpunkt der kulturwissenschaftlichen Diskus­sion der letzten Jahre bildete und deren Verlauf nachhaltig geprägt hat. Für die Entstehung eines kulturwissenschaftlichen Problembewusstseins ge­genüber bislang weitgehend unterbelichteten Fak­toren politischer Herrschaft, sozialer Ungleichheit und kultureller Differenz haben Untersuchungen zu Geschlechterverhältnissen und Geschlechterstereo­typen oftmals eine Vorreiterrolle besessen, die in diesem Artikel vor allem im Hinblick auf kulturelle Konstruktionen des »Männlichen« angesprochen werden.

Auch die Stadtsoziologie und Urbanisierungsfor­schung haben sich in den letzten Jahren neuen kulturwissenschaftlichen Fragestellungen und For­schungsperspektiven geöffnet. Im Zuge dieser Ent­wicklung kommen Städte als kulturelle Räume in den Blick und werden als Netze von Kommunika­tionen, Bedeutungen, Interpretationen und Erzäh­lungen auf neue Weise verstehbar. In ihrer Rolle als Laboratorien moderner Lebensformen und Identi­tätskonfigurationen spiegeln urbane Zentren sowie die Transformation ihrer kulturellen Klimata die Kulturprobleme unserer Zeit in besonderer Schärfe. Diese Eigenschaft von Metropolen als paradigmati­schen Räumen der kulturellen Vergesellschaftung wird daher in einem eigenen Beitrag herausgear­beitet.

Der letzte Beitrag dieses Kapitels widmet sich schließlich der kulturellen Struktur der Alltagswelt, des Alltagswissens und des Alltagshandelns als be­sonderen Sphären des gesellschaftlichen Lebens. Als eine durch routinisierte und ritualisierte Hand­lungsabläufe, vertraute Regeln, gemeinsamen Sym­bolgebrauch und eingespielte Rollen geprägte Welt der Normalität repräsentiert der Alltag eine kultu­relle Tiefenstruktur der Lebenspraxis, die Halt und Gewissheit in einer Welt beschleunigten Wandels verheißt. Eine theoretisch reflektierte und heuris­tisch sensible Alltagssoziologie, die auf bewährte Traditionen der älteren Wissenssoziologie, der Le­bensweltphänomenologie und des Symbolischen Interaktionismus zurückgreifen kann, bleibt ein zentraler Bezugspunkt auch der neueren kulturwis­senschaftlichen Forschung.

Kapitel 15 widmet sich der Dimension des Politi­schen, wobei die beiden einführenden Beiträge die Aufgabe besitzen, überblicksartig wichtige Aspekte und Perspektiven einer Kulturwissenschaft der Po­litik und des Rechts vorzustellen.

Die in den letzten Jahren erneut aufgebrochenen Nationalismen und Nationalitätenkonflikte, aber auch der wachsende Einfluss supranationaler Handlungseinheiten auf politische Entscheidungs­prozesse haben dazu geführt, dass Nation und Na­tionalismus als Leitgrößen politischer Identität und Zugehörigkeit in den letzten Jahren intensiv dis­kutiert worden sind. Dem trägt ein eigener Beitrag Rechnung, der die spezifisch kulturwissenschaftli­chen Zugriffsweisen auf diesen Themenbereich dar­stellt. Ihn kontrastieren und ergänzen drei Artikel zu dezidiert transnationalen Grundelementen der politischen Kultur, in deren Zentrum die Men­schenrechte stehen: Der erste dieser Beiträge erläu­tert unter der Leitfrage nach einer Kulturwissen­schaft der internationalen Politik den theoretischen und normativen Status von Menschenrechten im Geflecht der internationalen Beziehungen; der zwei­te reflektiert unter Anknüpfung an die aktuellen Debatten um den Multikulturalismus die Probleme einer Politik der Anerkennung in der Spannung zwischen kultureller Differenz und dem universalis­tischen Anspruch der Menschenrechte; der dritte schließlich stellt sich in Anknüpfung an die ver­zweigten Debatten um Demokratie und Zivilgesell-

Einführung XIII

schaft, wie sie im Streit zwischen Kommunitaris­mus und Liberalismus als konkurrierenden Kon­zeptionen des Politischen ausgetragen worden sind, der Frage einer zukünftigen Organisation von Welt­gesellschaft und Weltöffentlichkeit auf dem Boden einer politischen Kultur der Menschenrechte.

Eine kulturwissenschaftliche Reflexion der politi­schen Kultur wäre jedoch unangemessen und unvoll­ständig, wenn sie vor einer alle zwischenmensch­lichen Beziehungen durchwaltenden, entweder offen oder versteckt ausgetragenen, legitimen oder illegiti­men Gewaltsamkeit die Augen verschließen würde. Aus diesem Grunde wurde in den Band ein Beitrag aufgenommen, der sich unter der Leitfrage nach der Spannung zwischen Gewalt und Legitimität der Ver­letzbarkeit von Menschen und den Chancen einer Zivilisierung der Gewalt zuwendet und damit exis­tenzielle Grundfragen der politischen Philosophie berührt.

Der letzte Beitrag dieses Kapitels reflektiert schließlich die Bedingungen einer zukünftigen Po­litik unter den geschichtlichen Bedingungen aktu­eller Globalisierungsprozesse und sondiert Mög­lichkeiten und Voraussetzungen einer politischen Kultur, die ihre nationalstaatliche Vergangenheit in Richtung einer transnational entfesselten Welt­innenpolitik überschreitet.

Der Band - und in gewisser Weise auch das Unter­nehmen insgesamt - schließt mit einer Skizze der Herausforderungen der Kultur und ihrer Wissen­schaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts, womit das thematische Spektrum seiner Beiträge in groben Zü­gen abgesteckt ist. Auch wenn die Vielfalt an Inhalten und Forschungstendenzen, die in den letzten Jahren Eingang in die kulturwissenschaftliche Diskussion gefunden haben, keineswegs erschöpfend behandelt werden konnte, sondern Schwerpunkte gesetzt und damit zugleich andere Gesichtspunkte vernachlässigt werden mussten, eröffnet sich doch eine breite Pa­lette an Strömungen und Zugriffen, die den intellek­tuellen Reichtum der gegenwärtigen Kulturwissen­schaften ausmachen und erkennen lassen. Zusam­men mit den an kulturwissenschaftlichen Grund­begriffen orientierten Oberlegungen des ersten Bandes und den methodologischen Oberlegungen des zweiten Bandes war es das Ziel dieser das Unter­nehmen abschließenden Rekonstruktion von For-

XIV Einführung

schungsthemen und -tendenzen, die Kulturwissen­schaften als eine ertragreiche Wissenschaftslandschaft

. und Forschungspraxis sichtbar werden zu lassen, die in dynamischer Fortentwicklung begriffen ist.