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Einleitung: Problemstellung – Quellen

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Einleitung: Problemstellung – Quellen ‒ Literatur

In der Geschichte des geistigen Lebens Rußlands und der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts gebührt Aleksandr Nikolaevič Radiščev ein besonderer Platz. Das ist unbestritten, auch wenn seine Bewertung recht unterschiedlich ausfällt, je nachdem, ob er als Revolutionär oder als radikaler Denker liberaler Richtung charakterisiert wird. Dabei sollte auch der Begriff Revolutionär ein‑deutig definiert werden. In diesem Sinne ist derjenige, der eine Revolution nicht ablehnt, sie für möglich hält, noch kein Revolutionär – dazu gehört zumindest aktiver Einsatz bei der unmittelbaren Vorbereitung und Durchführung einer revolutionären Aktion. Jedenfalls ist es nicht üblich, Rousseau, Montesquieu, Voltaire und andere französische Aufklärer, die durch ihre Schriften die Große Französische Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts vorbereitet haben, als „Revolutionäre“ zu bezeichnen.

Erst in jüngster Zeit beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, daß für die Zeit Radiščevs, für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, sich eine auf Refor‑men orientierte und eine den gewaltsamen „revolutionären“ Umsturz nicht ab‑lehnende Auffassung durchaus ergänzen können. Die Radiščev eigene radikale Weltanschauung ließ eine Entwicklung in beiden Richtungen offen. Radiščev lebte in einer Zeit, in der sich der moderne Revolutionsbegriff erst herauszubil‑den begann. Damals strebten selbst radikale Denker noch nicht neue Verhält‑nisse an, sondern sie wollten – ich zitiere Karl Griewanks Feststellung – „Al‑tes oder schon Errungenes, in jedem Fall ein Bleibendes, erhalten oder wieder herstellen.“1 Der Widerstand gegen bestehende Mißstände hatte nicht das Ziel, einen neuen Zustand zu schaffen, sondern er war „Bestandteil des geltenden Rechtes und […] Regulativ gegen tyrannische Obrigkeiten“.2

1 Griewank, K.: Der neuzeitliche  Revolutionsbegriff. Entstehung und Entwicklung, Hamburg 1992, S. 18.

2 Ebenda, S. 19.

Einleitung

Problemstellung – Quellen ‒ Literatur Vorwort

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2 Einleitung

Mit einer solchen Definition ist auch das Streben Radiščevs charakterisiert. Er wollte allgemein persönliche Freiheiten durchsetzen. Das schien ihm im Rah‑men der gegebenen Verhältnisse durchaus möglich zu sein, der Weg dorthin war für ihn noch in jeder Weise offen. Erst für die folgende Generation, die Deka‑bristen, sollte diese Problematik Alternativcharakter annehmen. Über Radiščev könnten die Rousseau charakterisierenden Worte gesagt sein: „Alles andere als ein Revoluzzer, und gewaltbereit war er schon gar nicht […], jedoch rechtfertigte er mit seinen radikalen Argumenten die Beseitigung von existierenden Herr‑schaftsverhältnissen durch die Beherrschten.“3

Radiščevs Ziel war die persönliche Freiheit. Seine Auffassung nach konnte das auf unterschiedlichen Wegen erreicht werden: vorzuziehen sei der Weg der Reformen, aber nicht auszuschließen sei die Notwendigkeit des Aufstandes, des gewaltsamen Umsturzes. Daß Radiščev für die Erringung der Freiheit beide Wege – sowohl den Aufstand (das Wort Revolution findet sich bei ihm nicht) als auch Reformen – in Betracht gezogen hat, hebt ihn über die Denker seiner Zeit hinaus. Für ihn waren das zwei Möglichkeiten, aber noch nicht sich gegenseitig ausschließende Alternativen. Eine Entscheidung für den einen oder den anderen Weg sollte erst im 19. Jahrhundert zwingend werden.

Wenn man die für das 19. Jahrhundert charakteristische Polarisierung beider Auffassungen in das 18. Jahrhundert überträgt, muß das Urteil einseitig werden. Eine solche Einseitigkeit in der Einschätzung der Haltung Radiščevs dominierte in der bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts erschienenen Literatur so‑wohl in der Sowjetunion als auch – wenn auch mit entgegengesetzter Tendenz – in der englischsprachigen Literatur. Dabei wurde von Vertretern beider Richtun‑gen die radikale Konsequenz und die Unabhängigkeit des Denkens Radiščevs ausdrücklich betont.

In Darstellungen der russischen Geschichte und Literaturgeschichte des 18.  Jahrhunderts wurde, je nach der Sichtweise des betreffenden Autors, Radiščev entweder als der erste Revolutionär in der russischen Geschichte oder aber als Vorläufer des russischen Liberalismus des 19. und 20. Jahrhunderts betrachtet. Für die sowjetische Historiographie war die Bewertung Radiščevs als Revolutionär unverzichtbar. Die vor der Revolution 1917 erschienenen

3 Klenner, H.: „Die modernen Völker haben keine Sklaven, sie sind selbst welche.“ In: Sitzungsberichte. Leibniz‑Sozietät der Wissenschaften, Band 107: Jean‑Jacques Rous‑seau zwischen Aufklärung und Moderne, Berlin 2013, S. 68.

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Problemstellung – Quellen ‒ Literatur 3

Radiščev‑Publikationen näherten sich – vielfach schon aus Zensurgründen – überwiegend einer entgegengesetzten Auffassung. In der Polemik wurde von beiden Seiten den Vertretern anderer Auffassungen „Verfälschung“ der An‑schauungen Radiščevs vorgeworfen. Das ist als Überspitzung anzusehen. Da für Radiščev die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildende Aufgliederung des fortschrittlichen Lagers in einen liberalen und einen revolu‑tionären Flügel noch ohne Bedeutung war, sind beide Ansichten als berechtigt, aber doch als einseitig anzusehen.

Als Einführung in die Radiščev‑Forschung sind als ältere, problemorientierte Übersichten die Publikationen von Pavel Naumovič Berkov,4 der gemeinsame Aufsatz des Philosophen und Journalisten Jurij Fedorovič Karjakin und des His‑torikers Evgenij Grigor’evič Plimak5 sowie mein älterer Literaturbericht „Stand und Aufgaben der Radiščev‑Forschung“6 nützlich. Karjakin und Plimak haben ihre Gedanken erweitert in dem Buch „Verbotene Gedanken erhalten Freiheit. 175 Jahre Kampf um das ideologische Erbe Radiščevs“7 dargelegt. Bei diesen äl‑teren Berichten ist die zeitgebundene Orientierung zu berücksichtigen, so wa‑ren religiös‑theologische Fragestellungen von vornherein ausgeschlossen, auch die Freimaurerbewegung wurde nur marginal und recht einseitig beachtet. Die Aufmerksamkeit vorwiegend auf die eine revolutionäre Interpretation zulassen‑den Ausführungen Radiščevs zu konzentrieren, führte zu einer Verengung des Blickfeldes.

Die jüngste knappe Zusammenfassung bietet der sich auf die Fakten kon‑zentrierende Beitrag von Natal’ja Dmitrievna Kočetkova und Aleksandr Grigor’evič Tatarincev über Radiščev im Wörterbuch der russischen Schrift‑steller des 18.  Jahrhunderts.8 Der Forschungsstand wird dokumentiert, neue

4 Берков, П.  Н.: Некоторые спорные вопросы современного изучения жизни и  творчества А.  Н.  Радищева. In: XVIII век, Band 4, Moskau‑Leningrad 1959, S. 172‑205.

5 Карякин, Ю. Ф./Плимак, Е. Г.: О некоторых спорных проблемах мировоззрения А. Н. Радищева. In: Исторические записки, Band 66, 1960, S. 137‑205.

6 Hoffmann, P.: Stand und Aufgaben der Radiščev‑Forschung. In: Jahrbuch für Ge‑schichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas, Band 5, 1961, S. 375‑390.

7 Карякин, Ю. Ф./Плимак, Е. Г.: Запретная мысль обретает свободу. 175 лет борь‑бы вокруг идейного наследия Радищева, Moskau 1966.

8 Словарь русских писателей XVIII века, Band 3, S. Petersburg 2010, S. 16‑29.

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4 Einleitung

Fragestellungen klingen zumindest an. Betont werden die besondere Stellung Radiščevs in der Geschichte der russischen Literatur, sein politischer Radikalis‑mus, die Vielseitigkeit seines Schaffens sowie sein Interesse für moralische und psychologische Fragen. Die neue, vorwiegend russischsprachige Literatur wird in einer repräsentativen Auswahl angeführt.

Für die sowjetische Forschung war die These, Radiščev sei der „erste russi‑sche Revolutionär“ gewesen, ein Axiom. Karjakin und Plimak setzen das als bewiesen voraus, zugleich stellen sie fest, daß die „Entwicklung, der Charakter, die Tiefe und die Konsequenz seiner revolutionären Ideen“ noch nicht ausrei‑chend erforscht seien.9 Damit wurden trotz des vorweggenommenen und nicht infrage gestellten Ergebnisses interessante Diskussionen angestoßen. Der Beitrag beginnt mit einem ausführlichen historiographischen Exkurs, der die liberale Interpretation der Ansichten Radiščevs breit darlegt, zugleich jedoch als ein‑seitig‑verfälschende Sicht ablehnt. Die in den letzten Lebensjahren Radiščevs erkennbare Nähe zu Anschauungen Alexanders I. wird von ihnen konstatiert, jedoch als ein Aufgeben revolutionärer Zielsetzung interpretiert. Für die Auffas‑sung, daß im Werk Radiščevs beide Entwicklungslinien angelegt sind, war die Zeit noch nicht reif.

Durch die alternative Fragestellung – revolutionär oder liberal – wurde Radiščev aus seiner Zeit herausgelöst. Damit wurde Radiščevs Verhalten in den ersten Regierungsjahren Alexanders I. unverständlich und führte in der sow‑jetischen Forschung zu gegensätzlichen Standpunkten. In einem ausführlichen Bericht hatte ich 1969 ein Fazit dieser Diskussion über die letzten Lebensjahre Radiščevs vorgelegt.10 Die Gesamteinschätzung Radiščevs habe ich dabei nicht berührt, insgesamt seine starke Bindung an die europäische Aufklärung unter‑strichen.

Die biographische Literatur über Radiščev ist, trotz der Vielzahl der Titel, im Wesentlichen überschaubar. Ein Grund ist die Quellenlage – ein persönli‑cher Nachlaß Radiščevs existiert nicht. Nur gelegentlich sind einzelne persön‑liche Dokumente Radiščevs aufgefunden worden. Ergänzende Angaben zur

9 Карякин/Плимак: О некоторых спорных проблемах, S. 137.10 Hoffmann, P.: A.  N.  Radiščev nach der Rückkehr aus der Verbannung. In:

A. N. Radiščev und Deutschland. Beiträge zur russischen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig/Philologisch‑historische Klasse 114, Heft1), Berlin 1969, S. 119‑131.

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Problemstellung – Quellen ‒ Literatur 5

Biographie bieten unterschiedliche amtliche Akten, die aus der beruflichen Tä‑tigkeit Radiščevs stammen: entweder von ihm unterzeichnete Dokumente oder aber Berichte über seine Tätigkeit. Hier sind es unterschiedliche Komplexe, auf die besonders hingewiesen werden soll: die Senatsakten 1772/1773 wurden von Georgij Pantelejmonovič Makogonenko, die Akten des Kommerz‑Kollegiums, vor allem für die Jahre 1778 und 1779, von Abel’ Isaakovič Starcev systematisch durchforscht,11 die Materialien des Petersburger Hafenzolls von 1778 bis 1790 wurden von mir durchgearbeitet,12 die für die letzten Lebensjahre Radiščevs be‑deutsamen Materialien der Gesetzeskommission unter Alexander I. hat Dmitrij Semenovič Babkin erschlossen.13 Systematisch nach Radiščev‑Materialien in re‑gionalen Archiven haben Georgij Petrovič Štorm14 und Aleksandr Grigor’evič Ta‑tarincev15 gesucht. Mit diesen Forschungen wurden für die Biographie Radiščevs und sein Umfeld aussagekräftige Materialien zugänglich gemacht. Eine systema‑tische Zusammenfassung sollte nicht nur für die Radiščev‑Forschung, sondern darüber hinaus allgemein für die Literatur‑ und Geistesgeschichte sowie die Be‑hördengeschichte Rußlands in jener Zeit von Interesse sein.

Der folgende Überblick über die Radiščev‑Literatur will für die unterschied‑lichen Zeiten Umfang und Intensität der Forschungs‑ und Publikationstätigkeit illustrieren und Hauptlinien der Radiščev‑Forschung herausarbeiten.

In der Regierungszeit Alexanders I. war das Andenken an Radiščev noch le‑bendig. 1807‑1811 wurde von den Söhnen Radiščevs in sechs kleinen Bändchen

11 Старцев, А. И.: Радищев в годы «Путешествия», Moskau 1960.12 Hoffmann, P.: Aleksandr Nikolaevič Radiščev: Neue Materialien – neue Probleme.

In: Zeitschrift für Slawistik 34 (1989/3), S. 402‑409; ders.: Деятельность А. Н. Ради‑щева в коммерц‑коллегии (Обзор материалов). In: Археографический ежегод‑ник за 1987 год, Moskau 1988, S. 189‑200; ders.: Radiščev im Staatsdienst zur Zeit der beginnenden Krise des Feudalsystems in Rußland (achtziger Jahre des 18. Jh.). In: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas, Band 33, 1989, S.  225‑233; ders.: Радищев на государственной службе. In: Вспомогательные исторические дисциплины, Band XIX, Leningrad 1990, S. 144‑157.

13 Бабкин: Радищев.14 Шторм: Потаенный Радищев.15 Татаринцев, А. Г.: Сын отечества: Об изучении жизни и творчества А. Н. Ра‑

дищева, Moskau 1981; ders.: А. Н. Радищев. Архивные разыскания и находки, Ishewsk 1984.

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6 Einleitung

eine erste Ausgabe seiner Schriften vorgelegt,16 in der jedoch das Hauptwerk, die „Reise von Petersburg nach Moskau“, die Freiheitsode und der „Brief an einen in Tobolsk lebenden Freund“ nicht enthalten waren. Diese Ausgabe ist heute sehr selten, da 1812 beim Brand Moskaus ein wesentlicher Teil der Auflage vernichtet worden ist.

Unter Nikolaus I. stand nach dem Aufstand der Dekabristen der Name Radiščev auf dem Index. Die Bemerkung Puškins, daß Radiščevs Buch „Reise von Petersburg nach Moskau“ seinerzeit zwar den Zorn Katharinas II. hervor‑gerufen habe, jetzt sei es jedoch eine Seltenheit, die ihren Reiz verloren habe, könnte als Alibi gegenüber der Zensur verstanden werden. Beachtenswert ist seine Aussage: „Ihr Inhalt ist allgemein bekannt.“17 Aber Puškin war klar, daß er seine an Radiščevs „Reise“ angelehnte „Reise von Moskau nach Petersburg“ unter Nikolaus I. nicht werde veröffentlichen können – und so ist sie wie seine Studie zur Biographie Radiščevs Fragment geblieben.

Radiščevs Werk war trotz des offiziellen Verbots nicht unbekannt; es wur‑de in Handschriften verbreitet, die vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahr‑hunderts in großer Zahl angefertigt worden waren. Hinweise darüber finden sich bei den Dekabristen, bei Puškin und bei den revolutionären Demokraten. Wichtig ist die Publikation Alexander Herzens, der 1858 in London die „Reise“ Radiščevs erstmals seit 1790 – wenn auch nach einer vom Druck abweichenden Handschrift – wieder veröffentlicht hatte.18 1876 wurde nach dieser Ausgabe die „Reise“ Radiščevs in Leipzig in russischer Sprache erneut gedruckt.19 In Rußland waren diese Drucke verboten.

Nur in hundert Exemplaren und auf teurem Papier hatte 1887 Aleksej Sergeevič Suvorin die „Reise“ veröffentlichen können. Dmitrij Nikolaevič Anučin berichtet,

16 Собрание оставшихсия сочинений покойного Александра Николаевича Ради‑щева, предпринятое его сыновьями, Band I‑VI, Moskau 1807‑1811.

17 Пушкин, А. С.: Путешествие из Москвы в Петербург. In: Ders.: Полное собра‑ние сочинений в десяти томах, Band VII, Moskau 1964, S. 271; deutsch: Puschkin, A. S.: Aufsätze und Tagebücher (Gesammelte Werke in sechs Bänden, Band 5, Hrsg. H. Raab), Berlin‑Weimar 1965, S. 170.

18 О повреждении нравов в России князя М. Щербатова и Путешествие А. Ради‑щева с предисловием Искандера, London 1858 (Reprint Moskau 1983).

19 Радищев, А. Н.: Путешествие из Петербурга в Москву, Leipzig 1876 (Междуна‑родная библиотека XVII).

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Problemstellung – Quellen ‒ Literatur 7

daß diese Ausgabe trotz des hohen Preises (25 bis 60 Rubel je Exemplar) in zwei Tagen ausverkauft war.20

Seit den liberalen „Großen Reformen“ der sechziger Jahre des 19. Jahrhun‑derts konnte zumindest der Name Radiščev genannt werden. Dementsprechend sind einzelne Informationen in Zeitschriften erschienen, sein Hauptwerk blieb jedoch nach wie vor in Rußland verboten.

Zu den in jenen Jahren erschienenen ersten Informationen über Radiščev ge‑hörte der biographische Beitrag von Michail Ivanovič Suchomlinov.21 Wichtige Materialien über die Leipziger Zeit wurden als Dokumente der Politik Katha‑rinas II. in den Sammelbänden der russischen Historischen Gesellschaft veröf‑fentlicht.22 In der russischsprachigen Enzyklopädie von Brockhaus und Efron hat 1899 V. [Ja.] Jakuškin eine ausführliche Biographie Radiščevs und eine Ein‑führung in seine Werke, besonders auch für die „Reise“, gegeben, wobei er die Übereinstimmung vieler Schilderungen Radiščevs mit einzelnen Darlegungen Katharinas II. ausdrücklich hervorgehoben hat. Unklar blieb bei dieser Art der Darlegung, warum das Werk Radiščevs damals noch immer verboten war. Ausführlich schildert Jakuškin die Bemühungen um eine Veröffentlichung der Schriften Radiščevs und registriert die verschiedenen Maßnahmen, die eine Lockerung der anfänglich extrem strengen Zensurbestimmungen bedeuteten. Eine wohl annähernd vollständige Bibliographie der zu jener Zeit über Radiščev vorliegenden Literatur beschließt diesen Beitrag.23

Während der ersten Russischen Revolution 1905 bis 1907 wurde das Ver‑bot der Schriften Radiščevs 1906 aufgehoben; in rascher Folge erschienen jetzt sowohl Werkausgaben als auch Studien zur Biographie und zum Werk. 1907 sind zwei zweibändige Werkausgaben Radiščevs vorgelegt worden, die eine in

20 Анучин, Д. Н.: О людях русской науки и культуры, Moskau 1952, S. 293; Ради‑щев, А. Н.: Путешествие из Петербурга в Москву. Вольность (Литературные памятники), S. Petersburg 1992, S. 483 (Begleittext von V. A. Zapadov).

21 Сухомлинов, М. И.: А. Н. Радищев, автор путешествия из Петербурга в Мо‑скву. In: Сборник отделения русского языка и словесности имп. АН, Band 32, S. Petersburg 1883, S. 1‑143 (Nachdruck in ders.: Исследования и статьи по рус‑ской литературе и просвещению, Band 1, S. Petersburg 1889, S. 540‑671).

22 Сборник РИО, Band 10, S. Petersburg 1872.23 Энциклопедический словарь, Брокгауз/Ефрон, Band XXVI (51), S.  Petersburg

1899, S. 79‑84, Bibliographie S. 84‑85.

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8 Einleitung

Moskau unter der Redaktion von V. Kallaš,24 die andere in Sankt Petersburg un‑ter der Redaktion von Pavel Eliseevič Ščegolev, Aleksandr Kornilievič Borozdin und I. L. Lapšin.25 Unvollendet blieb die auf drei Bände angelegte Edition von S. N. Trojnickij.26 Beachtenswert ist der 1907 von V. I. Pokrovskij herausgege‑bene schmale Band mit historisch‑literarischen Studien zu Leben und Werk Radiščevs.27

Im „Russischen Biographischen Wörterbuch“ ist 1910 von A. Losskij ein aus‑führlicher Beitrag mit einer umfangreichen Bibliographie über Radiščev veröf‑fentlicht worden.28 Festgestellt wird, daß die „Reise“ ihm „Unsterblichkeit gegen‑über der Nachwelt“ gebracht hat (обезсмертавшее его в потомстве). Weiterhin wird hervorgehoben, daß die „Reise“ Ereignisse „ausschließlich aus dem russi‑schen wirklichen Leben“ schildert – das Buch sei deshalb noch immer aktuell. Radiščev sei der erste gewesen, der eine Reform des russischen Staates und der russischen Gesellschaft gefordert habe. Bei ihm seien jedoch noch viele Aussa‑gen unbestimmt, deutlich werde in seinem Werk der Gegensatz einerseits der Lehren der Aufklärung und andererseits der Lebensauffassung des russischen Menschen angesprochen.

Im gleichen Jahr 1910 legte Nikolaj Pavlovič Pavlov‑Sil’vanskij eine Biogra‑phie Radiščevs vor,29 die noch unvollständig war, aber als erster wissenschaftli‑cher Versuch einer Zusammenfassung bedeutungsvoll ist. 1914 veröffentlichte V.  V.  Mijakovskij eine umfangreiche Studie über das Studium der russischen Studenten um Radiščev in Leipzig,30 die in ihren wesentlichen Aussagen auch heute noch gilt, obwohl die Detailforschung seitdem umfangreiche zusätzliche Angaben vorgelegt hat.

24 Радищев, А. Н.: Полное собрание сочинений, Band I, II, Hrsg. V. Kallaš, Moskau 1907.

25 Радищев, А. Н.: Полное собрание сочинений, Band I, II, Hrsg. Ščegolev, P./Boroz‑din, A./Lapšin, I., S. Petersburg 1907.

26 Радищев, А. Н.: Собрание сочинений, Band I, Moskau 1907. 27 Покровский, В. И. (Hrsg.): Александр Николаевич Радищев. Его жизнь и сочи‑

нения, Moskau 1907 (Reprint Oxford 1985).28 Русский биографический словарь, Band: Притвиц – Рейс (15), S.  Petersburg

1910, S. 382‑388. 29 Павлов‑Сильванский, Н. П.: Жизнь Радищева. In: Очерки по русской истории

XVII‑XIX вв., Sankt Petersburg 1910.30 Мияковский, В.  В.: Годы учения А.  Н.  Радищева. In: Голос минувшего 1914,

März‑Mai.

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Problemstellung – Quellen ‒ Literatur 9

Im Bestreben, ihre Herrschaft zu legitimieren, sahen sich die Bolschewiki veranlaßt, in der russischen Vergangenheit die Wurzeln ihrer Bewegung aufzu‑suchen. Und da bot sich die Radiščev‑Thematik an. Das hatte Lenin schon im Dezember 1914 erkannt, als er in seinem Aufsatz „Über den Nationalstolz der Großrussen“ erklärte: „Wir sind stolz darauf, daß diese Gewalttaten Widerstand in unserer Mitte, im Lager der Großrussen hervorgerufen haben, daß aus die‑sem Lager Radischtschew, die Dekabristen, die Rasnotschinzen‑Revolutionäre der siebziger Jahre hervorgegangen sind.“31 Aber mit dem Bestreben, Radiščev in die revolutionäre Traditionslinie einzuordnen, war zugleich eine Verengung des Blickfeldes verbunden. Die Sicht konzentrierte sich auf die revolutionär zu interpretierenden Aspekte in seinem Schaffen, damit ging die Breite seiner An‑schauungen unvermeidlich verloren.

In der folgenden Übersicht über die in der Sowjetunion veröffentlichte Radiščev‑ Literatur wurde bewußt darauf verzichtet, Überblicksdarstellun‑gen, Handbücher und Hochschullehrbücher einzubeziehen, obwohl in ihnen zuweilen wertvolle neue Fragestellungen, Materialien und Erkenntnisse zur Radiščev‑Forschung erstmals veröffentlicht worden sind.

Bereits 1918 hatte Dmitrij Nikolaevič Anučin einen Bericht über die ihm bekannten Exemplare der Erstausgabe der „Reise“ Radiščevs vorgelegt.32 1922 und 1923 wurden von Vladimir Petrovič Semennikov zwei wertvolle Studien veröffentlicht. Zuerst ein Bericht über die von ihm aufgefundene Handschrift der „Reise“ aus dem Suvorin‑Nachlaß, die eine gegenüber dem Druck erweiterte Fassung bietet,33 es folgte ein Band mit Studien über Radiščev und sein Werk.34 Aber es sollte noch viele Jahre dauern, ehe auch das Werk Radiščevs dem Leser allgemein zugänglich gemacht werden konnte.

In der russischen Emigration hat sich 1930 Pavel Nikolaevič Miljukov in sei‑nen „Beträgen zur Geschichte der russischen Kultur“ ausführlicher mit Radiščev befaßt. Er sieht in Radiščev einen abtrünnigen Freimaurer – „als aus ihrer Mitte

31 Lenin, W. I.: Werke, Band 21, Berlin 1968, S. 92.32 Анучин, Д.  Н.: Судьба первого издания «Путешествия» Радищева, Moskau

1918, erneut veröffentlicht in Анучин, Д. Н.: О людях русской науки и культуры, Moskau 1952, S. 293‑317.

33 Семенников, В. П.: Новый текст «Путешествия из Петербурга в Москву», Mos‑kau 1922.

34 Семенников, В. П.: Радищев. Очерки и исследования, Moskau‑Petrograd 1923.

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10 Einleitung

sich einer (Radiščev)35 dem politischen Radikalismus zuwandte, da hielt es sein engster Freund Kutuzov, ein Anhänger der uns bekannten religiös‑moralischen Richtung, […] für seine Pflicht, in schärfster Weise die Grenze zwischen seinen eigenen Anschauungen und denen seines Freundes […] aufzuzeigen.“36 Richtig weist Miljukov darauf hin, daß Radiščev viele „Sympathisierende“ vor allem in der Kaufmannschaft gehabt habe.37 Recht breit geht Miljukov auf die Leipziger Studentenzeit ein, wobei er die kritische Haltung von Fedor Ušakov gegenüber den Lehren von Helvétius betont. Auch die englische Entwicklung im 17. Jahr‑hundert habe das Interesse der Studenten gefunden, besonders die „friedliche“ Revolution von 1688.38 Beachtenswert erscheint die Feststellung, daß die Leip‑ziger Studenten sich gegenüber den extremen Schlußfolgerungen der europä‑ischen Aufklärung „unentschieden“ gezeigt hätten.39

Zur allgemeinen Haltung Radiščevs stellt Miljukov fest, daß er viele Anschau‑ungen der Freimaurer geteilt, aber ihre spiritistischen Rituale grundsätzlich abgelehnt habe.40 Abschließend schreibt Miljukov, daß Radiščev sich in seiner Voraussicht nicht geirrt habe: die „kommende Generation“ hat sein Werk aufge‑nommen. Und auch mit seiner Voraussage der russischen Revolution im kom‑menden Jahrhundert habe er Recht behalten.41 Dabei beläßt es Miljukov – eine einseitige Charakterisierung Radiščevs als Liberaler oder als Revolutionär, wie sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts üblich wurde, findet sich bei ihm noch nicht.

In der Sowjetunion wurde 1935 eine zweibändige Ausgabe der „Reise von Petersburg nach Moskau“ veröffentlicht – der erste Band bietet einen Reprint der Ausgabe von 1790, der zweite Band ausführliche Kommentare,42 die in weiten Teilen durch die folgenden Forschungen überholt sind. Diese Edition ist bedeut‑

35 Einfügung in Klammern von Miljukov.36 Милюков, П. Н.: Очерки по истории русской культуры, Band 3, Moskau 1995

(erste Auflage Paris 1930), S. 380.37 Ebenda, S. 381.38 Ebenda, S. 388.39 Ebenda, S. 390.40 Ebenda, S. 392.41 Ebenda, S. 396.42 Радищев, А. Н.: Путешествие из Петербурга в Москву. Том I: Фотографическое

воспроизведение [...] издания 1790 г., Том II: Материалы к изучению «Путеше‑ствия», Мoskau 1935.

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Problemstellung – Quellen ‒ Literatur 11

sam, da mit ihr die Radiščev‑Rezeption in der Sowjetunion einsetzt. Im redak‑tionellen Vorwort des Kommentar‑Bandes heißt es noch: „Radiščev haben wir beinahe vergessen. So seltsam es ist, seit der Revolution ist auf dem Büchermarkt noch keine Neuausgabe seiner Werke erschienen.“43 Eine Gesamtausgabe seiner Schriften sei jedoch in Vorbereitung.

Die allgemeine Einschätzung Radiščevs ist beachtenswert: Ausdrücklich wird festgestellt: „Es wäre eine nicht notwendige Idealisierung, Radiščev uneinge‑schränkt als Revolutionär zu bezeichnen.“44 Zur Begründung wird darauf hinge‑wiesen, daß bei Radiščev die revolutionäre Praxis fehle, auch sei sein propagan‑distisches Wirken nicht vergleichbar etwa mit der Agitation Herzens. Radiščev sei in erster Linie Aufklärer gewesen. Aber damit werde keineswegs die Verbin‑dung von Radiščev zu den Dekabristen geleugnet.

Andererseits sei dieser Vorläufer (первенец) des russischen revolutionären Denkens zu lange unter den Fittichen der liberalen Wissenschaft geblieben, die auf alle mögliche Weise bei der Interpretation seines Schaffens revolutionäre Motive ignoriert und ausgelöscht habe.45

Das Ziel dieser Ausgabe sei es, dem Leser den authentischen Text Radiščevs in die Hand zu geben. Die wissenschaftliche Erforschung von Biographie und Werk Radiščevs wird als eine zukünftige Aufgabe angesehen.46 Der im zweiten Teil dieser Edition veröffentlichte, von Jakov Lazarevič Barskov verfaßte biogra‑phische Abriß über „Leben und Persönlichkeit“ Radiščevs47 bietet bereits eine erstaunlich umfassende Darstellung und damit für die Forschungen der folgen‑den Zeit eine zuverlässige Grundlage.

1936 wurde von Leningrader Literaturwissenschaftlern ein Radiščev‑ Sammelband vorgelegt, in dem der damalige Forschungsstand dokumentiert ist,48 1938 wurde erstmals in der Sowjetzeit die „Reise“ in einer hohen Auflage herausgegeben.49 1940 wurde in Moskau ein Studienband zur Geschichte der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts veröffentlicht, in dem drei Beiträge

43 Ebenda, Band II, S. 9.44 Ebenda, S. 10.45 Ebenda, S. 11.46 Ebenda, S. 15.47 Барсков, Я. Л.: А. Н. Радищев. Жизнь и личность. In: ebenda, Band II, S. 17‑170.48 Радищев. Материалы и исследования, Moskau 1936 (Reprint Düsseldorf 1972).49 Радищев, А. Н.: Путешествие из Петербурга в Москву, Leningrad 1938 (Hrsg.

von V. Desnickij).

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12 Einleitung

Radiščev gewidmet waren.501938, 1940 und 1952 sind die drei Bände der ersten wissenschaftlichen Gesamtausgabe der damals bekannten Schriften und Auf‑zeichnungen Radiščevs vorgelegt worden.51 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sein Hauptwerk, die „Reise von Petersburg nach Moskau“, wiederholt in hohen Auflagen aufgelegt. Damit waren wichtige Grundlagen für weitere Forschungen gegeben.

Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sind in der Radiščev‑Forschung als eine wichtige Zäsur anzusehen. Die konsequente Übertragung des eng interpre‑tierten marxistischen Revolutionsbegriffs auf die Radiščev‑Forschung führte zu wesentlichen neuen Erkenntnissen, zugleich jedoch zu einer Einengung der For‑schung. Zum 200. Geburtstag Radiščevs sind 1949 mehrere biographische Dar‑stellungen erschienen – unter anderem von Dmitrij Dmitrievič Blagoj,52 von Ge‑orgij Pantelejmonovič Makogonenko,53 von Boris Sergeevič Evgen’ev54 und von M[ichail Vasil’evič] Muratov55 – sowie eine Vielzahl von speziellen Studien und Aufsätzen. Diese Arbeiten bedienten vorwiegend den aktuellen Anlaß, sie brach‑ten nur im Ansatz neue Forschungsergebnisse und Erkenntnisse sowie neue Fra‑gestellungen, ließen jedoch erkennen, daß für die Radiščev‑Thematik ein breite‑res Interesse bei der sowjetischen Leserschaft entstanden war. Zugleich machten sie auf Forschungsdefizite aufmerksam. Aussagekräftig ist die Bibliographie, die der 1949 in zweiter Auflage erschienenen Arbeit von Evgen’ev beigegeben ist56 – die Masse der angeführten Literatur ist noch vor 1917 erschienen, wobei die Zeit von 1906 bis 1914 offensichtlich einen Schwerpunkt bildete. Aber es sind bereits einige Editionen des Jahres 1949 mit angeführt, so die Auswahl der philosophi‑schen Schriften Radiščevs.57 Die Veröffentlichungen dieses Jubiläumsjahres faßte ein in Leningrad 1950 herausgegebener Sammelband zusammen.58

50 Проблемы реализма русской литературы XVIII века, Moskau 1940.51 Радищев, А. Н.: Полное собрание сочинений, Band 1‑3, Moskau‑Leningrad 1938,

1941, 1952 (Band I Reprint Düsseldorf 1969).52 Благой, Д. Д.: Александр Радищев, 1949.53 Макогоненко, Г. П.: Радишев, Moskau 1949.54 Евгеньев, Б. С.: Радищев 1749‑1802, Moskau 1949 (die frühere Auflage von 1943 ist

1946 in London in englischer Übersetzung erschienen).55 Муратов, М.: Жизнь Радищева, Moskau‑Leningrad 1949.56 Евгеньев: Радищев, S. 338‑341.57 Радищев, А. Н.: Избранные философские сочинения, Moskau‑Leningrad 1949.58 Радищев. Статьи и материалов, Leningrad 1950.

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Problemstellung – Quellen ‒ Literatur 13

In den vierziger bis sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts sind außer ver‑schiedenen teils kurzen, teils ausführlichen, teils wissenschaftlichen, teils populären Biographien wichtige Spezialstudien zu einzelnen Aspekten der Radiščev‑Forschung veröffentlicht worden, die trotz des allgemein dogmatischen Herangehens an ihre Thematik im Detail manche wertvolle Вeobachtungen ver‑mitteln. An erster Stelle ist der Aufsatz von Ėmilija Samojlovna Vilenskaja in den „Вопросы истории“ über die historischen Anschauungen Radiščevs zu nen‑nen. Sie konstatiert die grundsätzliche Ablehnung der Selbstherrschaft durch Radiščev, wobei sie das Herausarbeiten des historischen Prozesses als Kampf ge‑gensätzlicher Kräfte als eine wesentliche Erkenntnis Radiščevs hervorhebt. Als Schlußfolgerung formuliert sie: Radiščev ist mit seinen Anschauungen über den Staat und die Volksmassen der erste Vorläufer der revolutionären Demokratie gewesen.59

Die in zwei Auflagen 1947 und 1949 – erschienene Arbeit von E. V. Prikazčikova wendet sich den ökonomischen Anschauungen Radiščevs zu.60 In speziellen Ka‑piteln untersucht sie die Haltung Radiščevs zur Erbuntertätigkeit, zur Entwick‑lung der Industrie, zum Handel und zur Preisgestaltung, über Geld und Kredit sowie zur Struktur der staatliche Abgaben (Zoll und Steuern).

Zu den juristischen und politischen Anschauungen Radiščevs liegen zwei Monographien vor. 1952 ist die recht breit angelegte Monographie von V. S. Po‑krovskij61 erschienen, die einleitend eine allgemeine Darlegung der russischen Geschichte im 18. Jahrhundert bietet, es folgen Ausführungen zur Biographie Radiščevs. In einem speziellen Kapitel werden die philosophischen und histo‑rischen Anschauungen Radiščevs skizziert und seine Stellung zur Revolution analysiert. Der Autor stellt fest, daß Radiščev als ein Anhänger der Volkssouve‑ränität, des Gesellschaftsvertrages, zu charakterisieren sei, wobei dem sozialen Aspekt Vorrang gegenüber der Regierungsform gegeben worden sei.62 Das un‑terscheide die Anschauungen Radiščevs grundsätzlich von den Auffassungen der französischen Aufklärung. Eine Besonderheit in der historischen Konzeption

59 Виленская, Э.: Исторические взгляды А.  Г.  Радищева. In: Вопросы истории, 1949, Heft, 9, S. 32‑51.

60 Приказчикова, Е. В.: Экономические взгляды А. Н. Радищева, Moskau‑Lenin‑grad 1949 (Erstauflage 1947).

61 Покровский, В. С.: Общественно‑политические и правовые взгляды А. Н. Ра‑дищева, Kiew 1952.

62 Ebenda, S. 110.

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14 Einleitung

Radiščevs bestehe darin, daß er für Rußland den historischen Fortschritt unver‑meidlich mit der bäuerlichen Revolution verknüpft habe. Den Übergang vom Despotismus zur Freiheit hielt Radiščev für unausweichlich.63

1956 ist die umfangreiche Monographie zu Fragen des Staatsrechts im Schaf‑fen Radiščevs von Serafim Aleksandrovič Pokrovskij erschienen,64 die, darauf sei ausdrücklich hingewiesen, eine zuverlässige und annähernd vollständige Biblio‑graphie der in russischer Sprache vorliegenden Schriften von und über Radiščev bietet, darunter auch eine Aufschlüsselung der in der dreibändigen Gesamt‑ausgabe veröffentlichten Werke Radiščevs und ein Verzeichnis der in der Sow‑jetunion verteidigten unveröffentlichten Dissertationen (aufgrund der in der Lenin‑Bibliothek in Moskau vorhandenen Dissertationen und Autoreferate).65

S. A. Pokrovskij bezeichnet das Verhältnis Radiščevs zur Revolution als nach wie vor strittig. Daß Radiščev eine revolutionäre Entwicklung bejaht habe, darü‑ber herrsche unter sowjetischen Forschern Einigkeit – diskutiert werde jedoch, ob er diesen Weg als einzige Möglichkeit gesehen habe, oder ob er gleichwertig auch die Möglichkeit von Reformen erwogen habe.66 Die erste Ansicht werde von Makogonenko, Babkin und anderen vertreten, Anhänger der zweiten Rich‑tung seien unter anderem D. D. Blagoj, E. V. Prikazčikova und Ė. S. Vilenskaja.

1962 hat Ivan Andreevič Derevcov eine kleine Arbeit über die pädagogischen Anschauungen Radiščevs67 vorgelegt, Vladimir Vladimirovič Pugačev 1960 eine Monographie über die „Entwicklung der politischen Ansichten“ Radiščevs.68

Hier einzuordnen ist auch die gegen Ende der Sowjetzeit erschienene Mono‑graphie von Pavel Semenovič Škurinov über Radiščevs Darlegungen zur „Philo‑sophie des Menschen“.69

Wenden wir uns den wissenschaftlichen Biographien Radiščevs zu: Noch 1956 schrieben Georgij Pantelejmonovič Makogonenko und Abel’ Isaakovič Star cev in den Vorbemerkungen zu ihren Büchern mit einem bedauernden Un‑terton fast wortgleich: „Eine wissenschaftliche Biographie des großen russischen

63 Ebenda, S. 121.64 Покровский, С. А.: Государственно‑правовые взгляды Радищева, Moskau 1956. 65 Ebenda, S. 284‑298.66 Ebenda, S. 132.67 Деревцов, И. А.: Педагогические идеи А. Н. Радищева, Moskau 1962.68 Пугачев, В.  В.: А.Н.  Радищев (Эволюция общественно‑политических взгля‑

дов), Gor’kij 1960.69 Шкуринов, П. С.: А. Н. Радищев – Философия человека, Moskau 1988.

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Problemstellung – Quellen ‒ Literatur 15

Schriftstellers und Revolutionärs des 18. Jahrhunderts Aleksandr Nikolaevič Radiščev ist bisher nicht geschrieben worden.“70 Beide erläuterten dann, daß eine Ursache die Spärlichkeit des ermittelten Materials sei.

Dieses Bild wurde jedoch durch vier Publikationen grundlegend korrigiert, das waren zum einen die Monographien von Georgij Pantelejmonovič Mako‑gonenko und Abel’ Isaakovič Starcev selbst, weiterhin die Untersuchungen von Leonid Borisovič Svetlov71 und von Dmitrij Semenovič Babkin.72 Diese Arbeiten bilden bis in die Gegenwart eine wesentliche Grundlage für jede Untersuchung zu Leben und Werk Radiščevs, auch wenn sie im Detail durch eine Vielzahl von Publikationen ergänzt und auch korrigiert worden sind und sich die Sicht auf Leben und Werk Radiščevs verändert hat. Es ist also naheliegend, diese Arbeiten eingehender vorzustellen und kritisch zu würdigen.

Makogonenko ist in der sowjetischen Literaturwissenschaft unter anderem als Autor verschiedener grundlegender Publikationen zur Geschichte der russi‑schen Literatur des 18. Jahrhunderts bekannt, von ihm stammen Monographien über Fonvizin,73 Novikov74 u. a. Seine Radiščev‑Forschungen75 hat er in der Pu‑blikation „Radiščev und seine Zeit“76 zusammengefaßt. Makogonenko war be‑müht, seine Darlegungen immer mit Quellen zu belegen. Dadurch konnte er zur Aufhellung der Biographie Radiščevs wesentliche Details beisteuern. Zugleich hat er ihn über seine Zeit hinausgehoben, wenn er feststellt „Im 18. Jahrhundert war Radiščev der einzige Revolutionär“, auch wenn er einschränkend hinzufügt, Radiščev habe nie als Einzelner gehandelt.77 Die Realität des 18. Jahrhunderts wird verlassen, wenn Makogonenko erörtert, ob Radiščev ein revolutionärer Demokrat oder ein Adelsrevolutionär gewesen sei.78 In seine Darstellung hat Makogonenko das allgemeine und das literarische Umfeld einbezogen, was dazu geführt hat, daß sich seine Darstellung über weite Strecken doch von ihrer

70 Макогоненко: Радищев и его время, S. 10; Старцев: Унив. годы, S. 3.71 Светлов: Радищев.72 Бабкин: Радищев.73 Макогоненко, Г. П.: Денис Фонвизин – Творческий путь, Moskau‑Leningrad 1969.74 Макогоненко, Г. П.: Николай Новиков и русское просвещение XVIII века, Mos‑

kau‑Leningrad 1952.75 Макогоненко, Г. П.: Радишев, Moskau 1949.76 Макогоненко: Радищев и его время.77 Ebenda, S. 12, vgl. S. 19.78 Ebenda, S. 16.

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16 Einleitung

eigentlichen Thematik recht weit entfernt. Unverständlich bleibt, daß Makogo‑nenko vorliegende Veröffentlichungen von Quellen weitgehend ignoriert und diese Materialien nach dem Archiv zitiert.79

Leonid Borisovič Svetlov arbeitet in den Vorbemerkungen zu seiner Radiščev‑Biographie die Widersprüchlichkeit der Politik Katharinas heraus, die einerseits im Nakas an die Gesetzeskommission Erklärungen ganz im Sinne der Aufklärung abgegeben hat, zur gleichen Zeit jedoch die Bauerngesetzgebung we‑sentlich verschärfte. Der Gutsherr konnte seine Bauern ohne Gerichtsurteil nach Sibirien in die Verbannung schicken,80 den Bauern wurde für eine Beschwerde über ihren Herrn schwere Bestrafung angedroht, bis hin zur Verbannung.81 Die Berechtigung solcher Beschwerden sollte grundsätzlich nicht überprüft werden. Ausführlich geht Svetlov auf die Zeitgenossen ein, die sich kritisch zur Politik Katharinas verhalten haben, um dann eine besondere Radikalität Radiščevs zu betonen. Ganz im Stil damaliger Auffassungen faßt Svetlov zusammen: Radiščev habe die revolutionäre Aktivität der unterdrückten Volksmassen als realen Fak‑tor angesehen, der eine Lösung der Fragen der Leibeigenschaft und der gesell‑schaftlichen Entwicklung herbeiführen könne.82

Dmitrij Semenovič Babkin ist in der Radiščev‑Forschung vor allem durch Quellenpublikationen bekannt geworden, unter anderem hatte er wesentlich an der Gesamtausgabe der Schriften Radiščevs mitgearbeitet. Seine Edition der Ma‑terialien des Radiščev‑Prozesses83 hat Maßstäbe gesetzt, auch wenn sie nicht alle heute an eine solche Edition zu stellenden Qualitätsmerkmale erfüllt; das Fehlen eines Registers erschwert die Benutzung dieser Publikation. Beachtenswert ist die von ihm betreute Veröffentlichung der Erinnerungen der Söhne Radiščevs an ihren Vater.84

Babkins Radiščev‑Biographie basiert weitgehend auf Archivmaterialien. Einleitend hatte er festgestellt: „In den letzten anderthalb Jahrzehnten hat die Erforschung von Leben und Schaffen Radiščevs große Fortschritte gemacht,

79 Beispielsweise die Leipziger Materialien, ebenda, S. 41, Anm. 1.80 Светлов: Радищев, S. 9 (mit Hinweis auf das Gesetz vom 17. Januar 1765, ПСЗ,

Band XVII, Nr. 12311).81 Светлов: Радищев, S. 9 (mit Hinweis auf das Gesetz vom 22. August 1767, ПСЗ,

Band XVIII, Nr. 12966).82 Светлов: Радищев, S. 30.83 Бабкин, Д. С.: Процесс А. Н. Радищева, Moskau‑Leningrad 1952.84 Бабкин (Hrsg.): Биография Радищева.

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Problemstellung – Quellen ‒ Literatur 17

aber auch jetzt stützen sich die Forscher auf die gleichen Fakten oft ohne aus‑reichende Überprüfung, wobei sie unvermeidlich Fehler der früheren Arbeiten wiederholen.“85 Dementsprechend ignoriert er weitgehend die umfangreichen Arbeiten seiner Kollegen. Makogonenkos große Monographie wird einmal in einer Randfrage zitiert,86 Svetlov bleibt unerwähnt. Babkin stellt fest, daß bisher vor allem die frühe Periode im Schaffen Radiščevs sowie die Zeit nach der Rück‑kehr aus der Verbannung ungenügend behandelt worden seien.87 Gerade diesen beiden Perioden wendet er sich deshalb besonders zu. Der Schwerpunkt seiner Darstellung liegt, wie der Untertitel klar erkennen läßt, immer im Bereich des literarisch‑politischen Schaffens Radiščevs.

Bedeutungsvoll sind die Veröffentlichungen von Abel’ Isaakovič Starcev, der 1956 und 1960 Studien über die Leipziger Jahre Radiščevs88 sowie über seine Zeit im Staatsdienst89 vorgelegt hat, die 1990, um ein Kapitel über die Ode „Volnost’“ erweitert, in einem Band zusammengefaßt erneut veröffentlicht worden sind.90

Von der Mitte der sechziger bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahr‑hunderts hat Aleksandr Grigor’evič Tatarincev wesentliche Beiträge zur Radiščev‑Forschung geliefert. Zu nennen sind vier Publikationen: Der satirische Aufruf zur Empörung91, Radiščev in Sibirien,92 seine Einführung in Leben und Werk Radiščevs (als Hilfsmittel für den Lehrer konzipiert)93 und sein Bericht über Archivforschungen und Funde.94

Eine eigenwillige Arbeit ist Georgij Štorms in drei Auflagen (1965, 1968, 1974) vorliegende Publikation „Der verheimlichte Radiščev“. Er berichtet ausführlich und anregend über seine Forschungen und den Weg seiner Ermittlungen. Es sind zwei Themenkreise, denen er seine Aufmerksamkeit widmet. Als erstes die These, daß Radiščev nach der Rückkehr aus der Verbannung sein Hauptwerk

85 Бабкин: Радищев, S. 5. 86 Ebenda, S. 228.87 Ebenda, S. 5.88 Старцев: Университетские годы.89 Старцев: Радищев в годы.90 Старцев, А. И.: Радицев. Годы испытания, Moskau 1990.91 Татаринцев, А. Г.: Сатирическое воззвание к возмущению, Saratov 1965.92 Татаринцев, А. Г.: Радищев в Сибири, Moskau 1977.93 Татаринцев, А. Г.: Сын отечества: Об изучении жизни и творчества А. Н. Ради‑

щева, Moskau 1981.94 Татаринцев: Архивные разыскания.

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18 Einleitung

überarbeitet und dabei wesentlich verschärft habe. Diese These steht jedoch auf schwachen Füßen. So weist Starcev nach, um hier ein Argument anzuführen, daß die von Štorm als Reaktion auf die Französische Revolution gedeuteten, nur in der erweiterten Fassung der Ode „Volnost’“ zu findenden Strophen zu Be‑ginn der achtziger Jahre einen aktuellen Hinweis auf den amerikanischen Unab‑hängigkeitskrieg geboten haben, der am Ende der achtziger Jahre – zur Zeit der Drucklegung der „Reise“ – nicht mehr gegeben war. Folgerichtig habe Radiščev diese Strophen deshalb gestrichen.95 Im Detail hat sich Vladimir Aleksandrovič Zapadov mit der These Štorms auseinandergesetzt und in diesem Zusammen‑hang auf viele falsche Aussagen Štorms über die von ihm angeführten Hand‑schriften hingewiesen.96

Die zweite Linie der Forschungen Štorms, die er seiner Hauptthese unter‑ordnet, betrifft die verwandtschaftlichen Beziehungen der Familie Radiščev. Dazu hat Štorm wichtige Angaben zusammengetragen, die die Bedeutung der Familie Argamakov – Aleksanders Mutter war eine geborene Argamakova – als Bindeglied der Familien Radiščev, Tatiščev, Griboedov, Jakuškin, Puškin, um hier einige wesentliche Namen zu nennen, erstmals erschließen. Da Štorm diese Angaben als Nebenprodukt seiner Forschungen betrachtet, bietet er dazu keine systematische Zusammenfassung. In einer Rezension hatte ich gerade die Be‑deutung dieser genealogischen Forschungen herausgearbeitet,97 aber Štorm hat meine Aussage nicht verstanden – oder nicht verstehen wollen. Ich hatte meiner Rezension genealogische Tafeln beigefügt, in denen die von Štorm gebotenen Angaben übersichtlich zu erfassen sind. Er hingegen bemängelte,98 daß ich zwei Frauen der Familie Argamakov, die zwar für seine Hauptthese, nicht aber für die Familienverbindungen wichtig sind, hier nicht angeführt habe – er ignorierte damit bewußt die auf die genealogischen Verbindungen gerichtete Zielstellung meiner Rezension.

Štorm sieht in Radiščev den konsequenten Revolutionär. Schon die von Karja‑kin und Plimak beobachteten, nicht mit einer solchen konsequent revolutionären

95 Старцев, А.  И.: Радищев. Годы испытания, Moskau 1990, S.  282 ff., besonders auch S. 300.

96 Радищев: Путешествие, S. 493, 510 und andere.97 Hoffmann, P.: Rezension zu Шторм, Г.: Потаенный Радищев, Moskau 1965. In:

Zeitschrift für Slawistik XI (1966,3), S. 443‑447.98 Шторм: Потаенный Радищев, S. 164, Anm.

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Problemstellung – Quellen ‒ Literatur 19

Einstellung zu vereinbarenden Äußerungen Radiščevs über Peter I. und Kathari‑na II. kann er in seine schematische Sicht nicht einordnen. Dabei werden diese Äußerungen voll verständlich, wenn man in Radiščev einen radikalen, konse‑quenten Aufklärer sieht, dessen Ziel die Durchsetzung persönlicher Freiheit ist, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dann stehen solche Äußerungen nicht im Widerspruch zu seiner Grundhaltung.

1992 ist – gewissermaßen als Abschluß und Höhepunkt der sowjetischen Radiščev‑Forschungen – in der Reihe „Literaturdenkmäler“ (Литературные памятники) von Vladimir Aleksandrovič Zapadov eine wissenschaftliche Edi‑tion von Radiščevs Hauptwerk, der „Reise von Petersburg nach Moskau“, vorge‑legt worden, die alle zur Zeit bekannten Handschriften einbezogen hat.99 Damit ist für weitere Forschungen eine wichtige Grundlage gegeben.

Seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ist es um die Radiščev‑ Forschung ruhiger geworden, was angesichts des gesellschaftlichen Umbruchs nach der Auflösung der Sowjetunion durchaus verständlich erscheint.

Als selbständige Studie, die Hinweise auf viele Radiščev‑Aufsätze der jüngeren Zeit bietet, ist das Buch von Jurij Michajlovič Nikišov „Die Weisheit Radiščevs“ erschienen. Diese einer Analyse von Radiščevs Hauptwerk, der „Reise von Pe‑tersburg nach Moskau“ gewidmete Monographie beginnt mit der Feststellung, daß sich die Verhältnisse in Rußland und damit die Einstellung zur Revoluti‑on „jäh veränderten“ (круто изменилась). Angeschlossen wird die Frage: „Wie gestaltet sich jetzt die Haltung zum ersten russischen Revolutionär?“100 Aber zu einer Neubewertung des Schaffens Radiščevs finden sich nur gelegentliche Ansätze. Nikišovs Forderung, Radiščevs Werk „neu zu lesen“ (перечитать за‑ново),101 führt nur zu halbherzigen Ergebnissen. Radiščevs Buch wird als „enzy‑klopädisch reich“ bezeichnet.102 Die Schlußfolgerung lautet: die konkreten Schil‑derungen Radiščevs sind veraltet, die Methodologie seines Denkens ist hingegen nicht überholt, seine „Weisheit“ bestehe darin, daß er Beispiele dafür bietet, wie

99 Радищев, А. Н.: Путешествие из Петербурга в Москву. Вольность (Литера‑турные памятники), S. Petersburg 1992, hrsg. von V. A. Zapadov.

100 Никишов, Ю. М.: Мудрость Радищева («Путешествие из Петербурга в Мо‑скву»), Tver‘ 2009, S. 3.

101 Ebenda, S. 4.102 Ebenda, S. 8.

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20 Einleitung

sich komplizierte Probleme lösen lassen.103 Die These, Radiščev sei der erste rus‑sische Revolutionär gewesen, wird von Nikišov nicht in Frage gestellt.

Zwei in kleinen Auflagen erschienene Sammelschriften bieten mehrere Radiščev‑Aufsätze. Im Band 10 der Reihe „Das philosophische Jahrhundert“ finden sich sechs Beiträge zur Gedankenwelt Radiščevs, die nur sehr vereinzelt biographisch relevante Fragen berühren.104 Der Band „Radiščev: russische und europäische Aufklärung“ bietet elf, meist recht spezielle, Beiträge zu einzelnen Fragen der Biographie und des Werkes Radiščevs.105

Einzelne Aufsätze106 sowie Kapitel in thematisch breiter angelegten Monogra‑phien haben beachtenswerte Detailbeobachtungen erbracht.

Eine eigenständige Thematik ist die Radiščev‑Forschung in Deutschland. 1860 war im „Archiv für wissenschaftliche Kunde von Rußland“ anonym der Beitrag „A. N. Radischew. Schicksale eines russischen Publizisten“ erschienen.107

Das Studium der Gruppe russischer Studenten in Leipzig hat schon früh die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. 1910 veröffentlichte A. Philipp im Leipziger Kalender einen Beitrag über die russischen Studenten an der Leipziger Univer‑sität, der sich im Wesentlichen darauf beschränkte, das Leipziger Aktenmaterial darzulegen.108 1921 gab Wilhelm Stieda eine Übersicht über das Studium russi‑scher Studenten an der Leipziger Universität seit ihrer Gründung 1409 bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Einen breiten Raum nimmt dabei der Bericht über die Akten des Universitätsarchivs zur Auseinandersetzung der russischen Stu‑dentengruppe mit ihrem Hofmeister Bockum 1767 ein. Als Anhang veröffent‑licht er die im Leipziger Universitätsarchiv vorhandene Übersetzung des Nakas

103 Ebenda, S. 22.104 Философский век 10. Философия как судьба. Российский философ как соци‑

окультурный тип, S. Petersburg 1999.105 А. Н. Радищев: Русское и европейское просвещение, S. Petersburg 2003.106 So bietet die Русская литература, Heft 1/2000 vier Beiträge zum 250. Geburts‑

tag Radiščevs; weiterhin Kostin, A.: Radishchev’s Diary of One Week as a Story of Madness. In: Emotion und Kognition. Transformationen in der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 48), Berlin‑Boston 2013.

107 Archiv für wissenschaftliche Kunde von Rußland, Band 19, 1860, S. 77 ff.108 Philipp, A.: Russische Studenten in Leipzig (1767). In: Leipziger Kalender 1910,

S. 163‑172.

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Problemstellung – Quellen ‒ Literatur 21

Katharinas II. an die künftigen Studenten.109 Stieda fehlen über dieses Aktenma‑terial hinausgehende Kenntnisse. Er weiß nichts über das weitere Schicksal der Studenten, ihm ist nicht bekannt, daß Bockum bald darauf verhaftet wurde und aus dem Arrest geflohen ist, für ihn verbinden sich mit Namen wie Radiščev, Kozodavlev u. a. keine weiterführenden Informationen, er bringt die Namen der russischen Studenten in der entstellten Form, wie sie die Leipziger Matrikel bie‑tet. Damit bleibt Stieda das Verdienst, auf diese Akten aufmerksam gemacht zu haben; für die weitere Forschung ist sein Beitrag jedoch bedeutungslos.

Die „Reise von Petersburg nach Moskau“ wurde von Arthur Luther 1922 in deutscher Übersetzung vorgelegt.110 In der DDR ist diese Schrift Radiščevs in neuen Übersetzungen mehrfach veröffentlich worden – recht frei ist die 1952 er‑schienene Übertragung von Anneliese Bauch,111 weit genauer und zuverlässiger die Übersetzung von Günter Dalitz, die 1961 mit einem Vorwort von Helmut Graßhoff112 und 1982 mit einem Nachwort von Annelies Graßhoff113 herausge‑geben worden ist. Im Folgenden wird Radiščevs Hauptwerk nach dieser Über‑setzung in der Ausgabe von 1961 zitiert. Da zugleich grundsätzlich das Kapitel angegeben wird, dürfte eine solche Zitierung ausreichend sein. Auch in anderen Ausgaben kann somit, da die Kapitel in der Regel nur wenige Seiten umfassen, die betreffende Zitatstelle relativ leicht ermittelt werden.

1959 ist – der von Ivan Jakovlevič Ščipanov in russischer Sprache veröffent‑lichten Auswahl der philosophischen Schriften Radiščevs von 1952114 folgend – von Erich Salewski eine deutschsprachige Radiščev‑Auswahl115 vorgelegt wor‑den, bei der jedoch das Hauptwerk, die „Reise von Petersburg nach Moskau“,

109 Stieda, W.: Russische Studenten in Leipzig. In: Neues Archiv für sächsische Ge‑schichte und Altertumskunde, Band 42, Dresden 1921, S. 124 ff., der Nakas Katha‑rinas S. 134‑136.

110 Radischtschew, A. N.: Die Reise von Petersburg nach Moskau, übersetzt von A. Lu‑ther, Leipzig 1922.

111 Radistschew, A. N. Reise von Petersburg nach Moskau, Deutsch von A. Bauch, Ber‑lin 1952.

112 Radistschew, A. N.: Reise von Petersburg nach Moskau, übersetzt von G. Dalitz, Nachwort von H. Graßhoff, Berlin1961.

113 Radischtschew, A.: Reise von Petersburg nach Moskau, Übersetzung von G. Dalitz, Nachwort von A. Graßhoff, Leipzig 1982 (Reclam 921).

114 Радищев, А. Н.: Избранные философские и общественно‑политические про‑изведения, o. O. [Moskau] 1952.

115 Radistschew, A. N.: Ausgewählte Schriften, Berlin 1959.

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22 Einleitung

sowie die Gedichte ausgeschlossen worden sind. Da Radiščev wesentliche phi‑losophische Gedanken gerade in seinen Gedichten formuliert hat, bleiben doch wichtige Bereiche im Denken Radiščevs nach wie vor dem deutschsprachigen Leser verschlossen.

1957 wurde der im Original 1932‑1939 in drei Lieferungen veröffentlichte Radiščev‑Roman von Ol’ga Forš erstmalig in der DDR in deutscher Überset‑zung mit dem Titel „Die Kaiserin und ihr Rebell“ veröffentlicht.116 Dieser Roman spiegelt den Forschungsstand der dreißiger Jahre wider – da werden revolutio‑näre Handwerksgesellen und andere der historischen Realität nicht entsprechen‑de Schilderungen über Gebühr hervorgehoben, Jesuitenorden und Freimaurer werden als gemeinsam agierende Organisationen dargestellt. Im Roman werden historische Personen recht frei angeführt – trotz dieser und anderer Mängel trug dieser in der DDR weit verbreitete Roman dazu bei, Kenntnisse über Radiščev und seine Zeit zu vermitteln. Da Ol’ga Forš der Begegnung Goethes mit Radiščev breiten Raum widmet, ist Erhard Hexelschneider auf ihren Roman recht ausführ‑lich eingegangen und skizzierte dabei einleitend dessen zeitbedingten Grenzen.117

Bis 1945 sind in Deutschland zwei Arbeiten zur Radiščev‑Thematik erschie‑nen – 1931 von Eugenie Singer eine biographische Studie118 sowie 1937 von Georg Sacke die Untersuchung über Radiščevs Beteiligung an der Ausarbeitung des „Gnadenbriefes für das russische Volk“.119

Die in der DDR zur Radiščev‑Problematik erschienene Forschungsliteratur ist durch Bibliographien gut erschlossen.120 Ausdrücklich ist auf zwei thematische

116 Forsch, O.: Die Kaiserin und ihr Rebell. Ein Roman um Alexander Radistschew und Katharina II. von Rußland, Berlin 1957 (10. Auflage 1978).

117 Hexelschneider, E.: Haben sich Goethe und Radiščev während ihres Studiums in Leipzig getroffen? In: Leipzig, Mitteldeutschland und Europa. Festgabe für Man‑fred Straube und Manfred Unger zum 70. Geburtstag, Beucha 2000, S. 87 f.

118 Singer, E.: Aleksandr Nikolaevič Radiščev. In: Jahrbücher für Kultur und Geschich‑te der Slawen VII, 1931, S. 113‑162.

119 Sacke, G.: Graf A. Voroncov, A. N. Radiščev und der „Gnadenbrief für das russische Volk“, Emsdetten 1937.

120 Pohrt, H./Rappich, H.: Slawistische Publikationen der DDR bis 1962, Berlin 1963, S. 62 f.; Pohrt, H.: Bibliographie slawistischer Publikationen aus der DDR 1946‑1967, Berlin 1968, S. 164 f. (Nr. 2262‑2279); ders.: Bibliographie slawistischer Publikatio‑nen aus der DDR 1968‑1976, Berlin 1974, S.  113 f. (Nr.  1493‑1510); Gutschmidt, K./Pohrt, H./Schultheis, J.: Bibliographie slawistischer Publikationen aus der DDR 1973‑1977, Berlin 1979, S. 105 f. (Nr. 1624‑1642); vgl. auch Smith, G. S.: Radishchev:

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Problemstellung – Quellen ‒ Literatur 23

Sammelschriften hinzuweisen: auf den Band „A.  N.  Radiščev und Deutsch‑land“ der Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig,121 sowie auf das Radiščev‑Sonderheft der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Karl‑Marx‑Universität Leipzig zum 175. Geburtstag Radiščevs.122

In der Bundesrepublik Deutschland wurde vor 1990 auf Radiščev in zu‑sammenfassenden Werken zur russischen Geschichte und Literaturgeschichte hingewiesen,123 nur vereinzelt sind spezielle Aufsätze erschienen,124 Monogra‑phien und thematische Sammelbände fehlen. Die gebotenen knappen Ausfüh‑rungen sind selbst für eine erste Orientierung über Leben und Werk Radiščevs vielfach unzulänglich.125 Noch am ausführlichsten ist die Darlegung in der äl‑teren Darstellung der Geschichte der russischen Literatur von Adolf Stender‑ Petersen,126 aber die einseitige Sicht auf Radiščevs Werk wird schon in der Kapi‑telüberschrift „Begründer der Reisebriefgattung“ erkennbar.

Einen eigenen größeren Abschnitt über das Schaffen Radiščevs hat Joachim Klein in seiner vor wenigen Jahren erschienenen Monographie zur russischen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts eingefügt.127 Er sieht in Radiščev einen „militanten Aufklärer“ – er ist „wie kein anderer russischer Autor des 18. Jahr‑hunderts in seinem Werk für das Menschenrecht der leibeigenen Bauern und das Prinzip der freien Meinungsäußerung eingetreten.“128 Klein weist darauf hin,

A  Concise Bibliography of Works, published outside the Soviet Union. In: Study Group on Eighteenth Century Russia. Newsletter. Vol. 2 (1974), S. 53‑61.

121 A. N. Radiščev und Deutschland. Beiträge zur russischen Literatur des ausgehen‑den 18. Jahrhunderts (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissen‑schaften zu Leipzig/Philologisch‑historische Klasse, Band 114/1), Berlin 1969.

122 Zum 175. Todestag A. N. Radiščevs. Karl‑Marx‑Universität Leipzig. Wissenschaft‑liche Zeitschrift, 1977, Heft 4.

123 Hoffmann, P.: Radiščev‑Literatur in Westdeutschland. In: Zeitschrift für Slawistik VI (1961), Heft 1, S. 120‑129.

124 Wedel, E.: Radiščev und Karamzin. In: Welt der Slawen IV (1959), S. 38‑65; ders. A. N. Radiščevs Reise und N. M. Karamzins Reise. In: ebenda, S. 302‑328.

125 Vgl. Lauer, R.: Geschichte der russischen Literatur von 1700 bis zur Gegenwart, München 2000, S. 118 f.

126 Stender‑Petersen, A.: Geschichte der russischen Literatur, Band 2, München 1957, S. 13‑17.

127 Klein, J.: Russische Literatur im 18. Jahrhundert (Bausteine zur slavischen Philolo‑gie und Kulturgeschichte, Reihe A: Slavistische Forschungen, N: F. 58), Köln‑Wien‑ Weimar 2008, S. 276‑290.

128 Ebenda, S. 276.

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daß Radiščev einen neuen Typ des Helden in die russische Literatur eingeführt hat, der Empfindsamkeit und kritische Vernunft miteinander in einer Weise ver‑bindet, wie sie für die späte Phase der Aufklärung charakteristisch ist.129

Die anderen in der Bundesrepublik erschienenen Geschichten der russischen Literatur erreichen trotz einzelner weiterführender Beobachtungen nicht das Ni‑veau dieser maßgeblichen Darstellungen von Stender‑Petersen und Klein.

Die ausführlichste deutschsprachige westliche Darstellung von Leben und Werk Radiščevs bietet der Schweizer Historiker Valentin Gitermann in seiner erstmalig 1949 erschienenen „Geschichte Russlands“.130 Ausführlich geht er auf den Inhalt der „Reise von Petersburg nach Moskau“ ein und schildert verschie‑dene markante Episoden. Für die Haltung Gitermanns bezeichnend ist seine Zu‑sammenfassung: „Vielleicht hat Radischtschew gehofft, Katharina die Augen zu öffnen, sie […] zur Einsicht zu bringen, daß sie sich nicht mit der Aufrichtung vergoldeter Fassaden begnügen dürfe. Es trat jedoch eine ganz andere Wirkung ein.“131 Katharina erwies sich „als enge und kleinliche Natur.“132 Neben kennt‑nisreichen Angaben zur Biographie finden sich auch falsche Informationen, so der Hinweis, Radiščev habe einen „Abschiedsbrief an seine Freunde“ geschrie‑ben, in dem er „erklärte, daß ein gebildeter und freiheitsliebender Mensch im despotisch regierten russischen Staate nicht leben könne“133 – einen solchen Ab‑schiedsbrief gibt es jedoch nicht, wenn es ihn geben würde, wären die Diskus‑sionen über den Tod Radiščevs – bewußter Selbstmord oder zufälliger, als Unfall einzustufender Suizid – hinfällig.

Eine kompakte Zusammenfassung der Deutschlandbezüge im Schaffen Radiščevs gibt 1992 Dieter Boden in seinem Beitrag zum Wuppertaler Projekt Lew Kopelews „West‑östliche Spiegelungen“.134 Zu bedauern ist, daß Boden die in der DDR erschienene Forschungsliteratur und die deutschsprachigen Ausga‑ben der Schriften Radiščevs ignoriert hat, er zitiert nach russischen Editionen,

129 Ebenda, S. 284.130 Gitermann, V.: Geschichte Russlands, Band II, Hamburg 1949, S. 253‑262.131 Ebenda, S. 258.132 Ebenda, S. 259.133 Ebenda, S. 262.134 Boden, D.: Deutsche Bezüge im Werk Nikolaj Novikovs und Aleksandr Radiščevs.

In: Herrmann, D. (Hrsg.): Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 18. Jahr‑hundert: Aufklärung (West‑östliche Spiegelungen, Reihe B, Band 2), München 1992, S. 460‑472.

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die selbst in großen wissenschaftlichen Bibliotheken Deutschlands durchaus nicht immer greifbar sind. In einer für den deutschen Leser konzipierten Pu‑blikation sollten Hinweise auf vorhandene deutsche Übersetzungen eigentlich unverzichtbar sein.

Meiner Auffassung von Werk und Weltanschauung Radiščevs kommt Dirk Uffelmann in seinem beachtenswerten Aufsatz „Radiščev lesen“ recht nah. Er sieht eine „irreduzible Koexistenz von Widersprüchen, welche das Putešestvie aufweist“. Mit der geradlinigen Interpretation, wie sie in der Sowjetzeit üblich gewesen war, sei diese „Koexistenz“ unterschiedlicher Meinungen „zum Manko“ geraten. Der literarische Charakter von Radiščevs „Reise“ werde „rüde vernach‑lässigt“, wenn sie „als Dokument politischer Philosophie insistiert wird“.135 Zu‑sammenfassend heißt es weiterhin: „Ein fixes Band von Theorieproduktion und ‑rezeption gibt es nicht.“136 Es handle sich um „eine geistige Reise“ – nämlich durch die „zerklüftete Landschaft zeitgenössischer politischer Konzepte.“137 Ins‑gesamt „mag sich Radiščev nicht auf eine politische Strategie festlegen.“138 Da‑mit hebt auch Uffelmann die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Zielstellungen bei Radiščev hervor. Als Resümee notiert Uffelmann: „Der Ausweg des realen Umsturzes bleibt Leerstelle“ – der Reisende wird damit zu einem Vorläufer des „überflüssigen Menschen“ (лишний человек), der im 19. Jahrhundert zu einer zentralen Figur der russischen Literatur werden sollte (Pečorin, Onegin, Oblo‑mov und andere).139

Einen weiteren Beitrag zur Radiščev‑Forschung liefert Hilmar Preuß in sei‑nem Buch „Vorläufer der Intelligencija?! Bildungskonzepte und adliges Verhal‑ten in der russischen Literatur und Kultur der Aufklärung“. Sein Bestreben, eine Verbindung zwischen der russischen Literatur in der zweiten Hälfte des 18. Jahr‑hunderts und dem 19. Jahrhundert herzustellen, öffnet manche eigenwilligen Sichten. Neben Sumarokov, Novikov, Fonvizin, Karamzin, der Gräfin Dažkova und anderen bietet Preuß auch einen umfangreichen Abriß über Leben und Wirken Radiščevs. Er rezipiert die vorliegenden Forschungen, bietet in der vom

135 Uffelmann, D.: Radiščev lesen. Zur Strategie des Widerspruchs im Putešestvie iz Peterburge v Moskvu. In: Wiener Slawistischer Almanach 43 (1999), S. 6.

136 Ebenda, S. 20.137 Ebenda, S. 6.138 Ebenda, S. 18.139 Ebenda, S. 19.

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Titel her vorgegebenen Problematik – Bildungswesen, Erziehung usw. – durch‑aus weiterführende Fragestellungen und Materialien. In den Anmerkungen wird die neueste Literatur erschlossen.140

Die reichhaltige englischsprachige Radiščev‑Literatur wurde von der russi‑schen Forschung bisher nur ungenügend rezipiert. William Edward Brown führt in seiner englischsprachigen Geschichte der russischen Literatur 30 Titel von Monographien und Aufsätzen in englischer Sprache zur Radiščev‑Thematik an,141 neben originalen englischen und amerikanischen Veröffentlichungen auch die Übersetzung der Biographie Evgen’evs (1946)142 und die Übersetzung der „Reise von Petersburg nach Moskau“.143

Bedeutung besitzen die Monographien von David Marshall Lang über den radikalen Aufklärer Radiščev,144 sowie die biographische Studie von Allen McConnell,145 weiterhin die Untersuchung von Jesse V. Clardy über die philoso‑phischen Anschauungen Radiščevs.146 Als Aufsatz ist von Victoria Frede (Berke‑ley, USA) ein Beitrag über Radiščevs Schrift von der Sterblichkeit und Unsterb‑lichkeit des Menschen zu erwähnen.147

David Marshall Lang nennt sein Buch „Der erste russische Radikale“ – diesen Titel kann man voll akzeptieren, wenig überzeugend ist jedoch, daß der Autor in völlig ahistorischer Weise die Schilderung von Leben und Werk Radiščevs mit seinen eigenen politischen Anschauungen verknüpft. Russische Verhältnisse des

140 Preuß, H.: Vorläufer der Intelligencija?! Bildungskonzepte und adliges Verhalten in der russischen Literatur und Kultur der Aufklärung (Ost‑West‑Express. Kultur und Übersetzung 18), Berlin 2013, S. 247‑288).

141 Brown, W. E.: A History of 18 Century Russian Literature, Ann Arbor/Michigan 1980, S. 638‑639.

142 Vgl. oben Anm. 41.143 Radishchev, A. N.: A Journey from St. Petersburg to Moscow, translated by L. Wie‑

ner, Cambridge (Mass.) 1959; vgl. die einseitig negative Rezension von Evgenij Pli‑mak: Правда книги и ложь комментарии. In: Критика буржуазных концепций истории России периода феодализма, Moskau 1962, S. 352‑411.

144 Lang, D. M.: The First Russian Radical Alexander Radishchev 1749‑1802, London 1959.

145 McConnell, A.: A  Russian Philosophe Alexander Radishchev 1749‑1802, The Hague 1964 (Nachdruck Westport/Conn. 1981).

146 Clardy, J. V.: The Philosophical Ideas of Alexander Radishchev, New York 1969.147 Frede, V.: „O cheloveke, o ego smertnosti i bessmertii“ and Radishchev’s self‑image

as a „true philosopher“. In: Философский век 10: Философия как судьба, S. Pe‑tersburg 1999, S. 245‑255.

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18. Jahrhunderts werden mit den Gegebenheiten in der Sowjetunion gleichge‑setzt, die doch völlig anders gearteten gesellschaftlichen Grundlagen im Zeit‑alter des Absolutismus und zu Zeiten des Sowjetsystems werden ignoriert. Da‑mit wird unverständlich, daß Radiščevs Buch in der Sowjetzeit sich besonderer Beliebtheit erfreuen konnte und breit propagiert worden ist, daß eine intensive Erforschung von Leben und Werk Radiščevs überhaupt erst in sowjetischer Zeit möglich geworden war.148 Lang wendet sich dagegen, wie in der Sowjetunion üb‑lich, Radiščev als Revolutionär zu bezeichnen, aber auch bei ihm steht die Frage in gleicher Weise alternativ – wenn er kein Revolutionär ist, dann ist er liberaler Reformer. Damit überträgt auch Lang die Auffassungen des 19. und 20. Jahr‑hunderts in das 18. Jahrhundert und kann somit dem umfassenden, der Zukunft zugewandten Wirken Radiščevs nur begrenzt gerecht werden.

Anders ist die sorgfältig gearbeitete Monographie von Allen McConnell einzuschätzen. Er bietet einen zuverlässigen Abriß der Biographie Radiščevs und eine teilweise tiefer gehende Analyse wichtiger Schriften, vor allem der „Reise von Petersburg nach Moskau“, aber auch der in Sibirien entstandenen Schrift über die Sterblichkeit und Unsterblichkeit des Menschen. Die „Reise“ wird als „the most scathing denunciation of serfdom and autocracy that ever appeared in Russia“149 charakterisiert. Kritisch nutzt er die umfangreichen sow‑jetischen Radiščev‑Forschungen, zugleich stellt er fest, daß es eine umfassende Radiščev‑Biographie bisher nicht gebe, mit der vorliegenden Monographie wolle er diese Lücke ausfüllen. Und als Zwischenbilanz ist seine Arbeit durchaus aner‑kennenswert – auch wenn durch die Forschungen von Štorm, Tatarincev, Zapa‑dov und anderen seitdem weitere umfangreiche Materialien und Informationen zur Biographie und zum Werk Radiščevs ermittelt werden konnten. In einem als „Epilog“ abgehobenen besonderen Kapitel „In Radishchev’s Steps“ berichtet McConnell vom Echo auf das Wirken Radiščevs in Rußland von seinem Tod bis zur Zeit Puškins, die späteren Rezeptionen von Biographie und Werk Radiščevs bleiben unerwähnt.

Abschließend sei auf einige mir bekannt gewordene Übersetzungen der „Rei‑se“ Radiščevs in verschiedene europäische Sprachen hingewiesen. Bereits 1954

148 Vgl. die ausgewogene Rezension von T. Witkowski in Zeitschrift für Slawistik, Heft 4/1963, S. 624‑628.

149 McConnell: A Russian Philosophe, S. VII.

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ist eine polnische150 und eine tschechische151 Übersetzung erschienen. Eine nie‑derländische Übersetzung gibt es seit 2011.152 In Frankreich ist 2012 Radiščevs Reise als Übersetzung vorgelegt worden.153

Anregend ist die Reise, die die belgischen Slawisten Emmanuel Waegemans und Wim Coudenys zweieinhalb Jahrhunderte nach Radiščev auf dem gleichen Weg unternommen haben – sie schildern die seitdem zu beobachtenden Verände‑rungen und das, was sich aus der Zeit Radiščevs erhalten hat.154 Damit geben sie manche Anregungen, Radiščevs Werk unter einem unerwarteten Aspekt zu lesen.

150 Radiszczev, A.: Podróż z Peterburga do Moskwy, Wrocław 1954.151 Radiščev, A.: Cesta z Petrohradu do Moskvy, Praha 1954.152 Radisjtsev, A.: Reis van Petersburg naar Moskou, Amsterdam 2011 (übersetzt von

E. Waegemans).153 Alexandre Radichtchev: Le voyage de Pétersbourg à  Moscou (1790), Strasbourg

2012; (übersetzt von R. Baudin).154 Вагеманс, Э./Куденис, В.: Путешествие из Петербурга в Москву. Фотоальбом,

Moskau 2011; Coudenys, W./Waegemans, E.: Reis van Petersburg naar Moskou: een geschiedenis, Antwerpen 2013.