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von claudia schanza FOTO: ISTOCKPHOTO 70.000 Touristen kommen pro Jahr nach Spitzbergen, um Eisbären zu sehen. Doch es gibt dort noch viel mehr zu bestaunen: Walrosse, Vogelkolonien, Polarfüchse und Rentiere leben neben kalbenden Gletschern. Dafür lohnt es sich, mitten im Sommer Anorak und Skihose anzuziehen. IM REICH DER S P I T Z B E R G E N V or weiß angezuckerten Bergen dümpelt ein einsames Kreuzfahrtschiff im Fjord. Nach der langen Anreise spucken am Kai drei Reise- busse 128 Gäste aus, die schnell ihre Fleecepullover und Primaloft-Jacken überziehen. Der Himmel ist bedeckt, die Temperaturen sind frisch, in Longyear- byen ist Hochsommer. Die schöne Zeit des Jahres beginnt im größten Ort Spitzbergens am 20. April und dauert bis 26. August; in diesem Zeitraum geht die Sonne niemals unter. Darum kommen mit den Sonnenstrahlen nicht nur Zugvögel und Wale aus al- ler Welt, sondern auch Touristenscharen. Letztere wollen die kalte norwegische Inselgruppe bestau- nen, Ansichtskarten im nördlichsten Postamt der Welt mit Ny-Ålesund-Stempel aufgeben ¡ EISBÄREN Gefährlich und gefährdet. Der Eisbär ist als prominentester Bewohner der Arktis zur Allegorie für den Klimawandel geworden. Doch Mikro- plastik und Schwermetalle machen dem Räuber am Ende der Nahrungskette noch viel mehr zu schaffen. Schön, wenn ein großes gesundes Pracht- exemplar vor die Linse läuft 6 7

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Page 1: EISBÄREN · überdieNahrunginsBlutderEisbären.DieseRaubtiere stehenamEndeeinerlangenNahrungskette,siespeichern GiftehochkonzentriertimFettundinderLeber.“Die

von claudia schanza

FOTO:ISTOCKPHOTO

70.000 Touristen kommenpro Jahr nach Spitzbergen, umEisbären zu sehen. Doch es gibtdort noch viel mehr zu bestaunen:Walrosse, Vogelkolonien,Polarfüchse und Rentiere lebenneben kalbenden Gletschern.Dafür lohnt es sich, mittenim Sommer Anorak undSkihose anzuziehen.

IM REICH DER

S P I T Z B E R G E N

Vor weiß angezuckerten Bergen dümpelt eineinsames Kreuzfahrtschiff im Fjord. Nach derlangen Anreise spucken am Kai drei Reise-

busse 128 Gäste aus, die schnell ihre Fleecepulloverund Primaloft-Jacken überziehen. Der Himmel istbedeckt, die Temperaturen sind frisch, in Longyear-byen ist Hochsommer. Die schöne Zeit des Jahresbeginnt im größten Ort Spitzbergens am 20. Aprilund dauert bis 26. August; in diesem Zeitraum gehtdie Sonne niemals unter. Darum kommen mit denSonnenstrahlen nicht nur Zugvögel und Wale aus al-ler Welt, sondern auch Touristenscharen. Letzterewollen die kalte norwegische Inselgruppe bestau-nen, Ansichtskarten im nördlichsten Postamt derWelt mit Ny-Ålesund-Stempel aufgeben

EISBÄREN

Gefährlich und gefährdet. Der Eisbär

ist als prominentester Bewohner der Arktis zur

Allegorie für den Klimawandel geworden. Doch Mikro-

plastik und Schwermetalle machen dem Räuber am

Ende der Nahrungskette noch viel mehr zu schaffen.

Schön, wenn ein großes gesundes Pracht-

exemplar vor die Linse läuft

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und Selfies vor Walrossen an den Gestaden der merk-würdigen Insel schießen. Von 26. Oktober bis MitteFebruar wird die Insel wieder in der Polarnacht versin-ken, dann dämmert es nicht einmal, sondern bleibtrund um die Uhr finster.Während die Besatzung das Gepäck in den Kabinenverstaut, werden die Besucher zur Besichtigung vonLongyearbyen animiert. Ein kurzer Rundgang, da diefragwürdigen Sehenswürdigkeiten aus Souvenir-shops, auf Schotter geparkten Skidoos und bären-sicheren Mistkübeln bestehen. Doch immerhin:Diese verriegelten, zusätzlich auch noch mit Vorhang-schloss versperrten, großen Metallboxen sind derFO

TOS:DAGMARSCHWELLE/LAIF/PICTUREDESK.COM,CLAUDIASCHANZA,ISTOCKPHOTO

S P I T Z B E R G E N

erste Hinweis auf das Ziel der Reise, die Eisbären. Inden dunklen Wintermonaten verirren sich immer wie-der hungrige Eisbären auf der Nahrungssuche in dieNähe von Siedlungen. Doch jetzt baumeln nur Plüsch-eisbären in den Vitrinen.Die rund 3.000 in der Barentssee lebenden Artgenos-sen sind dort, wo sie hingehören: im Packeis undauf den 400 Inseln, die zu Spitzbergen (norwegisch:Svalbard = kühle Küste) gehören. Diese Reisegruppehat Glück, bereits am zweiten Tag auf See kann siedirekt vor der Silversea Explorer „ihren“ Eisbärenbeobachten. Videokameras surren, Handys werdengezückt, Spiegelreflexkameras mit langen Teleob-

jektiven klicken. Dem Bären ist es egal, er gleitetelegant von einer Eisscholle ins Wasser, klettert ge-schickt auf das Eis der nächsten und macht es sichbequem. Die Kreuzfahrer aus aller Welt folgen derdringenden Bitte, sich ruhig zu verhalten, sie genie-ßen in knallroten dicken Anoraks den Augenblick undfreuen sich über die Gelegenheit zur Beobachtungdieses gesunden großen Raubtiers.Zwei Tage später erklärt Forscherin Robin Aiello (sieist Biologin in Harvard), in ihrer Vorlesung, was demPolarbär neben dem Klimawandel Probleme macht:„Schwermetalle und giftige PCBs, Mikroplastik undandere Umweltverschmutzung gelangen

Riesige Gletscherfelder kalben in den Arktischen

Ozean, direkt darunter tummeln sich viele Meeresbe-

wohner. Rechts unten: Die plumpen Walrosse mit ihren

langen Stoßzähnen zählen zu den Raubtieren, sind

aber für Touristen ungefährlich. Diese Robbenart

frisst nur Muscheln, Schnecken und Fische

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über die Nahrung ins Blut der Eisbären. Diese Raubtierestehen am Ende einer langen Nahrungskette, sie speichernGifte hoch konzentriert im Fett und in der Leber.“ DieMeeresbiologin sagt, dass viele solcherart schleichendvergiftete Eisbären unter Zahnausfall leiden und ver-hungern, außerdem sei ihre Fruchtbarkeit bzw. Potenzstark beeinträchtigt.Die Geschichte der Eisbären ist eine Geschichte der Be-drohung. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts wurden sie inSvalbard von Jägern erschossen, mehr als tausend en-deten pro Jahr als Bärenfell vor einem Kamin. Nach demZweiten Weltkrieg wurden jährlich immerhin noch zirka300 getötet, erst seit 1973 sind sie geschützt. Nur sel-ten kommen allzu aufdringliche Bären in Notwehr ums Le-ben. Damit sie kein großes Interesse an besiedelten Gebie-

ten entwickeln, wird alles Fressbare weggesperrt. ZumSchutze der Menschen und der gefährdeten Tierart. DieKreuzfahrer kamen zwar wegen der Eisbären, entdecktenaber unter fachkundiger Anleitung viel Interessantes, mitdem sie nicht gerechnet hatten. Täglich streifen sie dieSchwimmwesten über und klettern vom Schiff in dieschwarzen Zodiac-Schlauchboote. Gebrechlichen Passa-gieren wird geholfen, keiner bleibt an Bord zurück. Dochbevor alle die Silversea Explorer verlassen, müssen sie mitihren Gummistiefeln durch ein Becken mit Desinfektions-flüssigkeit waten. Zu groß wäre die Gefahr, Samen oderParasiten einzuschleppen, die der sensiblen Tundra undihrer Fauna zu schaffen machen könnten.Die kleinen Gruppen tuckern zwischen türkisen Schollenzu den kalbenden Eisfeldern des gigantischen

FOTOS:CLAUDIASCHANZA

S P I T Z B E R G E N

Die Kreuzfahrer steigen immer wieder in kleine Zodiac-Schlauchboote, um sich von Wissenschaftlern

Flora, Fauna und geologische Phänomene erklären zu lassen. Im St. Jonsfjord unternehmen

sie eine kleine Wanderung auf dem langsam schmelzenden Schnee

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Lilliehoekbreen, an einem anderen Tag zum 14. Juli-Gletscher.Hier versammeln sich große Schwärme von Küstenseeschwal-ben. Sie sind die Vielflieger unter den Zugvögeln, brüten in derNordpolarregion und überwintern am anderen Ende der Welt, demSüdpol. Während des endlosen Flugs landen sie nicht einmalzum Schlafen, sondern erledigen die Regeneration in der Luft.Während eine Gehirnhälfte schläft, sorgt die andere für Navigationund Bewegungskontrolle. Das kann ein Mensch nicht verstehen,aber erforschen. Es sind nur rund dreißig Vogelarten, die hier brü-ten, doch dafür riesige Kolonien. Alkenvögel wie Papageientau-cher oder Trottellumme, verschiedene Möwen, Schwalben, Thors-hühnchen, Eissturmvögel, Eiderenten (denen Menschen die kost-baren Daunen aus dem Nest stehlen) oder das Alpenschnee-huhn, übrigens der einzige Vogel, der hier überwintert.In der Diskobukta – nicht zu verwechseln mit Grönlands Disko-bucht – teilt sich die Reisegruppe. Die Bewegungshungrigen unter-nehmen eine Wanderung, die sie über steiniges Gelände auf eine250 Meter hohe Klippe führt. Sie schauen von oben in die kühnkonstruierten Nester Tausender Dreizehenmöwen, die laut krei-schend in schroffen Felswänden brüten.Die andere Gruppe beobachtet die Vögel durch Ferngläser,knapp neben ihnen lauern zwei hungrige Polarfüchse. Die kleinenRäuber wittern eine Chance, sich die Bäuche mit Möweneiern voll-zuschlagen und wirken irgendwie räudig. Doch der österreichi-sche Biologe Hans-Peter Reinthaler aus dem Expertenteam desSchiffs beruhigt seine Passagiere. „Diese Füchse sind gerade imFellwechsel, das dunkle Sommerfell verdrängt das weiße Winter-fell. Das ist okay so.“ Die mitreisenden Forscher sind

FOTOS:CLAUDIASCHANZA,ISTOCKPHOTO

S P I T Z B E R G E N

Im Uhrzeigersinn: Trottellummen haben einen Namen, der nicht

wörtlich genommen werden sollte. Papageientaucher (Puffin)

nisten in Scharen an den Felsufern. Um an die kostbaren Daunen

zu kommen, sammeln Menschen Federn aus den geschützten

Nestern der Eiderenten direkt neben dem Gehweg. Die Küstensee-

schwalbe ist der Vielflieger unter den Zugvögeln

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A 1150 Wien, Hütteldorfer Straße 68T + 43 1 [email protected]

Ursula NeuwirthGoldschmiedemeisterin

Montag – Freitag 8.30 – 18 UhrSamstag 8.30 – 13 Uhroder nach Vereinbarung

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Keine Jagd: Das Rentier und der

junge Polarfuchs im Fellwechsel

lassen sich fotografieren, weil sie

keine Angst vor Menschen haben.

Der Postkartenversand vom

nördlichsten Postamt der Welt ist

Pflichtübung für Touristen

In der Diskobukta

wandern die Kreuzfahrer

ein wenig bergauf und

beobachten riesige

Möwenkolonien in einem

Canyon beim Brüten.

Gefräßige Polarfuchse

rauben mühelos Eier

aus den Nestern in

Bodennähe.

nicht nur bestens ausgebildete Wissenschaftler, sondern ver-stehen es, ihr Publikum mit spannend erklärten Kleinigkeitenbei Laune zu halten.Beim Landgang in der Palanderbukta vor Zeipelodden gibt esnicht wirklich viel zu sehen, das eine sündteure Kreuzfahrt er-warten ließe. Ein paar Steinkreise, ein verwitterter Eisbärschä-del und ein paar Rippen eines vor ewigen Zeiten verblichenenWals. Pflänzchen wie Purpursteinbrech, Fingerkraut, Weiße Sil-berwurz oder Wollgras kommen einigen Deutschen, Schwei-zern und Österreichern an Bord bekannt vor. Zu Recht, dennsolche Tundrenvegetation ist in den Alpen heimisch.

Um die Fahrtzeiten kurzweiligzu gestalten, halten die ExpertenVorträge, meist auf Englisch.Schon bald zeigen volle oder lee-re Säle, wer die besten Lectureshält. So dauert es schon mal eineViertelstunde, bis mir klar wird,worum es beim vertieften Thema„lichen“ (gesprochen: „laiken“)geht, nämlich Flechten. Der inEnglisch Vortragende hatte lei-der keine Bilder eingeblendet,die mich früher auf die Fährtedieser Pilzfäden gebracht hätten.Und Internet zum Googeln gibtes auf keinem Schiff in der Ark-tis, nicht einmal auf einem Lu-xuskreuzer. Doch gerade dieserFaktor macht die Reise ins Eis-meer so unglaublich erholsam. FO

TOS:CLAUDIASCHANZA

S P I T Z B E R G E N

Info

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SPITZBERGEN(NORWEGEN)

FINNLAND

ISLAND

GRÖNLAND(DÄNEMARK)

SCHWEDEN

RUSSLAND

Nordmeer

Barentssee

Karasee

Laptewsee

NORWEGEN

NORDPOL

500 kmGrafik: Tichy

Oslo

Nordkap

Longyearbyen

DIE INSELGRUPPESpitzbergen (Svalbard)gehört zuNorwegen.Die Inselgruppe imNordatlantik undArktischenOzean liegtweit oberhalb desPolarkreises. AufSvalbard lebendas ganze Jahr überWissenschaftler, es giltals „größtes Labor derWelt“. AbAnfang Juni hat es zwischen-2und17Grad, imWinter zwischen -25und5GradCelsius.2008wurdeeineNutzpflanzen-Samenbank in einemBunkergegründet, die riesigeSortenvielfalt aus der ganzenWeltsoll vorKatastrophengeschütztwerden.

BEDROHUNG KLIMAWANDEL Nicht nurdieEisbären sindgefährdet. DieWienerMeeresbiologinRenateDegenbeobachtet auf ihrenForschungsreisen in dieArktis diedramatischenAuswirkungendesKlimawandels.Weil dieEiskante aufgrundderKlimaerwärmung immerweiter nachNorden rutscht, verändert sich die gesamteTierwelt. „ImgleichenAusmaßwanderndie Tiere vonSüdennachNordenaus.DerStellarscheSeelöwe ist in den letzten 20 Jahren aufweniger als 60Prozent zurückgegangen,weil seineNahrung,die fettenFischewieHering,LoddeoderKapellan,nachNordengezogen sind.“WährendEindringlingewie die Schneekrabbeheimischwerden, finden immermehr alte StammgästewieZugvögel, Säugetiere oderSchnecken zuwenigNahrung, umihrenNachwuchs aufzupäppeln.

BESTE REISEZEITEnde Juni bisMitte Juli ist derSchnee soweit geschmolzen, dassWanderungenmöglich sind.DieMitternachtssonne scheint rundumdieUhr, die arktischeTierwelt ist aktiv, Zugvögel nisten in ihrenBrutstättenund sindwunderbar zu beobachten.Die Tundra blüht farbenfroh.