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Entrevista com Luiz Ruffato na revista alemã Der Spiegel

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Page 1: Entrevista com Luiz Ruffato na revista alemã Der Spiegel

SPIEGEL: Herr Ruffato, warum haben diefußballbegeisterten Brasilianer die Lust ander Weltmeisterschaft verloren?Ruffato: Fußball ist weiterhin unsere Lei-denschaft, hinterfragt wird nun aber, obwir eine Weltmeisterschaft brauchen. DieEntscheidung dafür wurde so gefällt, wiedas hier immer der Fall ist: von oben nachunten, ohne das Volk zu fragen. Und sieberuhte auf der Illusion, dass wir die siebt-größte Wirtschaftsmacht der Welt sind –und damit reich genug, um uns die Welt-meisterschaft leisten zu können. Aber dasstimmt nicht. Die Tatsache, dass wir diesiebtgrößte Wirtschaftsmacht sind, heißtnicht, dass wir ein reiches Land sind. SPIEGEL: Brasilien wurde dafür gefeiert,dass es gelungen ist, Millionen Menschenin kurzer Zeit aus bitterster Armut zu ho-len. War das alles nur eine Illusion?Ruffato: Tatsächlich hat sich durch Einkom-menstransfers die Situation der unterenMittelklasse verbessert. Heute verdienen42 Millionen Brasilianer den Mindestlohnvon 350 Dollar. Das bedeutet aber nicht,dass wir die Menschen aus der Armut ge-holt haben. Sie wurden lediglich in dieLage versetzt, mehr Geld auszugeben, fürFernseher oder Autos. Das hat den Kon-sum erhöht und die Menschen zu Konsu-menten gemacht, aber nicht zu Bürgern.In den Bereichen Gesundheit, Erziehung,Verkehr und öffentliche Sicherheit hat sichnichts getan. SPIEGEL: Ist Ihr eigener Aufstieg nicht einBeispiel dafür, dass sich vieles verbesserthat?Ruffato: Ich bin eine Ausnahme, kein Bei-spiel und kein Symbol für das neue Brasi-lien. Meine Mutter war Analphabetin, meinVater halber Analphabet, aber beide wuss-ten: Die einzige Möglichkeit für ein würdi-ges Überleben ist Erziehung. Das heißt,meine ungebildeten Eltern haben mehr ver-standen als jeder brasilianische Politiker.Ich hätte eigentlich als Dreher arbeiten sol-len, aber ich habe weitergemacht, Journa-lismus studiert, später kam ich zur Literatur.Das ist aber kein üblicher Werdegang. Vonmeinen Kindheitsfreunden sind die aller-meisten entweder gestorben, weil sie imDrogengeschäft waren – oder sie haben inFabriken geschuftet, waren unglücklich undwurden Alkoholiker. Für meine Freundevon damals bin ich ein Außerirdischer. Undnoch etwas: Ich bin mir sicher, wenn ich

Das Gespräch führten die Redakteure Jens Glüsing undJuliane von Mittelstaedt.

nicht weiß wäre, sondern schwarz, würdeich jetzt nicht hier sitzen.SPIEGEL: In welcher Welt fühlen Sie sich zuHause, in der Welt Ihrer Kindheit oder derder Intellektuellen von São Paulo?Ruffato: Ich fühle mich gar nicht zugehörig,wie übrigens die meisten Brasilianer. Ichbin in der Stadt Cataguases geboren undlebe in São Paulo. Und wo gehöre ich hin?Nirgends. SPIEGEL: Sie haben einmal gesagt, Sie wür-den jeden Morgen mit der Angst vor demAbsturz aufwachen. Woran liegt das?Ruffato: Menschen wie ich, aus der Mittel-und Unterschicht, leben in ständiger Un -sicherheit. Anfang der Neunzigerjahre lagdie Inflation hier bei 90 Prozent im Monat.Das Gefühl ist daher: Heute geht es unsgut, aber was morgen ist, weiß keiner. SPIEGEL: Im vergangenen Jahr haben Sieauf der Frankfurter Buchmesse eine scho-nungslose Rede gehalten, in der Sie diedunklen Seiten Brasiliens benannten: Bru-

talität, Homophobie, vor allem aber Ras-sismus. Ist das friedliche Zusammenlebenvon Farbigen und Weißen ein Mythos?Ruffato: Dieser Eindruck, dass es in Brasi-lien eine friedliche Vermischung der Ras-sen gebe, ist trügerisch. Die Sklaverei wur-de hier erst 1888 abgeschafft, und wennman sich die Abstammung der heutigenBrasilianer anschaut, sieht man, dass ihremännlichen Vorfahren in der Regel euro-päischer Herkunft sind, ihre weiblichenVorfahren aber indigene und afrikanischeWurzeln haben. Das heißt doch: Die euro-päischen Männer haben diese Frauen ver-gewaltigt. Wie soll daraus ein friedlichesMiteinander erwachsen? Der Fußballer Ro-naldo hat auf die Frage, ob Brasilien ras-sistisch sei, einmal geantwortet: Ja, es gibtRassismus, und als ich noch schwarz war,habe ich darunter gelitten. Er meinte: Heu-te sei er nicht mehr schwarz, weil er Geldhat. Das ist das, was wir soziale „Weißwa-schung“ nennen. Das heißt aber nicht, dass

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„Wir waren immer gewalttätig“SPIEGEL-Gespräch Der brasilianische Schriftsteller Luiz Ruffato über das Verhältnis von Fußball und Politik und die Scheinheiligkeit einer Gesellschaft, die sich selbst in ihrer Unzufriedenheit nicht einig ist

Ruffato, 53, ist einerder bekanntesten Auto-ren Brasiliens. Sein Leben klingt wie ein Ro-man: die Großelternarme italienische Ein-wanderer, die MutterAnalphabetin, der VaterPopcornverkäufer. Inseinen Büchern gibtRuffato der städtischenUnterschicht eine Stim-me, berühmt wurde ermit seinem auch insDeutsche übersetztenRoman „Es waren vielePferde“, der in 69 Sze-nen einen Tag in SãoPaulo erzählt, so atem-los, brutal und manch-mal auch poetisch, wiedas Leben dort ist. Ruf-fato besitzt kein Auto,kein Handy, keinen Fern-seher und lebt mit sei-nen zwei Katzen in ei-ner bescheidenen Woh-nung im Westen SãoPaulos, in der auch dasGespräch stattfand.

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Titel

die weiße Elite diese Schwarzen auch ak-zeptiert. SPIEGEL: Von Pelé heißt es, er sei einSchwarzer mit weißer Seele.Ruffato: Genau, das ist doch der schlimmsteRassismus, den es gibt!SPIEGEL: Die Arbeiterpartei wurde gewählt,weil sie versprochen hatte, diese elitärenStrukturen abzuschaffen. Warum ist Bra-silien noch immer so ungleich?Ruffato: Unser politisches System ist einErbe der Militärdiktatur. Um Entscheidun-gen durchzusetzen, muss man so viele Al-lianzen schließen, dass es nahezu unmög-lich ist, das System zu verändern. Die Ar-beiterpartei hat es am Anfang versucht,aber inzwischen übernimmt sie die politi-sche Praxis, die sie früher bekämpft hat,einschließlich der Korruption.SPIEGEL: Gilt das auch für Präsidentin Dil-ma Rousseff, die ja angekündigt hatte, ge-gen die Korruption vorzugehen?Ruffato: Wir Brasilianer sind alle korrupt.Ich selbst bin es, jeder hier ist es. Die so-ziale Struktur führt dazu, und es machtkeinen Unterschied, ob es um einen Realgeht oder um 100 Millionen. Wir betrügenbei der Steuererklärung oder wenn wir ei-nen Strafzettel bekommen. Korruption istakzeptiert, viele Menschen glauben sogar,es sei gar keine Korruption, wenn man denStaat beklaut. Weil uns der Staat ja auchbeklaut. Gibt es in der Regierung von Dil-ma Rousseff Korruption? Sicher gibt es die,wie es sie auch unter Präsident Lula gaboder während der Militärdiktatur. Unsergesamtes politisches System ist faul. Unddas Schlimmste ist: Wir Bürger leisten kei-nen Beitrag, um das zu ändern. SPIEGEL: Sie haben Brasilien einmal als einLand bezeichnet, in dem man „seinemNächsten den Rücken zukehrt“. Woherkommt diese Rücksichtslosigkeit?Ruffato: Wir haben kein Gemeinschafts -gefühl, wir sind sehr individualistisch undegoistisch. Die Hauptursache dafür ist mei-ner Meinung nach unsere ausbeuterischeElite. Sie hat den Staat zu ihrem Privat -eigentum gemacht. Zum Beispiel unsere öf-fentlichen Universitäten: Sie sind gut, aberwer besucht sie? Nur die Reichen, die eine

gute Schulbildung haben und die Aufnah-me schaffen. Und wenn einem Brasilianerder Aufstieg gelingt, dann übernimmt erdie konservativen Werte der Mittelklasse.Bei uns gilt: Wer einen Hubschrauber hat,überholt denjenigen mit dem teuren Auto,das teure Auto überholt das schlechte Auto,das schlechte Auto den Motorradfahrer, die-ser den Radfahrer und der Radfahrer denFußgänger. Man schaut nicht zurück, son-dern immer nur nach oben.

SPIEGEL: Das ist das Gegenteil der Wahr-nehmung, die viele von Ihrem Volk haben. Ruffato: Ich glaube, Brasilien wird oft falschverstanden. Wir waren immer gewalttätig.Es hat mit dem Völkermord an den Urein-wohnern begonnen, es folgten die Sklaverei,später die Ausbeutung der armen Einwan-derer. Und praktisch das gesamte 20. Jahr-hundert lebten wir unter einer Diktatur. DieGeschichte Brasiliens ist eine Geschichte derGewalt. Mich überrascht daher auch die Ge-walt heute nicht. Wir sind so nett, dass wirin der Lage sind, eine Frau auf der Straßezu lynchen, weil wir sie verdächtigen, einKind entführt zu haben. Wir sind so offen-herzig, dass wir voriges Jahr 368 Homose-xuelle ermordet haben. Wir sind so friedlich,dass es Schätzungen zufolge im Jahr etwa500000 Fälle von häuslicher Gewalt gibt,aber das wird gar nicht bekannt, weil dieFrauen sich nicht trauen, zur Polizei zu ge-hen. Ich weiß also nicht, warum wir so einherzliches Volk sein sollen. Was wir haben,ist eine Neigung zur Fröhlichkeit. Trotz un-seres Elends versuchen wir, fröhlich zu sein. SPIEGEL: Warum hat in letzter Zeit die Ge-walt sogar noch zugenommen, obwohl dieArmut gesunken ist und viele Favelas an-geblich befriedet wurden?Ruffato: Die Situation hat sich radikal ver-schlimmert, und meiner Ansicht nach gibtes dafür verschiedene Gründe. Die sozio-ökonomischen Unterschiede werden größer,das ist ein Grund. Und weil der Drogen-handel nicht richtig bekämpft wird, ist Bra-silien inzwischen zu einem der wichtigstenMärkte geworden. Auch ein weiterer As-pekt ist interessant: In Brasilien sind die Ar-men, die für die Reichen arbeiten, unsicht-bar. Wenn ein Armer zum Verbrecher wird,sieht er den anderen nicht als Menschen,weil er selbst nicht gesehen wird. Für ihnist es egal, ob er 100 Real klaut oder jeman-den umbringt. Ich glaube, das liegt auch da-ran, dass der Staat im Alltag abwesend ist. SPIEGEL: Es gab sehr viele negative Reak-tionen auf Ihre Rede in Frankfurt. IhreGegner drohten: Wenn Sie Ihr Land nichtliebten, sollten Sie besser auswandern. Wa-rum ist Kritik an den Verhältnissen in Bra-silien so ein Tabu?

Ruffato: Ich glaube, das liegt an unseremgeringen Selbstwertgefühl. Es ist nichtschön zuzugeben, dass wir ein gewalt -bereites Volk sind, dass wir Rassisten sind,Homophobe und Machos. Viel einfacherist es, so zu tun, als gäbe es das alles nicht.Denn dann muss man nichts ändern. Des-halb reden wir uns ein, dass wir die tollstenStrände, die schönsten Frauen und denbesten Fußball der Welt haben. Warummüssen wir um bessere Lebensbedingun-

gen kämpfen, wenn wir all das haben? Wa-rum müssen wir etwas gegen die Schwu-lenfeindlichkeit tun, wenn wir die größteGay-Parade der Welt feiern? Wir sind zuallem Überfluss auch noch scheinheilig. SPIEGEL: Ein Erbe der Diktatur? Ruffato: Ja, ganz sicher, die meisten Brasi-lianer sind in autoritären Systemen aufge-wachsen. Wir wurden mit Fußtritten erzo-gen. Wir blicken einander selten auf Au-genhöhe an, sondern von unten nach oben;ein Blick von Menschen, die Angst haben.SPIEGEL: In diesem Jahr jährt sich der Mili-tärputsch zum 50. Mal, die Diktatur hathier länger überlebt als in fast allen ande-ren Ländern Lateinamerikas. Dennochwurde die Vergangenheit kaum aufgear-beitet. Warum ist das so schwierig?Ruffato: Wir Brasilianer meiden gern dieKonfrontation. Wenn wir Dinge lösen kön-nen, indem wir sie verstecken, dann tunwir das. Die Geschichte, die in der Schulegelehrt wird, ist eine konfliktscheue Ge-schichte: eine Erzählung von der Rassen-demokratie, von einem fröhlichen Volk.

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Swimmingpool einer Villa in einer Favela in Rio:

„Wir haben noch immer eine verdeckte Diktatur der politischen und wirtschaftlichen Elite.“

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Doch wir haben die Diktatur gar nicht rich-tig hinter uns gelassen, wir haben noch immer eine verdeckte Diktatur der poli -tischen und wirtschaftlichen Elite.SPIEGEL: Seit einem Jahr gibt es immer wie-der Proteste unzufriedener Bürger gegendie Regierung. Ist das der Beginn einergrößeren Bewegung, die das politische Sys-tem zu Reformen zwingen wird?Ruffato: Ich mag keine Zukunftsprognosenerstellen, auch Volkswirte und Meteorolo-gen liegen ja immer daneben. Sicher ist,dass die Proteste eine generelle Unzufrie-denheit zeigen, allerdings sind die Men-schen aus unterschiedlichen Gründen aufdie Straße gegangen. Die einen forderteneinen stärkeren Staat, andere ein besseresBildungssystem. Manche sind unzufrieden,weil sie jeden Tag drei Stunden zur Arbeitfahren, manche, weil sie abends nicht dasHaus verlassen können, weil es zu unsicherist. Und wieder andere, weil ihre Kinderin Schulen gehen, in denen sie nichts ler-nen. Also, Unzufriedenheit gibt es genug.Was fehlt, sind gemeinsame Ziele.

SPIEGEL: Warum sind die Brasilianer selbstin ihrer Unzufriedenheit so gespalten?Ruffato: Weil hier in Brasilien das, was allengehört, keinem gehört. Wir kümmern unserst, wenn die Probleme uns selbst betref-fen. Wenn der Nachbar überfallen wurde,geht mich das nichts an. Wenn ich ein ge-panzertes Auto habe, kümmern michÜberfälle nicht. Wenn die Kinder auf derStraße hungern, ist das nicht mein Pro-blem, solange meine Kinder zu essen ha-ben. Wir haben keinen Gemeinsinn. SPIEGEL: Kann der Fußball der fehlende Kittdieser gespaltenen Gesellschaft sein? Ruffato: Einerseits stimmt es, dass FußballArm und Reich vereint. Aber er ist auchein Herrschaftsinstrument, das eingesetztwird, um soziale Unterschiede zu über -decken. Als Brasilien 1970 zum dritten MalWeltmeister wurde, waren die Repres -sionen am schlimmsten. Gegner der Mili-tärdiktatur wurden gefoltert und er-mordet. SPIEGEL: Wird der Fußball auch heute nochpolitisch genutzt?

Ruffato: Keine Frage, da hat sich nichts ge-ändert. Am Anfang hieß es, dass die WMder Bevölkerung und den Austragungs -orten zugutekommt, weil in neue Infra-struktur investiert wird. Jetzt sehen wir:Es war vor allem eine Gelegenheit für Kor-ruption. Es werden Stadien gebaut, die kei-ner braucht, und Steuergelder verschwen-det. Das ist unsere traurige Realität. SPIEGEL: Sie sind großer Fußballfan, werdenSie sich Spiele im Stadion ansehen?Ruffato: Nein, denn die Eintrittspreise sindsehr hoch, das kann ich mir nicht leisten.Deshalb sehen Sie in den Stadien auchnicht die brasilianische Bevölkerung. Mankonnte das gut beim Endspiel des Con -fed-Cups beobachten: Das ganze Stadionwar voll mit weißen Zuschauern, dieunse rer Nationalelf zuschauten, die vorallem aus Schwarzen besteht. Das ist dieMetapher für Brasilien: Die Dunkel -häutigen schwitzen, damit die Elite ihrenSpaß hat.SPIEGEL: Herr Ruffato, wir danken Ihnenfür dieses Gespräch.

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: AFP

„Wenn ein Armer zum Verbrecher wird, sieht er den anderen nicht als Menschen“