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1
Epidemiologie von
Suchterkrankungen
Christian Meyer
Abteilung für Sozialmedizin und Prävention
Institut für Community Medicine
Vorlesungsreihe Epidemiologie
Masterstudiengang Healthcare Management
06.11.2019
2
WAS MACHT SÜCHTIG ?
Suchtrelevantes Verhalten
Stoffgebundene
SuchtformenNicht-stoffgebundene
Suchtformen
• Alkohol
• Nikotin
• Opioide
• Cannabinoide
• Kokain
• Andere Stimulantien
• Sedativa Hypnotika
• Halluzinogene
• Inhalantien
• …
• Glücksspiel
• Computerspiel
• ? Internetnutzung• ? Handynutzung
• ? Kaufen
• ? Sex
• ? Essen / Nicht-Essen
• ? Arbeiten
• ? Sport
Global burden of disease study 1990-2010
Lim et al. 2012 The Lancet
Tabakkonsum => 137 Mio. DALYsAlokohlkonsum => 136 Mio DALYs
Jeweils 5,5% aller DALYs
Disability adjusted life years (DALY)
+ Years of life lost (YLL)
Years lived with disability (YLD)67 risk factors forDisease and Injuries
4
GLIEDERUNG
• Begriffsbestimmung
• Tabak und Alkohol: Was ist wie zu messen
• Anwendungsbeispiel: Sucht in
Berufsschulen
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WAS MACHT SÜCHTIG ?
Suchtrelevantes Verhalten
Stoffgebundene
SuchtformenNicht-stoffgebundene
Suchtformen
• Alkohol
• Nikotin
• Opioide
• Cannabinoide
• Kokain
• Andere Stimulantien
• Sedativa Hypnotika
• Halluzinogene
• Inhalantien
• …
• Glücksspiel
• Computerspiel
• ? Internetnutzung• ? Handynutzung
• ? Kaufen
• ? Sex
• ? Essen / Nicht-Essen
• ? Arbeiten
• ? Sport
BESCHREIBUNGSDIMENSIONEN
Konsummerkmale:
• Bezug (legal, illegal, verschrieb.)
• Konsumform (inhal., i.v., oral…)
• Menge
• Frequenz
• Dauer
• Alter bei Beginn
• Konsum Kontext
Folgen:
• Gebrauchsstörung/Sucht
• Psychische Erkrankungen
• Somatische Erkrankungen
• Inanspruchnahme Versorgung
• Folgen für Dritte/ Gesellschaft
7
Quantifizierung von sozialmedizinischen Problemen
Tabak und Alkohol:
Was ist wie zu messen?
8
Tabakkonsum
Bevölkerungsbezogene Messgrößen
- Pro-Kopf-Konsum Tabakwaren- Tabakattributable Mortalität
Individuumsbezogene Messgrößen
- Rauchstatus- Differenzierte Maße des Rauchverhaltens- Tabakabhängigkeit
9
Verbrauch von Tabakwaren in Deutschland
Steuerstatistik 2014:79.521 Mio. Zigaretten3.858 Mio. Zigarren/Zigarillos25.700 t Feinschnitt1.359 t Pfeifentabak
Pro-Kopf-Verbrauch Zigaretten 2014:79.521 Mio. Stück in 2014 / 80 Mio. Bevölkerung= 995 Zigaretten Pro Kopf der Bevölkerung
Fichtenberg (2000)
KalifornienPro-Kopf-Verbrauch Zigaretten
Jahr
Packungenpro Jahr
11
Tabakattributable Mortalität
Bestimmungsstücke:
Anzahl Todesfälle Gesamt (in D 850.000 Todesfälle pro Jahr)Todesursachen Prävalenz des RisikofaktorsRelatives Risiko bei Rauchen vs. Nichtrauchen
Schätzung für Deutschland:
106.623 von Todesfälle im Alter von <1 Jahren und über 35 Jahren 13% aller Todesfälle im Altersbereich
12
Relative Risiken für verschiedene Erkrankungen
Kalifornien: Lungen-Ca
Barnoya (2004)
Pro-Kopf-Verbrauch ZigarettenNeue Fälle Lungen-Ca
%
Jahr
14
Individualdaten Tabak
Allgemeinbevölkerungssurvey:
MikrozensusBundesgesundheitssurvey RKI (DEGS)Telefonsurvey RKI (GEDA)Epidemiologischer SuchtsurveySpezialisierte Surveys SHIP, CORA, …
Settingbezogene Surveys:
SchulenKrankenhäuserArztpraxenArbeitsargenturen und Jobcenter
15
Diagnostik Tabakrauchen
Welche Form des Tabakkonsums ist gesundheitsschädlich?
0
1000
2000
3000
4000
5000
Niemals-
raucher
Ehemalige
Raucher
1-14
Zigaretten
pro Tag
15-24
Zigaretten
pro Tag
>=25
Zigaretten
pro Tag
Jährliche Gesamtmortalität pro 100000 Personen
(standardisiert für Alter und Geburtskohorte)
Es gibt keine Schwellenwerte für schädlichen Konsum. Jede Quantität und Qualität ist mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko verbunden!
16
Rauchstatus
Selbstaussagen:
- Selbstdefinition als Raucher / Ex-Raucher / Nie-Raucher- WHO Kriterium Raucher > 100 im Leben- Punktabstinenz z.B. = In den letzten 24 Stunden keinen Zug geraucht- Prolongierte Abstinenz = In den letzten 6 Monaten nicht geraucht
Nachteil: Antworttendenzen (under- / overreporting)
Biomarker:
- Kohlenmonoxid- Nikotin / Cotinin- Thiocyanat
Nachteil: z.T. aufwändig, therapeutisch nicht nutzbar, unspezifisch
17
Differenziertere Erfassung Rauchverhalten
- tägliches vs. gelegentliches Rauchen
- Alter bei Beginn des Tabakkonsums
- Zigaretten pro Tag
- Pack-years
- Tabakprodukt (Zigarette, Pfeife, Kautabak ... / Schadstoffgehalt Zigarettenmarke)
- Rauchtopographie (Inhalation, Züge pro Zigarette)
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Tabakabhängigkeit / Tabakgebrauchsstörung
Kategoriale Definition als psychische Störungen durch Tabak:
ICD 10 Kapitel V (F); WHO DSM-IV; DSM-5 APAErhebung durch klinische Interviews z.B. CIDI
Fragebogenverfahren zur dimensionalen Erfassung:
Fagerström Tolerance Questionnaire (FTQ)Fagerström Test for Nicotine Dependence (FTND)Heaviness of Smoking Index (HSI)Hooked on Nicotine Checklist (HONC)
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FTND
1. Wann rauchen Sie Ihre erste Zigarette nach dem Aufstehen?
innerhalb von 5 Minuten innerhalb von 6 bis 30 Minuten innerhalb von 31 bis 60 Minuten es dauert länger als 60 Minuten
2. Finden Sie es schwierig, an Orten, wo das Rauchen verboten ist (z. B. in der Kirche, in der Bibliothek, im Kino, usw.) auf das Rauchen zu verzichten?
Ja Nein
3. Auf welche Zigarette würden Sie nicht verzichten wollen?
die erste nach dem Aufstehen eine andere
4. Wie viele Zigaretten rauchen Sie pro Tag?
mehr als 30 21-30 11-20 weniger als 10
20
FTND
5. Rauchen Sie in den ersten Stunden nach dem Erwachen im allgemeinen mehr als am Rest des Tages?
Ja Nein
6. Kommt es vor, dass Sie rauchen, wenn Sie krank sind und tagsüber im Bett bleiben müssen?
Ja Nein
0
5
10
15
20
25
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
%
Verteilung des FTND-Scores bei rauchenden Hausarztpatienten
21
Diagnostik Alkoholkonsum
Bevölkerungsbezogene Messgrößen
- Pro-Kopf-Konsum reinen Alkohols- Alkoholattributable Mortalität
Individuumsbezogene Messgrößen
- Riskanter Konsum- Binge drinking- Alkoholgebrauchsstörung (Missbrauch / Abhängigkeit)
22
Deutschland: 2015 Alkoholische Getränke je Einwohner
106 Liter Bier
20,5 Liter Wein
3,7 Liter Sekt
5,4 Liter Spirituosen
+
+
+
231.4
2.6 5.2
6.0 7.2 7.2 7.2
7.5 7.6 7.7
8.0 8.1
8.5 8.7 8.8 9.0 9.1 9.3 9.4 9.5 9.5 9.7 9.9
10.2 10.3 10.5
10.8 10.9 10.9 11.0 11.1
11.5 11.5
11.9 12.3
12.6
Turkey
Israel
Mexico
Norway
Chile
Japan
Sweden
Greece
Italy
Iceland
Netherlands
Canada
Finland
New Zealand
United States
OECD AVERAGE
Korea
Spain
Denmark
Switzerland
United Kingdom
Australia
Portugal
Slovak Republic
Estonia
Poland
Latvia
Hungary
Ireland
Germany
Luxembourg
Czech Republic
Slovenia
France
Austria
Belgium
Liter Reinalkohol je Kopf Bevölkerung > 15 Jahre in 2015
24
Berechnung Reinalkohol in Fertiggetränk
Bier 4,8 Vol.%
Wein/Sekt 11,0 Vol. %
Spirituosen 33 Vol. %
Spezifisches Gewicht von Alkohol = 0,79 kg/l
1 Liter Bier ≈ 40g , 1 Bier 0,3l ≈ 12g
1 Liter Wein/Sekt ≈ 90g, 1 Glas Wein 0,2l ≈ 18g
1 Liter Spirituosen ≈ 260g, 1 Doppelter 4 cl ≈ 10g
Ein alkoholisches Getränk?
„Standard Drink“
0,04 l Spirituosen0,3 l Bier 0,125 l Wein / Sekt
27
Mengen-Frequenz-Index
FrequenzAn wievielen Tagen tranken Sie im letzten Jahr (Monat/Woche/Werktag/Wochende) Alkohol?
Beispiel: An etwa 3 bis 4 Tagen pro Woche
MengeWie viel Alkohol/Bier/Wein trinken Sie üblicherweise an einem Tag an dem Sie trinken?
Beispiel: Drei kleine Bier und drei doppelte Korn
Mengen-Frequenz-IndexProdukt aus Menge und Frequenz in g Reinalkohol pro Tag
Beispiel: 66g * 0,5 / Tag = 33g pro Tag
28
Riskanter Konsum
Wieviel Alkohol ist schädlich?
Beispiel: Koronare Herzerkrankungen und Alkoholkonsum
Quelle: Corrao et al., Addiction 2000
29
Riskanter Konsum
Für Deutschland gültige Empfehlung (DHS):
Grenzwert für risikoarmen Alkoholkonsum (ausgenommen Angehörigevon Risikogruppen/spezielle Situationen):
Frauen 12 g Reinalkohol pro Tag
Männer 24 g Reinalkohol pro Tag
Hinweis
• Stetige Absenkung der empfohlenen Grenzwerte in den letztenJahrzehnten
• National und international differierende Empfehlungen(WHO 20g/40g, British medical Association 20g/30g, U.S. Department of Health and Human Services 12g/24g)
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Binge Drinking (syn. Rauschtrinken)
Bisher uneinheitlich definiert:
- Trinken mit der Intention sich zu berauschen
- Erreichen der Intoxikationsschwelle
- Bei min. zwei Trinkgelegenheiten 60g/100g Reinalkohol für Frauen bzw. Männer (WHO Kriterium)
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Alkoholgebrauchsstörung nach DSM-5:
DefinitionUnangepasstes Konsummuster, dass zu klinisch bedeutsamerBeeinträchtigung oder Leid führt und sich in einem der folgendenSymptome innerhalb derselben 12 Monate manifestiert:
1. Konsum mehr und länger als beabsichtigt2. Aufhörwunsch oder erfolglose Aufhörversuche3. Viel zeit für Erholung, Beschaffung, Konsum 4. Craving / starkes Verlange zu Konsumieren5. Versagen bei wichtigen Verpflichtungen6. Zwischenmenschliche Probleme7. Aufgabe wichtiger Aktivitäten8. Konsum in gefährlichen Situationen9. Konsum trotz körperlichen/psychischen Folgeerkrankungen10. Toleranz11. Entzugserscheinungen
DSM- IV:
Missbrauch
ICD 10:
Schädlicher
Gebrauch
Probleme mit dem Gesetz
32
Screening Verfahren
Ökonomische Verfahren, die als Suchtests für die klinische und epidemiologie Anwendung entwickelt wurden.
Beispiele:
Abkürzung Items
CAGE / VÄSE Cage Fragebogen 4
BASICBrief Alcohol Screening Instrument for Primary Care
6
LASTLübecker Alkoholabhängigkeits- und
– missbrauchs Screening-Test7
AUDIT(-C) Alcohol Use Disorders Identification Test 10 (3)
33
AUDIT (AUDIT-C)
1. Wie oft nehmen Sie ein alkoholisches Getränk zu sich?
2. Wenn Sie alkoholische Getränke zu sich nehmen, wie viel trinken Sie
dann typischerweise an einem Tag?
3. Wie oft trinken Sie 6 oder mehr alkoholische Getränke zu einer
Gelegenheit?
4. Wie oft haben Sie in den letzten 12 Monaten erlebt, dass Sie nicht
mehr mit dem Trinken aufhören konnten, nachdem Sie einmal begonnen
hatten?
5. Wie oft passierte es in den letzten 12 Monaten, dass Sie wegen des
Trinkens Erwartungen, die man an Sie in der Familie, im Freundeskreis
und im Berufsleben hat, nicht mehr erfüllen konnten?
34
AUDIT
6. Wie oft brauchten Sie in den letzten 12 Monaten am Morgen ein erstes
Glas, um sich nach einem Abend mit viel Alkoholgenuss wieder fit zu
fühlen?
7. Wie oft hatten Sie in den letzten 12 Monaten wegen Ihrer
Trinkgewohnheiten Schuldgefühle oder Gewissensbisse?
8. Wie oft haben Sie sich während der letzten 12 Monate nicht mehr an den
vorangegangenen Abend erinnern können, weil Sie getrunken hatten?
Haben Sie sich oder eine andere Person unter Alkoholeinfluss schon mal
verletzt?
9. Wie oft haben Sie sich während der letzten 12 Monate nicht mehr an den
vorangegangenen Abend erinnern können, weil Sie getrunken hatten?
10. Hat ein Verwandter, Freund oder auch ein Arzt schon einmal Bedenken
wegen Ihres Trinkverhaltens geäußert oder vorgeschlagen, dass Sie Ihren
Alkoholkonsum einschränken?
35
Ermittlung des Cut-off: AUDIT – Goldstandard CIDI
Rumpf, H., U. Hapke, C. Meyer and U. John (2002). "Screening for alcohol use
disorders and at-risk drinking in the general population: Psychometric performance of
three questionnaires." Alcohol and Alcoholism 37(3): 261-268.
36
ROC-Curve Analyse: AUDIT – Goldstandard CIDI
Dybek, I., G. Bischof, J. Grothues, S. Reinhardt, C. Meyer, U. Hapke, U. John, A. Broocks, F. Hohagen and H.
J. Rumpf (2006). "The reliability and validity of the Alcohol Use Disorders Identification Test (AUDIT) in a
German general practice population sample." Journal of Studies on Alcohol and Drugs 67(3): 473-481.
37
Scoring AUDIT (-C)
AUDIT und AUDIT-C:
>= 4 (Frauen) / >= 5 (Männer) => gesundheitsriskanter Alkoholkonsum
AUDIT:
>=20 weitergehende Abklärung und ggf. spezialisierteBehandlung indiziert
CAVE: Die Auswahl geeigneter Cut-Off Werte hängt vom Setting und den vorgesehenen weiteren diagnostischen und therapeutischen Optionen ab!
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Anwendung Screening
Fragebogenverfahren sind Biomarkern bei viele Anwendungs-zwecken überlegen
Auswahl von Verfahren und Cut-Off-Werten orientiert sich an:
• Anforderungen an Praktikabilität• Benötigter Sensitivität / Spezifität• Setting• Zielgruppe
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Diagnostische Instrumente
Kategoriale Erfassung von Missbrauch und Abhängigkeit
für psychiatrisch erfahrene Interviewer
- Strukturiertes klinisches Interview für DSM-IV (SKID)
- Schedules for Clinical Assessment in Neuropsychiatry (SCAN)
für psychiatrisch unerfahrene Interviewer
- Composite International Diagnostic Interview (CIDI, verwandte VersionenM-CIDI, DIA-X),
- Internationale Diagnose Checklisten (IDCL) - Primary Care Evaluation of Mental Disorders (PRIME-MD)
Dimensionale Erfassung des Abhängigkeitssyndroms
- Skala zur Erfassung der Schwere der Alkoholabhängigkeit (SESA)
- European Addiction Severity Index (EuropASI)
Fazit
Suchterkrankungen sind von höchster Relevanz im
Gesundheitswesen
Breites Spektrum von relevanter Indikatoren für
Suchterkrankungen
Implikation der Bevölkerungsschätzungen kann
nur unter hinreichender Berücksichtigung der
methodischen Grundlagen erfolgen