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Public Health Forum 21 Heft 78 (2013)http://elsevier.de/pubhef
Erfolgskriterien f€ur die indikationsbezogene IntegrierteVersorgung
Volker E. Amelung und Sascha Wolf
In der gesundheitspolitischen Diskus-
sion steht die indikationsbezogene
Integrierte Versorgung zumeist im
Schatten von populationsorientierten
Vollversorgungsprojekten. In der
praktischen Umsetzung besitzen ers-
tere jedoch erhebliche Vorteile: Be-
handlungsleitlinien konnen leichter
entwickelt sowie Qualitat und Kosten
einfacher evaluiert werden. In der Ver-
sorgungsrealitat sind es daher oftmals
gerade die indikationsbezogenen Mo-
delle, die auch in der Breite zu einer
Verbesserung der medizinischen Ver-
sorgung beispielsweise von chronisch
Kranken beitragen. Inzwischen ist das
Angebot besonderer Versorgungsfor-
men zu einem wichtigen Wettbe-
werbsinstrument der Krankenkassen
geworden.
Vor dem Hintergrund der demografi-
schen Entwicklung und des medizi-
nisch-technologischen Fortschritts
wird die Anzahl von Patienten mit
chronischen Erkrankungen aller Vo-
raussicht nach spurbar zunehmen.
Die Qualitat und Wirtschaftlichkeit
eines Gesundheitssystems wird daher
immer mehr davon abhangen, wie die
Versorgung von Menschen mit kom-
plexen Krankheitsbildern organisiert
ist. Hier stoßt das deutsche Gesund-
heitssystem an seineGrenzen. Ursach-
lich sind insbesondere die weitgehen-
de Trennung von ambulantem, statio-
narem und rehabilitativem Sektor, der
schlechte Informationsfluss zwischen
den Leistungserbringern und der un-
zureichende Versorgungswettbewerb
(Amelung et al., 2012). Genau hier
setzt die Integrierte Versorgung (IV)
an. Durch die Uberwindung der Sek-
torengrenzen und die Ermoglichung
gesteuerter Therapieprozesse sollen
ganzheitliche, individuell maßge-
schneiderte Behandlungsablaufe er-
moglicht werden.
Mit der Neuformulierung des § 140a-d
SGB V durch das Gesundheitssystem-
modernisierungsgesetz 2004 wurde
die Grundlage fur IV geschaffen und
erstmals eine sektorenubergreifende
oder interdisziplinar-fachubergreifen-
de Versorgung der Versicherten ohne
expliziten Einbezug der Kassenarztli-
chen Vereinigungen ermoglicht. Statt-
dessen konnen nunmehr einzelne
Arzte und Arztnetze im Rahmen des
Einzelvertragssystems direkte Ver-
tragspartner der Krankenkassen wer-
den und individuelle Vereinbarungen
uber Inhalte der Versorgung und For-
men der Vergutung treffen (Amelung
und Wolf, 2012). So kann beispiels-
weise ein Arztnetz die sektorenuber-
greifende Koordinierung und Durch-
fuhrung des Behandlungsprozesses
der im IV-Vertrag eingeschriebenen
Patienten sowie die Honorarverteilung
an die beteiligten Leistungserbringer
ubernehmen.
Zwischen 2004 und 2008 schnellte die
Anzahl der abgeschlossenen Vertrage
zur IV auf uber 6.000 hoch. Aus-
schlaggebend fur diesen Erfolg war
sicherlich die bis Ende 2008 geltende
Anschubfinanzierung. So war jede
Krankenkasse verpflichtet, ein Pro-
zent der ambulanten Gesamtvergu-
tung sowie der Krankenhausvergu-
tung zur Forderung der IV einzube-
halten. Mit dem Auslaufen der
Anschubfinanzierung endete auch
die Meldepflicht bei der Registrie-
rungsstelle, so dass seitdem keine
gesicherten Daten zum Stand der IV
mehr existieren. Der Sachverstandi-
genrat zur Begutachtung der Entwick-
lung im Gesundheitswesen schatzt auf
Grundlage einer eigenen Erhebung,
dass sich seit 2008 Beendigungen
und Neuabschlusse die Waage halten
und die Anzahl der laufenden IV-Ver-
trage bei ca. 6.400 stagniert (SVR,
2012).
Bei der uberwiegenden Mehrzahl die-
ser Vertrage handelt es sich um indi-
kationsbezogene Projekte von Kassen
und Leistungserbringern, die anders
als populationsorientierte Ansatze
auf Patienten mit jeweils einer be-
stimmten Indikation begrenzt sind.
Im Kern geht es bei der indikations-
orientierten IV um die konsequente
Umsetzung medizinischer Leitlinien
(z.B. Nationale VersorgungsLeitlinie
Kreuzschmerz), die im Unterschied
zu Disease-Management-Programmen
(DMP) nicht im Rahmen von Kollek-
tivvertragen, sondern auf einer selek-
tivvertraglichen Grundlage erfolgt.
Prinzipiell lassen sich drei Formen
unterscheiden: Erstens Standardver-
trage uber industriell gefertigte Me-
dizinprodukte wie z.B. Endoprothe-
sen. Da hierbei vor allem das Volu-
men entscheidend ist, handelt es sich
genaugenommen um versteckte Ra-
battvertrage. Zweitens Modelle zu
Volkskrankheiten wie Depression
oder Schmerz. Und schließlich drit-
tens Nischenvertrage zu besonderen
Krankheitsverlaufen wie Mukoviszi-
dose oder in Folge von Transplanta-
tionen. Die Modelle besitzen eine
große Spannbreite. Viele zeichnen
sich jedoch dadurch aus, dass leitli-
niengerechte, fachubergreifende und
individuelle Therapieplane erstellt,
15.e1
Public Health Forum 21 Heft 78 (2013)http://elsevier.de/pubhef
die Patienten wahrend des gesamten
Behandlungsprozesses betreut und
die Ergebnisse systematisch doku-
mentiert und ausgewertet werden.
Die Vorteile der Konzentration auf
eine konkrete Indikation liegen auf
der Hand: Behandlungsleitlinien
und klinische Behandlungspfade
konnen leichter entwickelt werden,
die Evaluation der Programme hin-
sichtlich Qualitat und Kosten ist ein-
facher und auch die Programmaus-
schreibung der Krankenkassen kann
eindeutiger formuliert werden. Da
Selektivvertrage nicht dem Kontra-
hierungszwang unterliegen, sondern
alle Vertragsparteien freiwillig an ei-
nem Programm teilnehmen konnen,
ergibt sich ein besonderer Anreiz, IV-
Programme fur ihre Akzeptanz in der
Praxis an den Bedurfnissen aller Be-
teiligten auszurichten (Amelung,
2011).
Im Zentrum des Vertragsgeschehens
steht zumeist die Krankenkasse. Aus
deren Sicht stellt die Wirtschaftlich-
keit ein zentrales Kriterium fur die
Teilnahme an der IV dar (SVR,
2012). Fur das Zustandekommen und
den Erfolg eines IV-Vertrags ist es
entscheidend, dass eine kritische Gro-
ße hinsichtlich der Anzahl der einge-
schriebenen Versicherten uberschrit-
ten wird. Es ist daher wenig erstaun-
lich, dass sich die meisten
indikationsbezogenen Vertrage auf
weit verbreitete Volkskrankheiten be-
ziehen, die auch medienwirksam fur
Vertrieb und Marketingzwecke ge-
nutzt werden konnen. Um wettbe-
werbsfahig zu sein reicht es nicht
mehr aus, aufoktroierte Vertrage zur
Hausarztzentrierten Versorgung oder
DMPs anzubieten, sondern eine Kasse
muss versuchen, sich uber Selektiv-
vertrage gegenuber den Konkurrenten
zu differenzieren.
15.e2
Erfolgreich gelingen kann dies lang-
fristig nur, wenn die Kasse uber eine
Gesamtstrategie verfugt und diese
konsequent verfolgt. Denn sektoren-
ubergreifende Behandlungsleitlinien
und Konzepte erfordern umfassendes
Wissen uber Pravention, Diagnose,
Therapie und Beeinflussungsmoglich-
keiten einer Krankheit. Fur eine zeit-
nahe und umfassende Behandlung ist
ein ubergreifendes klinisches und ad-
ministratives Informationssystem wie
beispielsweise eine elektronische Pa-
tientenakte notwendig. Die hohe
Komplexitat stellt einer der Grunde
dar, warum zu Beginn vor allem ein-
fache Vertrage, die in der Regel auf
etablierten Kooperationen aufbauten,
abgeschlossen worden sind.
Die Einsteuerung der Patienten sollte
immer von Arzten undKrankenkassen
gemeinsam durchgefuhrt werden.
Denn wahrend die Krankenkassen zu
wenige Informationen besitzen, um
die geeigneten Personen zu identifi-
zieren, unterliegen die Arzte massiven
Fehlanreizen. Umso wichtiger ist es
zudem, geeignete Leistungsanreize
fur kooperierende Leistungserbringer
einzufuhren, die eine effiziente Ein-
steuerung ermoglicht und einer be-
wussten Risikoselektion durch die
Arzte entgegenwirkt. Dies ist vorran-
gig durch einvon den Leistungserbrin-
gern akzeptiertes Vergutungssystem
anzustreben, das idealerweise die Er-
gebnisse berucksichtigt und uber
Gain-Sharing alle Vertragspartner an
den erreichten Erfolgen teilhaben lasst
(Amelung, 2011).
Trotz der hohen Anzahl von Selektiv-
vertragen stagniert der Anteil der Aus-
gaben fur IVan den GKV-Gesamtaus-
gaben bei unter einem Prozent (SVR,
2012). Noch immer scheuen die Kran-
kenkassen großere Investitionen. Das
Risiko erscheint vielen zu hoch, der
Gewinn zu unvorhersehbar. Die we-
nigsten Projekte amortisieren sich in
einem Jahr. Deshalb ist es wichtig, die
Kassen von ihrem Budgetdenken zu
befreien. Abhilfe schaffen konnte ein
Innovationsfonds fur Pilotprojekte,
der sich beispielsweise aus zwei Pro-
zent der Zuweisungen aus dem Ge-
sundheitsfonds speist. Um sicherzu-
stellen, dass die Gelder sachgerecht
verwendet werden, mussten die gefor-
derten Projekte einer standardisierten
Evaluation unterzogen werden. Denn
bis heute sind die genauen Effekte der
meisten Projekte auf Kosten und Qua-
litat kaum bekannt. Doch solange kei-
ne belastbaren Evaluationen existie-
ren, werden IV-Vertrage immer zur
Disposition stehen und ihre Ausbrei-
tung immer begrenzt bleiben. Die
Etablierung eines ,,Gold-Standards‘‘
fur Evaluationen, der eine Vergleich-
barkeit der Projekte ermoglicht, ist
somit ein entscheidender Schlussel
fur die Ausbreitung der IV – und das
vollig unabhangig davon, ob diese in-
dikationsbezogen oder indikations-
ubergreifend erfolgt.
Der korrespondierende Autor erklart, dasskein Interessenkonflikt vorliegt.
Literatur siehe Literatur zum Schwerpunkt-thema.http://journals.elsevier.de/pubhef/literatur
http://dx.doi.org/10.1016/j.phf.2012.12.015
Prof. Dr. Volker AmelungSchwerpunktprofessur fur InternationaleGesundheitssystemforschungInstitut fur Epidemiologie,Sozialmedizin undGesundheitssystemforschungMedizinische Hochschule HannoversowieVorstandsvorsitzender, BundesverbandManaged Care e.V.Friedrichstr. 13610117 [email protected]
Public Health Forum 21 Heft 78 (2013)http://elsevier.de/pubhef
Einleitung
In der gesundheitspolitischen Diskussion steht die indikationsbezogene Integrierte Versorgung zumeist im Schatten von
populationsorientierten Vollversorgungsprojekten. In der praktischen Umsetzung besitzen erstere jedoch erhebliche
Vorteile: Behandlungsleitlinien konnen leichter entwickelt sowie Qualitat und Kosten einfacher evaluiert werden. In
der Versorgungsrealitat sind es daher oftmals gerade die indikationsbezogenen Modelle, die auch in der Breite zu einer
Verbesserung der medizinischen Versorgung beispielsweise von chronisch Kranken beitragen. Inzwischen ist das Angebot
besonderer Versorgungsformen zu einem wichtigen Wettbewerbsinstrument der Krankenkassen geworden.
Summary
Indication related integrated care is less popular in health policy discussions than population oriented solutions for
integrated care. In practice, the former entail many advantages such as the facilitated development of treatment guidelines
as well as the better to perform evaluation of quality and costs of projects. In reality of health care, it is often the indication
related models that lead to better medical care for a wide range of people, e.g., patients suffering from chronic disease. In
themeanwhile the provision of innovative forms of treatment has become an important competitive instrument for sickness
funds.
Schlusselworter:
Indikationsbezogene Integrierte Versorgung = Indication-based integrated care, Populationsbezogene Integrierte Ver-
sorgung = Population-based integrated care, Selektivvertrag = Selective contracts, Behandlungsleitlinie = Medical
guideline, Innovationsfonds = Innovation fund
Literaturverzeichnis
Amelung VE. Neue Versorgungsformen auf
dem Prufstand. In: Amelung VE, Eble S,
Hildebrandt H, Herausgeber. Innovatives
Versorgungsmanagement. Berlin: MWV;
2011.p. 3–16.
Amelung VE, Hildebrandt H, Wolf S. Integrated
Care in Germany – a stony but necessary road!
International Journal of Integrated Care
2012;12.
Amelung VE, Wolf S. Integrierte Versorgung –
Vom Hoffnungstrager zum Ladenhuter der
deutschen Gesundheitspolitik? Gesundheits-
und Sozialpolitik 2012;1:13–9.
Sachverstandigenrat zur Begutachtung der Ent-
wicklung im Gesundheitswesen. Wettbewerb
an der Schnittstelle zwischen ambulanter und
stationarer Gesundheitsversorgung. Bern: Ver-
lag Hans Huber; 2012.
15.e3