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Bauwelt 31 | 2008 18 Thema Kantonsschule Rychenberg in Winterthur Bauwelt 31 | 2008 19 Ergänzt: ein Ensemble aus drei Jahrzehnten Erweiterung Kantonsschule Rychenberg und Im Lee, Winterthur: Haberland Architekten Kritik: Hubertus Adam Fotos: Andrea Helbling Als mächtige Stadtkrone thront ein helles, strahlendes, schloss- artiges Gebäude über dem Häusergewirr der Altstadt: So zeigt ein Foto im Novemberheft 1928 der Zeitschrift „Das Werk“ die neue Kantonsschule der Stadt Winterthur. Hans Bernoulli, zu dieser Zeit Chefredakteur, betont in seinem einleitenden Text die Monumentalität, Blockhaftigkeit und architektonische Klarheit des Baus, mit dessen Entwurf die Zürcher Architek- ten Otto und Werner Pfister sich im Wettbewerb des Jahres 1922 hatten durchsetzen können. Nachdem 1912 eine Erweiterung des früheren innerstäd- tischen Schulbaus in einer Volksabstimmung gescheitert war, hatte man sich in Winterthur nach dem Ersten Weltkrieg zu einem grundsätzlichen Neubeginn entschlossen. Als Bauplatz war die Wahl auf ein durchaus nicht unproblematisches Grundstück am Hang des Goldenbergs im Nordosten Win- terthurs gefallen, das, wie die „Schweizer Bauzeitung“ konsta- tierte, eine „untergeordnete, zufällige Lage an der Peripherie der Stadt“ aufwies und überdies von einem starken Gefälle ge- prägt war – von Nordosten nach Südwesten, mithin in diago- naler Richtung, fiel das Gelände um 18 Meter ab. Die meisten der 84 Wettbewerbsteilnehmer organisierten die Baumasse als mehr oder minder kompaktes Volumen – die Ausschreibung hatte einen repräsentativen Gestus gefordert – parallel zur oberen, das Grundstück begrenzenden Straße und damit an- nähernd parallel zum Hang. So auch die Gebrüder Pfister, de- ren Konzept besonders majestätisch wirkt, weil Sporthalle und Aula gleichsam eine in den Hang geschobene Substruktion bilden, über welcher, von zwei doppelläufigen Rampen er- schlossen, sich das streng symmetrische Schulgebäude erhebt. Der mit einem Walmdach gedeckte, viergeschossige Mittelteil mit den Klassenzimmern tritt zurück, so dass das Dach der Eine Schulerweiterung verlangt vom Architekten, Fragen zu bedenken, die auch in der Diskussion um die Erneu- erung des Bildungssystems eine Rolle spielen: Welche Tradition ist heute noch lebendig? Welche Überlieferung wollen wir weiterreichen? Wie viel Neubeginn tut not? Die vierte Bauphase der Schul- anlage ist dem Ensemble aus den sechziger Jahren talseitig vorgelagert, der eingeschos- sige Klassenzimmertrakt wird quasi zum Sockel der beste- henden Schule. Die turmartige Mediothek bildet die neue Mitte des Ganzen. Im Hinter- grund rechts der Altbau der Gebrüder Pfister. Lageplan im Maßstab 1 : 5000 1 Pfister-Bau 1928 2 Erweiterung 1963 3 Spezialklassen 4 Aula 5 Turnhalle 6 Erweiterung 1987 7 Mensa 8 Neubau 2007 1 2 3 4 5 6 7 8

Ergänzt: ein Ensemble aus drei Jahrzehnten · sprache Le Corbusier orientieren. Im Einzelnen handelt es sich um einen ringförmig um zwei Höfe gruppierten Klassenzim-mertrakt, einen

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Page 1: Ergänzt: ein Ensemble aus drei Jahrzehnten · sprache Le Corbusier orientieren. Im Einzelnen handelt es sich um einen ringförmig um zwei Höfe gruppierten Klassenzim-mertrakt, einen

Bauwelt 31 | 200818 Thema Kantonsschule Rychenberg in Winterthur Bauwelt 31 | 2008 19

Ergänzt: ein Ensemble aus drei JahrzehntenErweiterung Kantonsschule Rychenberg und Im Lee, Winterthur: Haberland ArchitektenKritik: Hubertus Adam Fotos: Andrea Helbling

Als mächtige Stadtkrone thront ein helles, strahlendes, schloss-artiges Gebäude über dem Häusergewirr der Altstadt: So zeigt ein Foto im Novemberheft 1928 der Zeitschrift „Das Werk“ die neue Kantonsschule der Stadt Winterthur. Hans Bernoulli, zu dieser Zeit Chefredakteur, betont in seinem einleitenden Text die Monumentalität, Blockhaftigkeit und architektonische Klarheit des Baus, mit dessen Entwurf die Zürcher Architek-ten Otto und Werner Pfister sich im Wettbewerb des Jahres 1922 hatten durchsetzen können.

Nachdem 1912 eine Erweiterung des früheren innerstäd-tischen Schulbaus in einer Volksabstimmung gescheitert war, hatte man sich in Winterthur nach dem Ersten Weltkrieg zu einem grundsätzlichen Neubeginn entschlossen. Als Bauplatz war die Wahl auf ein durchaus nicht unproblematisches Grundstück am Hang des Goldenbergs im Nordosten Win-terthurs gefallen, das, wie die „Schweizer Bauzeitung“ konsta-tierte, eine „untergeordnete, zufällige Lage an der Peripherie der Stadt“ aufwies und überdies von einem starken Gefälle ge-prägt war – von Nordosten nach Südwesten, mithin in diago-naler Richtung, fiel das Gelände um 18 Meter ab. Die meisten der 84 Wettbewerbsteilnehmer organisierten die Baumasse als mehr oder minder kompaktes Volumen – die Ausschreibung hatte einen repräsentativen Gestus gefordert – parallel zur oberen, das Grundstück begrenzenden Straße und damit an-nähernd parallel zum Hang. So auch die Gebrüder Pfister, de-ren Konzept besonders majestätisch wirkt, weil Sporthalle und Aula gleichsam eine in den Hang geschobene Substruktion bilden, über welcher, von zwei doppelläufigen Rampen er-schlossen, sich das streng symmetrische Schulgebäude erhebt. Der mit einem Walmdach gedeckte, viergeschossige Mittelteil mit den Klassenzimmern tritt zurück, so dass das Dach der

Eine Schulerweiterung verlangt vom Architekten, Fragen zu bedenken, die auch in der Diskussion um die Erneu-erung des Bildungssystems eine Rolle spielen: Welche Tradition ist heute noch lebendig? Welche Überlieferung wollen wir weiterreichen? Wie viel Neubeginn tut not?

Die vierte Bauphase der Schul-anlage ist dem Ensemble aus den sechziger Jahren talseitig vorgelagert, der eingeschos -sige Klassenzimmertrakt wird quasi zum Sockel der beste-henden Schule. Die turmartige Mediothek bildet die neue Mitte des Ganzen. Im Hinter-grund rechts der Altbau der Gebrüder Pfister.

Lageplan im Maßstab 1:5000

1 Pfister-Bau 19282 Erweiterung 19633 Spezialklassen4 Aula5 Turnhalle6 Erweiterung 19877 Mensa8 Neubau 2007

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ArchitektenHaberland Architekten, Berlin

ProjektarchitektinDoris Hönig

MitarbeiterNina Gribat, Andreas Lokitek, Boris Buzek, Stephanie Dreyfuss, Judith Rönnefahrt

BauleitungBosshard und Partner, Zürich

TragwerksplanungDr. Grob & Partner AG, Winterthur

Minergie und HLTMüller und Pletscher AG, Winterthur

BauherrKantonale Bildungsdirektion Zürich, vertreten durch das Kantonale Hochbauamt Zürich

Blick in den Schulcampus von Osten. Da die neue Turnhalle in den Berg eingelassen wurde, bildet sich ihr großer Raum-körper nicht ab, und ihr Dach kann als Pausenhof in den Campus überleiten.

Turnhalle als Pausenhof genutzt werden kann; die beiden dreigeschossigen Seitenflügel mit den Spezialräumen, die die-sen „cour d’honneur“ begrenzen, besitzen Flachdächer.

Die erste und die zweite ErweiterungDer 145 Meter lange Bau der Kantonsschule bildet gewisser-maßen einen Zwitter zwischen Tradition und Moderne, wie er für das Schaffen der Gebrüder Pfister typisch ist. Dass bis heute keine einschneidenden Umbauten vorgenommen wur-den, beweist die Zeiten überdauernde Tragfähigkeit ihres Kon-zepts. Gestiegener Raumbedarf hatte allerdings nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer ersten Erweiterung geführt, die nach Entwurf von Erik Lanter 1960–63 realisiert wurde. Der Zürcher Architekt ist heute kaum noch bekannt. 1947 hatte er zusammen mit Adolf Ziegler eine Konkurrenz für die Erweite-rung des innerstädtischen ETH-Areals in Zürich gewonnen. Weil das Projekt unrealisiert blieb, wurde beiden Architekten zwischen 1968 und 1976 die zweite Ausbauetappe der ETH-Hönggerberg übertragen, also der HIL-Komplex, in dem auch das Departement für Architektur untergebracht ist. Ist die Qualität des Züricher Bauwerks auch bis heute umstritten, so kann die Erweiterung der Kantonsschule unzweifelhaft als gelungen gelten. Inspiriert von der aus einer Konfiguration verschiedener Volumina sich bildenden Kantonsschule Freu-denberg von Jacques Schader in Zürich (1956–60), errichtete Lanter westlich der bestehenden Bauten eine campusartig of-fene Struktur aus vier Sichtbeton-Baukörpern, die sich mit Pi-lotis und Brises-soleil-ähnlichen Betonrastern an der Formen-sprache Le Corbusier orientieren. Im Einzelnen handelt es sich um einen ringförmig um zwei Höfe gruppierten Klassenzim-mertrakt, einen das Gelände rückwärtig begrenzenden Spe-

zialzimmerflügel, eine in der Mitte angeordnete Aula sowie um den Turnhallenbau, der als Trennung zwischen die alten und neuen Außenanlagen geschoben ist. In den achtziger Jah-ren musste noch einmal erweitert werden: Die ortsansässigen Architekten Peter Stutz und Markus Bolt bauten ganz im Wes-ten eine Mensa und einen Trakt mit naturwissenschaftlichen Räumen, welcher das Ensemble beschließt.

Der NeubauEin gutes Jahrzehnt später hatte sich die durch Provisorien temporär gemilderte Raumnot erneut so weit zugespitzt, dass das kantonale Hochbauamt 1999 einen zweistufigen offenen Realisierungswettbewerb für eine Erweiterung ausschrieb. Das Programm der nunmehr vierten Bauphase umfasste elf Klas-senzimmer für die Kantonsschule Rychenberg (also den Bau-komplex von Lanter) sowie, nutzbar für beide Schulen, drei Musikräume, eine Dreifachturnhalle mit Gymnastik- und Fit-nesssaal und eine Mediothek mit 150 Plätzen. Die drei Preis-träger der zweiten Runde wurden um Überarbeitung gebeten; am Ende konnte sich das Projekt des Berliner Architekten Jost Haberland durchsetzen. Die Realisierung erfolgte nicht unver-züglich – zunächst mussten die Gesamtkosten auf unter 30 Millionen Schweizer Franken gebracht werden, außerdem war eine leiche Verschiebung des Neubaus nötig, um die auf dem Gelände stehenden alten Eichen zu bewahren. Alles, was nicht unbedingt zwingend war, musste eingespart werden; Neben- und Abstellräume entfielen ebenso wie die Zusatz-funktion der Dreifachturnhalle als Mehrzweckhalle, und die Klassenzimmer bewegen sich mit 65 Quadratmetern eher im unteren Bereich des Möglichen. Doch letztlich, so konzediert Jost Haberland, habe die Sparübung zu größerer Klarheit ge-

Rechts im Bild die Schule aus den 60er Jahren, im Hinter-grund die Erweiterung aus den Achtzigern. Kleines Foto: Blick in die Turnhalle.

Schnitte im Maßstab 1:500

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Grundrisse Ebenen -2, -1, 0, 1, 2, 3 im Maßstab 1:750

1 Dreifach-Turnhalle 2 Gymnastikraum 3 Geräte 4 Fahrräder 5 Kraftraum 6 Umkleiden 7 Klassenzimmer 8 Musikzimmer 9 Singsaal10 Sammlung11 Mediothek12 Ausleihe13 Büro14 Gruppenarbeit

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führt. Sieben Jahre nach dem Entscheid des Jahres 2000 war die Erweiterung fertiggestellt.

Die Schwierigkeit des Wettbewerbs hatte darin bestan-den, das geforderte Raumprogramm auf dem dicht bebauten Areal der Erweiterungen von Lanter, Bolt und Stutz zu platzie-ren. Haberland löste das Problem, indem er die neuen Räume, in einem langen Streifen angeordnet, talseits an den bestehen-den Komplex anfügte. Die Klassenzimmer, mit Fenstern nach Süden orientiert, nutzen die Hangsituation; die Sporthalle, welche die Sequenz der Räume fortsetzt, ist zur Hälfte in den Boden versenkt und tritt damit nicht als Volumen in Erschei-nung. Ähnlich wie beim Ursprungsbau von Pfister dienen die Dächer der Sporthalle und der Klassenzimmer als Freiflächen und Pausenplatz. Damit wird der Neubau von Jost Haberland quasi zum Sockel für die Schulanlage von Lanter, lediglich das fünfgeschossige Volumen der Mediothek ist als eigentlicher Hochbau ausgeführt. Der Turm markiert die Schnittstelle zwi-schen Klassentrakt und Sporthalle und fügt sich hinsichtlich seiner Proportionen und seiner Körnung adäquat in das En-semble ein. Es ist bewerkenswert, in welchem Maße es dem Architekten gelungen ist, eine Balance zwischen Alt und Neu herzustellen; die Ergänzung geschieht auf Augenhöhe, weder ist sie von devoter Zurückhaltung noch von auftrumpfenden Gesten. Die orthogonale Grundrisskonfiguration, die Ausrich-tung zur Stadt und die schlichte, volumetrisch bestimmte Ge-stalt sämtlicher Bauten hatten die Gebrüder Pfister eingeführt, und alle nachfolgenden Architekten, nun auch Jost Haber-land, sind ihren Prinzipien gefolgt. Wie Lanter verwendet auch Haberland Sichtbeton, allerdings auf andere Weise. Die Verwendung von Schaltafeln anstelle von Brettschalungen führt – wie auch der Verzicht auf die Brises-soleil – zu glatteren

Oberflächen. Die Aluminiumfenster mit ihren tiefen Laibun-gen – Resultat der dem Minergiestandard geschuldeten star-ken Dämmschicht – verleihen dem Bau Plastizität, die drei Geschosse übergreifende Öffnung der Mediothek wird zum Fenster zur Stadt.

Großzügige Erschließungszonen, in denen die drohende kavernenartige Atmosphäre dank der geschickten Raum- und Lichtregie vermieden worden ist, bestimmen das Innere. Die elf Klassenzimmer, nahezu quadratisch im Grundriss und dank der Einzeltische flexibel zu möblieren, reihen sich ent-lang einem Korridor auf, der nur von einem Treppendurch-gang unterbrochen wird. Lichtschächte trennen Klassenzim-mer und Korridor; sie belichten die mit Holz ausgekleideten Sitznischen, die dem Flur Aufenthaltsqualität verleihen, füh-ren den Klassenräumen über die rückwärtigen Oberlichter Ta-geslicht zu und erhellen sogar noch die Fahrradeinstellhalle, die sich unter dem westlichen Teil des Klassentrakts befindet.

Geradezu opulent zeigt sich die Mediothek, welche die drei oberen Geschosse des Turmbaus einnimmt. Dadurch, dass die beiden oberen Ebenen emporenartig vor der großen Fens-terfront zurückweichen, ist ein attraktiver Raum entstanden, der von den Schülern auch außerhalb der Schulstunden rege genutzt wird. Hier kann eigenverantwortliches Lernen jenseits des Frontalunterrichts geübt werden, der Umfang der Buch- und DVD-Sammlung dürfte jedem Interesse gerecht werden. Als „Turm des Wissens“ bildet die Mediothek die Mitte des Schulkomplexes – programmatisch hat der Architekt gerade für diese Nutzung die exponierteste Stelle vorgesehen.

Die Flure im Rücken der Klas-senzimmer erhalten durch Oberlichter Tageslicht. Sie wer-den von Sitzni schen beglei -tet. Großes Foto: Luftraum der Mediothek.