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77 Zwischen Raum und Funktion. Die Verhältnismäßigkeiten der Unité d’Habitation von Le Corbusier Laura Stillers „Eine neue Architektur [muss] auf der Idealisie- rung von Typen und Normen basieren [...], die der modernen Gesellschaſt gerecht werden und zugleich den Möglichkeiten der Massenproduk- tion entsprechen.“1 Ein Komplex, der unter möglichst ökonomi- schen Produktionsbedingungen das mensch- liche Zusammenleben vereinfachen sollte – das war der Plan von Le Corbusier, als er sein wohl am meisten polarisierendes Bauwerk ent- warf. In der Tat manifestiert sich in und an der Unité d’Habitation von Marseille (Abb. 1) ein Reichtum architektonischer Formenspra- che, deren Entwicklung von den konzeptuel- len Anfängen in den 1920er Jahren bis zur Fer- tigstellung im Jahr 1952 von unterschiedlichen historisch bedingten Einflüssen und Visionen im Hinblick auf städtebauliche Planungen von Le Corbusier geprägt ist. Bis heute jedoch gibt nicht nur die für damalige Verhältnisse innova- tiv erscheinende Form und Materialität der Uni- der Forschung Anlass zu einer kontroversen Diskussion. Vielmehr ist es die in einem nahe- zu schöpferischen Akt vom Architekten inten- dierte neuartige Symbiose aus Architektur und einem engmaschigen urbanen und sozialen Ge- füge, also der Anspruch, ein Hybrid aus indivi- duellen und gemeinschaſtlichen Lebensformen erstmals in einem einzigen Bauwerk zu vereinen. Wie aber gelingt es dem Architekten, einerseits aus einem von der Industrialisierung und damit dem ökonomisch-seriellen Wohnungsbau ge- prägten Portfolio zu schöpfen, auf der anderen Seite jedoch ein Höchstmaß an funktionalisier- tem Wohnraum zu schaffen, der den Bedürfnis- sen des Einzelnen und der Gemeinschaſt glei- chermaßen Rechnung trägt? Wie sozial ist das als sozial konzipierte Bauwerk also wirklich? Es gilt, die räumlich-funktionale Kompatibilität hinsichtlich sozialer Belange näher zu beleuch- ten. Das Konzept der Unité d’Habitation Die Unité erweist sich als Element einer größe- ren, übergeordneten Vision Le Corbusiers. Die Rede ist hierbei von zahlreichen, jedoch nie um- gesetzten städtebaulichen Utopien, die der Ar- chitekt im Laufe seiner produktivsten Schaffens- jahre zu Papier brachte. Manifestiert sich die zwischen 1947 und 1952 erbaute Unité am Bou- levard Michelet in Marseille, mit ihren vier Nachfolgebauten in Nantes-Rezé, Briey, Firmi- ny-Vert und Berlin, also als Grundmodul einer funktionalen Stadt, findet sie ihren wohl eindeu- tigsten konzeptuellen Ursprung im theoreti- schen Modell der Ville Radieuse, welches Le Corbusier erstmals im Jahr 1933 auf dem CIAM in Brüssel vorstellte, und das sich für sein gesam- tes städtebauliches Oeuvre fortan als programma- tische Referenz darstellt. Besonders, da sich darin ein Wendepunkt in der schöpferischen Ideologie Le Corbusiers manifestiert, insofern dieser sich von einem vom Kapitalismus geprägten Gedan- kengut löste und durch den rationalisierten Wohnungsbau erstmals eine Gleichstellung der Arbeiterklasse vollzog:2 Das Konzept der Zeit- genössischen Stadt für drei Millionen Einwoh- ner (1922), welches sich durch die strikte räum- liche Trennung sozialer Klassen auszeichnet, nämlich der dem Stadtkern vorbehaltenen Elite sowie dem in den Außenbezirken angesiedelten Bürgertum, kann hierzu als Vorläufer betrachtet werden. Wie auch in den eorien von Howard und Wright zeigt sich unter anderem in dem Modell der Ville Radieuse das Bestreben Le Corbusiers, die gesellschaſtlichen – besonders im Hinblick auf eine „social justice and equality“ –, räumlich-gestalterischen sowie ökonomi- schen Herausforderungen der Stadtplanung als ganzheitliche Spielregeln zu erfassen, sta nach kurzfristigen und lediglich auf spezifische Stadt- modelle anwendbare Lösungen zu suchen:3 Die Struktur der Ville Radieuse sieht ein Wohnen in bandartig verlaufenden, zentralisierten Zonen vor, die nach beiden Seiten erweiterbar sind. Ar- beit, Handel und Verwaltung allerdings sollten nach außen verlagert werden und durch Ver- kehrsknoten miteinander verbunden sein. Ange- strebt wurde somit, das urbane Gefüge mensch- lichen Bedürfnissen anzupassen, indem jedes Mitglied Zugang zu Luſt, (Sonnen-)Licht/Weite und Grün haben sollte – nach Le Corbusier die ‚drei natürlichen Freuden‘. Erscheint dieser An- satz unter sozialen Gesichtspunkten schlüssig, klingt in ihm dennoch auch die ablesbare Hal- tung des Architekten zu seiner sich selbst gestell- ten Aufgabe an: Mehr nur als lediglich in der Rolle eines Städte-Konstrukteurs zu agieren, misst er sich durch das Festlegen eines Idealzu- standes – durchaus Anlass zu einer kritischen Haltung – ebenfalls einen übergeordneten erzie- 1 William J. R. Curtis: Architektur im 20. Jahrhundert. Stugart 1989 [1987]. S. 46. 2 Vgl. Robert Fishman: Urban Utopias in the Twentieth Century. Ebenezer Howard, Frank Lloyd Wright, and Le Corbusier. New York 1977. S. 230. 3 Fishman 1977 (wie Anm. 2). S. X.

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Zwischen Raum und Funktion. Die Verhältnismäßigkeiten der Unité d’Habitation von Le Corbusier

Laura Stillers

„Eine neue Architektur [muss] auf der Idealisie-rung von Typen und Normen basieren [...], die der modernen Gesellschaft gerecht werden und zugleich den Möglichkeiten der Massenproduk-tion entsprechen.“1Ein Komplex, der unter möglichst ökonomi-schen Produktionsbedingungen das mensch-liche Zusammenleben vereinfachen sollte – das war der Plan von Le Corbusier, als er sein wohl am meisten polarisierendes Bauwerk ent-warf. In der Tat manifestiert sich in und an der Unité d’Habitation von Marseille (Abb. 1) ein Reichtum architektonischer Formenspra-che, deren Entwicklung von den konzeptuel-len Anfängen in den 1920er Jahren bis zur Fer-tigstellung im Jahr 1952 von unterschiedlichen historisch bedingten Einflüssen und Visionen im Hinblick auf städtebauliche Planungen von Le Corbusier geprägt ist. Bis heute jedoch gibt nicht nur die für damalige Verhältnisse innova-tiv erscheinende Form und Materialität der Uni­té der Forschung Anlass zu einer kontroversen Diskussion. Vielmehr ist es die in einem nahe-zu schöpferischen Akt vom Architekten inten-dierte neuartige Symbiose aus Architektur und einem engmaschigen urbanen und sozialen Ge-füge, also der Anspruch, ein Hybrid aus indivi-duellen und gemeinschaftlichen Lebensformen erstmals in einem einzigen Bauwerk zu vereinen. Wie aber gelingt es dem Architekten, einerseits aus einem von der Industrialisierung und damit dem ökonomisch-seriellen Wohnungsbau ge-prägten Portfolio zu schöpfen, auf der anderen

Seite jedoch ein Höchstmaß an funktionalisier-tem Wohnraum zu schaffen, der den Bedürfnis-sen des Einzelnen und der Gemeinschaft glei-chermaßen Rechnung trägt? Wie sozial ist das als sozial konzipierte Bauwerk also wirklich? Es gilt, die räumlich-funktionale Kompatibilität hinsichtlich sozialer Belange näher zu beleuch-ten.

Das Konzept der Unité d’Habitation

Die Unité erweist sich als Element einer größe-ren, übergeordneten Vision Le Corbusiers. Die Rede ist hierbei von zahlreichen, jedoch nie um-gesetzten städtebaulichen Utopien, die der Ar-chitekt im Laufe seiner produktivsten Schaffens-jahre zu Papier brachte. Manifestiert sich die zwischen 1947 und 1952 erbaute Unité am Bou-levard Michelet in Marseille, mit ihren vier Nachfolgebauten in Nantes-Rezé, Briey, Firmi-ny-Vert und Berlin, also als Grundmodul einer funktionalen Stadt, findet sie ihren wohl eindeu-tigsten konzeptuellen Ursprung im theoreti-schen Modell der Ville Radieuse, welches Le Corbusier erstmals im Jahr 1933 auf dem CIAM in Brüssel vorstellte, und das sich für sein gesam-tes städtebauliches Oeuvre fortan als programma-tische Referenz darstellt. Besonders, da sich darin ein Wendepunkt in der schöpferischen Ideologie Le Corbusiers manifestiert, insofern dieser sich von einem vom Kapitalismus geprägten Gedan-kengut löste und durch den rationalisierten Wohnungsbau erstmals eine Gleich stellung der

Arbeiterklasse vollzog:2 Das Konzept der Zeit­genössischen Stadt für drei Millionen Einwoh­ner (1922), welches sich durch die strikte räum-liche Trennung sozialer Klassen auszeichnet, nämlich der dem Stadtkern vorbehaltenen Elite sowie dem in den Außenbezirken angesiedelten Bürgertum, kann hierzu als Vorläufer betrachtet werden. Wie auch in den Theorien von Howard und Wright zeigt sich unter anderem in dem Modell der Ville Radieuse das Bestreben Le Corbusiers, die gesellschaftlichen – besonders im Hinblick auf eine „social justice and equality“ –, räumlich-gestalterischen sowie ökonomi-schen Herausforderungen der Stadtplanung als ganzheitliche Spielregeln zu erfassen, statt nach kurzfristigen und lediglich auf spezifische Stadt-modelle anwendbare Lösungen zu suchen:3 Die Struktur der Ville Radieuse sieht ein Wohnen in bandartig verlaufenden, zentralisierten Zonen vor, die nach beiden Seiten erweiterbar sind. Ar-beit, Handel und Verwaltung allerdings sollten nach außen verlagert werden und durch Ver-kehrsknoten miteinander verbunden sein. Ange-strebt wurde somit, das urbane Gefüge mensch-lichen Bedürfnissen anzupassen, indem jedes Mitglied Zugang zu Luft, (Sonnen-)Licht/Weite und Grün haben sollte – nach Le Corbusier die ‚drei natürlichen Freuden‘. Erscheint dieser An-satz unter sozialen Gesichtspunkten schlüssig, klingt in ihm dennoch auch die ablesbare Hal-tung des Architekten zu seiner sich selbst gestell-ten Aufgabe an: Mehr nur als lediglich in der Rolle eines Städte-Konstrukteurs zu agieren, misst er sich durch das Festlegen eines Idealzu-standes – durchaus Anlass zu einer kritischen Haltung – ebenfalls einen übergeordneten erzie-

1 William J. R. Curtis: Architektur im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1989 [1987]. S. 46.

2 Vgl. Robert Fishman: Urban Utopias in the Twentieth Century. Ebenezer Howard, Frank Lloyd Wright, and Le Corbusier. New York 1977. S. 230.

3 Fishman 1977 (wie Anm. 2). S. X.

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herischen, wenn nicht sogar kontrollierenden Auftrag hinsichtlich einer neu zu bildenden Ge-sellschaft bei. Denn die Struktur der Idealstadt, charakterisiert durch strenge Symmetrie, Geo-metrie und sinnbildlichen Elementen, mit Rück-grat, Herz und Kopf, sei geschaffen für „eine Art Idealmenschen des 20. Jahrhunderts – perfekt funktionierend und in Harmonie mit der Na-tur.“4 Erhebt dieser Anspruch eines dogmati-schen Idealzustandes gleichsam Gültigkeit für die formale und soziale Organisation der Unité, so erweist sich diese als Repräsentantin der nachkriegszeitlichen Aufbruchstimmung den-noch nicht mehr als ein Fragment der einstigen Vision. Unter Bezugnahme auf vorstehende Überlegungen des Architekten bietet sich im Hinblick auf die Unité insofern der Vergleich mit städteplanerischen Charakteristika an, als sich das einzelne, eigenständige Bauwerk als ver-tikal gestapelte Stadt manifestiert. In der Substi-tution der Begriffe ‚Stadt‘ und ‚Wohnraum‘ lässt sich das Postulat gemäß der Charta von Athen, die „Stadt [würde] den Charakter eines im vor-

aus durchdachten Unternehmens annehmen, das den Regeln eines allgemeinen Plans unter-worden [sei]“,5 gleichermaßen auf das architek-tonische Prinzip der Unité projizieren. Denn auch hier spielte für eine potenzielle Umsetzung der Visionen der konstitutive Einfluss einer poli-tischen Obrigkeit, welcher Le Corbusier bereits die Ville Radieuse gewidmet hatte, eine bedeut-same Rolle. Dem aus der Historie der Stadt tra-dierten Gegensatz zwischen urbanem und länd-lichem Raum, der für die modernen Architekten eine unvereinbare Koexistenz von öffentlichem und privatem Grundeigentum implizierte, soll-ten sich neue Modelle widersetzen, um die Kon-trolle über städtischen Raum der Öffentlichkeit zurückgeben zu können.6 Folglich ist davon aus-zugehen, dass auch bei der Planung der Unité primär die Verflechtung eines individuellen Bau-werks in einen städtischen Kontext im Fokus stand. Unité de grandeur conforme – so betitel-te Le Corbusier sein architektonisches Werk. Auf der Suche nach möglichen Lösungen im Hinblick auf den Massenwohnungsbau erwies

sich die architektonische Form des Hochhauses gerade gegen Ende der 1920er Jahre im Sinne der voranschreitenden Industrialisierung in vie-lerlei Hinsicht als angemessen: Einerseits wirkt das vertikale Bauen und damit die Abschaffung des Einfamilienhauses – vornehmlich die sied-lungscharakterisierende Flachbauweise – der Re-duzierung der Bodenfläche, bedingt durch die Kumulation von Menschen im städtischen Raum entgegen. Andererseits zeichnete sich das Hoch-haus als ein vom Ingenieur dem Architekten zur Verfügung gestelltes Instrument aufgrund seriel-ler Fabrikationsmöglichkeiten durch ein hohes Maß an Wirtschaftlichkeit aus – besonders unter

4 Curtis 1989 (wie Anm. 1). S. 207. – Vgl. Fishman 1977 (wie Anm. 2). S. 163, S. 233.

5 Charta von Athen. Lehrsatz 84. In: Thilo Hilpert: Le Corbusiers Charta von Athen. Texte und Dokumen-te. Braunschweig 1988 [1984]. S. 161.

6 Vgl. Leonardo Benevolo: Die Geschichte der Stadt. Frankfurt, New York 2000 [1983]. S. 320, S. 911.

7 Le Corbusier: L’Unité d’Habitation de Marseille. Le Point. Nr. 38. Mulhouse 1950. S. 23. – Vgl. Michael Peterek: Hierarchisches Formmodell und serielle Siedlungstextur. Eine vergleichende Strukturanaly-se von vier Paradigmen der Wohnquartiersplanung 1910-1950. Karlsruhe 1996. S. 296. – Vgl. Curtis 1989 (wie Anm. 1). S. 286. – Vgl. Jacques Sbriglio: L’Unité d’habitation de Marseille. Basel 2004. S. 40.

Abb. 1 Le Corbusier, Marseille, Unité d’Habitation, West- und Südfassade

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dem Aspekt der Wohnungsnot infolge des Zwei-ten Weltkrieges. Stellte die Unité für den Archi-tekten selbst eine experimentelle Stätte dar, ma-nifestiert sich dies im Testen neuer technischer Möglichkeiten, welche im Dienste der Vorstel-lung einer neuartigen kollektiven, großstädti-schen Wohnform stehen sollten.7 Die Unité lässt sich also zurecht als Prototyp, als Denkmal einer jahrzehntelangen Versuchsreihe und Stein ge-wordenes Resultat einer visionären Entwicklung betiteln, für das sich aus formaler und funktiona-ler Sicht das Zusammenspiel verschiedener (städte)baulicher Grundelemente als charakte-ristisch erweist. Auf dem wissenschaftlich-me-thodischen Weg „vom Besonderen zum Allge-meinen“ kristallisiert sich durch die Analyse einzelner Funktions- und Gestaltungsein heiten schrittweise ein neues archi tek to nisch-rationales Kondensat heraus, das unter Berücksichtigung neuer sozialer, technischer und ökonomischer Anforderungen in seinem Ergebnis Anspruch auf eine allgemeine Gültigkeit haben sollte.8 Be-kräftigende Wirkung zeigt hierzu die Schlusser-klärung des vierten CIAM-Kongresses, die Charta von Athen aus dem Jahre 1933. Sie er-hebt das Postulat hinsichtlich der Trennung funktioneller Elemente einer Stadt in die Berei-che Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Erholung sowie Verkehr. Aufgabe der Stadt (und damit auch des Stadtplaners) solle es somit sein, „auf geistiger und materieller Basis das individuelle und gemeinschaftliche Leben in Beziehung [zu] stellen“, indem der „menschliche Maßstab“ und die „menschlichen Bedürfnisse“ als Ausgangs-punkt für die „richtige Wahl der Lage und Größe der einzelnen Gebiete“ gewählt würden.9 Was die Forderung nach einer an den menschlichen Proportionen orientierten Bauweise anbelangt, so kam Le Corbusier dieser bei der Gestaltung der Unité erstmals mit Hilfe des von ihm ins Le-ben gerufenen Proportionssystems, dem Modu­lor, nach. Gleichsam berücksichtigte er in sei-nem Konzept das Beziehungsgeflecht von privaten und öffentlichen Räumen, indem er die Grundelemente der Stadt an der Dimension des Wohnkomplexes ausrichtete und damit die städ-tische Gesamtstruktur der Wohnfunktion als

primärem menschlichen Bedürfnis untergeord-net werden konnte.10 Dass dabei unter Einbezug des Postulats nach ‚Licht, Luft und Grün‘ die Grundriss-Komposition sowie einzelne Struk-turmerkmale des Gebäudes eine wesentliche Rolle spielten, zeigt ein Blick auf die bereits im Jahre 1926 statuierten Cinq Points d’une ar­chitecture nouvelle: Durch das Aufsockeln des Komplexes auf Pfeiler – als Gegenpol zu einem durch ein Fundament in der Erde fest veranker-tem Bauwerk –, kann sich die das Gebäude um-schließende Parklandschaft nicht nur unter ihm fortsetzen, sondern verschmilzt gleichsam mit ihm. Die Forderung nach allgegenwärtigem Grün als Synonym für Ruhe und Erholung setzt sich einer überdimensionalen Klammer ähnlich auch auf dem Dach als nach oben verschobene und somit zurückgewonnene Grundstücksflä-che fort. Das Säulensystem des Erdgeschosses entbindet ferner tragende Mauern von ihrer Ei-genschaft, den Grundriss von vorneherein fest-zulegen, wodurch die flexibel einschiebbaren Trennwände einen ökonomischen und zugleich auf die menschlichen Raumbedürfnisse flexibel anpassbare und freie Grundrissdispositionen schaffen. Ein hohes Maß an natürlicher Belich-

tung der Innenräume sollen schließlich einer-seits lange und bandartige Fenster ermöglichen, andererseits entsteht durch das Vorschieben der Decken vor die tragenden Pfeiler ein das Gebäu-de umschließender Balkon, welcher in seiner Ei-genschaft einen fließenden Übergang von Indi-vidualbereich zu Umwelt ermöglicht. Wie bereits teilweise in den Vorläufern des Marseiller Wohnblocks – hier seien die Maison Citrohan (1922), die Immeuble­Villas (1922) und der Pavillon Suisse (1933) genannt –, findet sich in der Unité d’Habitation jeder dieser fünf Punkte wieder und übernimmt in seiner jeweiligen spe-zifischen räumlichen Situation zudem weitere Funktionen.

Äußere Struktur und innere Raumprogrammatik

„Ich bin ein Maler, der damit beschäftigt ist, kon-trollierte Formen zu erfinden.“11 Einem schöp-ferischen Akt gleich entwickelte Le Corbusier die Wohnmaschine in Marseille. So war es der Architekt selbst, der über die Schaffung eben-

8 Benevolo 2000 (wie Anm. 6). S. 914, S. 919. 9 Curtis 1989 (wie Anm. 1). S. 173.10 Vgl. Benevolo 2000 (wie Anm. 6). S. 914.11 Le Corbusier. Zitiert nach Ragon, Michel. Wo leben

wir morgen? Mensch und Umwelt – Die Stadt der Zukunft. München 1967 [1963]. S. 109.

Abb. 2 Le Corbusier, Marseille, Unité d’Habitation, Pilotis

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dieser kontrollierten Formensprache in einer scheinbar übergeordneten Position auf das Le-ben von Individuen, aber auch deren Gemein-schaft, Einfluss auszuüben suchte. Mit der Uni­té erhielt er erstmals die Möglichkeit, in voller Handlungsfreiheit seine Ideen für einen moder-nen Wohnhaustypen im Großformat im Sinne seines Universalitätsanspruchs zu realisieren.

In ihrer äußeren Gestalt zeigt sich die Uni­té als scheibenförmiger Gebäudekomplex (Abb. 1). Auf einer Doppelreihe von 17 keilförmigen, kolossalen Beton-Pilotis (Abb. 2) als konische Abkömmlinge der Stützen im Pavillon Suis­se, angeordnet in einem Abstand von jeweils 8,38 Metern, ruht er sieben Meter über dem Boden.12 Trotz der Tatsache, dass die Stützen-reihen sich hinter der Fassadenfläche zurück-zuziehen scheinen und einen Eindruck von Leichtigkeit vermitteln, stellen sie im Verhältnis zum Gesamtkomplex einen der rar gesäten verti-kalen Akzente dar. Mit einer Länge von 135 Me-tern, einer Breite von 24 Metern und einer Höhe von 56 Metern beherbergt das in sechs Register gegliederte Stahlbeton-Tragwerk insgesamt 337 Wohneinheiten.13 Möglicherweise erweist sich bereits in dieser statischen Konstruktion der Schottenbauweise – neben den an späterer Stelle zu beleuchtenden funktionalisiert konzipierten Wohneinheiten – der Schiffsbau als Inspira-tions quelle Le Corbusiers: So werden in dem angewendeten System „die Lasten nicht über die Längsaußenwände und die parallel dazu verlau-fenden Mittelwände abgetragen, sondern über

die meist in regelmäßigen Abständen vonein-ander aufgereihten Querwände bzw. quer ange-ordneten Stützenreihen“.14 Le Corbusier selbst führt einen Vergleich dieser Skelettkonstruktion mit einem überdimensionalen Flaschenregal an, in das die standardisierten und formal unabhän-gigen Einheiten wie Flaschen eingelegt werden (Abb. 3, 4).15 Aus dem theoriegemäßen Poten-zial der Veränderbarkeit oder gar Austauschbar-keit der nutzungsbezogenen Wohnzelle unter gleichzeitiger Beibehaltung der statischen Kon-figuration des gesamten Bauwerks lässt sich die vom Architekten intendierte Trennung „der in sich geschlossenen Wohnzelle von der tragen-den Gebäudestruktur“ ableiten.16 Bildet sich an

keiner der vier Gebäudeseiten eine eindeutige Hauptfassade aus, so sind Vorder-, Rück- und Südansicht gleichermaßen gegliedert durch ku-bische Wandöffnungen unterschiedlicher Grö-ße für bandartige Fenster und Loggien, deren sichtbare Innenseiten mit kontrastierenden Far-ben unterlegt sind (Abb. 5). Das geometrisch regelmäßige und grobe Raster der Fassade mit alternierendem Licht-Effekt und betont hori-zontaler Linienführung scheint sich im Ansatz durch den brise­soleil (Abb. 6), welcher die kon-ventionelle Brüstung einer jeden Loggia ersetzt, in kleinerem Format zu wiederholen. Diese mit

Ausnahme der farbigen Balkoneinfassungen ein zigen, nahezu ornamental anmutenden Ak-zente erfüllen vorrangig funktionale Zwecke: Bereits im Plan Obus für Algier (1931–1942) eingesetzt, dienen die aus Beton vorgefertigten Sonnenschutzgitter nun in weiterentwickelter Ausführung auf Front- und Rückseite der Uni­

Abb. 3 Le Corbusier, Marseille, Unité d’Habitation, 1945, Skizze der flexiblen Wohneinheit

Abb. 4 Le Corbusier, Marseille, Unité d’Habitation, 1945, Skizzen zur Ideenfindung

12 Vgl. Willy Boesiger/ Elsa Girsberger (Hg.): Le Cor-busier 1910-1960. Stuttgart 1960. S. 150.

13 Vgl. Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 309. Die Zahl bezieht sich auf die Eröffnung; später veränderte sie sich durch Umbauten und -nutzungen.

14 Artur Gerlach: Der soziale Wohnungsbau der Post-moderne. Dissertationsschrift. Erlangen, Nürnberg 1995. S. 71

15 Vgl. William J.R. Curtis: Le Corbusier: Ideas and Forms. London, New York 1986. S. 170. – Vgl. Ken-neth Frampton: Die Architektur der Moderne: eine kritische Baugeschichte. Stuttgart 1995. S. 195.

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té bedingt durch ihre Mauertiefe der Abwehr heißer Sommersonne und durch ihre licht- und luftdurchlässige Netzstruktur dem Einfall war-mer Wintersonne.17 Eine weitere, jedoch das horizontale Muster durchbrechende Sonnen-schutzblende stellt die mittig positionierte auf halber Gebäudehöhe dar. Notwendig werden diese Elemente durch die exakte Positionierung in Richtung Nord-Süd, wodurch nahezu allen Standardwohnungen sowohl der Ausblick auf die von der Morgensonne beschienene Land-schaft im Hinterland als auch auf das abend-liche Panorama das Mittelmeeres ermöglicht wird – in Le Corbusiers Augen ein Optimum nach funktionalistischen Ansprüchen. Lediglich eine kleine Anzahl von Wohnungen an einer der schmalen Kopfseiten des Komplexes ist nach Süden ausgerichtet, die Nordseite ist vollständig geschlossen.

Der sichtbare Beton, der das Gebäude in seiner archaischen Optik gänzlich dominiert und die Fassaden glatt und abweisend erschei-nen lässt, erweist sich als programmatisch für die Ästhetik der Unité. Denn waren an ihrer Er-richtung viele unterschiedliche Unternehmen involviert, gestaltete es sich nahezu unmöglich, fließende, unsichtbare Übergänge in der Beton-

schalung herbeizuführen. So beließ Le Corbu-sier den Stahlbeton mit den bereits erwähnten Ausnahmen von stellenweise farbigem Anstrich in der Oberflächentextur roh und grob. Vielmehr noch: er begriff die Schalungsspuren als Meißel-schläge bei der Produktion einer Steinskulptur. Im Kontrast zu den technischen Materialien wie Stahl und Glas wurde somit der nackte Beton, der béton brut, in den Rang eines ebenso na-türlichen wie ästhetischen Materials wie Stein erhoben – eine mit der Rustizierung verwand-te Materialempfindung, die in den Folgejahren von der Strömung des New Brutalism adaptiert wird.18 Wirkt diese auf den ersten Blick banale Optik monoton, stellt sich dem gleichsam das ingeniöse Zusammenspiel architektonischer Formen entgegen, welches Unität durch Propor-tionierung, Rhythmus, menschlichem Maßstab und plastischer Massengliederung erkennen lässt und somit im Ergebnis eine Komposi tion aus Lichtundurchlässigkeit und Schwere so-wie Transparenz und Leichtigkeit eröffnet.19 In den beiden letztgenannten Faktoren mag die auf halber Gebäudehöhe herausstechende Glasflä-che (Abb. 1, 7) Anklang finden, welche die in-nere Ladenstraße sowie ein Hotel nach außen hin artikuliert. Fungiert sie unter anderem als

Betonung der dominierenden Horizontalach-se, stehen dieser proportionsausgleichend ver-tikale Lift- und Treppentürme gegenüber (Abb. 8). Als Kulminierung der Senkrechten ragt der Ventilationsschlot auf der Dachterrasse als aus-gehöhlte Spiegelfigur der zuunterst stehenden Pilotis empor (Abb. 9) – eines von unzähligen skulpturalen Elementen, die sich aufgrund ih-rer Virtuosität als Reminiszenz an die surrealen Dachlandschaften Gaudís einordnen ließen.20 Als Schnittstelle zwischen dem wuchtigen, mo-nolithisch erscheinenden Komplex und der Landschaft fungieren öffentliche Flächen mit

Abb. 5 Le Corbusier, Marseille, Unité d’Habitation, Loggien

Abb. 6 Le Corbusier, Marseille, Unité d’Habitation, brises-soleil

16 Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 367.17 Vgl. Sbriglio 2004 (wie Anm. 7). S. 52.18 Vgl. Gerlach 1995 (wie Anm. 14). S. 72. – Vgl. Curtis

1989 (wie Anm. 1). S. 287. Weitgehend herrscht die Meinung, Le Corbusier hätte so nachträglich seine Ästhetik gerechtfertigt.

19 Vgl. Curtis 1986 (wie Anm. 15). S. 170.20 Vgl. Curtis 1989 (wie Anm. 1). S. 284.

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Parkplatz und Sportanlage auf Bodenniveau unterhalb des Gebäudes. Als natürliches Ele-ment fügt sich die Unité in ihr Umfeld mit einer Grundstücksfläche von 3,68 Hektar ein: So wird sie wie eine Gartenstadt nach dem Vorbild der Ville Radieuse umgeben von einer weitläufigen Parklandschaft, bedenkt man, dass das Gebäude selbst lediglich die Grundfläche von 3.288 Qua-dratmeter einnimmt und 33.512 Quadratmeter freies Areal verbleiben. Gelungen sei dem Ar-

chitekten im Kontrast zwischen individuellen Wohnzellen und öffentlicher Gesamtstruktur somit ein hierarchisches System, das wie eine „kleine Akropolis [...] einen Ausgleich zwischen dem Geistigen und Physischen“ herstellt.21 Ein Konstrukt also, das zwar standardisiert und seri-ell produzierbar den Anspruch auf Universalität erhebt, sich jedoch in seiner äußeren Gestalt als ein sehr spezifisches Unikat charakterisiert.

Die in der äußeren Form artikulierte Hier-archie setzt sich gleichsam im Inneren der Unité fort. Konzipiert als ein raffiniertes Kompositum urbaner Wohnquartiere, finden sich dort tat-sächlich Strukturen einer gesamten (vertikalen) Stadt (Abb. 10) wieder. Über einen vertikalen Erschließungskern mit Treppenhaus und Aufzü-gen und über fünf horizontale ‚innere Straßen’, die auf der Ost-West-Achse als Korridore fungie-ren, werden die insgesamt 15 Geschossebenen zugänglich gemacht. Mit Ausnahme der hohen Eingangshallen erstreckt sich direkt über den Be-tonpfeilern, unterhalb des ersten Wohngeschos-ses, über die gesamte Länge des Baukörpers ein begehbares Installationsgeschoss, welches ei-nem überirdischen Keller gleich die technische Ausrüstung des gesamten Gebäudes beherbergt, darunter beispielsweise Lüftungen, Klimaanla-gen, Elektroversorgung sowie Müllschlucker. Über in die Pilotis integrierte Leitungen wird das Gebäude zudem extern mit Strom und Was-ser gespeist. In den Stockwerken oberhalb des Technikgeschosses als Element gemeinschaftli-chen Raumes schließen sich Individualbereiche an. In ihrer Struktur charakterisieren sich die 337 Wohnungen als standardisiert, das „additive[s] Aufbauprinzip traditioneller Wohnquartiere auf der Etage“ ermöglicht jedoch durch Hinzu-fügen oder Wegfall von Individualräumen eine variable Kombination je nach Flächenbedarf der Bewohnerfamilien.22 Von Einheiten für einen Ein-Personen-Haushalt bis hin zu komplexeren Strukturen für Familien mit bis zu acht Kindern – insgesamt sollte das Gebäude als Behausung für 1600 Menschen fungieren, in der Praxis je-doch wohl maximal 1000 bis 1200 – konzipierte Le Corbusier 23 verschiedene Grundrissvari-anten. Betragen die Maße einer Standardwohn-zelle 3,66 Meter in der Breite, 24 Meter in der Tiefe und 2,26 Meter in der Höhe (bei einer zweigeschossigen Einheit verdoppelt sich die-ser Wert auf 4,80 Meter), verfügt eine Familie somit über insgesamt 98 Quadratmeter.23 Zu-züglich versteht sich die Fläche beider Loggien, die jede Wohneinheit ähnlich einer horizonta-len Parenthese über die Breite des Gebäudes in sich einschließt. Handelt es sich vorrangig um

21 Curtis 1989 (wie Anm. 1). S. 284.22 Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 351, S. 377. – Vgl.

Curtis 1989 (wie Anm. 1). S. 284. Mit halber Achsenbreite Achse und einer Fläche von 15,5 Quadratmetern ist das Hotelzimmer die kleinste Einheit.

23 Vgl. Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 377.

Abb. 7 Le Corbusier, Marseille, Unité d’Habitation, Westfassade

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Maisonette-Wohnungen, eröffnet ein Blick auf den Längsschnitt (Abb. 11) die versetzte Staf-felung der doppelgeschossigen Wohnungen. Dabei erstreckt sich jeweils ein Geschoss über die gesamte Gebäudebreite, während das an-dere, halbe Geschoss über den im Mittelkern liegenden Korridor zugänglich ist. Aus dieser Binnengliederung resultierend werden die ‚in-neren Erschließungsstraßen‘ lediglich in jedem dritten Geschoss benötigt. Auf halber Gebäude-höhe erstreckt sich über zwei scheinbar einge-schobene Geschosse in Form einer horizontalen Straße ein öffentlicher Bereich, welcher den services communs dient. Hier sollten sich Le-

bensmittelgeschäfte, Dienstleistungen, Bars, Re-staurants sowie ein Hotel befinden. Ferner als öffentlicher Raum gilt das oberste Geschoss mit Kindergarten und Schule sowie die großzügige Dachterrasse mit ihren dazugehörigen Bauten als prolongements du logis (Wohnfolgeeinrich-tungen). Diese umfassen beispielswiese einen Kinderspielplatz, ein kleines Schwimmbecken, ein Freilichttheater oder Einrichtungen für Sport und Freizeit, wie eine Turnhalle und eine 300-Meter-Laufbahn. Folgerichtig stellt sich das Konzept der Unité als eine zweckbestimm-te räumliche Zuweisung unter konsequentem Einbezug zweier menschlicher Bedürfnisse dar:

Dem des individuellen Rückzugs und gleichsam dem der gemeinschaftlichen Zugehörigkeit.

Das Verhältnis zwischen Raum und Funktion

Begünstigten die ‚post-liberalen Städte‘ vor-nehmlich produktive Aktivitäten des tertiären Sektors, wie Handel und Verkehr, äußert die mo-derne Architektur zunehmend Kritik an dieser Priorisierung, die eine Neuordnung der Funk-tionen als Substitut der morphologischen Ka-

Abb. 8 Le Corbusier, Marseille, Unité d’Habitation, Treppenturm Abb. 9 Le Corbusier, Marseille, Unité d’Habitation, Dachlandschaft

Abb. 10 Le Corbusier, Marseille, Unité d’Habitation, 1945, Längsschnitt

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tegorien zur Folge hat.24 Das wohl eindeutigste Analyse-Resultat kristallisiert sich in der Char­ta von Athen heraus. Die Isolierung der Funk-tionen Wohnen, Arbeiten, Kultivierung von Geist und Körper sowie Fortbewegung inner-halb einer Stadt unter Berücksichtigung einer möglichst effizienten und optimalen Wirkung für jeden der Bereiche erweist sich in der Sum-me auch für die Unité als Ausgangskriterium, um die dynamische Lebendigkeit und das pos-tulierte ganzheitlich angenehme Wohngefühl des wuchtigen Wohnblocks bereits aus der Fer-ne wahrnehmbar zu machen. So scheint Le Cor-busiers Bestreben erkennbar zu sein, „Lösungen für menschliche Probleme im Beton sichtbar zu machen“ – als „mythische[n] Prinzipien des europäischen Humanismus“ betitelt Framp-ton dies.25 Mag das Bauwerk aus Sichtbeton aus strukturellen Aspekten dennoch zunächst als Zwinger erscheinen – eine Disposition, die sich dem Architekturstil des 20. Jahrhunderts als Hommage an die griechischen Tempel geschul-deten Glauben an die „Unfehlbarkeit des Kubus und des Quaders“, und damit des rechten Win-kels, ableiten könnte –, bildet die Verbindung

der Funktionen eine klare Gesamtästhetik.26 Wie die Ville Radieuse den funktionalen Kate-gorien keineswegs lediglich die Erfüllung eines vorgegebenen Zweckes beimisst, evoziert auch in der Unité ein von raumplastischen Komposi-tionen markierten freies ‚Spiel der Formen‘ das Inerscheinungtreten der künstlerischen Hand-schrift Le Corbusiers. Nicht nur aus quantitati-ven, auch aus qualitativen Aspekten entwickel-te er so einen neuartigen Bautypus, der durch festgelegte Standards ein geschlossenes System bildet.27 Mit der Formulierung der ‚angemesse-nen Größe‘ stellt der Architekt klar: Erweiterung und Wachstum sehen seine universellen Planun-gen nicht vor. Die Bewohner lassen sich auf ein von vorneherein fixiertes System ein, begeben sich in die strenge Kontrolle einer von oben auf-erlegten Autorität. Wie aber kann innerhalb die-ser dennoch ein möglichst hohes Maß an Dyna-mik menschlichen Lebens realisiert werden?

Die Funktion Wohnen

Als wesentliches Ausgangskriterium der archi-tektonischen Ausdrucksweise Le Corbusiers liegt dessen Auffassung des Raumes zu Grunde, welche sich vornehmlich an ihrer Zweckbestim-mung orientiert. Das Wohnen per se als Raum der Intimsphäre, unter Berücksichtigung ver-schiedener Zellentypen, stellt das Grundmodul einer multiplizierbaren und dadurch quartiers-ähnlich verdichteten Ansammlung von Wohn-einheiten dar, das es im Sinne einer vertikal ge-stapelten Stadt zusätzlich, wie in der Unité verwirklicht, durch Gemeinschaftseinrichtun-gen zu ergänzen galt. Bereits die Kongresse der CIAM mit Themen wie dem ‚Wohnen für das Existenzminimum‘ und ‚rationellen Bebau-unngsweisen‘ begünstigten Le Corbusier im Propagieren seiner innovativen Modelle – auf Basis des Hauses Dom­Ino (1914), der Maison Citrohan sowie später der Immeuble­Villas, welche sich schließlich als fortentwickelte, doch reduzierte Form gemäß Le Corbusiers Statuts des ‚biologischen Grundbedarfs‘ von 14 Quad-ratmeter pro Bewohner manifestierten.28 Diese konsequente Fortführung der Suche nach dem „Organischen“ scheint zu gründen auf einem Be-such des toskanischen Klosters Ema im Jahre 1907, das in seinen Augen aus räumlicher wie auch aus sozialer Hinsicht eine harmonisch-ide-ale Symbiose zwischen den Bedürfnissen des In-dividuums, den Einflüssen der umliegenden Landschaft sowie gemeinschaftlichen Kontakt-potenzialen, also „zwischen der gebauten und natürlichen Welt“ darstellte.29 Beginnend vom kleinsten Element, der innenräumlichen Aus-stattung, über den Wohnraum bis hin zur über-geordneten Stadt als Träger sozialer Interaktion begriff somit Le Corbusier seine planerische Tä-tigkeit als ein Ganzes. Dabei galt die einzelne Fa-milie für Überlegungen zur inneren Struktur des

24 Vgl. Benevolo 2000 (wie Anm. 6). S. 909.25 Jean Petit: Le Corbusier. Genf 1970. S. 35. – Framp-

ton 1995 (wie Anm. 15). S. 218.26 Ragon 1967 (wie Anm. 11). S. 74-75. – Vgl. Curtis

1989 (wie Anm. 1). S. 274.27 Vgl. Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 328, S. 340.28 Vgl. Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 286, S. 292. – Vgl.

Le Corbusier: La Ville Radieuse. Paris 1964. S. 143-145.

29 Petit 1970 (wie Anm. 25). S. 47, S. 50. – Curtis 1989 (wie Anm. 1). S. 165. – Vgl. Boesiger 1960 (wie Anm. 12). S. 26.

Abb. 11 Le Corbusier, Marseille, Unité d’Habitation, 1945, Längschnitt durch Wohneinheiten

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Unité-Typus (Abb. 12) als analytischer Aus-gangspunkt unter Einbezug der ‚wesentlichen Freuden‘ für die Zweckbestimmung räumlich verdichteter Wohndispositionen.30 Zweierlei Merkmale erweisen sich auf Grundlage des Cit­rohan-Schnittes für das Verhältnis der Elemente untereinander somit als charakteristisch: Zum einen der Anspruch familiärer Zusammenfüh-rung. Hierfür bündelt der Architekt die Diele und den großzügig bemessenen Wohnraum (Abb. 13) – mit weitläufigem Ausblick über die Fenster und den Balkon hinaus –, welcher gleichsam als Essbereich fungierte, zu einem Element oder „Senkkasten“.31 Erweist sich das über eine wohnungsinterne Treppe zugängliche Elternschlafzimmer semantisch betrachtet be-reits zum Bereich individuellen Rückzugs – dem zweiten Wohntyp-Charakteristikum –, so lässt sich dieser morphologisch ebenfalls einer ge-meinschaftlichen Disposition zuordnen.32 Die zwischen die Räume geschalteten sanitären An-lagen sowie Kinderzimmer, die die Kinder „Selbständigkeit lehren soll[ten]“, jedoch sind zweifellos sowohl aus formaler als auch funktio-naler Sicht der privaten Sphäre zugehörig. Einen weiteren ‚Kasten‘ bildet schließlich die Küchen-zone – genauer gesagt, diejenige von zwei gegen-überliegenden und durch den Hausflur getrenn-ten Wohnungen –, welche funktional in engem Zusammenhang zum Wohnraum steht, ist sie doch lediglich durch eine offene Regalwand von diesem getrennt, um der arbeitenden Hausfrau den Anschluss zum Familienleben zu ermögli-chen. Auch im Hinblick auf die Innenausstat-tung, nicht nur, aber besonders zu beobachten anhand der Küche (Abb. 14), zeigt sich die in-tendierte Übereinkunft von Raum und Funkti-on, zu der Le Corbusier die Unité als ‚Laborato-

rium‘ betrachtete: Modernste Gerätetechnik, platzsparende und industriell gefertigte Einbau-schränke und ein Lieferantenfach, belieferbar von der Innenstraße, sollten Arbeitsabläufe zu-gunsten qualitativer Familienzeit auf ein Mini-mum reduzieren. Ermöglicht wird die unmittel-bare sowohl ökonomischen als auch dem vorausgesetzten menschlichen Alltagskomfort adäquate Funktionskette durch den rationellen Grundriss. Resultierend aus dem Stützenraster der Pilotis und somit aus der Trennung der Wände von ihrem Rahmen – ein Skelettsystem, welches ebenso bei den Häusern Dom­Ino, Cit­rohan und Immeuble­Villas zutage tritt –, er-wiesen sich die normierten und seriell herge-stellten Raumelemente in ihrer Kombination und Folge als prinzipiell horizontal wie vertikal additiv, stapelbar, strukturell freiheitlich sowie raumsparend.33 Die potenzielle Zusammensetz-barkeit zu bedarfsorientierten Größen zuguns-ten einer funktionalen Trennung bildet somit die Basis für Individual- und Gemeinschaftsele-mente der ideal angeordneten – Le Corbusier

nennt sie „La cellule commande“ – Wohnzelle.34 Sie ist entworfen für einen Standard-Menschen, dessen Bedürfnisse sich unabhängig von Le-bensstil, sozio-kulturellen Merkmalen und öko-nomischem Potenzial als gleichartig erweisen. Überall auf der Welt könne also dieses Kon-strukt gleichermaßen funktionieren – eine von oben auferlegte Allgemeinverbindlichkeit, die nicht zuletzt in der vom Architekten als ein Op-timum konstatierten Raumtemperatur von 18 Grad Celsius und in der „mikroklimatischen Ab-geschlossenheit“ belegt zu sein scheint.35 Wie die Maschine einer Fabrik einzelne Elemente in Serienproduktion zusammenfügt, erweist sich auch die Unité als „im voraus durchdachtes Un-ternehmen“ hochleistungsfähig und universell anwendbar.36 Dem Postulat nach einem rei-bungslosen Funktionieren des stadtähnlichen Gesamtkonstrukts folgend, wird nicht zuletzt deutlich, warum die Unité d’Habitation, wie auch der 1925 auf dem Pariser Herbstsalon vor-gestellte Pavillon de l’Esprit Nouveau als Reali-sation des Immeuble­Villas-Konzeptes, den

Abb. 12 Le Corbusier, Marseille, Unité d’Habitation, 1945, Querschnitt durch Wohneinheiten

30 Vgl. Curtis 1989 (wie Anm. 1). S. 286. – Vgl. Petit 1970 (wie Anm. 25). S. 50. – Vgl. Benevolo 2000 (wie Anm. 6). S. 920. – Vgl. Fishman 1977 (wie Anm. 2). S. 231.

31 Petit 1970 (wie Anm. 25). S. 56. – Vgl. Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 379. – Vgl. Curtis 1989 (wie Anm. 1). S. 286. – Vgl. Clara Franziska Maria Weber: Unité d’habitation Typ Berlin. Anspruch und Wirklichkeit einer Wohnmaschine. Stuttgart 2012. S. 25.

32 Vgl. Petit 1970 (wie Anm. 25). S. 56.33 Vgl. Curtis 1989 (wie Anm. 1). S. 114, S. 47. – Vgl.

Boesiger 1960 (wie Anm. 12). S. 24. – Vgl. Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 371, S. 286. – Vgl. Petit 1970 (wie Anm. 25). S. 14.

34 Le Corbusier 1950 (wie Anm. 7). S. 10.35 Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 346, S. 365. 36 Charta von Athen. Lehrsatz 84. In: Hilpert 1988 (wie

Anm. 5). S. 161.

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Beinamen Wohnmaschine trägt. Wie jedoch lässt sich ebendieser mit der Standardisierung einhergehende Anspruch auf Universalität mit dem Anspruch auf eine weitgehend auf den Menschen bezogene Liberalität vereinbaren? Eine mögliche Antwort Le Corbusiers findet sich in seinem eigens geschaffenen Maßsystem, dem Modulor. Viel mehr als Luxusobjekte und Statussymbole sollten die neu konzipierten Bau-werke auf das Wesentliche reduziert werden und sich des „überflüssigen Wirrwarr[s] der bürgerli-chen Wohnhäuser“ entledigen.37 Interessen, Werte und Würde des Menschen sollten im Sin-ne des europäischen Humanismus durch am Idealmenschen orientierte Proportionen ein ar-chitektonisches Gesicht bekommen.38 Unter Beibehaltung des metrischen und angelsächsi-schen Maßsystems waren die von Le Corbusier entwickelten Maßeinheiten an einem 183 Zenti-meter großen männlichen Körper mit emporge-

streckten Arm ausgerichtet und gemäß des Gol-denen Schnitts in Zonen vom Fuß bis zum Nabel, vom Nabel bis zum Kopf und vom Kopf bis zur erhobenen Hand unterteilt (Abb. 15). Geht die proportionale Ausgewogenheit der Unité auf 15 Adaptionen der Modulor-Einheiten zurück, so ist ihre Anwendung allgegenwärtig: Beginnend bei der groben Außenstruktur, etwa den Pilotis – in der Forschung als „neue[n] klassische[n] Ordnung“ identifiziert und kontex-tualisiert mit der Monolität der Akropolis –, hin zu innenliegenden Details wie den Einbaumö-beln, die sich dadurch zwar funktional optimal in das Gesamtkonzept einfügen, jedoch eine „indi-viduelle Repräsentation“ verhindern.39 „Bei mei-nen Bauten soll die ganze Wirkung von den Proportionen ausgehen. Ich glaube an die Gött-lichkeit der Proportion“, schreibt Le Corbusier und sucht damit der Unité den neuen Geist, den ‚Esprit Nouveau’, einzuhauchen.40 Doch welche

Individualität, welche sozialen Handlungsspiel-räume kann die Unité als geschlossenes System noch zulassen, wenn menschliche Spontaneität, Zufälligkeit und „undefinierte Grauzonen“ im Widerspruch mit einem natürlichen Fluss ste-hen und einer derart strengen Kontrolle radika-ler Maßvorgaben ausgeliefert sind? Wenn der Mensch zwar als Maßstab fungiert, und doch von technischen Möglichkeiten bevormundet wird? Indem die räumliche Zuweisung der Wohneinheiten korsettähnlich reglementiert ist und keinerlei Vermittlungsinstanz zwischen pri-vatem und öffentlichen Bereich gegeben ist, kommt es zwangsläufig auch zu einer funktional vorherbestimmten Abfolge, um den Bedürfnis-sen der Bewohner gerecht werden zu können: Denn ermöglichten die minimalen, ergono-misch effizient geplanten Zellen zwar einen ab-geschlossenen Rückzugsort, stellten sich im Sin-ne eines stadtähnlichen Quartiers für die Erbringung aller in der Zelle platztechnisch nicht durchführbaren Arbeiten ein funktionsfä-higer, kom munaler Versorgungsservice sowie kollektive Wohnfolgeeinrichtungen als unab-dingbar dar. Nicht nur bekräftigen diese Zusatz-funktionen Le Corbusiers Auffassung eines Kol-lektivs im Sinne einer gegenseitig profitablen Bewirtschaftungsgemeinschaft, sondern sollen gleichsam durch ihre sozial-räumliche und kom-munikationsfördernde Struktur einen Gegenpol zur Abgeschiedenheit der autarken Familien-wohnungen darstellen.41 Dennoch stellt die Unité dadurch lediglich aus organisatorisch-funktionaler Sicht, nämlich durch ihre normati-ve Zweckbindung, eine eigenständige Einheit dar, nicht jedoch aus sozialer.42 Lassen sich zwar

Abb. 13 Le Corbusier, Marseille, Unité d’Habitation, Wohnraum

37 Curtis 1989 (wie Anm. 1). S. 109. – Vgl. Fishman 1977 (wie Anm. 2). S. 231.

38 Vgl. Fishman 1977 (wie Anm. 2). S. 231. – Vgl. Curtis 1989 (wie Anm. 1). S. 109. – Vgl. Petit 1970 (wie Anm. 25). S. 38.

39 Frampton 1995 (wie Anm. 15). S. 195. – Vgl. Curtis 1989 (wie Anm. 1). S. 284. – Weber 2012 (wie Anm. 31). S. 26, S. 33.

40 Le Corbusier. Zitiert nach Petit 1970 (wie Anm. 25). S. 16. – Vgl. Curtis 1989 (wie Anm. 1). S. 109.

41 Vgl. Weber 2012 (wie Anm. 31). S. 29-33. – Vgl. Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 339, S. 355. – Frampton verweist auf die sowjetischen Kommuneblocks der 1920er Jahre und sieht nach deren Vorbild die Unité als „sozialer Kondensator“. Vgl. Frampton 1995 (wie Anm. 15). S. 195.

42 Vgl. Thilo Hilpert: Die funktionelle Stadt. Le Corbusiers Stadtvision. Bedingung, Motive, Hintergründe. Braunschweig 1978. S. 172.

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Parallelen zu dem ‚Kollektivhaus’-Modell von Gropius und Hilberseimer und damit einer durch ein großes Gebäude als Ort der Sicherheit und Glücksfindung verbildlichten sozial-refor-merischen Grundhaltung feststellen, unter-scheidet sich die Unité bewusst durch die Fokus-sierung auf die Familie als „soziale Keimzelle des neuen Wohnglücks“.43 Unter der Prämisse der Einhaltung eines rational vorgezeichneten Handlungsablaufes, kommt den privaten Räu-men zum Schutz der „liberté première individu-elle“ eine besondere Bedeutung zu.44 Formal be-trachtet bietet der Typ Maisonette durch seine Ähnlichkeit zur Einfamilienvilla hierfür eine ide-ale Basis, ermöglicht er doch ein nachbarschaft-liches Wohnen unter gleichzeitiger Berück-

sichtigung isolierender Baufaktoren wie dem Lärm- und Sichtschutz durch distanzschaffende, vorgelagerte Loggien und damit der – zumin-dest archi tektonisch geschaffenen – Prävention von sozialen Konflikten.45 In der Theorie mag dieses Ansinnen ein hehres sein, doch schließt die Unité als Wohnmaschine durch einen vordefi-nierten Standard-Menschen und damit der „Ver-gleichgültigung“ differenzierter sozialer Schich-ten, jegliches Potenzial an „Dynamik städtischer Akteure“ kategorisch aus – damit wirkt dieses Wohnkonzept höchst unrealistisch.46 Das räum-lich-funktionale Verhältnis, das für den Passa-gierdampfer, von dem sich Le Corbusier inspi-rieren ließ, gilt, nämlich die Symbiose abgeschotteter Individualkabinen und ergän-zenden Gemeinschaftsfunktionen als autarke, hermetisch abgeschlossene Versorgungseinheit, kann nicht exakt in dieser Form auf ein von der Hauptfunktion Wohnen dominiertes und als dauerhafte Behausung konzipiertes Bauwerk übertragen werden, ohne dass dieses sich phy-sisch von der Außenwelt abkoppelt. Möglicher-

weise suchte Le Corbusier genau dies anzustre-ben: Ein Haus, das zeitlebens nicht verlassen werden muss.

Die Funktion Arbeiten

Die Funktion des Arbeitens innerhalb der Unité scheint aus strukturell-organisatorischer Sicht in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zu dem Modell der Linearen Industriestadt (1945/47) zu stehen. Wie in den meisten städtebaulichen Theorien Le Corbusiers, zielt auch dieses Mo-dell auf die Reorganisation der als beengt und chaotisch empfundenen Stadt ab. Als grundle-gendes Postulat und in Ablehnung bisher übli-cher, Suburbanisierungsprozessen geschuldeter Satellitenstädte implizierte es, die Funktionen Wohnen, Arbeiten und Erholung in einer senk-rechten, additiv-erweiterbaren Wachstumsach-se anzuordnen, wobei die Funktionen in ihrer weitesten Entfernung lediglich vier Kilometer

Abb. 14 Le Corbusier, Marseille, Unité d’Habitation, Küche Abb. 15 Le Corbusier, Marseille, Unité d’Habitation, Visualisierung des Modulor

43 Weber 2012 (wie Anm. 31). S. 3, S. 34. – Vgl. Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 339, S. 347, S. 349.

44 Le Corbusier 1950 (wie Anm. 7). S. 12. – Vgl. Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 339, S. 354. – Vgl. Weber 2012 (wie Anm. 31). S. 27, S. 34.

45 Vgl. Weber 2012 (wie Anm. 31). S. 27. – Vgl. Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 354-355. – Vgl. Le Corbusier: Kinder der strahlenden Stadt. Stuttgart 1968. S. 22. – Auch das Vorhandensein eines Hotels diene dazu, Gäste so nah wie möglich bei sich aufnehmen zu kön-nen, ohne jedoch durch ein ständiges und zu enges Zusammenwohnen gestört zu werden. Vgl. Ragon 1967 (wie Anm. 11). S. 65.

46 Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 324-325.

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von einander getrennt sein dürften. Angewen-det auf den Kontext der Unité spielt das Ver-hältnis der Funktionen des Wohnen und des Ar-beitens eine besondere Rolle. Was Hilpert als „Rationalisierung des Lebens im Zweitaktrhyth-mus“ umschreibt, manifestiert sich durch das ausschließlich separate Inerscheinungtreten bei-der Bereiche und damit einer Verringerung ih-rer Komplexität.47 Zwei sich auf den ersten Blick ausschließende Kriterien erweisen sich hierbei als entscheidend: Zwar soll die räumliche Tren-nung ein für den arbeitenden Menschen durch die Distanz bedingtes intensiveres Freizeiterleb-nis und damit im Sinne Le Corbusiers ein erträg-licheres Leben als in der kondensierten Indust-riestadt bewirken, dennoch ist eine möglichst enge, räumliche Vernetzung im Hinblick auf den Faktor Zeit notwendig. Um beiden Argumenten gleichermaßen Rechnung zu tragen, ermöglicht die Unité analog städtebaulichen Prinzipien ei-nerseits einen schnellen und unkomplizierten Zugang zu den Arbeitsorten durch horizonta-le Erschließungsstraßen (rues intérieures) so-wie vertikal verlaufende Schnellaufzüge. Auf der anderen Seite berücksichtigt sie gleichwohl die Trennung auf vertikaler Ebene, befinden sich doch die privaten Wohnbereiche nicht auf glei-

chem Geschossniveau wie Büros und Werkstät-ten. Auf halber Gebäudehöhe, welche der Ar-chitekt ausschließlich den services communs – auch als für die Bewohner potenzielle Arbeit-geber – widmete, sollten zudem Arbeitsstätten für traditionelles Handwerk untergebracht sein, die, wie zu bemerken ist, aufgrund der zuneh-menden Massenproduktion in der industriellen Außenwelt offensichtlich weder Platz noch Be-rechtigung mehr fanden.48

Auch hinsichtlich der Dimensionen der Werkstatteinheiten manifestiert sich der An-spruch an die Angemessenheit der Größe. So bietet sich ein Vergleich mit der etwa zeitgleich zur Unité realisierten Duval­Fabrik in Saint Dié an. Festzustellen hierbei ist die Adaption des Wohnzellen-Typus in Aufriss und Schnitt, des-sen ideelle Charakteristika hinsichtlich eines gesunden, geordneten und wohl strukturierten Umfeldes ohne Verluste von der Funktion Woh-nen in die Funktion Arbeiten transponiert wur-den.49

Verstehen sich alle produktiven Sekto-ren, wie bereits in der Linearen Industriestadt und ihren Nachbarmodellen, als gleichwer-tig, gilt dies innerhalb der Unité gleichsam für den Bereich der Hauswirtschaft. Im Sinne eines

möglichst hohen Maßes an Freizeit suchte Le Corbusier das Konzept der traditionellen Fa-milie als ökonomische Gemeinschaft, in der die Frau versorgende Aufgaben zu übernehmen hat-te, aufzulösen. Mann wie Frau sollten durch die (haus-)gemeinschaftlich angebotenen Dienst-leistungen hinsichtlich Lebensmittelversor-gung, Raumpflege sowie Bildungseinrichtungen für die Kinder als gleichberechtigte, vollzeitar-beitende Partner gelten. Gleichzeitig aber dien-te dieses Dienstleistungsangebot wie auch die Haustechnik mit Klimaanlagen, Belüftungen oder Abfallwurfanlagen als grundlegende Prä-misse hinsichtlich einer universellen Implan-tation des Konzeptes Unité d’Habitation an jedweden Ort der Welt.

Die Funktion der Kultivierung von Geist und Körper

Wenn der „Idealmensch[en] des 20. Jahrhun-derts [...] perfekt funktionierend und in Harmo-nie mit der Natur“ leben sollte, so bedeutet dies mit Blick auf die in der Charta von Athen gefor-derte Funktion der Kultivierung von Geist und

Abb. 16 Le Corbusier, Marseille, Unité d’Habitation, innere Erschließungsstraßen Abb. 17 Le Corbusier, Marseille, Unité d’Habitation, innere Ladenstraße

47 Hilpert 1978 (wie Anm. 42). S. 278. – Vgl. Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 323.

48 Vgl. Fishman 1977 (wie Anm. 2). S. 232.49 Vgl. Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 338.

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Körper ebenso eine Aufwertung der Freizeitak-tivitäten und damit verbunden die Notwendig-keit, entsprechenden Raum zu schaffen.50 Mit der Auflösung der traditionellen Korridorstra-ße, die im Modell der Zeitgenössischen Stadt nicht länger durch Gebäudefluchten begrenzt war, sondern gleichsam durch vermehrte Grün-räume führte, legte Le Corbusier den theoreti-schen Grundstein für die Betonung von Ruhe, Erholung, Freizeit und Hygiene als menschli-chem Bedürfnis in der Unité.51 Denn auch hier verfolgte der Architekt den Ansatz einer kon-sequenten und weitläufigen Begrünung. Wie auch in der Zeitgenössischen Stadt, in der le-diglich 15 Prozent überbauten Stadtraum dar-stellen sollten, im Gegensatz zu 75 Prozent grü-ner Parkflächen, vereint die Unité in sich eine Dualität der Faktoren, nämlich die der gemein-schaftlichen Ordnung sowie gleichzeitig der Natur und Freizeit als Merkmale individueller Freiheit.52 Stellen die Wohnzellen den Raum privaten Lebens dar, wird aus infrastruktureller Sicht schnell deutlich: Kultivierung von Geist und Körper sollte sich im und durch das Kollek-tiv vollziehen. Normativ vorgesehen waren da-für Wohnfolgeeinrichtungen (prolongements du logis). Eine zentrale Bedeutung kommt da-bei, wie auch schon bei Vorgängermodellen, der Dachzone zu, die neben ihrer in diesem Kontext nahezu banal erscheinenden Funktion der Ge-bäudeisolation aus räumlicher und sozialer Sicht als Ort der Gemeinschaft fungieren sollte.53 Mit sportlichen und kulturellen Einrichtungen, aber auch mit einem Kindergarten inklusive Außen-bereich, würde die Dachterrasse zu „einem Ka-talysator für ein gesundes und soziales Leben aller Bewohner des ‚Quartiers’“.54 Erst hier, zu-oberst des mächtigen Komplexes, zeichnet sich ein wahrhaftig klares Bild der ‚drei natürlichen Freuden’, die im Sinne Le Corbusiers zum Ge-meingut werden, wie er es bereits in seinem Werk La Ville Radieuse (1933) artikuliert. Wie an Deck eines Ozeandampfers, den er ob seines kühnen, disziplinierten, gleichermaßen jedoch harmonischen Ausdrucks der Funktion bewun-derte, spielt dieser Einfluss bei der Verzahnung von Funktion und Anordnung der Dachterras-

se wie auch insgesamt für seinen kollektiven Wohnbau eine große Rolle.55 Die nahezu skulp-tural anmutenden Betonplastiken, beispielswei-se der überdimensionale Ventilationsschlot, das eingefasste Wasserbassin oder die kurvig ausge-bildeten Elemente nehmen Rekurs auf Seefahrt, Meer sowie die mediterrane Landschaft der Pro-vence und mögen „Le Corbusiers Traum vom guten Leben“ widerspiegeln, der ihn zur Schaf-fung einer Alternative zur rußigen Industriestadt leitete.56 Das Erleben von Natur und Ruhe so-wie eine vielseitige Freizeitgestaltung mittels eines großen Portfolios an Möglichkeiten soll-ten eine regenerative Wirkung von den Mühen des Alltags haben. Bildet dabei die ebenerdige Parklandschaft als Naherholungsgebiet, welches nicht nur um die Unité herum führt, sondern sich unter ihr fortsetzt, eine überdimensionale Klammer mit der Freizeitzone der Dachterrasse, zwischen die die Wohnfunktion eingeschoben ist, zeigt sich in dieser Struktur der intendierte Idealzustand im Hinblick auf die Aufteilung zwi-schen Individual- und Gemeinschaftsräumen. Diese (Trennung) bestärke, wie Weber die Ar-gumentation resümiert, (paradoxerweise) die Verbundenheit zwischen den Bewohnern un-tereinander und wirke Anonymität entgegen – durch den allgegenwärtigen Gemeinschafts-geist würde der Komplex zu einem „Ort des ‚un-eigennützigen Tuns’, der Sicherheit durch ge-meinschaftliche Verteidigung und gegenseitige Unterstützung“.57 Indem der Familie dank der kollektiven Wohnform vorrangig die Funktion des gemeinschaftlichen Freizeiterlebnisses zuge-ordnet wird, lassen sich die Vorteile des Quar-tiers folgendermaßen rekapitulieren: Eltern wie Kinder verließen morgens gemeinsam die Woh-

nung, trennten sich vor dem Aufzug, wo jeder seinen Verpflichtungen innerhalb des Hauses, sei es Schule, Arbeit oder Einkauf, nachginge, träfen sich abends an gleicher Stelle wieder und hätten dank der von den services communs be-reits erledigten Hausarbeit anschließend freie Zeit in Gemeinschaft zur Verfügung. Was in der Theorie ideal klingt, dürfte in der Praxis jedoch Risiken bergen. Die „Rationalisierung der räum-lichen Organisation“ führe unweigerlich zu ei-ner „Rationalisierung des sozialen Lebens“.58 Hinsichtlich wahrhaftiger Gemeinschaftsor-te, vergleichbar mit städtischen Plätzen, welche spontane Kommunikation und soziale Interak-tion ermöglichen – und damit gleichsam Orte zur Kultivierung von Körper und Geist nach in-dividuellen Ansprüchen und Bedürfnissen –, er-öffnet die Unité vielerorts eine Leerstelle, durch ihre Alleinstellung innerhalb des städtischen Umfeldes sowie durch die vorausgedachte Reg-lementierung ihrer Binnenstruktur.

Die Funktionen von For tbewegung und Verkehr

Bereits für die Zeitgenössische Stadt, den Plan Voisin (1925) und die Ville Radieuse hatte Le Corbusier breite und linear verlaufende Straßen und Wege vorgesehen, die durch „ein Theoriege-bäude von äußerster Strenge“ „einen reibungslo-sen Verkehr innerhalb der Stadt und nach außer-halb [...] gewährleisten“ sollten.59 Sein Postulat zielte hierbei auf die Trennung der Verkehrswe-ge, und vornehmlich der bis dahin üblichen Kor-ridorstraße, unter Einbezug zweier Faktoren ab: Einerseits nach Art des Verkehrsmittels (Fuß-gänger versus Fahrzeuge, und unter diesen eine Hierarchisierung nach Schnelligkeit) sowie an-dererseits nach den Anforderungen und dem Stellenwert der jeweiligen städtischen Funktio-nen.60 Blieben die theoretischen Modelle mo-derner Städte unrealisiert, so erwies sich die Unité als gestapelte Stadt als experimenteller Schauplatz, um die Konzepte hinsichtlich Ver-kehrsführung und Erschließung in die Tat um-

50 Curtis 1989 (wie Anm. 1). S. 207. – Vgl. Benevolo 2000 (wie Anm. 6). S.909.

51 Vgl. Fishman 1977 (wie Anm. 2). S. 192. – Vgl. Curtis 1989 (wie Anm. 1). S. 164. – Vgl. Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 288. – Vgl. Boesiger 1960 (wie Anm. 12). S. 288.

52 Vgl. Fishman 1977 (wie Anm. 2). S. 202, S. 232.53 Vgl. Peterek 1996 (wie Anm. 7) S. 286, S. 353.54 Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 345. – Vgl. Sbriglio

2004 (wie Anm. 7). S. 102.55 Vgl. Curtis 1989 (wie Anm. 1). S. 108-109, S. 207, S.

287.56 Curtis 1989 (wie Anm. 1). S. 284. – Vgl. Sbriglio

2004 (wie Anm. 7). S. 110.57 Weber 2012 (wie Anm. 31). S. 32.58 Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 324.59 Le Corbusier: Städtebau. Stuttgart 1979. S. 134, S.

10. – Curtis 1989 (wie Anm. 1). S. 207.60 Vgl. Benevolo 2000 (wie Anm. 6). S. 911.

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zusetzen. Auch hier folgte der Architekt seiner Maxime, durch eine Trennung jegliche, den Ver-kehrsfluss hemmende Instanzen zu vermeiden und den Wegen aus räumlicher Sicht und im Sin-ne der Bewohner eine vorherbestimmte Funkti-on zuzuordnen.

Der Wohnblock ist vom Boulevard Miche-let aus durch eine einzige Straße erreichbar. Soll-te die Versorgung der Bewohner hauptsächlich durch die im Inneren der vertikalen Stadt imple-mentierten Einrichtungen erfolgen – eine Tatsa-che, die gleichsam ein hohes Maß an Isolierung und Unabhängigkeit von übrigem Stadtraum hervorruft –, war diese Haupterschließungs-straße vorrangig motorisierten Fahrzeugen vorbehalten. Ihre Wegführung endet, nach Um-

rundung des Gebäudes und damit nach einer intendierten Erfahrung und Erfassung des Ge-bäudeausmaßes, mit einem großzügigen Park-platz, fortan ist das Erschließungsnetz zum und im Gebäude den Fußgängern gewidmet. Bereits durch die Erhebung des Gebäudes mittels Pilotis steht den Fußgängern 100 Prozent der Gesamt-bodenfläche des Außenraumes zur Verfügung.61 Eine Ausnahme stellt hierbei jedoch die mittige, zwischen die Stützenreihen eingeschobene Ein-gangshalle dar: Treffen sich in ihr die Wege der Autofahrer und Fußgänger gleichermaßen, fun-giert sie als Schnittstelle zweier Fortbewegungs-

arten. Die die Eingangshalle charakterisierende, metaphorisch einem Bahnhof gleichgestellte Übergangsfunktion erfährt eine deutliche Be-tonung, indem die im Gebäude befindlichen acht horizontalen Innenstraßen (Abb. 16) und Treppen sowie drei Aufzüge wie eine vertikale Achse als „lokale[n] Ausläufer eines umfassen-den städtischen Erschließungsnetzes“ und als funktionales Substitut der Korridorstraße be-trachtet werden können.62 Die Diskussion über ihre funktionale Zuordnung innerhalb des Kom-plexes jedoch erfolgt kontrovers: So ist auf der einen Seite die Bedienung der Erschließungs-einrichtungen ausschließlich professionellem Personal vorbehalten – argumentativ eine Em-phase des öffentlichen Charakters.63 Zudem er-hebt bereits die vom Architekten selbst gewählte Bezeichnung der rues intérieures, also der ‚in-neren Straßen‘ als einem für den öffentlichen Verkehr vorgesehenen Weg entlehntem und als Synonym für den üblichen ‚Hausflur‘ angewen-deten Ausdruck, Anspruch auf eine gemein-schaftlich nutzbare Funktion. Auf der anderen Seite betont jedoch Le Corbusier, die Innen-straße erfülle bewusst den Zweck von „Stille“, „Einsamkeit“ und „wirklicher Ruhe“,64 der viel-mehr zu der intimen Sphäre des Wohnbereichs gerechnet werden könne. Letztlich mag sich der diplomatische Mittelweg wohl als treffend erweisen: So sei der Flur „durch bauliche licht-technische und farbliche Maßnahmen“ – wie im Übrigen auch die Gestaltung der Wohnungstü-ren – als „Übergangszone“ in der Vernetzung zwischen Wohnung und Gemeinschaftseinrich-tung zu betrachten.65 Mit einer Breite von 2,80 Meter und einer Höhe von 2,26 Metern bilden die Innenstraßen je Etage einen recht schmalen Erschließungsweg zu bis zu 58 Wohneinheiten. Beträgt die maximale Entfernung eines Aufzugs oder einer Treppe bis zur privaten Tür maximal 76 Meter, isoliert die Innenstraße wohl mehr, als dass sie verbindet und fungiert vornehm-lich als vom Architekten bewusst implementier-ter ‚Zwischenraum‘. Entscheidende Hinweise darauf gibt auch der Blick auf dessen Inszenie-rung. Gedämpft sind Fußboden und Beleuch-tung; durch die geschlossene Nordseite dringt

Abb. 18 Luca d’Amico, Luca Tesio. Visualisierung des Nomad Skyscraper

61 Vgl. Boesiger 1960 (wie Anm. 12). S. 308. – Vgl. Sbriglio 2004 (wie Anm. 7). S. 60.

62 vgl. Weber 2012 (wie Anm. 31). S. 28. – Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 351, S. 353.

63 Vgl. Le Corbusier 1964 (wie Anm. 28). S. 38. – Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 351, S. 353.

64 Le Corbusier 1968 (wie Anm. 45). S. 46.65 Weber 2012 (wie Anm. 31). S. 28, S. 207.

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kein natürliches Licht in das Innere, mit Aus-nahme der Bereiche der Aufzugpodeste.66 Die künstliche Beleuchtung sei absichtlich schwach gehalten, schreibt Le Corbusier, um eine ge-heimnisvolle Atmosphäre zu kreieren, eine „au-ßerordentliche Schöpfung“.67 Die Argumente, sie seien zu niedrig, zu eng und zu düster, halten Kritiker dem entgegen und sehen die Flure als „inadäquate soziale Entsprechung“ zur konven-tionellen Stadt-Straße, schließlich sei das Postu-lat nach Licht, Luft und Weite konterkariert.68 Eine längere Aufenthaltsdauer etwa zum Zwe-cke einer gemeinschaftsfördernden Kommuni-kation sei somit nicht im Sinne des Architekten gewesen, ausschließlich der funktionale Aspekt der Erschließung scheint vordergründig. Wäh-rend das soziale Leben ausschließlich der Frei-zeit gewidmet ist, seien die Innenstraßen auf die Vermeidung (frei-)zeitraubender Fortbewe-gung ausgelegt.69 Eine Ausnahme stellt hierbei die auf halber Gebäudehöhe in Analogie zum menschlichen Herzen angesiedelte Ladenstra-ße dar (Abb. 17): Hier flössen „die Menschen [...] wie Blutströme“ zusammen.70 Der für die Öffentlichkeit bestimmte Raum lädt im Sinne einer städtischen Promenade zum Flanieren ein und steht durch seinen lebendigen Charakter in starkem Kontrast zu den übrigen Innenstra-ßen, bietet er doch ganz bewusst einen Ort einer Zusammenführung der Bewohner. Diese Um-setzungen in der Hierarchisierung der Erschlie-ßungsnetze projizierte Le Corbusier 1950 mit

den Regeln der ‚sept voies‘ auf größere Dimensi-onen: „Von der nationalen Fernstraße, über [...] Stadt- und Erschließungsstraßen unterschied-licher Rangordnung, bis zu den Aufzügen und Innenstraßen in den Unités und den Fußwegs-netzen im Grünen.“71

Zwischen Innen und Außen

Zunächst erscheint aus morphologischer Sicht der Beton-Komplex der Unité bedingt durch seine Wuchtigkeit und neue Dimension als frei-stehender Solitär, der als autonomes und in sich geschlossenes System keine räumlichen Bezü-ge auf sein übergeordnetes Umfeld zu nehmen scheint und damit jede bis dahin übliche ‚Idee‘ des ‚Hauses‘ konterkariert.72 Schon die Aus-richtung des Gebäudes begünstigt in entschei-dender Weise diese These: Denn statt eine der beiden durch ihre Breite markierten Haupt-ansichten, namentlich Vorder- oder Rückan-sicht, parallel zur Achse des Boulevard Miche-let zu positionieren, wählte Le Corbusier eine Schrägstellung mit einem Winkel von etwa 22 Grad. Spricht Peterek jedoch hinsichtlich der Einbindung in den städtischen Raum von ei-nem „Teil-Gebilde der Stadt“, also einer „Stadt in der Stadt“,73 impliziert dies sehr wohl das Vor-handensein einer oder mehrerer Schnittstellen. Zielt das Konzept der (vertikalen) Stadt primär auf die Bedürfnisse der Bewohner ab, also im Sinne Le Corbusiers auf ein erträgliches Woh-nen durch ein Höchstmaß an Licht, Luft und Grün, so findet sich in der Unité eine architek-tonische Umsetzung dieser Faktoren. Hinsicht-lich des Prozesses statuiert Petit zum einen den Vergleich mit den Zeitgenossen Pablo Picas-so (1881–1973) und Georges Braque (1882–1963), die in ihrer bildenden Kunst „einen Ge-genstand gleichzeitig von innen und von außen sichtbar“ erscheinen ließen, die offensichtliche Demonstration eines Übergangs zwischen In-nen und Außen manifestiert sich somit als ar-chitektonisches Prinzip, welches bereits auf das Schaffen Francesco Borrominis im 17. Jahrhun-

dert rekurrieren könnte.74 Bildet grundsätzlich bei Le Corbusier das Konzept einer neuen kol-lektiven Wohnform eine „neue Zwischeneinheit zwischen Haus und Stadt“, manifestiert sich das bauliche Beziehungsspiel, das diese Disposi tion von allen Seiten sichtbar machen soll, als ein vorrangig ästhetisches, das der Übergangszo-ne keine soziale Bedeutung beimisst: Die Uni­té würde dadurch zum „bloßen Anschauungs-Objekt“, das keinen Raum für „Verborgenes“ und „Geheimnisvolles“ zulässt.75 Wie bereits in den Häusern Dom­Ino und Citrohan, zeigt sich auch in der Unité die Anwendung des Ske-lettsystems, bei dem horizontalen Ebenenplat-ten sowie Stützen eine wesentliche Bedeutung verliehen wird. Die Pilotis, die Le Corbusier in seinen Cinq Points als zentrales Kriterium für Wohnbau postulierte, lösen das Gebäude vom städtischen (Erd-) Boden und tragen in hohem Maße zur visuellen Inszenierung der Architektur bei. Strukturell betrachtet teilen sie die über ih-nen thronende Funktion des Wohnens von der dem Verkehr und der Bewegung gewidmeten Freifläche ab, ein referenzielles Nebeneinander der Funktionen ist somit nicht vorgesehen.76 Dennoch trägt der Berührungspunkt der Pilotis mit dem Boden gleichwohl zu einer Integration des Gebäudes in ihr Umfeld bei, wird doch der ‚durchlaufende Fluss‘ der Natur und des Grüns damit zu einem Teil des Gebäudes. Le Corbusier zielte damit, wie sich ebenso für die inszenier-te Dachlandschaft als Fortführung der Grund-stücksfläche und die breiten Fensterbänder kon-statieren lässt, auf die teilweise Verwischung der „Dichotomie von Land und Stadt“ ab, welche die „Rückkehr zu den Ursprüngen“, also nahe-zu natürlichen Lebensbedingungen, zur Folge haben sollte.77 Die unmittelbare Nähe zur Na-tur innerhalb der Stadt als zentrale Forderung der 1920er Jahre sollte als Gegenpol zu Dichte, Dunkelheit und unhygienischen Zuständen der Industriestadt fungieren, und als „Teil des Miet-vertrags“ vor der spektakulären Kulisse Mar-seilles einen Ort natürlicher Ruhe und Erholung ermöglichen.78

Der Übergang von Innen nach Außen voll-zieht sich im Schnitt der Unité sanft: Zwischen

66 Vgl. Le Corbusier 1968 (wie Anm. 45). S. 46. – Vgl. Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 353. – Vgl. Weber 2012 (wie Anm. 31). S. 28. – Vgl. Sbriglio 2004 (wie Anm. 7). S. 71.

67 Le Corbusier 1968 (wie Anm. 45). S. 46. 68 Vgl. Lewis Mumford: Der Nonsense von Marseille.

In: Baukunst und Werkform. 1958. S. 30.69 Vgl. Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 353. – Vgl. Weber

2012 (wie Anm. 31). S. 28. – Fishman 1977 (wie Anm. 2). S. 233.

70 Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 345.71 Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 335.72 Vgl. Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 341, S. 343.73 Sbriglio 2004 (wie Anm. 7). S. 340. Die innerhalb

des Zitats kursiv gesetzten Worte sind von der Ver-fasserin nachträglich eingefügt worden.

74 Vgl. Petit 1970 (wie Anm. 25). S. 14.75 Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 343, 351, S. 359. – Vgl.

Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 328.76 Vgl. Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 351.77 Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 333. – Vgl. Curtis 1989

(wie Anm. 1). S. 114.78 Vgl. Weber 2012 (wie Anm. 31). S. 15. – Le

Corbusier: Grundfragen des Städtebaus. Stuttgart 1954. S. 84. – Vgl. Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 328, S. 359.

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dem riesigen öffentlichen Areal und der Intimi-tät der Wohnzellen schieben sich die halb abge-schotteten Loggien (Abb. 5) als Zwischenzone. Die als innere Fassade zu verstehende Glashaut der über die gesamte Breite zu öffnenden Fens-ter erweist sich sowohl der privaten Sphäre des Inneren als auch dem Balkon als individuell nutzbares Erweiterungselement der Wohnung zugehörig. Nach außen hin bildet die Loggia mit dem transparenten Netzraster des brise­soleil darüberhinaus eine zweite, nun einheitliche Fas-sade aus, welche funktional wie ästhetisch als Pufferelement zwischen Gebäude und Umge-bung fungiert. Der Architekt erziele somit eine „strukturelle Umkehrung der Aufbauprinzipi-en herkömmlicher Wohnquartiere“, da die Er-schließung der Zellen dem Inneren vorbehalten sei und der Unterschied zwischen Gebäudevor-der- und -rückseite aufgehoben würde, jedoch unter gleichzeitigem Einbezug der Ablesbarkeit der inneren Raumdispositionen – besonders wird dies betont durch die äußere Horizontalar-tikulation der Ladenstraße auf halber Gebäude-höhe.79 Es wird deutlich, wie das Konzept der Wohneinheiten als kleinstem Element den Aus-gangspunkt für die räumliche Ausgestaltung des Gebäudekomplexes bildet, welches schließlich die Ordnung der gesamten Stadt widerspiegelt und sich in fließendem visuellen Übergang in sie eingliedert.

Der ausgeschlossene Zufall

Auf Basis der vier in der Charta von Athen postulierten Funktionen hat sich Le Corbusier bei Planung der Unité mit den für sein Spät-werk relevanten Fragen hinsichtlich der Prob-lematik der Arbeitsteilung, der Rückbesinnung auf das Verhältnis zwischen Mensch und Natur unter Einbezug serieller Produktionsmöglich-keiten in einem möglichst sozialen Wohnbau befasst. Auch wenn die Unité ein fragmentari-sches Experiment städtebaulicher Utopien dar-stellt, manifestiert sie das architektonische Stre-ben nach veränderten Lebensbedingungen für

den Menschen, die das Wohnen erträglicher machen sollten. Mit der Wohnmaschine such-te Le Corbusier der von Funktionalität und In-dustrialisierung geprägten Wohnarchitektur des 20. Jahrhundert ein neues Gesicht zu geben. Für die Umsetzung war daher ein hohes Maß an neuem Denken, wenn auch im Hinblick auf eine isolierte Stadt, von großer Relevanz – ein radi-kaler Bruch in den damaligen städtebaulichen Konventionen. Um die eingangs gestellte Frage aufzugreifen: Wie sozial ist also die Unité? Trotz akribisch durchdachtem Verhältnis räumlich-funktionaler Dispositionen ist eine tiefgreifende Diskrepanz zwischen funktionalisierter Wohn-form und freiheitlichen und gemeinschaftli-chen Strukturen nicht von der Hand zu weisen. Diese ist wohl der tiefen Kluft zwischen Theo-rie eines verdichteten Hochhausprogramms und der Umsetzung geschuldet, die sich als ein Auf-oktroyieren vorgefertigter Lösungen manifes-tiert, statt praxisnah auf die individuellen Wün-sche der Menschen einzugehen. Der Architekt, selbsternannter Schöpfer einer neuen Gesell-schaft, mit dem Streben nach einer angemes-senen Architektur, scheiterte schließlich an der Pragmatik der Theorie. Inmitten all der ange-wandten Standardisierungen und im Wohlwol-len entwickelten – komfortabler und höchst wirtschaftlicher – Funktionalisierungen ent-schwand unter seiner Hand der ursprünglich intendierte soziale Anspruch und die Vereinbar-keit von Individualität und Gemeinschaft. Ein Akt der Neuschöpfung, mit dem ein Akt der ra-dikalen Vereinfachung, baulicher wie sozio-kul-tureller Natur, einhergeht.80 Die Heterogenität der offenen Stadt und des menschlichen Zu-sammenlebens mit „ihrer differenzierten Stu-fung von der Öffentlichkeit zur Privatheit“81, die Spontaneität als Voraussetzung einer kulturellen und gesellschaftlichen Weiterentwicklung, ge-hen verloren. An ihre Stelle tritt die geschlossene ‚Stadt in der Stadt‘ mit ihren homogenen Einhei-ten, bei denen zwar an alles gedacht, aber auch vorausgedacht ist und die anstelle „komplexer Lebensvollzüge“ nicht mehr als ein „abstraktes Gebilde“ darstellt.82 Indem der Architekt die Gesellschaft, für die die Unité erbaut wurde, zu

ignorieren scheint, schafft er zwar ein gestalteri-sches Meisterwerk und einen architektonischen Triumph, zugleich jedoch einen der größten Zy-nismen seiner Schaffenszeit. Zunächst Synonym für eine moderne Lebensweise, schließlich Sig-num für Misserfolg – trotz kritischer Bewertung übt das Modell der gestapelten Stadt, des Fla-schenregals mit beliebig modifizierbaren Wohn-elementen, die ideale Lösung zur effektiven Re-produktion allerorts, bis heute im Hinblick auf Architekturvisionen für die Zukunft offensicht-lich eine hohe Anziehungskraft aus. So lässt sich das Konzept der Unité jüngst im visionären Pro-jekt Nomad Skyscraper bei den italienischen Architekten Luca d’Amico und Luca Tesio wie-derfinden (Abb. 18). Fraglich, ob diese Öko-nomisierung der Architektur in den folgenden Jahrzehnten noch ernsthaft Fürsprecher findet. Bis dahin bleibt die Unité d’Habitation eine unvollendete Vision, die in der heutigen Gesell-schaft als Design-Objekt zelebriert oder aber mit einem kritischen Auge bedacht wird.

79 Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 345, S. 357, S. 359.80 Vgl. Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 321.81 Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 321.82 Peterek 1996 (wie Anm. 7). S. 321.

A b b i l d u n g s n a c hwe i s

1 akg-images/ VIEW Pictures Ltd.2, 5, 6, 7, 8 Wolfgang Neisser3 FLC/Bildkunst, 2013. Photographie L1(12)534 FLC/Bildkunst, 2013. Extrait de L’œuvre Complète, Volume 6, p. 207.9 akg-images/VIEW Pictures Ltd.10 FLC/Bildkunst, 2013. Extrait de L’œuvre Complète, Volume 5, p. 194.11 FLC/Bildkunst, 2013. Plan FLC 2682712 FLC/Bildkunst, 2013. Plan FLC 2936413 FLC/Bildkunst, 2013. Photographe Simone Hermann14, 16 FLC/Bildkunst, 2013. Photographe Paul Kos-lowski15 akg-images/Bildarchiv Monheim17 akg-images/Paul Almasy18 Luca d’Amico/Luca Tesio. www.two-look.com