Ernst Ottwalt Denn Sie Wissen Was Sie Tun

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    Ernst Ottwalt

    Denn sie wissen was sie tun (1931)Dieses Buch ist kein Schlsselroman. Die Figur des Richters FriedrichWilhelm Dickmann ist jedoch nur insoweit Phantasieprodukt, als zuihr kein bestimmter deutscher Richter Modell gestanden hat. Dagegensind smtliche Rechtsflle, Gerichtsverhandlungen, Urteile undEreignisse, die hier beleuchtet werden, als Tatsachen aus den Jahren19201931 belegbar. Auf Tatsachen beruhen auch smtlicheSchilderungen des inneren Betriebs der deutschen Rechtspflege. Esliegt in der Geschichte der deutschen Republik begrndet, da dieseTatsachen dem Leser zuweilen unglaubhaft erscheinen mgen. Daherbittet der Autor den Leser, sich ber den Verlag an ihn zu wenden,wenn irgendwelche Zweifel an dem dokumentarischen Charakterdieser oder jener Darstellung in dem Roman auftauchen sollten. Allederartigen Anfragen werden beantwortet durch Offenlegung desTatsachenmaterials, auf das sich die fraglichen Stellen sttzen.

    BER DEN WERT DES DENKENS

    Eine Gestalt mittlerer Gre. Die Gesichtsfarbe frisch. Die blauen

    Augen blicken ruhig ber zwei runde Backen in eine Welt ohne Rtsel.Die Haut des Nackens wirft zwei wulstige Falten ber dem Kragen:das ist Dickmann, Friedrich Wilhelm mit Vornamen, Landgerichtsratund Doktor der Rechte, verheiratet und Vater von zwei Kindern.

    Mu man mehr von dem Landgerichtsrat Dickmann wissen? Hat esZweck, in sein kleines Leben hineinzuleuchten? Man knnte nochfeststellen, da ihm das Bier schmeckt, und da er leise keucht, wenner die zwei Treppen zu seiner Wohnung hinaufgestiegen ist, die in

    einem Neubau des Berliner Westens liegt. Sein Herz ist nmlich nichtganz in Ordnung. Ins Theater geht Landgerichtsrat Dickmann selten,fter dagegen in ein Konzert. Bachsche Oratorien kann er nicht hren,weil er schon bei dem zweiten Choral mit den Trnen kmpft. SeinLieblingsgericht ist Kalbsnierenbraten. Von Weinen bevorzugt erBurgunder, Beaujolais, Zimmertemperatur.

    Seine politischen Ansichten sind die eines guten Staatsbrgers, der anden schlechten Zeiten mivergngten Anteil nimmt, und der dochaufgeklrt genug ist, hin und wieder nach den tieferen Ursachen zu

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    fragen, die diesem oder jenem unerfreulichen Geschehen zugrundeliegen mgen. Seine Kollegen halten ihn fr einen netten Menschen.Bei seinen Vorgesetzten ist er beliebt, weil er soziale Gesinnung,menschlichen Takt und vollendete

    Hflichkeit mit frhlicher Unbefangenheit und der Haltung einesehemaligen Kavallerieoffiziers zu verbinden wei. Trotz seinenjungen Jahren hat er Aussicht, demnchst Landgerichtsdirektor zuwerden. Sein verstorbener Vater war es auch schon.

    So sieht der Mann aus, der jeden Morgen ins Berliner Kriminalgerichtgeht, um dort einer kleinen Strafkammer vorzusitzen. Krzlich ist ihmzum ersten Male der Vorsitz in einem groen Schffengericht

    bertragen worden, und man findet allgemein, da er seine Sache gutmacht.

    Selbst sein bester Freund oder seine Gattin Annemarie, geboreneFranke, Tochter des Senatsprsidenten Franke kmen inVerlegenheit, sollten sie mehr als dies ber Wesen und Art desLandgerichtsrats Doktor Friedrich Wilhelm Dickmann aussagen.Eindringlicheres Fragen wrde vielleicht noch die Tatsache ans Lichtbringen, da Dickmann in seinem Leben niemals Hunger gelitten hat,

    und da er nicht viel davon hlt, ber Dinge nachzudenken, die dochnicht zu ndern sind. Und in diesem Punkt hat er seine Erfahrungen,die er scheu vor aller Welt verheimlicht, und die nachgerade inVergessenheit zu geraten beginnen. Dickmann denkt immer selteneran das, was er die dumme Sache von damals" nennt, und er tut gutdaran. Denn ber den Wert des Denkens gibt es doch eigentlich nureine einzige Meinung, und das ist die, da nicht viel dabeiherauskommt.

    Da Dickmann Strafrichter ist, hat mit seiner Ansicht ber den Wertdes Denkens nichts zu tun. Man wei ja, wie Menschen zu ihrenBerufen kommen. Dickmann selbst erzhlt es gern, da Bismarck nurdeswegen Staatsmann geworden sei, weil er sich als Referendar nichtmit seinem Amtsrichter vertragen konnte. Alles Zufallssache. HtteDeutschland zum Beispiel nicht den

    Weltkrieg verloren, dann wre Friedrich Wilhelm Dickmann jetzt

    Rittmeister im Dragonerregiment Kaiser. Oder vielleicht auch schonMajor. Ein Dickmann kommt berall weiter.

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    Die dumme Sache von damals? Du lieber Gott, das ist nun schon solange her. Kleiner Unglcksfall, kann jedem mal passieren. Das darfman nicht berwerten. Dickmann tut's ja auch nicht. Dickmann legtdas Recht aus. Er ist ein schlichter Diener am Gesetz der deutschenRepublik, die solchem Diener der Gerechtigkeit sechshundert MarkMonatsgehalt zahlt, vorausgesetzt, da er Landgerichtsrat ist und sound so viele Dienstjahre hinter sich hat. Die Notverordnung hat daerhebliche Abzge gebracht, und will man Landgerichtsrat Dickmannschimpfen hren, dann mu man das Gesprch auf die Notverordnungbringen. Da schimpft er sogar dann, wenn er die Robe anhat, denn erist ja der Ansicht, die Notverordnung sei eine unmittelbare Folge desVersailler Diktats, unter dem das ganze deutsche Volk so namenlos

    leidet. Vom Herrn Reichsprsidenten angefangen bis zum letztenArbeitslosen. Volksgemeinschaft! Von der Not der Arbeitslosen weiDickmann mehr als mancher, der sie dauernd im Munde fhrt. Vonzehn Angeklagten, die vor seinem Richtertisch stehen, sindmindestens acht arbeitslos und haben ihre Tat in einer offenbarenNotlage begangen. Das schtzt sie natrlich nicht vor der Strafe.Wenn es Dickmann auch manchmal wirklich leid tut, so einen armenKerl verurteilen zu mssen, er ist ja nicht allmchtig: ber ihm

    steht das Gesetz, das Shne verlangt, und an dem nicht gedreht nochgedeutelt werden darf. Ob das Gesetz gut ist oder schlecht, Dickmann kann es nicht ndern, und es kommt nicht viel dabei heraus,wenn man ber Dinge nachdenkt, an denen nichts zu ndern ist...

    So nimmt er es zur Kenntnis, da der unbestrafte MotorenschlosserMay zur Zeit der Begehung der Tat arbeitslos war. Das kann einemleid tun, aber das entschuldigt gar nichts. Am allerwenigsten dasVerbrechen des Landfriedensbruchs.

    Hunger haben Sie gehabt?" fragt Landgerichtsrat Dickmann denAngeklagten. Bekommen Sie denn keineArbeitslosenuntersttzung?" Der Angeklagte schttelt den Kopf, unddas berrascht den Richter gar nicht. Denn er wei, da dieNotverordnung viele Arbeitslose um ihre Untersttzung gebracht hat.

    Darum fragt er ruhig weiter: Wohlfahrtsuntersttzung?"

    Der Angeklagte schttelt den Kopf: Meine Ansprche werden geradegeprft."

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    Davon kann man allerdings nicht satt werden, denkt Dickmann undwei jetzt, da der Arbeitslose hungrig war, als er die Wurst an sichnahm. Bitte, das steht fest: der Angeklagte ist im Besitze einer Wurstbetroffen worden, unmittelbar, nachdem mehrere junge Burschen dieSchaufensterscheibe eines Lebensmittelgeschfts eingeschlagen hatten.Die Wurst hat im Rinnstein gelegen, als der Angeklagte sie aufhob?Dickmann lchelt nachsichtig: faule Ausrede. Das Schffengerichtunter dem Vorsitz des Landgerichtsrats Dickmann verurteilt denarbeitslosen Motorenschlosser Ernst May zu sieben MonatenGefngnis wegen Landfriedensbruchs.

    Sieben Monate Gefngnis, weil ein Mensch Hunger gehabt hat?

    Sieben Monate Gefngnis wegen einer Wurst? Nein, nicht wegeneiner Wurst, sondern wegen Landfriedensbruchs, das ist einUnterschied. Wenn heute die Hungernden zur Selbsthilfe schreitenund Lebensmittelgeschfte plndern, dann ist die ffentliche Ordnungund die Staatsautoritt in hchster Gefahr. Es soll doch demLandgerichtsrat Dickmann niemand einreden wollen, ein hungernderMensch msse heute plndern, um satt zu werden. Wenn derAngeklagte wirklich Hunger gehabt hat, warum bettelte er dann nicht?

    Haiti Nein, es ist niemand da, der den Landgerichtsrat Dickmanndarauf aufmerksam macht, da ja auch Betteln nach geltendemdeutschen Recht eine strafbare Handlung ist, da Betteln mit Haft biszu sechs Wochen und nachfolgender berweisung in ein Arbeitshausbestraft werden kann. Es ist niemand da, der feststellte, da in einemBerliner Gerichtssaal ein deutscher Richter einem Hungernden keinenbesseren Rat geben konnte, als den, eine strafbare Handlung zubegehen...

    Und so darf der Vorsitzende des groen Schffengerichtsunbekmmert mit harten Worten die asoziale Gesinnung eineshungrigen Menschen anprangern und schmhen, der eine Wurst vonder Strae aufgehoben hat, die ihm nicht gehrte. Er darf es. Er mues sogar, denn wie sollte er sonst ein Urteil fllen?

    Dickmann hlt nicht viel davon, ber Dinge nachzudenken, die dochnicht zu ndern sind. Es kommt nicht viel dabei heraus. Wer ist dennder Landgerichtsrat Doktor Dickmann, da er sich den Luxus des

    Denkens leisten knnte? Ein schlichter Diener am Recht, eine Gestaltmittlerer Gre. Kein Christus, der das Leid der ganzen Welt auf seine

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    schwachen Schultern nhme. brigens, das Leid der Welt ist eineirreale Gre, mit der der Jurist Dickmann nichts anzufangen wei. Erkennt im Dienst nur eine Flle von strafrechtlichen Tatbestnden, diesauber unter einen oder mehrere Paragraphen des geltenden Rechts zusubsumieren sind. Das ist alles. Im Privatleben das unbedingt vonseiner Funktion als Diener der Gerechtigkeit zu trennen ist!

    kultiviert Dickmann zwar einige berzeugungen allgemeinerenCharakters, die in ihrer Gesamtheit das ausmachen, was er seineWeltanschauung nennt. Aber das ist unwichtig: den Landgerichtsratfragt niemand nach seiner Weltanschauung.

    Also wre es unbillig, von ihm zu verlangen, Gefhle und Einsichten

    seines privaten Ichs bei seiner Funktion als Richter der deutschenRepublik zu bercksichtigen. Ganz abgesehen davon hat derLandgerichtsrat auch in seinem Privatleben noch niemalsVeranlassung gehabt, sich ber die biologische Erscheinung desHungers besondere Gedanken zu machen. Er kennt ihn nur alsSynonym fr Appetit. Daran kann der Fall des arbeitslosenMotorenschlossers ebenso wenig etwas ndern wie der berfall aufden Geldbrieftrger, der Gott sei Dank noch glimpflich abgegangen ist:

    der Geldbrieftrger hat nur eine leichte Kopfverletzung davongetragen,die ihn nicht hindern konnte, nach dem kleinen Zwischenfall seinenBestellgang fortzusetzen. Die Leidtragenden dieses plumpenRaubberfalls sind die verletzte Staatsautoritt und der arbeitsloseGelegenheitsarbeiter Hermann Schneider. Der Postfiskus ist nichtgeschdigt worden.

    Die Kriminalbeamten, die den Ruber Schneider bereits zwei Stundennach seiner Tat in einer Herberge im Nordosten Berlins verhaften

    konnten, wuten sich keinen anderen Rat, als ihrem Hftling ihreeigenen Frhstcksbrote zu geben; er verschlang sie gierig. Washatten Sie denn am Tag vor dem berfall gegessen?" fragtLandgerichtsrat Dickmann den Angeklagten.

    Nichts, Herr Vorsitzender." Und am Tage vorher?" Eine trockeneSchrippe."

    Also Hunger. Wieder einmal der Hunger, der einen Menschen

    straffllig werden lie. Das entschuldigt natrlich nichts: Aber wenn

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    man Hunger hat, schlgt man doch nicht einen Geldbrieftrgernieder!" entrstet sich Dickmann.

    Der arbeitslose Gelegenheitsarbeiter Hermann Schneider kann darauf

    nichts antworten. Der Vorwurf des Richters ist unbedingt berechtigt.Wenn man Hunger hat, it man. Und wenn man nichts zu essen hat?Wenn Sie Hunger hatten, warum haben Sie dann nicht gebettelt?"

    Der Angeklagte hebt erstaunt den Kopf: Ich bin schon einmal wegenBetteins zu vier Wochen Haft verurteilt."

    Dickmann runzelt unwillig die Augenbrauen. Er hat im Augenblicknicht daran gedacht, da man nicht betteln darf. Wann war das?"fragt er den Angeklagten grob. Im Jahre 1931."

    Ich mchte doch mal den Berliner Brger sehen, der einen hungrigenBettler von seiner Tre schickt, ohne ihm etwas zu essen zu geben!"Nein, Dickmann denkt nicht mehr daran, da er vorgestern einenBettler von seiner Tre fortgehen lie, ohne ihm etwas zu geben. Eskommen ja jetzt so viele Bettler, und Dickmanns hatten keinKleingeld im Hause. Man kann doch auch nicht jedem Bettler fnfzigPfennige schenken! Zwei Jahre Gefngnis wegen versuchtenschweren Raubes! Erstens mssen die Geldbrieftrger bei Ausbungihres schweren Berufs geschtzt werden. Zweitens mu dieStaatsautoritt aufrechterhalten werden. Drittens, ja was noch?Man kann es ja verstehen, wenn ein hungriger Mensch vielleicht einBrot oder sonst etwas zu Essen stiehlt, aber ein derartigerRaubberfall zeugt von einer so verwerflichen Gesinnung, da eineempfindliche Strafe am Platze schien... " Nein, es ist niemand da, derden Landgerichtsrat Doktor Dickmann darauf aufmerksam machte,da er krzlich trotz allem menschlichen Verstndnis einenHungernden zu sieben Monaten Gefngnis verurteilt hat, weil er etwaszu Essen gestohlen hatte. Sieben Monate Gefngnis wegen einerWurst, das heit, wegen Landfriedensbruchs.

    Dickmann hlt nicht viel vom Denken. Es hat nicht viel Zweck, berDinge nachzudenken, die doch nicht zu ndern sind. Htte er bei derUrteilsbegrndung nachgedacht, wre er vielleicht zu dem Schlugekommen, da nicht nur die Geldbrieftrger bei der Ausbung ihres

    schweren Berufs geschtzt werden mten, sondern da einKulturstaat die Verpflichtung htte, seinen hungernden Brgern zu

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    essen zu geben. Aber wo steht das im Gesetz der deutschen Republik?Nur in der Reichsverfassung. Also ist es unbillig, von Dickmannetwas anderes zu erwarten, als ein hartes Urteil fr denGelegenheitsarbeiter Hermann Schneider, der den Geldbrieftrgerberfallen hat. Unbillig die Zumutung, darber nachzudenken, warumein Mensch, der leben will, der nichts will, als nicht sterben, sich sorettungslos im Netz der Strafrechtsparagraphen eines Kulturstaatesverstricken mu: Betteln, Landfriedensbruch, versuchter schwererRaub...

    Ist Dickmann etwa schuld an der Arbeitslosigkeit? Soll er etwadarber nachdenken, da das Unglck in Deutschland Verbrechen

    heit?Dickmann zieht seine Robe aus, geht zum Bahnhof Bellevue, besteigteinen Stadtbahnzug und fhrt nach Hause. Er kt seine Frau flchtigauf die Stirn, wundert sich, da die Telefonrechnung wieder so hochist, vielleicht telefoniert das Dienstmdchen heimlich? Er ltseinen kleinen Jungen an seinen Beinen hochklettern und it dannAbendbrot. Es gibt frische Blutwurst mit Stampfkartoffeln undSauerkraut. Dann ghnt Dickmann verstohlen, lockert den Hosengurt

    und hilft seinerFrau, die Kinder ins Bett zu bringen.

    Wilhelm darf noch einmal mit ihm Hoppe, hoppe

    Reiter" spielen. Und dann mssen die Kinder mit

    Frau Landgerichtsrat beten. Ich bin klein, mein

    Herz ist rein, soll niemand drin wohnen, als Jesus

    allein."Dickmann steht im Trrahmen zum Kinderzimmer. Um seine Lippenspielt ein gerhrtes Lcheln. Er mchte seiner Frau ber das Haarstreichen, aber er tut es nicht.

    Na ja, und dann sitzt Dickmann mit seiner Frau im Wohnzimmer. Sieaddiert die Rabattbons des Kolonialwarengeschfts. Er liest Zeitung.Drauen regnet es. Die gelbverhangene Stehlampe spiegelt sich in derblanken Politur des Tisches.

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    Nichts Besonderes in der Zeitung. Der ehemalige Prsident desReichsgerichts, Dr. Simons, hat auf dem evangelischen Kirchentageine Rede gehalten ber die Mitarbeit des evangelischenKirchenausschusses bei der Vorbereitung des neuen Strafgesetzbuchs.Dr. Simons sieht die Strafrechtspflege mit Bedauern mehr und mehr inmaterialistisches Fahrwasser abgleiten. Die religise Grundlage desStrafrechts knne so leicht in Vergessenheit geraten. Der Menschbraucht einen gndigen Gott, aber einen strengen Richter, meint Dr.Simons, der Mann, den die deutsche Republik auf den Posten deshchsten deutschen Richters berufen hatte. Dickmann ghnt leise.

    Der 4. Strafsenat des Reichsgerichts verurteilte am 25. Mai 1931 den

    Tischler Max Feldmann aus Mainz wegen militrischen Verrats zufnf Jahren Festungshaft unter Zubilligung mildernder Umstnde.Feldmann war whrend des Krieges als ehemaliger Angehriger derFremdenlegion in Frankreich interniert und hatte sich im September1918 erneut zu fnfjhriger Dienstleistung in der Fremdenlegionverpflichtet. Der Strafsenat nahm an, dass er damals zermrbtgewesen sei." Dickmann blttert weiter.

    Wissenschaftliche Beilage. Die Irrlehre des historischen

    Materialismus." Halt, das muss er sich aufheben. Er muss den Artikelmal lesen. Staatsanwalt Spann und Amtsgerichtsrat Wehner habensich neulich in seinem Beisein ber historischen Materialismus undber den Marxismus unterhalten. Kein Wort hat er verstanden, er hatsich nur tief verwundert, einen Staatsanwalt und einenAmstgerichtsrat so sachkundig ber so absurde Dinge sprechen zuhren. Eine merkwrdige Zeit, in der man lebt!

    Der deutsche evangelische Kirchentag billigt die rechtlichen und

    sittlichen Grundgedanken, die den Ausschuss bei einer sorgfltigenund nicht ergebnislosen Mitarbeit bei der Reform derStrafgesetzgebung geleitet haben und fordert ihn auf, weiterhin indieser Richtung ttig zu sein. Insbesondere mge er immer wieder mitallem Nachdruck dahin wirken, dass in der Strafrechtspflege, die es anErnst und Strenge fehlen lsst, der Ernst der Strafe als Strafe gewahrtwerde..." Das Zeitungspapier knirscht: Dickmann hat das Blattunwillig beiseite gelegt. Er will nicht mehr. Man soll ihn wirklich in

    Ruhe lassen. Er tut seine Pflicht, mehr kann er nicht. Aber diewenigen Stunden, die ihm noch am Tage bleiben... Er steht auf und

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    stellt den Lautsprecher an. Ein dicker Klo Musik quillt aus demschwarzen Trichter, eine nselnde Stimme fllt den Raum mitqukendem Gerusch: Yes, Sir, that's my baby. I wonder, where mybaby is to night... " Ein heulendes Kreischen: Dickmann dreht wtendan der Sperrscheibe: Immer dieser verfluchte Negermist!" schimpfter grob.

    Seine Frau hebt erstaunt die weilich-blonden Augenbrauen undverzieht schmerzlich das Gesicht. Oh!"sagt sie und legt vor diesemFluch die Handmuschel schtzend und ausdrucksvoll vor ein Ohr. Dasist nun das Leben, ja? Dickmann bedankt sich dafr. Er bedankt sichbestens dafr, verstehen Sie? Er hat keine Lust mehr. Um sich zu

    beruhigen, setzt er sich an das Klavier und schlgt drhnend in dieTasten: Pariser Einzugsmarsch, Finnlndischer Reitermarsch. DieTne brausen, und Dickmann singt zu seinem Spiel: Raram tata ramtata ram tatatata . . ." Dabei wird ihm wohler. Ist ja auch alles halb sowild. Ernst der Strafe als Strafe? Soll er vielleicht darber grbeln, obin der Tat die deutsche Strafrechtspflege es an Ernst und Strengefehlen lsst? Er denkt gar nicht daran. Er hlt nicht viel davon, bersolche Dinge nachzudenken. Frher einmal, ja. Aber heute ist er ber

    solche Kindereien hinaus. Zweifel und Bedrckungen gibt es nichtmehr, schlimm genug, dass es sie je gegeben hat. Gelegentlicheschlechte Laune kann man erfolgreich bekmpfen mit erprobtenFormeln: Strafe muss sein." Oder Kunstfehler kommen berall vor".Und in besonders schwierigen Situationen hilft die emprterhetorische Frage: Wo kmen wir denn sonst hin!"

    Der Kopf Friedrich Mehnerts rollte in den Sand... Strafe muss sein.Der arbeitslose Kriegsinvalide Adam Kazmierziak vegetiert im

    Arbeitshaus... Wo kmen wir denn sonst hin! In deutschenGefngnissen sitzen jahraus jahrein, Tag fr Tagfnfundvierzigtausend Menschen, die Bevlkerung einer grerenMittelstadt . . . Strafe muss sein.

    Die Ehefrau Ebersberger wurde vom Volksgericht Regensburg zumTode verurteilt, zu lebenslnglichem Zuchthaus begnadigt und imWiederaufnahmeverfahren wegen erwiesener Unschuldfreigesprochen. Der Maurer Leister in Eisenach, der Hilfsgendarm

    Dujardin in Insterburg, Frau Anna Reinke in Greifswald, derMechaniker Goetz in Augsburg, der Arbeiter Jakubowski in

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    Neustrelitz. In sechs Jahren wurden von deutschen Gerichten sechsUnschuldige zum Tode verurteilt. Fnfmal lie sich der kleineSchaden noch reparieren, doch Jakubowski ist tot ... Kunstfehlerkommen berall vor." Dickmann wei, was er tut. Er wendet dasGesetz an und hat nicht danach zu fragen, ob es gut sei oder schlecht.Hauptsache, dass man ein anstndiger Mensch ist...

    Im Badezimmer rauscht Wasser. Frau Landgerichtsrat Dickmannrstet sich zum Schlafengehen. Dickmann steht im Wohnzimmer unddenkt an andere Frauen, an Lenchen Flter, an Genia, an Frau vonNorden. Dann reckt er sich in den Hften. Weg damit! Das wareneinfach Schweinereien! Da drben schlafen seine beiden Kinder. Die

    Ehe ist kein Vergngen, sie ist eine Pflicht, die ein deutscher Mann zuerfllen hat, ernst und entschlossen. Hoffentlich kommt in dieserNacht der seltsame Traum nicht wieder, vor dem Dickmann Angst hat.Es ist ein ganz merkwrdiger Traum, der nie zu Ende getrumt wird,der keine Lsung bringt und nicht in einer immerhin trstlichenKatastrophe endet: Dickmann geht allein ber ein weites Feld. Sodicht ist der Nebel, dass er nicht drei Schritte weit sehen kann. Unterden Fen knistert es geheimnisvoll, als sei das weite Feld die

    ungeheure Flche eines zugefrorenen Sees. Dickmann fhlt den kaltenAngstschwei auf Rcken und Stirn und zugleich den Zwang, lustigzu sein, unbekmmert, und sich keine Gedanken darber zu machen,wo dieser Weg enden wird, und ob er berhaupt je ein Ende hat. DerNebel steht wie eine Wand, der Fu schleift schwer auf unheimlichemGrund, und der Wanderer geht und geht... Dann wacht Dickmann auf,erinnert sich mhselig an den wsten Traum und friert in dem heienGefhl unmittelbar drohender Gefahr. Hoffentlich bleibt er in dieserNacht von dem Traum verschont.

    In dieser Nacht, da fnfundvierzigtausend Menschen in deutschenGefngnissen sitzen. Fnfundvierzig tausend. Wie viele sind es, dienicht schlafen knnen? Sie lauschen auf den hallenden Schritt derGefangenenwrter in den endlosen Korridoren. Sie stieren mitbrennenden Augen auf den milchigen Nebel jenseits desZellenfensters, denn die Nacht im Gefngnis ist hell und hart wie derTag. Ihre Gedanken verirren sich auf dem Schachbrett, das die

    Gitterstbe hhnisch aus dem Himmel schneiden. Drei Stbe quer,sieben Stbe hoch.

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    Fnfundvierzig tausend.

    Dickmann wird schon schlafen, er wird ausgezeichnet schlafen wieimmer, wenn er nicht jenen Traum trumt. Schlafen wird er in dieser

    Nacht, wo dreitausend politische Verbrecher in deutschenZuchthusern sitzen. Denen schien das Bestehende nicht wert undwrdig, geschtzt zu werden. Sie glauben an die Zukunft und habenihr zum Durchbruch verhelfen wollen.

    Dreitausend Menschen, vor deren verbrecherischem Willen man dieGesellschaft schtzen muss. Vielleicht knnen in dieser Nacht einpaar hundert Frauen nicht schlafen, weil sie die stumpfen Augen ihrerKinder vor sich sehen, denen der Ernhrer fehlt. Vielleicht sthnen sie

    geqult vor sich hin, weinen einen Mnnernamen.Fnfundvierzigtausend.

    Vielleicht schreit jetzt ein gefangener Mensch auf in irrer Qual...

    Dickmann will schlafen gehen. Dickmann pfeift leise vor sich hin.Dickmann schlft ausgezeichnet.

    Es hat keinen Wert, nachzudenken ber Dinge, an denen doch nichtszu ndern ist.

    RECHT UND GERECHTIGKEIT

    Der Student der Rechte Friedrich Wilhelm Dickmann hat einschwarzes Wachstuchheft vor sich liegen und schreibt mit seinerunausgeschriebenen Handschrift fieberhaft nach, was der Professorauf dem Katheder vortrgt.

    Er braucht sich dabei nicht sehr zu beeilen, denn der Professor hltseine Vorlesung ber Einfache Rechtsbegriffe" fr etwas sehr

    Wichtiges. Er spricht ganz langsam, damit seinen Hrern ja kein Wortentgeht. Mit taktierenden Bewegungen eines gichtgekrmmtenZeigefingers unterstreicht er seine Worte und wiederholt des besserenVerstndnisses wegen diesen oder jenen Satz noch einmal.

    Ein Rechtssatz knpft an einen Tatbestand eine Rechtsfolge an."Dickmann schreibt und findet, der Satz sei klar und verstndlich.Nicht so der Professor, denn ungeklrt sind die Fragen, was denn nunein Tatbestand sei und was eine Rechtsfolge. Der Zeigefinger sticht in

    die Luft: Der Tatbestand besteht in einem Vorgang, der sich aneinem gegebenen Zustand abspielt."

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    Dickmann schreibt, und die Stimme des Professors schwillt an: Ersetzt sich zusammen aus einer Mehrheit von Tatsachen, denTatbestandselementen, Tat-bestands-e-le-men-ten, die teils Vorgnge,teils hingegen Zustnde sind."

    Dickmann schnauft leise. Jetzt hebt der Professor beide Zeigefingerund dmpft seine Stimme zu geheimnisvollem Flstern: Dierechtserheblichen Tatsachen zerfallen in rechtserhebliche Zustnde,Rechtszustnde, und rechtserhebliche Vorgnge, Rechtsvorgnge."Nein, der Professor gibt nicht nach. Noch lange nicht haben seineHrer den Satz verstanden, den er vor fnf Minuten geuert hat.Seine Stimme erhebt sich triumphal. Die ungeheure Schwierigkeit der

    Materie und die Schrfe der eigenen Definitionen begeistern den altenMann: Zu den Rechtszustnden gehren insbesondere dieRechtsverhltnisse, zu den Rechtsvorgngen die Rechtsgeschfte."

    Dickmann schreibt, hoffnungslos und mit qualvoll gefurchter Stirn.Der Professor aber endet milde und glcklich: Die Rechtsfolgebesteht meist in Entstehung, Endigung oder nderung einesRechtsverhltnisses."

    So still ist es im Hrsaal, dass man das Zischeln der Federn und

    Bleistifte auf dem Papier der Kolleghefte hren kann. Hundert jungeMenschen verschlingen automatenhaft die Worte des Professors undglauben sich alsdann im Besitz einer juristischen Offenbarung.Hundert junge Gehirne werden von der Terminologie erfasst, von demunerhrten Genuss, so schwierige und so gewaltige Dinge denken undaussprechen zu drfen wie Rechtsfolge", Tatbestandsmerkmale"oder Rechtsvorgnge". Und hinter dem dicken Nebel fremdartigerBegriffe ist lngst die Einsicht in die einfache Tatsache verschwunden,

    dass ein Gesetz Vorschriften aufstellt, die befolgt werden mssen.Denn nichts anderes hat der Professor ja gesagt. Es bleibt nun alsolediglich noch zu klren, was wir unter Entstehung, Endigung odernderung eines Rechtsverhltnisses zu verstehen haben. RmischEins... Rmisch Zwei... "

    Der Professor redet und redet, aber der Student der

    Rechte Friedrich Wilhelm Dickmann schreibt nicht mehr mit. Er hat

    den Faden lngst verloren. Dickmanns erstes Zusammentreffen mitder Gerechtigkeit endet in trbem Stumpfsinn. Gerechtigkeit? Oder

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    Rechtswissenschaft? Oder Gesetz? Dickmann wei nicht mehr dieUnterschiede, die zwischen diesen Begriffen doch bestehen mssen.Er klammert sich an die Gerechtigkeit, eine groe und heilige Sache.Eine Selbstverstndlichkeit auerdem. Und die Rechtswissenschaft istdazu da, die mannigfaltigen Beziehungen der Menschen untereinanderauf eine gerechte und anstndige Weise zu regeln. Das ist alles. Oder:es sollte alles sein.

    Friedrich Wilhelm Dickmann ist unzufrieden mit seinem Leben. Dasser jetzt in Jena Student ist, htte er sich noch vor einigen Monatennicht trumen lassen. Aber eines Tages kam er aus dem Weltkriegnach Hause wie von einem Sonntagsausflug in den Grunewald. Nichts

    weiter als ein junger Mann von zweiundzwanzig Jahren. OhnePortepee und Kokarde. Ein Leutnant a. D. des DragonerregimentsKaiser. Ein Nichts. Einfach ein junger Mann, der Sohn desLandgerichtsdirektors Dickmann in Berlin. Qulende Wochen,Missmut und stumpfes Hindmmern. Dem Leutnant Dickman ist mitder Revolution mehr zusammengebrochen als eine Staatsform, er hatmehr verloren als einen Krieg. Sein ganzes Leben ist sinnlosgeworden. Man lebt und wei nicht mehr, wozu. Man steht morgens

    auf, trinkt schlechten Kaffee und fhlt nichts auer einem dumpfenund unbestimmbaren Druck im Gehirn. Was nun? Und immer ist da inunendlichen Wiederholungen der Fluch und die nchterneFeststellung, der Rachewunsch und die Sehnsucht: Wenn es nachRecht und Gerechtigkeit ginge... "

    Wenn es nach Recht und Gerechtigkeit ginge, dann ritte der LeutnantDickmann jetzt an der Spitze des zweiten Zugs dritter EskadronDragonerregiments Kaiser, das Eisen des Pallaschs schlge klappend

    an die Steigbgel, schwarz-weie Fhnchen flatterten von denLanzenspitzen, und vorn an der Tete des Regiments spielteschmetternde Musik den Finnlndischen Reitermarsch. Wenn es nachRecht und Gerechtigkeit ginge, dann sen die Novemberverbrecherjetzt nicht im Kniglichen Schloss und zerfetzten die seidenen Sesselmit ihren plumpen Messern, an denen noch der Speck vom Frhstckklebt. Nein, sie stnden, armselige, kleine Schacher, vor demRichtertisch des Landgerichtsdirektors Dickmann und brchen

    zusammen unter seiner strafenden und zrnenden Stimme.Gerechtigkeit!

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    Es ist so klar und einfach: was jetzt geschieht, ist bitteres, blutigesUnrecht, die strahlende Vergangenheit war das goldene Zeitalter derGerechtigkeit. Eines Tages ist dann der Leutnant Friedrich WilhelmDickmann nach Jena gefahren und hat sich in der Universitt alsStudierender der Rechtswissenschaft immatrikulieren lassen. Er willRichter werden, will helfen, die Beziehungen der Menschenuntereinander auf eine anstndige und gerechte Weise zu regeln.Dickmann steht in der Universittsbibliothek und hat ein dickes Buchin der Hand, in dem er misstrauisch herumblttert. Das BrgerlicheGesetzbuch. Das ist also die Summe der Rechtsnormen, die in derdeutschen Republik das Leben der Menschen regeln sollen. 2385Paragraphen. Zweitausenddreihundertfnfundachtzig! Allgemeiner

    Teil, Recht der Schuldverhltnisse, Sachenrecht, Familienrecht,Erbrecht...

    Kleinlaut klappt Dickmann das dicke Buch zu.

    Dann schweift sein Blick ber die Titel auf den Buchrcken, die zuTausenden in den Regalen stehen. Sein Kopf wird hei. Mein Gott,was sind die zweitausenddreihundertfufundachtzig Paragraphen desBrgerlichen Gesetzbuches gegenber diesem Dschungel von

    Verordnungen, von Gesetzbchern, Einfhrungsgesetzen,Kommentaren!

    Dickmann liest erschttert: Strafgesetzbuch, Strafprozessordnung,Zivilprozessordnung, Gesetz ber Angelegenheiten der FreiwilligenGerichtsbarkeit, Gerichtsverfassungsgesetz, Gerichtskostengesetz,Grundbuchordnung, Konkursordnung, Handelsgesetzbuch,Brsengesetz, Bankgesetz...

    Wie kompliziert doch die Beziehungen der Menschen zueinander sind!

    Und zu jedem einzelnen Gesetzbuch gibt es Kommentare. Dutzendevon Kommentaren. Dicke Bcher, die den Umfang des erlutertenGesetzes um ein Vielfaches bertreffen. Es gibt die unbersehbareMenge der ver-waltngsrechtlichen Verordnungen und derSteuergesetze, die Gewerbeordnung, das Haftpflichtgesetz, Ma-undGewichtsordnung, Kraftverkehrsgesetz. Dickmanns Augen schweifenweiter: Gesetz ber den Absatz von Kalisalzen, Rechtsanwaltsordnung,

    Geschftsaufsicht zur Abwendung des Konkursverfahrens,Kaufmannsgerichtsgesetz, Gewerbegerichtsgesetz ... Da steht noch ein

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    schmaler Band. Dickmann nimmt ihn aus dem Regal: Hauptmngelund Gewhrfristen beim Viehhandel (Viehmngelordnung)"... Er stelltden Band resigniert beiseite und seufzt. Wer soll sich in diesemWirrwarr zurechtfinden I Und da und da: meterlange Reihen vongleicheingebundenen Bchern: Entscheidungen hchster Gerichte inStrafsachen, in Zivilsachen. Hundert Bnde Entscheidungen desReichsgerichts! Und das alles muss man kennen, denn auch diehchstrichterlichen Entscheidungen haben eine Art vonGesetzescharakter. Dickmann schlgt einen Band auf:Reichsgerichtsentscheidungen in Strafsachen. Er liest diefettgedruckten Titel, die anzeigen, welche schwierige und prinzipiellwichtige Rechtsfrage in dem darunter abgedruckten Urteil endgltig

    und fr alle Zeiten geklrt worden ist: Kann im Falle fraudulserVermgensverschiebung dem Erwerber eine Zwangsvollstreckung ausdem Anfechtungsanspruch des verletzten Glubigers bereits drohen,bevor dessen Forderung fllig, ein vollstreckbarer Schuldtitel ber sieerwirkt oder die Anfechtung erklrt worden ist?"

    Was mag das heien? Oder dies hier: Begrndet dieviehseuchenpolizeiliche Anordnung, dass Pferde an bestimmten

    Grenzeingangsstellen zur Untersuchung zu stellen sind, eineEinfuhrbeschrnkung oder ein Einfuhrverbot?"

    Dickmann sieht sich scheu um, ob ihn vielleicht jemand bei seinerLektre beobachtet. Dann stellt er den Band beiseite und verlsstschnell das Bibliotheksgebude. Ein tiefes Misstrauen gegen dieGerechtigkeit erfllt ihn. Jeder Mensch wei doch genau, was gerechtund billig ist, warum dann diese Unzahl von Gesetzen? An jenemTage, da er sich dazu entschloss, Rechtswissenschaft zu studieren und

    Richter zu werden, sah alles viel einfacher und selbstverstndlicheraus. Dickmann wei es noch wie heute. Sein Vater erhielt den Besuchseines Landgerichtsprsidenten, weil er nach der Revolution nichtwieder ins Gericht gegangen war. Ich diene diesem Staat vonVerbrechern nicht!" hatte er immer und immer wieder gesagt. Undnun hrt der junge Dickmann aus dem Nebenzimmer die milde undberzeugende Stimme des Prsidenten: Lieber Herr Kollege! DasVaterland braucht in dieser schweren Zeit jeden einzelnen Mann. Sie

    wollen mich doch nicht meines treuesten und bewhrtestenMitarbeiters berauben? Dass unser Vaterland jetzt von Verbrechern

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    regiert wird, die hinter Schloss und Riegel gehrten, wenn es nachRecht und Gerechtigkeit ginge, lassen wir das. Es werden wiederandere Zeiten kommen. Das Reich wird einst zu alter Gre undSchnheit erstehen... h, sich erheben wie ein Phnix aus der Asche.Dann wird man Rechenschaft verlangen. Und Sie wollen murrend undunttig abseits stehen?" Man hrt immer nur die sanfte, lige Stimmedes Prsidenten, die manchmal zu energischer und herzlicher Wrmeanschwillt. Der Landgerichtsdirektor schweigt. Und dann denken Siebitte auch an Eines, verehrter Herr Kollege: wir, wir preuischenRichter, sind jetzt dazu berufen, gewissermaen den ruhenden Pol inder Erscheinungen Flucht zu bilden. Bedenken Sie, ich habe schonwieder die ersten Termine in Strafsachen ansetzen knnen! Die

    Herren Ihrer Kammer warten auf Sie. Alles ist bereit. Recht mussdoch Recht bleiben, Herr Kollege, und wir sind seine Hter. DasVaterland wird es uns noch einmal danken, was wir in dieserschwersten Zeit fr die sittliche Gesundung unseres armen, verirrtenVolkes getan haben. Wir wollen und mssen Dmme bauen gegen dieSchlammflut des Unglaubens und der Ungerechtigkeit. Wir tragenauf unseren Schultern die letzten Sttzen des alten Reichs. Gott derHerr mge uns Kraft geben, dass wir nicht unter dieser Last

    zusammenbrechen. Es ist eines jeden Gewissenspflicht, mitzuarbeitenan der herrlichen Aufgabe, dass der alte Spruch wieder Wahrheitwerde: Ein Gott, ein Kaiser und ein Reich, Ein deutsches Recht, fralle gleich!"

    Landgerichtsdirektor Dickmann steht wie ein Baum. Seine Augenfllen sich mit Trnen. Er streckt dem

    Prsidenten die Hand hin und sagt stark und freudig: Herr Prsident,

    ich komme!"Der junge Dickmann frstelt vor Ergriffenheit. Aus dem unterenStockwerk tnt Klavierspiel. Die vierzehnjhrige Tochter desObersten von Krause bt ein vaterlndisches Lied. Sie spielt schlechtund laut. Aber Dickmann drhnt die Melodie wie Donner des Gerichtsin den Ohren: Ich bin ein Preue, kennt ihr meine Farben?"

    Kurz darauf steht er vor seinem Vater: Wenn du nichts dagegen hast,mchte ich Jura studieren." Landgerichtsdirektor Dickmann erhebtsich, legt seinem Sohn schwer die Hand auf die Schulter und sagt

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    ergriffen: Gott befohlen, mein Sohn." Ja, so ist Dickmann zu demEntschluss gekommen, Rechtswissenschaft zu studieren. So einfachwar das alles noch vor wenigen Wochen... Vielleicht muss man sichan die Gerechtigkeit erst gewhnen? Vielleicht muss man trichte undkindische Vorstellungen in sich ersticken, um wirklich zu wissen, wasRecht und Gerechtigkeit ist?

    Friedrich Wilhelm Dickmann ist ein grndlicher Mensch. Das liegtihm im Blut. Er kann sich nicht einfach ber alle diese Dingehinwegsetzen. Pandekten, Digesten, Novellen, die ganze RmischeRechtsgeschichte, der ungeheure Wissensstoff, der tglich auf ihneinstrmt, und den er in sich aufnehmen soll, all das verwirrt ihn.

    Er findet sich nicht mehr zurecht. Gerechtigkeit?Manchmal muss der junge Student lcheln, wenn er etwa daran denkt,dass er sich als Kind unter der Gerechtigkeit immer einenhochgewachsenen lteren Herrn mit kurz gehaltenem Vollbartvorgestellt hat, der jeden Sonntag in die Kirche geht und amSedanstag und zu Kaisers Geburtstag den Frack anzieht, unter dessenRevers die geliebten Orden klirren: Landgerichtsdirektor Dickmann...

    Im brigen aber ist Dickmann Angehriger des Corps Markomannia

    Jena. Das gehrt sich so. Das Altherrenband eines deutschen Corps istin Deutschland immer noch die beste Garantie fr eine reibungsloseKarriere gewesen. Warum sollte es in der Republik anders sein?Nchstens wird Dickmann seine erste Mensur fechten. Das ist jetztwichtiger als alles andere .. Im Schwarzen Br" in Lobeda istHochbetrieb. Im groen Tanzsaal hat man ein groes Stck grauerTeerpappe ausgebreitet, Sgemehl, zwei Sthle. Ein scharferJodgeruch mischt sich mit dem Qualm der Zigaretten und den

    Ausdnstungen unausgeschlafener Menschen: die Corps von Jenahaben Mensurtag. Es liegt etwas Besonderes in der Luft. Diekorrekten, kalten Gesichter der Corpsburschen verbergen nurunvollkommen eine gewisse Erregung. Die Fchse diskutieren eifrigerals sonst. Ein Westfale und ein Thringer haben sich in betrunkenemZustand des Nachts auf dem Marktplatz geprgelt. Nun wollen sie dieSchmach der ttlichen Beleidigung" mit Blut shnen: eine schwereSbelmensur.

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    Die beiden Paukanten erscheinen. Nackt bis zum Brustbein, Bindenum Hals und Handgelenk, die Fechtbrille vor den Augen, einkreisrundes dickes Leder auf dem Herzen, um tdliche Sbelhiebenach Mglichkeit zu verhindern.

    Sie stehen sich gegenber. Ein Sekundant lftet die Drahtmaske undschnarrt vorschriftsmig seinen Spruch: Herr Unparteiischer, wirbitten um Silentium fr die Austragung einer schweren Partie Sbelauf die Dauer von fnfzehn Minuten, gegebenenfalls bis zur Abfuhr,zwischen Herrn von Schnurbein und Herrn Borgmeyer."

    Der junge Unparteiische seine Augen sind klein vor Mdigkeit,und er hat augenscheinlich Mhe, sich auf den Beinen zu halten

    hebt kaum den Kopf: Bevor ich die Partie freigebe, mache ich dieHerren Paukanten darauf aufmerksam, dass sie im Begriff stehen, eineim Sinne des Strafgesetzbuchs strafbare Handlung zu begehen. Ichfordere sie daher auf, sich zu vershnen." Ohne Pause weiter: Ichkonstatiere, dass mein ernst gemeinter Vershnungsversuchgescheitert ist und gebe die Partie frei."

    Dickmann hrt ehrfurchtsvoll die durch jahrzehntelanges Herkommengeheiligten Formeln. Ihre Bedeutung versteht er nicht. Er wird

    nachher seinen Leibburschen danach fragen...Dumpfe Schlge klatschen auf die Bandagen, hellere auf den bloenKrper. Geklirr, Kommandorufe, die Sekundanten fallen ein.

    Herr Unparteiischer, wurde drben der dritte Hieb ausgelassen?"Kann ich nicht entscheiden." Geklirr, Kommandos. HerrUnparteiischer, drben vor los?" Jawohl." Sehr hflich, wie umEntschuldigung bittend: Ich bitte, das zu monieren." Feierlich wie die

    Zelebrierung einer uralten Kulthandlung rollt die Mensur ab.Zwischenrufe der Sekundanten. Knappe Entscheidungen desUnparteiischen. Der Paukarzt tupft mit einem Wattebausch aufblutenden Wunden herum. Blut sickert ber die Binden, frbt das helleFleisch der bloen Brust rot, sammelt sich in den Falten desBauchschurzes...

    Herr Unparteiischer, wir erklren die Abfuhr!" Herrn Borgmeyer hates erwischt; ein feiner roter Strich verbindet sein linkes Schlsselbein

    mit der rechten Brustwarze: Bruststreicher. Die Wundrnder klappenauf einmal breit auseinander. Stoweise rinnt das Blut.

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    Silentium! Herr Borgmeyer erklrt die Abfuhr. Es wurden siebenMinuten gepaukt. Silentium ex! Mensur ex!"

    Stimmengschwirr. Borgmeyer verliert bedenklich viel Blut. Aus dem

    Flickzimmer dringt sein verhaltenes Sthnen. Mit zwanzigNadelstichen nht der Paukarzt die Wunde zu, ermuntert seinenPatienten: Na wat denn! Hast tadellos gestanden! Nu mach mankeine Geschichten. Is ja alles in Ordnung. Kannst spter mal mitdeinem Schmiss vor deiner Frau paradieren. WunderbarerEhebettrenommierer, dieser Bruststreicher ... "

    Dickmann geht mit seinen Korpsbrdern von Wittig und Franke nachWinzerla zur Haltestelle der Straenbahn. Von Wittig verbreitet sich

    sachgem ber die Mensur.In Dickmanns Gehirn hat sich eine Frage verfangen, die er loswerdenmuss: Du, was ist das eigentlich mit der Strafbarkeit derSbelmensur?" fragt er verlegen. Wittig fhlt sich juristisch angeregt:Das ist eine ziemlich bldsinnige Sache. Paragraph 202Strafgesetzbuch. Zweikampf mit tdlichen Waffen. Festung bis zuzwei Jahren. Wenn sowas zur Anzeige kommt, werden die Paukantenunbedingt bestraft. Der Unparteiische auch. Aber wenn er nachweisen

    kann, dass er sich ernsthaft um die Verhinderung des Zweikampfsbemht hat, bleibt er straflos."

    Darum also die formelhaften Redewendungen, die Dickmann vorhinerstaunt haben: ... ich konstatiere, dass mein ernsthaft gemeinterVershnungsversuch gescheitert ist... "

    Kommt denn sowas berhaupt zur Anzeige?" Von Wittig lacht:Manchmal schon. Die Staatsanwaltschaft ist ja natrlich verpflichtet,

    jeder Anzeige einer strafbaren Handlung nachzugehen. Aber dieLeute htten ja viel zu tun, wenn sie sich um die Mensuren

    kmmern wollten. Sieh mal, jedes Kind in Jena wei, dass die Corpsim ,Schwarzen Bren' in Lobeda fechten. Die Polizisten sehen jahufig genug zu. Ich habe noch nie erlebt, dass einmal ein Mensurtagvon der Polizei unterbrochen worden ist. Wre ja auch noch schner.So ein Staatsanwalt wre ja fr sein ganzes Leben unmglich."

    Franke und Dickmann hren aufmerksam zu. Auch Franke studiertJura. Er lchelt amsiert: Also eigentlich, wenn man sich's recht

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    berlegt, macht sich jeder Staatsanwalt eines Amtsverbrechensschuldig, wenn er von seiner Kenntnis einer bevorstehenden Mensurkeinen Gebrauch macht?"

    Von Wittig lchelt vergngt: Selbstverstndlich! Stell' dir vor, wasdas fr ein Unsinn ist." Dickmann lchelt nicht. Hier muss dochirgendwo ein ganz prinzipieller Unterschied sein, den er nicht versteht.Die Mensur ist eine strafbare Handlung, gut. Das ist zwar bldsinnig,aber es steht im Strafgesetzbuch, und die Gerichtsbehrden haben sichdamit abzufinden. Ein Staatsanwalt, der eine strafbare Handlung nichtverfolgt, macht sich selbst strafbar, und trotzdem? Ein Richter, derselbst Mensuren gefochten hat, soll eine Mensur bestrafen?

    Unmglich. Aber dann msste man das ganze Gesetz abschaffen,sonst gbe es doch zweierlei Recht? Kann man Wittig danach fragen?

    Dickmann ist sehr beunruhigt, darum gibt er seiner Stimme einenforschen, unbekmmerten Klang, wie er Wittig fragt: Sag' mal, wievertrgt sich die Haltung der Gerichte eigentlich mit der allgemeinanerkannten Gleichheit vor dem Gesetz?" Von Wittig und Frankefassen die Frage Gott sei Dank als guten Witz auf, sie lachenherzlich, und Dickmann stimmt laut in dies Gelchter ein.

    Wittig doziert spahaft: Gleichheit vor dem Gesetz? Bldsinn. Dannwrde also Herr Borgmeyer oder Herr von Schnurbein jedemLausejungen gleich zu achten sein, der silberne Lffel stiehlt oderBlutschande treibt, was? Ne, mein Lieber, die Sache ist ganz anders:es gibt Menschen, die sind dem Gesetz Untertan. Das Gesetz ist fr sieda und gegen sie, und das geht in Ordnung. Dann gibt es aber auchMenschen, die wenden das Gesetz an. Die mssen sich natrlich vonden anderen irgendwie unterscheiden, sonst knnten sie am Ende von

    einem Polizisten mit einem Lausejungen verwechselt werden. DasUnterscheidungsmerkmal sind eben die Schmisse. Und ihr tut gutdaran, dass ihr auch bald auf Mensur kommt, damit ihr vor derartigenpeinlichen Verwechslungen geschtzt seid." Alle drei lachen.Dickmann am lautesten... Und wie er dann bald selbst bandagiert undbebrillt, den ungefgen Korbschlger mit den blau-silberschwarzenFarben des Corps in der Hand, auf Mensur steht, da denkt er weder andie Ungleichheit vor dem Gesetz noch an irgend etwas anderes als

    daran, seinem Gegner die scharfe dnne Klinge durchs Gesicht zuziehen. Besinnungslos und doch sauber und korrekt schlgt er die

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    Hiebe, die man ihm auf dem Paukboden beigebracht hat: Terz, Quart,Hochterz, Tiefquart. Fhlt manchmal flache Schlge dumpf auf seineBakken klatschen, warmes weiches Rieseln und wacht erst auf, wie erden Unparteiischen sagen hrt: Es wurde ausgepaukt. Mensur ex,Silentium ex!" Seine ersten Schmisse fhrt er stolz spazieren. DenSarkasmus Wittigs hat er lngst vergessen. Dickmann istzweiundzwanzig Jahre alt, Corpsstudent in Jena, und das Leben istschn...

    In dieser Zeit lernt Dickmann Lenchen Flter kennen, und damiterfllt sich eine Schuld, die das Leben an ihn hat. Dumpfe Tage,rotwirbelnde Nchte, eine se Mdigkeit in den Gliedern und im

    Kopf nichts als warme und zrtliche Gedanken an ein kleines, sehrzierliches Mdchen mit rotblonden Haaren und einer Nase, die sichganz wenig aufwrts biegt. Friedrich Wilhelm Dickmann ist glcklich.Manchmal bedauert er sich nachtrglich, dass er diesesunwahrscheinliche Ma von Glckseligkeit nicht schon frhererfahren hat: die harmlose und lasterhafte Liebe eines kleinenBrgermdchens von achtzehn Jahren. Dickmann wei nicht viel vonFrauen. Und das Wenige, was er von ihnen erfahren hat, war eher Leid

    als Lust. Einmal sein Regiment war gerade von Russland nachFrankreich gekommen , da ging der Leutnant Dickmann auf derRckreise vom Urlaub durch die Straen Klns. Das kalte Grauen saihm im Rcken, und sein Blick war stier und brennend auf dieKstlichkeiten des Lebens gerichtet, fra sich ein in die Gestalten vonFrauen und Mdchen, klammerte sich an jedes gtige Gesicht. Er htteweinen mgen vor lauter Verlassenheit und Todesangst. Ja, damalsgeschah es. Sommer 1916. Eine schlanke Frau, vornehm, zrtlich.Wein im Domhotel. Fiebernder Gang durch abendliche Straen, eineschne Wohnung, ein Bett. Damals geschah das Entsetzliche: dass dieFrau pltzlich nach unendlichen Umarmungen aufschrie, ihn aus irrenAugen anstierte, schluchzte, brllte, ihn anfiel wie ein wildes Tier.Und dieser Name, der sich fluchend und bebend von ihren zerbissenenLippen rang, war nicht derjenige Friedrich Wilhelm Dickmanns:Lothar! Lothar! Komm wieder! Ah du!... "

    Eine Kriegerwitwe. Lothar war schon lange nichts mehr als ein

    feuchter Fleck im dunklen Humusboden Nordfrankreichs. Und wie

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    von Furien gepeitscht floh der Leutnant Dickmann aus dem Hause,durch die

    Straen, hinter ihm der wrgende Schatten des Toten und vor ihm die

    graue Nacht und die kalte Angst. Ja, das war das Schlimmste.Schlimmer als jene Nacht im Offizierspuff von Valenciennes. DasDragonerregiment Kaiser in Ruhe. Sekt, slich duftendesWeiberfleisch. Die Offiziere betrunken. Gekreisch, Klavierspiel, einemagere Frau, die ihn mit dnnen, gierigen Armen umfngt.Rittmeister Baron Ralstow mit der Ziehharmonika neben dem Bett:Wir winden dir den Jungfernkranz." Gelchter, Zoten, bleiernerSchlaf, endloses Erbrechen. Vier Wochen Lazarettbehandlung:

    Gonorrhoe. Das schleimige Grinsen des Oberstleutnants, bei dem sichDickmann aus dem Lazarett zurckmeldete... Aber der Schrei derKriegerwitwe war schlimmer.

    Und nun ist Friedrich Wilhelm Dickmann wunschlos glcklich.Lenchen Flter, ein kleines Brgermdchen! Sie spricht nicht richtigdeutsch. Ihre Fe sind nicht so ganz sauber. Der Vater istWerkstattschreiber in den Zei-Werken.

    Er hat sie auf dem Tanzboden in Lobeda kennen gelernt. Es gibt hier

    anscheinend keine sozialen Unterschiede: Studenten, Arbeiter,Landwirte aus der Umgebung. Arbeiterinnen, Bardamen, kleineAngestellte. Der Saal ist gedrngt voll. Neben dem Corpsstudentensitzt der Zeiarbeiter. Der eine hat einen Schmiss, der andere nicht.Das ist der ganze Unterschied zwischen ihnen. Dieselbe Art, wie siedie schweiige Hand am Rcken ihrer Tnzerin hinuntergleiten lassen.Die gleichen Tanzschritte, das gleiche, halb freche, halb verlegeneGrinsen, mit dem sie trichte Worte auf kleine Mdchen einreden, die

    sich bedingungslos anschmiegen an die pralle Kraft der Schultern undSchenkel. Sie wollen ja alle dasselbe.

    Dickmann verabschiedet sich von seinen Corpsbrdern.

    Weise ruft ihm eine Zote zu. Graf Westernkirch tanzt mit einerunwahrscheinlich dicken Bauerntochter. Vielleicht erinnert sie ihn andie Mgde auf dem vterlichen Gut.

    Dickmann geht mit Lenchen nach der Stadt zurck. Arm in Arm. Er

    erzhlt ihr Witze, ihre Schulter drngt sich unter seinen Arm. IhrLachen klingt so kindlich. Sie laufen durch Wiesen, singen blde

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    Schlagerlieder: Einen neuen Kinderwagen kauft ich mir, alles wegendir, alles wegen dir... "

    Beim Abschied ksst er sie und fhlt nichts von dem Schauer, der

    ber ihre Glieder luft. Er geht pfeifend und summend nach Hause.Am nchsten Sonntag ist wieder Tanz in Lobeda...

    Wieder dieser nchtliche Weg an der blinkenden Saale. Dickmann istsehr still. Er atmet gepresst. Bist du eigentlich krank?" fragt Lenchenmit kindlicher Stimme. Nein, wieso?"

    Du brauchst es mir ja nicht zu sagen." Wie kommst du denndarauf?" Lenchen schlgt nicht die Augen nieder. Sie verzieht nur einwenig den Mund, sonst ist sie ruhig wie nur je: Weil du gar nicht mit

    mir schlafen willst." Dickmann nimmt sie. Ein Bahndamm ist dairgendwo. Fnf Minuten vor der Stadt. Man sieht schon dieGaslaternen. Der Leutnant a. D. und Student der Rechte Dickmannvom Corps Markomannia Jena. An der Bschung eines Bahndamms.Wie ein Landstreicher. Dickmann ist von Lenchen berauscht. Er istsehr zrtlich, sehr weich. Er mchte seinen Kopf an ihre Brust legen,die Augen schlieen...

    Das geht natrlich nicht. Zusammennehmen! Donnerwetter, einkleines Mdchen, achtzehn Jahre, spricht nicht richtig Deutsch, Dickmann bringt sie nach

    Hause. Lenchen sagt kein Wort. Manchmal sieht sie ihn scheu vonunten an oder streichelt schchtern seine Hand.

    Dickmann wischt sich mit dem Handrcken die Lippen und strafftseine Armmuskeln. Er ist sehr gro, sehr stark. Er ist sehr freundlich,und es ist sehr nett von ihm, wenn er sich jetzt zu ihr niederbeugt, sie

    flchtig unter einer Straenlaterne ksst, Kleinchen" zu ihr sagt undMausi".

    Tage folgen, an denen Dickmann strahlender Laune ist.Verschwiegene Abende auf seiner Bude. Abendessen zu zweit. DerRucheraal liegt im Pergamentpapier. Sie trinken Likr ausWasserglsern. Diese langen Nchte! Lenchen hngt mitbewundernden Augen an seinen Lippen. Ist mit allem zufrieden.Plttet ihm seine Krawatten. Manchmal, wenn er Kneipe hat, schleichtsie sich an das Markomannenhaus heran, und am nchsten Tag erzhlt

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    sie ihm, was fr Lieder sie da gesungen haben, und wie deutlich manseine Stimme herausgehrt hat.

    Dickmann ist oft sehr gerhrt ber Lenchen. Er mchte eigentlich

    noch viel netter zu ihr sein, ganz anders. Aber jedes Mal, wenn erfhlt, wie in seinem Inneren eine verborgene Tr aufzubrechen droht,verschliet sich sein Mund, und seine Liebkosungen werdenfeindselig: Haltung bewahren! Zwischen einem Dickmann und derTochter eines Schreibers gibt es doch immerhin eine Distanz, die auchim Bett gewahrt bleiben muss. Nach einer durchwhlten Nacht rgertsich Dickmann oft: Kraftverschwendung, Zeitvergeudung. Es gibtsoviel andere Dinge, an die man jetzt denken muss: drben in Weimar

    dieser schndliche Kuhhandel um die Reichsverfassung. DieNovemberverbrecher, die alten Reichsfarben, es ist eine schwereZeit. Auf der Kneipe singen sie jetzt ein neues Lied. Nach der Melodie:Stimmt an mit hellem, hohen Klang". Irgend jemand hat es ausBerlin mitgebracht. Sie singen es zornig bewegt, einmal, viermal,obgleich das Lied nur einen Vers hat: Von unsrer Fahne schwarz-wei-rot, da nahmen sie uns das Weie und wischten sich den Arschdamit. Jetzt haben wir schwarz-rot-scheie." Ja, es ist wirklich nicht

    schn in Deutschland. Und da lsst man sich von einem kleinen Mdelunterkriegen. Dickmann rgert sich ber das, was er seine Schwchenennt: Lenchen braucht ihn nur aus ihren feuchten blauen Augen sovon unten herauf anzusehen, und alle seine guten Vorstze gehen zumTeufel. Nur, dass Lenchen so garkeinen Takt hat: diese widerwrtigenphysiologischen Schweinereien! Dass sie nicht merkt, wennDickmann keine Lust auf sie hat. Dass sie immer da ist. Demtig,freundlich. Wie ein kleines Tier, das man anlockt und streichelt.Langweilige Geschichte!

    Dickmann ghnt: So nun geh man wieder, Kleinchen. Morgen hab'ich keine Zeit. Corpsbesuch. Der Alte Herr Detleffsen ist da. Kannst jabermorgen mal vor der Haustr pfeifen. N'Abend... "

    Man braucht sich nicht anzustrengen. Lenchen kommt ja doch wieder,pfeift jeden Abend vor Dickmanns Haus mit komisch gespitztemMunde den Pfiff des Corps und lacht ber das ganze Gesicht, wennDickmann zu Hause ist und sie heraufwinkt.

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    Vier Wochen nach jenem wilden Abend an der Bschung desBahndamms erschrickt Dickmann pltzlich aufrichtig: er hat andiesem Abend nichts vor. Eigentlich hat er sich mit Lenchenverabredet, aber er ist faul und mde, sitzt auf der Veranda desCorpshauses und sieht gedankenlos und wohlig in den sinkendenAbend. Dann spielt er mit Franke und Westernkirch eine Partie Billard.

    Das geschieht jetzt fter. Dickmann merkt es gar nicht. Immerhufiger kommt jetzt etwas dazwischen, und immer fter pfeiftLenchen vergebens vor seinem Hause. Dickmann hat sie herzlich gern,ganz gewiss! Aber er hat doch schlielich auch noch andere Sachen zutun. Nchstens wird er seine Burschenpartie fechten. Nach der

    Fechtstunde ist er immer sehr mde. Und auerdem hat er jetzteigentlich erst entdeckt, was fr reizende Leute seine Confchse sind.Er spielt mit ihnen Karten, reitet ins Saaletal, spielt vormittags Klavierim Corpshaus. Es ist wirklich nicht seine Schuld, wenn er immerseltener an Lenchen denkt und sie sich immer seltener ins Bettwnscht.

    Das Sommersemester nhert sich seinem Ende. Dickmann wei schon,dass er Mittwoch ber acht Tage nach Hause in die Ferien fahren wird.

    An diesem Abend geschieht es zum ersten Mal, dass Lenchen, aufDickmanns Scho sitzend, pltzlich in ein hemmungslosesSchluchzen ausbricht. Dickmann ist peinlich berhrt. Es liegt doch garnichts vor. Warum hat er sich denn das Mdel so! Er wei nicht recht,wie er sich mit einer weinenden Frau zu benehmen hat. Erst klopft erihr den Rcken, wie man einem Pferd den Hals ttschelt, und murmeltgedankenlos die alten Kavalleristensprche, mit denen man aufgeregteTiere beruhigt: er pfeift leise durch die Zhne, sagt Ola", Ts, ts, ts,

    gutes Tierchen!"Aber Lenchen schluchzt und schluchzt. Zwischen zwei jhenTrnenstrmen schluckt sie hoch: Sei nicht bse, aber ich bin sotraurig." Aber Dickmann wird doch bse. Erst versucht er noch, sie zuberuhigen, dann schimpft er: Nun hr' doch schon auf mit demblden Geflenne!" Und wie Lenchen erschrocken zu weinen aufhrt,hlt ihr Dickmann eine sehr ernste und sehr vernnftige Rede:

    Wir wollen doch einmal grundlegend Klarheit schaffen zwischen uns,nicht wahr? Ich bin fr reinliche Verhltnisse, Kleinchen. Du bist ein

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    guter Kerl, und ich habe dich sehr gern. Ganz bestimmt, hab' ich. Aberdu musst doch verstehen! Das Corps, mein Studium! Es kann nichtimmer so weiter gehen, dass wir Tag fr Tag zusammen sind. Wirmssen ein bisschen vernnftig sein. Das verstehst du doch, nichtwahr? Na also, bist ja mein gutes Mausi."

    Lenchen lchelt unter Trnen. Und wie sie in Dickmanns Armeinschlft, spricht sie leise im Schlaf, und Dickmann versteht ... jaauch ganz vernnftig sein ... "

    Dann sehen sie sich ein paar Tage lang nicht. Dickmann hat noch hinund wieder den bekannten Pfiff unter seinem Fenster gehrt, aber sichnicht gemeldet. Drei Tage vor seiner Abreise in die Ferien fngt ihn

    Lenchen spt abends auf dem Weg vom Corpshaus zu seinerWohnung ab. Dickmann sieht auch im unbestimmten Licht derStraenlaternen, wie blass sie ist. Ich muss dir etwas sagen", flstertsie und weint. Dickmann hrt ihr zu und pfeift leise durch die Zhne.Verflucht noch mal!" schimpft er und fhrt sich nervs durch dieHaare. Das ist ja wei Gott eine schne berraschung, ja. Einereizende berraschung, wie gesagt. Verflucht noch mal."

    Lenchen sieht ihn flehend an: Was soll ich nun blo machen?"

    Dickmann wei es auch nicht. Aber er ist ein anstndiger Mensch.Schlielich auch seine Schuld. Bitte, nicht ausschlielich! Aberimmerhin ist er mitschuldig an diesem Malheur. Da muss natrlichetwas geschehen. Er wird sich der Sache annehmen. Wozu hat maneinen Corpsbruder, der Mediziner im neunten Semester ist. Schtzewird das schon machen. Verdammt peinlich, ihn um so prekreSachen zu bitten... Dickmann streicht Lenchen beruhigend ber dasHaar: Lass man gut sein, das werden wir schon kriegen. Komm manmorgen Abend zu mir."

    Dickmann schlft die Nacht nicht gut. Er wiederholt sich immerwieder die Rede, mit der er morgen seinen Corpsbruder Schtzedavon berzeugen wird, dass es einfach seine Pflicht ist, ihm zuhelfen... Wie er dann vor Schtze steht, ist er doch viel verlegener, alser gedacht hat: Du hr' mal, ich habe da eine sehr ... also eine Bittean dich oder vielmehr eine Frage."

    Schtze schweigt.

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    Also ich habe da Pech gehabt. Oder vielmehr ein kleines Mdel vonmir... "

    Schtze fuchtelt mit beiden Hnden in der Luft herum: Mensch, hr'

    blo auf! Immer der alte Dreck. Lass mich blo damit zufrieden!"Dickmann schweigt konsterniert. Schtze fragt begtigend: Was is'ndas fr ne Toppsau, was?" Erlaube mal... "

    Also schn: keine Toppsau. Natrlich ein hochanstndiges Mdchen.Jungfrau und so. Pastorentochter, wie?"

    Ihr Vater ist Angestellter bei Zei," sagt Dickmann kleinlaut.

    Schtze macht ein Gesicht wie ein weiser Priester: Sieh mal, lieber

    Freund, ich bin so immerhin einige sechs Jahre lter als du, du kannstruhig noch etwas von mir lernen. Ich habe mir an solchenWeibergeschichten schon mal verdammt die Finger verbrannt. Haltemich da jetzt ganz raus. Ich wrde natrlich zur Verfgung stehen,wenn, sagen wir mal, durch diesen Unglcksfall irgendeineKatastrophe verhindert werden knnte. Aber du siehst doch wohl einbisschen zu schwarz. Was ist denn nun wirklich schon dabei, wenn soein Mdel ein uneheliches Kind kriegt? Ihr messt da immer mit

    falschen Mastben. Gewiss, wenn es deine Schwester wre, aberso? Kommt doch in Jena alle Tage vor! Passiert garnischt weiter. DerAlte wird dem Mdel ordentlich den Hintern vollhauen, und damit istdie Sache erledigt. Pass mal auf, nach ein, zwei Jahren reien sich dieltesten Tanten der Familie danach, den kleenen Dickmann auf denTopf setzen zu drfen. Ist in diesen Kreisen immer so: erst groesZetergeschrei und nachher ist gar nichts gewesen. Ne, mein Lieber, dukannst billigerweise von mir nicht verlangen, dass ich mir um sowas

    Luse in den Pelz setzen soll."Schtze redet vterlich und vernnftig. Dickmann braucht sichwirklich keine unntigen Gedanken zu machen. Ist das Mdchenvielleicht etwa Jungfrau gewesen, als er sie kennen lernte? Na also!Hat sie denn nicht schon frher Liebschaften mit Studenten gehabt?Ist Dickmann berhaupt der Vater des Kindes? Ein anstndigerMensch ist er: die Beweisfhrung Schtzes scheint ihm etwas zuschlssig, um einwandfrei zu sein. Dickmann hat die Pflicht, Lenchen

    zu helfen. Gewiss, aber recht hat Schtze ja eigentlich. Du lieberGott, ein kleines Brgermdchen, das auf dem Tanzboden in Lobeda

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    verkehrt. Im Grunde durch und durch verdorben. Sie hat sich ihm jadoch selbst an den Hals geworfen. War ja ganz nett, die Kleine. Aberauf die Dauer doch ein bisschen langweilig. Und berhaupt: wohinsoll das fhren...

    Dickmann schweigt. Schtze klopft ihm vterlich auf die Schulter:Also mach' dir man keine Kopfschmerzen. Lass die Kleine ruhig dasKind austragen. Um die Alimente machst du dir ja wohl keine Sorgen,wie? Kommt fr dich hier ja gar nicht in Frage... " Dieses Gesprchbegibt sich kurz vor dem gemeinsamen

    Mittagessen. Letzter Tag vor den Ferien. Von Wittig sagt deshalbbeim Mittagessen schweren Ferienton" an, jeder von den

    wohlerzogenen Corpsstudenten kann sich heute benehmen, wie er will.Man kommt aus dem Lachen nicht heraus. Holtgrave hat eineunnachahmliche Fhigkeit, rollend und drhnend zu rlpsen.Westernkirch greift mit beiden Fusten in die Suppenschssel undfischt sich die Wrstchen heraus. Kramer giet seinem Nebenmannein Glas Bier auf den Teller. Mitten in das Gemse. Dickmann hatber alledem keine Zeit, an Lenchen zu denken. Kaffeetrinken,Schnaps, Likr, Skatspiel, abends Semesterschlukneipe... Gegen

    zwlf Uhr nachts lutet es schchtern an der Tr desMarkomannenhauses. Der Corpsdiener sieht ein kleines, blondesFrulein, das ihn mit entsetzten Augen nach Herrn Dickmann fragt.Aus dem Kneipzimmer drhnt das Hmmern eines Klaviers, Gesang,Gejohle.

    Der Corpsdiener zuckt die Achseln, dann lacht er mitleidig: Lassman, Kleinchen, das hat gar keinen Zweck, dass ich dir den Dickmannrunterrufe. Der Junge liegt schon seit ner guten Stunde in derLeichenkammer. Blau wie eine Radehacke. Geh' man nach Hause,Kindchen. Komm man morgen Abend wieder, ja?" Das Mdchendreht sich langsam um. Der Corpsdiener sieht noch, dass sie vormGartentor ihr Taschentuch vor das Gesicht presst und haltlos schluchzt.Er kratzt sich nachdenklich den Kopf. Kann das Mdel gut verstehen:morgen fangen die Ferien an, der junge Herr fhrt nach Hause, undwer wei, wie es im nchsten Semester aussieht. Na, wird sich schontrsten, die Kleine.

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    Dickmann packt seine Koffer. In zwei Stunden geht der Zug. Er hatheftige Kopfschmerzen. Sorgen hat er auerdem. Er wird den altenHerrn bitten mssen, im nchsten Semester seinen Wechsel zuerhhen. Ganz ausgeschlossen, dass er mit achthundert Mark imMonat auskommen kann.

    Wie der Gepcktrger kommt, seinen Koffer abzuholen, fllt ihmLenchen Flter noch einmal ein. Donnerwetter ja. Freilich, freilich:Schtze hat recht. Was geht ihn das Ganze eigentlich an? Es wre jaimmerhin ganz gut gewesen, wenn Schtze die kleine Operationvorgenommen htte. Aber was nicht ist, ist nicht. Er fhrt mit vonWittig und Franke zusammen nach Berlin. Der Zug setzt sich in

    Bewegung. Dickmann steht gedankenlos am Fenster. Ihm ist, als sheer hinten an der Bahnsteigsperre einen rotblonden Lockenkopf. Diesesrotgeblmte Kleid kommt ihm auch merkwrdig bekannt vor. Unsinn!Dickmann wendet sich rasch in das Abteil zurck: Kommt ihr mit inden Speisewagen?" fragt er seine beiden Corpsbrder. Die Passagieredes D-Zuges Mnchen-Berlin blicken freundlich auf die drei groen,elegant gekleideten jungen Herren, sehen die Schmisse in ihrenGesichtern, die geleerten Bierflaschen auf dem Tisch und lcheln

    nachsichtig, wenn sich an jenem Tisch ein Gelchter nach demanderen erhebt: Gott ja, junge Leute... " Drei Wochen kannDickmann nur in Berlin bleiben. Er muss trotz der Ferien wieder nachJena zurck, denn fr Kriegsteilnehmer werden Zwischensemesterabgehalten. Obwohl Dickmann erst zu Anfang des Jahres seinStudium begonnen hat, geht er nun schon in sein drittes Semester. Inanderthalb Jahren kann er sein Examen machen.

    Er hat in den kurzen drei Wochen in Berlin soviel erlebt, dass er kaum

    an Lenchen Flter denken konnte. Nun ist er in Jena, leiseErinnerungen tauchen auf, werden strker, und einesSonntagabends fhrt er nach Lobeda zum Tanz.

    Er sieht sich in dem gefllten Saal um und wird unruhig: Lenchen istnicht hier. Also entweder liebt sie ihn noch so, dass sie ohne ihn nichtzum Tanz geht. Das she ihr sehr hnlich. Oder, oder die dummeSache ist doch nicht in Ordnung gekommen, wie er es immer gehoffthat.

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    Endlich trifft er im Gewhl der Tanzenden die dicke Frieda, die erfter mit Lenchen zusammen gesehen hat. Gleichgltige Begrung,unter der er eine aufkeimende Angst zu verstecken sucht: Wo istdenn eigentlich Lenchen?"

    Frieda sieht ihn erstaunt an: Das wissen Sie am Ende noch garnicht?"

    Dickmann wird nervs: Nun sagen Sie doch schon... " Lenchen, dieis doch gestorben! Ja. Und das wissen Sie nich? Sagen Sie mall Die isdoch gestorben, nich? An Blutvergiftung, ja. Schon vor vierzehnTagen... " Blutvergiftung, Blutvergiftung, natrlich, man kann anBlutvergiftung sehr leicht sterben. Ganz tckische Sache: man

    schneidet sich da in den Finger, kaum zu sehen, die Hand schwillt an,der Arm. Das geht dann sehr schnell... Lenchen ist an Blutvergiftunggestorben. Schlimm, schlimm. Armes Mdel. Und whrend die Musiklrmend und gellend einen neuen Tanz beginnt, steht Dickmannmitten im Saal und stottert gedankenlos: So so, an Blutvergiftung... "Frieda zieht ihn beiseite. Ihr breites Gesicht glnzt vor Tanzschweiund Geheimnis: Wissen Sie, was is los gewesen? Die is anjebufftgeworden, und da hat sie wohl keinen gefunden, der's ihr weggebracht

    hat, und da hat sie's selbst gemacht. Ja, und denn hat sieBlutvergiftung gekriegt und ist gestorben. In zwei Tagen lebendig undtot..."

    Das Leben ist schwer, das Leben ist sinnlos. Geheimnisse liegen inder warmen Luft. Wie der Mond glnzt.

    Die dunkle Silhouette der Berge, fern die schlafende Stadt. Dickmannschwankt im Gehen. Vielleicht kommt es vom vielen Schnaps. UndLenchen ist tot. An Blutvergiftung gestorben. Und die Nacht hat deinAngesicht, und der Wind, der von Liebe spricht, hat deinunvergessliches Lachen." Von Hermann Hesse ist das. Sehr schn.

    Ausgeschlossen!" sagt Dickmann pltzlich laut. Er ist ganz allein aufden Saalewiesen. Die hohen Pappeln rauschen. Ausgeschlossen!"sagt er noch einmal, und dann bleibt er stehen. Wer hat hiergesprochen? Dickmann ist nicht schuld, ausgeschlossen! Das Lebenist schwer, das Leben ist sinnlos. Muss so ein armes, kleines Mdel

    sterben, ja. Und Dickmann hat nun kein Lenchen mehr. Ganz allein istDickmann, steht in tiefster Nacht einsam zwischen Fluss und Berg

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    und denkt an die tote Geliebte. Rechtet und hadert mit dem finsteren,grausamen Geschick.

    Vielleicht kommt es doch vom Schnaps? "Haltung! Haltung!"

    kommandiert er sich. Nicht schlapp machen! Sich nicht unterkriegenlassen vom Schicksal! Fortiter in modo, suaviter in re! Blau-silber-schwarz. Haltung bewahren! Ein alter Soldat! Corpsstudent!" DerFeldweg ist schmal. Der Fu stolpert ber Feldsteine. Haltung!Haltung! Aber dann ist es auf einmal vorbei: Dickmanns Augenweiten sich vor Entsetzen. Ein Schatten ist da vor ihm: weicheKonturen, der Bahndamm, Lenchen, Blutvergiftung, Tod, Schuld,Schicksal, Dickmann strzt wimmernd an der Bschung nieder.

    Seine Hnde krampfen sich in das drre Gras. Wie arm er ist! Wieschlecht es ihm geht! Lenchen! Lenchen!"

    Aber der Name der Toten ist nichts als eine schtzende Hlle, die sichweich und dicht ber Schuld und Erkenntnis legt. So dicht, dass sieersticken.

    Dickmann erhebt sich bald wieder und trocknet seine Trnen. Undvielleicht war das Weinen nur dazu da, die entschlossene undmnnliche Haltung doppelt gro und heroisch erscheinen zu lassen,

    mit der er jetzt seiner Wohnung zugeht...Einmal nur noch, nach Wochen, taucht Lenchen aus dem Schutt derErinnerung auf: bei einer Kneipe legt Dickmann den Kopf auf denTisch und schluchzt. Von Wittig, der morgen endlich seinAssessorexamen machen will, nimmt sich seiner an:

    Abgesehen von allem anderen: wir wollen sachlich bleiben. Dickmannmuss sich klar darber sein, dass er sich in dem Konflikt der Pflichten,

    in den ihn der kleine Unglcksfall gestrzt hat, vllig richtigbenommen hat. Es gibt da ein Gesetz, das die Abtreibung verbietet,auch die Beihilfe dazu ist strafbar. Dickmann will einmal deutscherRichter werden. Das Gesetz ber alles! Es ist manchmal schwer, dasGesetz zu befolgen, aber die erhabene Gre einer bindendenRechtsvorschrift duldet kein miges Rsonnieren. Jede Schulderfordert ihre Shne. Im Grunde kann Dickmann froh sein, dass allesso gekommen ist. Er htte sich sonst vielleicht sein ganzes Leben mit

    der Erinnerung an einen Rechtsbruch qulen mssen.

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    So redet von Wittig, und Dickmann hrt ihm mit ernstem Gesicht zu.Im ungewissen Nebel von Selbstbedauern und Betrunkenheit erscheinter sich selbst bald als ein schlichter und mnnlicher Mrtyrer derGerechtigkeit.

    Dickmann wird erster Chargierter des Corps Markomannia. Auf derKneipe steht er mit gewinkelten Fen vor dem groen Lehnstuhl desPrsiden, schlgt mit dem Schlger auf den Tisch und achtet peinlichauf die strikte Durchfhrung der geheiligten Trinkvorschriften: Adexercitium salamandri ... eins, zwei, drei."

    Fchse hoch mit einem Ganzen!" Wir haben heute die Ehre, denHerrn Vertreter eines hohen C. C. des Corps Masovia in unserer Mitte

    zu sehen. Wir hoffen und wnschen... " Alter Herr Graf Bork, darfich mir ganz gehorsamst einen Ganzen auf dein Spezielles gestatten?"Danke sehr, ehrt kolossal, sehr zum Wohle, prost!" Wir singenpagina 343 ,0 wonnevolle Jugendzeit'. Silentium fr das Lied!"

    Dickmann kommt in diesem Semester nicht viel in die Universitt.Die Hauptsache ist, dass man sich rechtzeitig bei Semesterbeginn inder Qustur der Universitt einfindet, seine Kollegiengelder bezahltund dafr sorgt, dass die Professoren den Besuch der belegten

    Vorlesungen durch ihr Testat besttigen. Man braucht dazu nichtselbst ins Kolleg zu gehen. Man schickt zweckmig einen jungenFuchs hin, und der freut sich ber die Ehre, dem gefrchteten Ersten"einen Gefallen tun zu drfen.

    Dickmann ist sehr beliebt im Corps. Kein Spielverderber. Macht jedenUnsinn mit, wenn er sich nur mit seiner hohen Stellung als ersterChargierter vertrgt. Das ist im einzelnen nicht so leicht zuentscheiden, denn er trgt ja die Verantwortung nicht nur fr sich undseine Corpsbrder. Nein, auch fr die Generationen alterMarkomannen, fr jene Ministerialdirektoren, Senatsprsidenten,Landrte, Syndici und Rittergutsbesitzer, in deren Herrenzimmer berdem Schreibtisch eine blaue Mtze, das blau-silber-schwarze Bandund zwei gekreuzte Schlger hngen.

    Die Tradition des deutschen Corps lastet auf Dickmanns Schultern,und er trgt diese Last freudig und bewusst. Lenchen Flter?

    Dickmann lchelt ruhig: man darf sich vom Leben nicht unterkriegenlassen. ber solche Dinge muss man hinwegkommen. Mit der

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    Gerechtigkeit ist nicht zu spaen, sie ist heilig und gro. Es istverboten, die Frucht im Mutterleibe zu tten, so steht es im Gesetz,und da hat man nicht zu fragen und zu rsonieren.

    Die Begriffe von Recht und Gerechtigkeit beginnen sich beiDickmann zu klren. Zum mindesten verlieren sie ihr Gewicht.Dickmann hat den jhen Sturz von der Hhe seines Daseins alspreuischer Kavallerieoffizier in die Bedeutungslosigkeit eineseinfachen jungen Mannes aus gutem Hause jetzt berwunden. Er hatgelernt, dass er umgeben und eingeordnet ist in eine Scharernstzunehmender Menschen, auf die es ankommt, und die schlielicheinmal Deutschlands Schicksal bestimmen werden. Er hat gelernt,

    dass er auch noch als Leutnant a. D. eine soziale Gre ist, mit dergerechnet werden muss...

    So findet ihn der Kapp-Putsch am 13. Mrz 1920 auf dem Platz, aufden er gehrt.. Sein Corpsbruder von Schweina kommt aufgeregt insein Zimmer gestrzt: Los! Uniform einpacken! Wir fahren nachErfurt."

    Dort ist das Studentencorps der Marburger Universitt eingetroffen,um Ruhe und Ordnung in Thringen wiederherzustellen. Tausend

    Akademiker, fast alles ehemalige Offiziere. Freilich: Ruhe undOrdnung sind in Thringen gar nicht erschttert worden, aber werfragt danach? Dickmann nicht. Er packt seine Uniform in den Kofferund meldet sich in Erfurt bei dem Kommandeur des Freikorps, stolzund freudig. Denn Dickmann will sein Teil beitragen zur ErrettungDeutschlands von der Herrschaft der Novemberverbrecher. Dickmannmarschiert in Reih und Glied. Links und rechts neben ihm gehendeutsche Mnner, zu allem entschlossen und bereit.

    Prachtvolle Leute sind die Marburger Kommilitonen. Kerle, mit denenman den Teufel aus der Hlle holen kann. Man braucht gar nichts zureden. Es versteht sich alles von selbst. Es gibt keinen Bolschewismus,wo das Studentencorps marschiert. Brausendes Leben! WirbelndesGeschehen. Man kommt gar nicht zur Besinnung. Soldatenleben, ei,das heit lustig sein... " Die Landstrae von Gotha nach Eisenach.Wundervolle Landschaft im ersten Frhlingslicht. Lieder, Lachen. Esgeht nach Gotha, Ordnung schaffen. Kommandant: Fregattenkapitn

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    von Selchow. Kompagniefhrer: Kamerad Goebel, wie DickmannLeutnant a. D. und Student der Rechte.

    Pltzlich huscht der Schatten eines Geheimnisses ber die

    marschierende Kolonne hin. Irgendeine Anzeige: Spartakisten sollenverhaftet werden. Abseits von der Strae, in Bad Thal, erscheinenTruppen. Der Fhrer hat eine Liste in der Hand. Wo er sie her hat, kein Mensch wei es. Das ist auch nicht so wichtig. Die Hauptsachesind die fnfzehn Namen, die auf diesem Blatt Papier verzeichnet sind.Die Namen von fnfzehn Arbeitern, Spartakisten, Rotarmisten. Wassie getan haben sollen, kein Mensch wei es. Aber das ist auchnicht so wichtig. Befehl zur Verhaftung liegt vor: man muss

    gehorchen. Und man gehorcht so gern. Weinende Frauen, schreiendeKinder. Schwere Hand auf die Schulter: Verhaftet!" Da hat man sie.Fnfzehn Arbeiter, Mnner, Jnglinge. Die einen sehen ganzsympathisch aus. Die anderen erkennt man gleich an der schlechtenKleidung, an den dunklen Augen, Gott wei woran noch, alsSpartakisten, rote Hunde. Ab mit ihnen. In die Mitte genommen.Sollen nach Gotha gebracht werden.

    Weinende Frauen und Kinder: Schnauze halten!" Fnfzehn Mann.

    Man hat sie. Die Herren Kommilitonen beschimpfen sie, treten ihnenmit Nagelstiefeln ins Ges: Spartakisten, Verbrecher!

    Es geht alles so rasend schnell. Heute Morgen noch in Erfurt. JetztNachtquartier in einem Dorf: Settelstedt. Die Gefangenen insSpritzenhaus. Befehl des Kapitns von Selchow: ... mache daraufaufmerksam, dass rcksichtslos auf fliehende Gefangene geschossenwird!" Diese Bande da! Fnfzehn Mann. Aufpassen auf dieSchweine!"

    Unruhige Nacht. Posten schreiten klappend durch stille Straen. Inden Quartieren wird getrunken. Man hat Gefangene gemacht. Schade,dass das Standrecht aufgehoben ist. Man muss diese Strolche an dieordentlichen Gerichte abliefern, muss denen die Untersuchungberlassen. Schande so was! Dass man sich mit diesen Burschenrumqulen muss, auch noch aufpassen auf sie. Wie haben es dieSpartakusleute in Berlin gemacht?

    Haben Sie nicht gelesen? Sechzig Schupobeamte in Lichtenbergabgeschlachtet!" Jede Kugel ist zu schade fr diese Leute...

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    Fnfzehn Gefangene im Spritzenhaus. Rotgardisten! Morgennebel.Man friert. Auf sieben Uhr frh ist der Abmarsch befohlen. InRichtung Mechterstedt. Aufpassen auf die Gefangenen!"

    Da ist ein Flstern, ein Getuschel, ein Lcheln. Befehle. Gefangenezur sechsten Kompanie!" Die marschiert ganz am Ende der Kolonne.Fhrer ist Kamerad Goebel. Er hat eben einen Gefangenen in denArsch getreten Man hrt sein Schimpfen und Fluchen bis hierher: IhrLumpen! Totschlagen msste man euch!" Die Landstrae vonEisenach nach Gotha am Morgen des 25. Mrz 1920. ZwischenSettelstedt und Mechterstedt. Dickmann marschiert. Seine rechteHand ist in den Riemen des Karabiners gehakt. Krachen. Eine Salve.

    Schuss! Schuss! Geschrei. Von hinten kommt ein Mann an derKolonne vorbei gelaufen.

    Brllt irgendetwas: Hinten lassen sie die Gefangenen von der Straetreten und erschieen siel" Rotgardisten! Verbrecher!

    Man muss dabei sein. Zwei, fnf, zehn laufen zurck. EineStraenbiegung. Schatten im Nebel. Dickmanns Fu stt an etwasWeiches: ein Krper. Blut bespritzt seinen Schuh. Immer nochSchsse!

    Da steht ein Gefangener, beide Hnde abwehrend nach vorn gestreckt,Handflchen nach auen. Steht ganz allein. Abseits, links der Straefeldgraue Gestalten. Gewehrschlsser schnappen.

    Der Mann auf der Strae! Hoch das Gewehr. Sicherungsflgel herum,Vollkorn! Langsam durch bis zum Druckpunkt, Schuss! Der Mannfllt. Dickmann wacht auf. Gestalten rennen an ihm vorbei. Losweiter! Nicht stehen bleiben! Anschluss nach vorn nehmen!" Kurzer

    Trab, dann die marschierende Kolonne...Um sieben Uhr war man von Settelstedt abmarschiert. Um acht Uhrmarschiert eine andere Kompanie des Studentencorps auf derLandstrae von Settelstedt nach Mechterstedt. Sind komische Leute,diese Studenten. Vorn an der Spitze flattert eine schwarz-rot-goldeneFahne. Nennen sich Republikaner, wollen die Republik retten. IhrFhrer ist ein Universittsprofessor. Professor der Theologie.Auerdem Hauptmann der Reserve. Ein Schrei. Tote!"

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    Dunkle Flecke auf dem Schotter der Chaussee. Da, hier, da... Sechs,acht, zwlf, fnfzehn! ! Schsse in Kopf, Brust, Bauch. MancherKrper von Kugeln zerfetzt. Einschussffnungen sitzen vorn!

    Schweigen. Entsetzte Blicke. Das heit Mord. Mord an fnfzehnwehrlosen Arbeitern. Kein Mensch wei, was sie getan haben.

    Der Theologieprofessor spricht stockend. Untersuchung... Die Ehrenicht nur der Marburger, sondern der gesamten deutschenStudentenschaft. Unschuldiges Blut .. ."

    Dickmann steht auf einer Strae und steckt sich eine Zigarette an.Eine scheue Stimme: Verzeihung, Herr Kamerad, Sie haben dochvorhin auch geschossen?"

    Hat Dickmann geschossen? Er schweigt einen Augenblick:Geschossen? Ja, ich glaube wenigstens... " Es ist nur, ich meinefr den Fall einer Untersuchung, Sie haben ja wohl auch, Fluchtversuch... " Dickmann nickt. Ja natrlich, Fluchtversuch. Sah soaus, als ob der Mann weglaufen wollte. Stand ja schon ganz allein aufder Strae. Richtig, da hat er geschossen. Vollkorn, langsam durch biszum Druckpunkt... Gefangene. Eine Frau dabei, Frau Wolf ausMechterstedt. Neunundfnfzig Jahre alt. Sie werden vorne bei eineranderen Abteilung mitgefhrt. Ein Offizier luft neben der Kolonneher, den Karabiner in der Hand. Blaurot vor Erregung, heisere Stimme:Habt ihr noch Gefangene hier? Raus damit! Abgeben an die sechsteKompanie. Werden nicht weit kommen, die Brder!"

    Proteste, Schimpfen, drohend gereckte Fuste. Die Gefangenenwerden nicht abgegeben. Da ist Frau Wolf, ihr Gesicht ist von einemKolbensto getroffen. Die Augen sind halb zugeschwollen.

    Ein paar Mann drngen sich schtzend um die Gefangenen."Das wollen Soldaten sein! Ein Haufen Feiglinge!" Die MarburgerKommilitonen geraten sich gegenseitig in die Haare. Leutnant Goebelkann sich nicht beruhigen ber diese Sorte von Akademikern, die dieGefangenen nicht hergeben wollen . . .

    Der Theologieprofessor lsst nicht locker: Untersuchung. Warum sinddie Gefangenen verhaftet worden? Befehl. Der Kommandant hat eine

    Denunziation bekommen. Von wem, sagt er nicht. Der HauptmannProfessor untersucht. Warum gingen die Gefangenen am Schluss der

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    Kolonne? Laut Vorschrift mssen sie doch in der Mitte der Abteilunggefhrt werden. Warum sind sie erschossen worden? Fluchtversuch?Fnfzehn Mann auf einmal? Und keiner ist entkommen?

    Der Morgen des 25. Mrz will nicht enden. Er hngt an Dickmann wieeine Kette. Untersuchung. Ein Gerichtsoffizier aus Kassel.Vernehmungen. Vierzehn Studenten, vierzehn ehemalige Offiziere.Also da haben Sie geschossen, Herr Kamerad?"

    Jawohl, Fluchtversuch, das Gelnde war gnstig... "

    Ich danke Ihnen. Bitte Herrn Dickmann... " Fluchtversuch, dasGelnde war gnstig, niedrig gezielt. Zweck lediglich Verhinderungdes Entweichens, gedeckt durch Befehl des Kapitns von Selchow... "

    Ich danke Ihnen . . . Bitte Ihre Personalien." Dickmann, FriedrichWilhelm, Alter 24 Jahre, Student der Rechte, Leutnant a. D... ." Wowaren Sie aktiv, Herr Kamerad?" Preuisches DragonerregimentKaiser... " Ah! Kommandeur Oberstleutnant von Briese, nicht wahr?Ich danke Ihnen."

    Das Abenteuer ist zu Ende. Die Schsse, die am 25. Mrz auf derLandstrae zwischen Mechterstedt und Settelstedt gefallen sind,blieben die einzigen, die das Studentencorps abgab. In ThringenRuhe. Die Aufrhrer im Ruhrgebiet entwaffnet. Haftbefehle gegen dieUrheber des Putsches. Reichskanzler Kapp nicht ergriffen. GeneralLttwitz nicht ergriffen. Oberst Bauer flchtig, Major Pabst flchtig,Herr von Jagow gegen Kaution aus der Untersuchungshaft entlassen.Dr. Schiele gegen Kaution...

    Standgerichte im Ruhrgebiet: ein Leutnant, ein Unteroffizier, einMann. Todesurteile der Standgerichte bedrfen der Gegenzeichnung

    des Gerichtsherrn." Die Generle Kabisch und von Watter handelnkorrekt. Was knnen sie dafr, dass ihnen die Urteile derStandgerichte nicht vorgelegt werden? Sie wissen von nichts...

    Erschieungen in Dortmund, in Wanne-Eikel, in Gevelsberg, in Wesel,in Castrop, Buer, Essen. Kriegsgerichte, auerordentlicheKriegsgerichte. Nur Rdelsfhrer werden bestraft, und solche Leute,die ein Verbrechen gegen das Leben, schwere Krperverletzung oderBrandstiftung" begangen haben? Hunderte, tausende von Arbeitern,

    die sich zur Abwehr gegen das hochverrterische Kappunternehmenerhoben haben, sind gemeine Verbrecher. Sie fallen nicht unter die

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    Amnestie, das ist ganz in der Ordnung. Die Herren Friedrich Ebertund Dr. Heinze haben das Gesetz unterzeichnet. Friedrich Ebert...

    Ein Arbeiter erschiet einen Kappsoldaten whrend des Kampfes:

    Mord, fnfzehn Jahre Zuchthaus." Ein Arbeiter beschlagnahmt ineiner Bckerei Brot fr seine Kameraden: Ruberische Erpressung.Fnfzehn Jahre Zuchthaus..."

    Dickmann sitzt in seinem Zimmer in der elterlichen Wohnung.Irgendwo in seinem Schreibtisch liegt eine Anklageschrift. Er liest dieUrteile der Kriegsgerichte in den Zeitungen. Statistiken, wie vieleJahre Zuchthaus bisher gegen Arbeiter verhngt worden sind. Er istsehr gedrckt. Hat gar keine Lust, wieder nach Jena zu fahren, wenn

    die Ferien vorbei sind. Irgendwann findet gegen ihn ein Verfahren vordem Kriegsgericht statt. Die Anklage lautet auf Totschlag.

    Frau Landgerichtsdirektor ist auer sich vor Emprung. Ihr Sohn! Wieein ganz gemeiner Verbrecher auf der Anklagebank! Unvorstellbar. Esgibt eben keine Gerechtigkeit mehr. Weil Fietichen ein paarVerbrecher erschossen hat, soll er vor Gericht. Verkehrte Welt. DerLandgerichtsdirektor verweist ihr dieses Lamentieren. Gewiss, es gibtauf der Welt keine Gerechtigkeit mehr. Aber bei deutschen Richtern?

    Er macht eine Handbewegung, die alles sagt. LandgerichtsdirektorDickmann ist ein Diener der Gerechtigkeit, und wie ihn gibt estausende. Er wei: Recht muss doch Recht bleiben.

    Dickmanns Vater ist auch whrend der schlimmsten Kampftage insGericht gegangen. Zu Fu den weiten Weg nach Moabit. Die Herrenseiner Kammer waren auch alle erschienen. Whrend in der Stadt mitKanonen geschossen wurde und auf dem Dach des Kriminalgerichtsdie schwarz-wei-rote Fahne der Rebellen wehte, habenSchwurgerichtssitzungen stattgefunden. Recht muss doch Rechtbleiben. Hier gab es keinen Generalstreik. Die Maschinen arbeitetenweiter. Berufungsverhandlungen waren vor des Direktors Kammerangesetzt. Die verurteilten Rechtsbrecher frchteten sich vor dem Wegdurch den Kugelregen. Ihre Richter waren zur festgesetzten Zeit imGericht. Mit besonderen Ausweiskarten hatten sie die Postensperrendurchschritten.

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    Wo ist der Angeklagte? Nicht da? Beschlossen und verkndet: dieBerufung wird auf Kosten des Angeklagten verworfen gem 329Strafprozessordnung... "

    Recht muss doch Recht bleiben. Drauen knattern Maschinengewehre, gilt nicht: 329 Strafprozeordnung...

    Der Landgerichtsdirektor ist ganz ruhig. Als sein Sohn dieAnklageschrift bekam, hat er sie sehr genau durchgelesen. Die Mutterschluchzte. Er sagte nichts. Und wenn Dickmann einmal versucht, mitseinem Vater ber die bevorstehende Verhandlung vor demKriegsgericht zu sprechen, stt er auf freundliche Ablehnung: Wenndu ein reines Gewissen hast, mein Junge, dann hast du nichts zu

    frchten. Es ist noch nie von einem preuischen Gericht..."Dickmann glaubt es ihm. Aber ist sein Gewissen rein? Er sagt:Jawohl, Papa!" Sehr laut, sehr ruhig. Aber er wei es nicht. Erbesucht Regimentskameraden, die in Berlin wohnen und bespricht mitihnen seinen Fall. Nicht als ob es eine groe Sache wre, nein: ganznebenbei. Man will sich doch nicht lcherlich machen. BaronSchmiedel hat in Berlin mitgekmpft. Von Rienitz ist in Breslau vomKapp-Putsch berrascht worden. Da hat er ganz andere Sachen erlebt

    als Dickmann. Ist alles gut abgegangen. Wre ja auch noch schner.Heute Abend soll Dickmann mal zu ihm kommen. Ein BreslauerSchupomajor ist da, den Rienitz in den Kampftagen kennen gelernthat.

    Der Polizeioffizier erzhlt: Kaum waren die Gefangenen auf demKasernenhof, da lagen sie auch schon. Unsere Leute waren ja wieverrckt. Wird mancher unschuldig darunter gewesen sein. Aber wasist da zu machen? War ja scheulich, wenn dann am nchsten Tag dieWeiber angelaufen kamen und nach ihren Mnnern wimmerten. Ja dulieber Gott, wo gehobelt wird, fallen Spne."

    Der Breslauer Major wiegt bedauernd den Kopf. Ja, und dann habenwir ihnen irgendetwas vorgelogen. Dabei schwammen die Kerlelngst in der Oder. Wie? Nein, Verfahren sind nicht deswegenanhngig gemacht worden. Warum auch? Sehen Sie, ich bin einloyaler Mensch. Ich bin dagegen, dass man jetzt im Ruhrrevier so

    scharf gegen die Arbeiter vorgeht. Wir wollen uns nichts vormachen,meine Herren, wir haben doch alle Dreck am Stecken. Aber ich gebe

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    zu, dass gewisse staatspolitische Grnde dafr sprechen, dass man dieviehischen Rohheiten der Rotarmisten nicht ungestraft lsst. Sonstschwillt den Brdern der Kamm. Wir leben schlielich auf einemPulverfass. Wer wei, was wir noch mit den Bolschewisten erleben.Aber von mir aus knnte man die Leute ruhig laufen lassen... " SolcheGesprche sind nicht dazu angetan, Dickmanns Unruhe zu beheben.Vielleicht wird ihm gar nicht soviel passieren. Der Alte Herr,Rechtsanwalt Kursch, hat ihm das erklrt: weil Dickmann bei einemZeitfreiwilligenkorps war, darum kommt er vors Kriegsgericht, unddas ist ein groer Vorteil fr ihn. Die Reichsverfassung hat zwarfestgesetzt, dass die Militrgerichtsbarkeit aufgehoben werden soll.Jetzt ist da auch so eine Verordnung herausgekommen, aber die tritt

    wohlweislich erst im Oktober 1920 in Kraft, wenn nach menschlichemErmessen die letzten Verfahren aus den Kapptagen erledigt sind.

    Das ist es nicht, was Dickmann hren will. Verurteilung, keinMensch wird schlechter von ihm denken, wenn er verurteilt wird.Aber wie steht es mit dem, was sein Vater gutes Gewissen" genannthat? Er will den Rechtsanwalt danach fragen, aber der lsst ihn nichtzu Worte kommen:

    ... wenn ihr nach dem ordentlichen Strafrecht angeklagt wret, dannknntet ihr nur wegen Krperverletzung mit Todeserfolg oder wegenTotschlag bestraft werden. Aber im Mililrstrafgesetzbuch gibt es sokniffliche Unterschiede, wie Wachtvergehen oder missbruchlicheBenutzung der Waffe... "

    Dickmann verabschiedet sich schnell von Kursch. Wie steht es mitdem guten Gewissen?

    Dickmann forscht peinlich genau in seinem Inneren nach. Er ist festdavon berzeugt, dass die Gefangenen gar keinen Fluchtversuchgemacht haben. Bei ruhiger berlegung ist er zu diesem Ergebnisgekommen. Die Leute htten ja wahnsinnig sein mssen, wenn siefliehen wollten. Wie viel hunderte sind nicht i