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Erste europäische Internetzeitschrift für Rechtsgeschichte http://www.forhistiur.de/ Herausgegeben von: Prof. Dr. Rainer Schröder (Berlin) Prof. Dr. Hans-Peter Haferkamp (Köln) Prof. Dr. Christoph Paulus (Berlin) Prof. Dr. Albrecht Cordes (Frankfurt a. M.) Prof. Dr. Mathias Schmoeckel (Bonn) Prof. Dr. Andreas Thier (Zürich) Prof. Dr. Franck Roumy (Paris) Prof. Dr. Emanuele Conte (Rom) Prof. Dr. Massimo Meccarelli (Macerata) Prof. Dr. Michele Luminati (Luzern) Prof. Dr. Stefano Solimano (Milano) Prof. Dr. Martin Josef Schermaier (Bonn) Prof. Dr. Hans-Georg Hermann (München) Prof. Dr. Thomas Duve (Frankfurt a. M.) Prof. Dr. Manuel Martínez Neira (Madrid) Prof. Dr. D. Fernando Martínez Pérez (Madrid) Prof. Dr. Marju Luts-Sootak (Tartu) Prof. Dr. Heikki Pihlajamäki (Helsinki) Sonderdruck Artikel vom 22. Mai 2013 © 2013 fhi Erstveröffentlichung Zitiervorschlag: http://www.forhistiur.de/zitat/1305reich.htm ISSN 1860-560

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Erste europäische Internetzeitschrift für Rechtsgeschichte

http://www.forhistiur.de/

Herausgegeben von:

Prof. Dr. Rainer Schröder (Berlin) Prof. Dr. Hans-Peter Haferkamp (Köln)

Prof. Dr. Christoph Paulus (Berlin) Prof. Dr. Albrecht Cordes (Frankfurt a. M.)

Prof. Dr. Mathias Schmoeckel (Bonn) Prof. Dr. Andreas Thier (Zürich) Prof. Dr. Franck Roumy (Paris) Prof. Dr. Emanuele Conte (Rom)

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Sonderdruck

Artikel vom 22. Mai 2013

© 2013 fhi Erstveröffentlichung

Zitiervorschlag:

http://www.forhistiur.de/zitat/1305reich.htm

ISSN 1860-560

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forum historiae iuris

Johannes Reich*

Regulierung, Regulierungsrecht und RegulatoryState

Rechtsdogmatische Potenziale des Regulierungsbegriffsin verwaltungsrechtsvergleichender, rechtshistorischer und

sozialwissenschaftlicher Perspektive**

I. Transnationale Diffusion und Ubiquität des Regulierungsbegriffs

«Regulierung» hat sich binnen weniger Jahre sowohl im politischen als auch im rechtlichen Diskurszu einem geradezu inflationär verwendeten Begriff entwickelt. Auf politischer Ebene wird nachvermeintlichen oder tatsächlichen Skandalen regelmäßig nach «Regulierung» gerufen1 oder imGegenteil vor überbordender «Regulierungswut»2 gewarnt. Auch in den Rechtswissenschaftenhat sich «Regulierung» als feste Größe etabliert. Mehr noch: Signalisiert die Publikation vonSammelwerken tatsächlich einen «Zustand der Fülle und damit der Unübersichtlichkeit»,3 so hatdas «Regulierungsrecht» dieses Reifestadium einer Wissenschaftsdisziplin innerhalb des deutschenVerwaltungsrechts bereits zum Ende der ersten Dekade des dritten Jahrtausends erreicht. 4 Freilichvermochte dieser Trend etwa in den schweizerischen Verwaltungsrechtswissenschaften zumindest

1

* Prof. Dr. iur., Rechtsanwalt, LL.M. (Yale), Assistenzprofessor für Staats- und Verwaltungsrecht an der UniversitätZürich.

** Der Beitrag schließt in Ziff. IV/C eine Besprechung von P. COLLIN/G. BENDER/ST. RUPPERT/M. SECKELMANN/M. STOLLEIS (Hrsg.), Regulierte Selbstregulierung im frühen Interventions- undSozialstaat. Moderne Regulierungssysteme 2 (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Band 270),Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2012 (286 Seiten, ISBN 978-3-465-04160-3, € 74.–) ein. – Die in denAnmerkungen erwähnten Internetseiten wurden am 30. März 2013 zuletzt besucht.

1 In jüngster Zeit etwa der Preisüberwacher im Eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bildung undForschung St. MEIERHANS, Wirksamer Wettbewerb oder konsequente Regulierung, Neue Zürcher Zeitungvom 8. Februar 2013, S. 23 (zur Regulierung von Preisen, die nicht das Ergebnis wirksamen Wettbewerbs sind)oder G. WEISS, Handy-Kunden zahlen zu hohen Preis, NZZ am Sonntag vom 10. Februar 2013, S. 33 (zurangestrebten Preisregulierung betreffend die Roaming-Gebühren im Mobilfunk).

2 Aus der Tagespresse letzthin etwa M. MÜLLER, Regulierungswut ohne Grenzen, Neue Zürcher Zeitung vom20. November 2012, S. 24 (zu einem geplanten, für den Einzelhandel geltenden Verkaufsverbot für alkoholischeGetränke zwischen 22 und 6 Uhr); zum entsprechenden Gesetzentwurf des Bundesrates vgl. Art. 10 Abs. 2Bst. b Entwurf Bundesgesetz über die Besteuerung von Spirituosen und Ethanol (E-Spirituosensteuergesetz,E-SpStG), verfügbar auf «Curia Vista», der Geschäftsdatenbank des Schweizer Parlaments (<http://www.parlament.ch/d/suche/Seiten/curia-vista.aspx>), unter der Geschäftsnummer 12.020, sowie Botschaft zurTotalrevision des Alkoholgesetzes (Spirituosensteuergesetz und Alkoholhandelsgesetz) vom 25. Januar 2012,Bundesblatt 2012 S. 1315-1466, 1379 f.

3 M. STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band IV: Staats- undVerwaltungsrechtswissenschaft in West und Ost 1945-1990, München 2012, S. 530; vgl. auch den dort zitiertenR. KIESOW, Das Alphabet des Rechts, Frankfurt am Main 2004, S. 76-92.

4 Vgl. das 1251 Seiten umfassende, von elf Autorinnen und Autoren verfasste Handbuch M. FEHLING/M. RUFFERT (Hrsg.), Regulierungsrecht, Tübingen 2010; den Charakter des Regulierungsrechts als«eigenständiges Rechtsgebiet» konstatierend W. KAHL, Über einige Pfade und Tendenzen in Verwaltungsrechtund Verwaltungsrechtswissenschaft – ein Zwischenbericht, Die Verwaltung 42 (2009) S. 463-500, 483.

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bisher noch nicht Fuß zu fassen.5 Außerhalb des rechtlichen Kontexts dient der Regulierungsbegriffim Rahmen sozialwissenschaftlicher, insbesondere politikwissenschaftlicher und ökonomischerUntersuchungen, bereits seit geraumer Zeit der Analyse von Normsetzung durch staatliche – injüngerer Zeit vermehrt auch durch nicht-staatliche – Akteure (vgl. Ziff.  II/C). Zur rechtlichenund zur sozialwissenschaftlichen Dimension gesellt sich die transnationale: Der Regulierungsbegriffberuht (auch) auf einer grenzüberschreitenden Adaption von Regelungskonzepten. Zeichendafür ist insbesondere die globale Ausbreitung des Modells der «independent regulatory agencies».6

Dieser Prozess von Inkorporation und gegenseitiger Durchdringung wird vorliegend alstransnationale Diffusion von Regulierungsmodellen bezeichnet. Dagegen suggeriert der gängigeAusdruck des «(Rechts-) Transfers»7 begrifflich eine einseitige Geber-/Nehmer-Beziehung. DieBezeichnung «legal transplant»8 schließlich vermag den Aspekt der wechselseitigen Beeinflussung undVerschmelzung nur ungenügend einzufangen. 9

Vor dem skizzierten Hintergrund erscheint es notwendig, die dogmatischen Potenziale von«Regulierung» sowohl über verschiedene disziplinäre Zugänge als auch transnational zu ergründen.Eine erste semantische, rechtshistorisch informierte und im Kontext des schweizerischenBundesverwaltungsrechts verortete Annäherung leitet nachfolgend in eine Begriffsbestimmungim interdisziplinären, verfassungs- und verwaltungsrechtsvergleichenden Kontext über (Ziff.  II).Im Anschluss wird das Konzept des «Regulierungsrechts» in den eng miteinander verwandtenStaatsmodellen des «Regulatory State» (Ziff.  III) und des «Gewährleistungsstaates» (Ziff.  IV/  B)lokalisiert. Der rechtshistorische Zugang erfolgt unter Ziff.  IV/C in Verbindung mit einerRezension eines Sammelbandes10 über Formen der Kooperation zwischen Staat und Privaten im19. Jahrhundert. Eine Zusammenfassung der gezogenen Folgerungen hinsichtlich des Sinngehaltsund genutzter sowie möglicher, noch weitgehend brachliegender dogmatischer Potenziale von«Regulierung», «Regulierungsrecht» und «regulierter Selbstregulierung» sowie eine Identifizierungverbleibender Forschungsdesiderate runden den Beitrag ab (Ziff. V).

2

5 Vgl. immerhin den auf verwaltungsorganisationsrechtliche Fragen ausgerichteten SammelbandF. BELLANGER/Th. TANQUEREL (Hrsg.), Les autorités administratives indépendantes, Genf/Zürich/Basel2011.

6 Zur globalen Ausbreitung vgl. den Datensatz bei J. JORDANA/D. LEVI-FAUR/X. FERNÁNDEZ I MARÍN,The Global Diffusion of Regulatory Agencies, Comparative Political Studies 44 (2011) S. 1343-1369, 1344-1346.

7 Vgl. z.B. M. Th. FÖGEN/G. TEUBNER, Rechtstransfer, Rechtsgeschichte (2005) S. 38-45.8 O. KAHN-FREUND, On Uses and Misuses of Comparative Law, Modern Law Review 37 (1974) S. 49-63; für

eine umsichtige, kritisch-abwägende Verwendung des Konzepts vgl. B. SCHINDLER, Verwaltungsermessen,Zürich/St. Gallen/Baden-Baden 2010, N 288-293.

9 Ebenso G. TEUBNER, Legal Irritants. Good Faith in British Law or How Unifying Law Ends Up inNew Divergencies, Modern Law Review 61 (1998) S. 11-32, 12, der daraus freilich andere begriffliche undkonzeptionelle Folgerungen ableitet.

10 COLLIN/BENDER/RUPPERT/SECKELMANN/STOLLEIS, Regulierte Selbstregulierung (Anm. **).

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II. Sinngehalt und Funktion im interdisziplinären und transnationalen Kontext

A. Semantik: «Regulierung» als physische Einwirkung und normative Steuerung

«Regulierung» und «regulierte Selbstregulierung» haben als Rechtsbegriffe vornehmlich alsFolge der Liberalisierung rechtlicher Monopole (Aufgabenprivatisierung) im Bereich der Post-,Fernmelde- und Energiedienstleistungen in den 80er- und 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts größereVerbreitung gefunden. Eine Grundlage im positiven Recht hat «Regulierung» in diesem Sinn imschweizerischen Bundesverwaltungsrecht aber erst am 1. Januar 2009 mit dem Inkrafttreten vonArt. 7 Finanzmarktaufsichtsgesetz erhalten: Die Bestimmung schreibt die finanzmarktrechtlichen«Regulierungsgrundsätze» (franz: «principes de réglementation»; ital.: «principi di regolazione») fest.11

«Regulierung» wohnt in diesem Kontext demnach ein normativer Gehalt inne, der sowohlRechtsetzung als auch Rechtsanwendung einzufangen versucht.12

3

Wenn in früheren Jahrzehnten in Bundesgesetzen oder für die Schweiz verbindlichenStaatsverträgen von «Regulierung» die Rede war, waren dagegen zumeist andere Phänomeneangesprochen: 13 die Begradigung von Flussläufen, die Regelung des Wasserstandes von Seenund Fließgewässern, die Begrenzung des Wildbestandes oder – wie in der Übereinkunft vom28.  April 1878 zwischen der Schweiz und dem Großherzogtum Baden wegen Regulierung derGrenze bei Konstanz14 – die Bereinigung von Staatsgrenzen.15 Gleichwohl folgte bereits die vom29. Mai 1874 datierende und bis zum 31. Dezember 1999 in Kraft stehende Bundesverfassungder Schweizerischen Eidgenossenschaft [aBV (1874)] mit dem 1958 aufgehobenen Art. 42 Bst. feinem anderen Verständnis des Regulierungsbegriffs: Demnach sollte der Bund seine Ausgabenunter anderem «aus den Beiträgen der Kantone» bestreiten, «deren nähere Regulierung (…)

4

11 Bundesgesetz vom 22. Juni 2007 über die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (Finanzmarktaufsichtsgesetz,FINMAG; SR 956.1; online verfügbar in allen drei Amtssprachen unter <http://www.admin.ch/ch/d/sr/c956_1.html>).

12 In diesem Sinn auch Ch. WINZELER, Art. 7 FINMAG, in: R. Watter/N. P. Vogt (Hrsg.), Basler Kommentar.Börsengesetz und Finanzmarktaufsichtsgesetz, 2. Auflage, Basel 2010, N 1 (wonach Regulierung eine«Kombination von Rechtssetzung und Rechtsanwendung» bilde; Hervorhebungen weggelassen).

13 Ähnlich auch das Fazit bei G. BIAGGINI, Unabhängige Regulierungsbehörden – aus schweizerischer Sicht,in: J. Masing/G. Marcou (Hrsg.), Unabhängige Regulierungsbehörden, Tübingen 2010, S. 379-396, 359 f. –Zur historischen Begriffsverwendung vgl. auch die Übersicht bei M. SCHMOECKEL, Dauerhaft engpassfreieMärkte durch «Regulierung»? Erfolgsgeschichte eines Begriffs, Forum Historiae Iuris vom 6. Februar 2009[online verfügbar unter <http://www.forhistiur.de/zitat/0902schmoeckel.htm>], N 6-18.

14 Übereinkunft vom 28. April 1878 zwischen der Schweiz und dem Großherzogtum Baden wegen Regulierung derGrenze bei Konstanz (mit Schlussprotokoll; SR 0.132.136.5); die Übereinkunft wurde durch Art. 1 Übereinkunftvom 24. Juni 1879 zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reiche wegen Regulierung der Grenze beiKonstanz (SR 0.132.136.51) «für das Deutsche Reich als rechtsgültig anerkannt»; beide Staatsverträge sind unter<http://www.admin.ch/ch/d/sr/sr.html> online verfügbar.

15 Vgl. etwa Verordnung vom 30. April 1990 über die Regulierung von Steinbockbeständen (SR 922.27); Art. 9Verordnung vom 30. September 1991 über die eidgenössischen Jagdbanngebiete (SR 922.31) betreffendBestandesregulierungen; Vertrag vom 28. März 1929 zwischen der Schweiz und Deutschland über dieRegulierung des Rheins zwischen Strassburg/Kehl und Istein (SR 0.747.224.052.1); Staatsvertrag derSchweizerischen Eidgenossenschaft mit der Republik Österreich vom 19. November 1924 über die Regulierungdes Rheines von der Illmündung bis zum Bodensee (SR 0.721.191.632); alle online verfügbar unter <http://www.admin.ch/ch/d/sr/sr.html>.

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der Bundesgesetzgebung vorbehalten» blieb.16 Angesprochen war damit offenkundig nicht dieunmittelbare, physische Einwirkung auf Naturphänomene wie Wasserläufe, Wasserstände oder denWildbestand, sondern die normative Festlegung von Kriterien zur Berechnung der durch die Kantonean den Bund abzuliefernden Beträge (sog. «Kontingente»),17 wofür die im Auslegungsprozessgleichrangige französische Fassung des Art. 42 Bst. f aBV (1874) das Verb «régler» verwendete.18 Diekantonalen Beiträge sollten sich an der Leistungsfähigkeit der einzelnen Glieder des Bundesstaatesorientieren. Während die Mediationsverfassung vom 19. Februar 1803 19 und der Bundesvertragvom 7.  August 181520 diese finanziellen Verpflichtungen noch ziffernmäßig festgelegt hatten,bestimmte die erste Verfassung des nach einem kurzen Bürgerkrieg (Sonderbundskrieg21) voneinem Staatenbund in einen Bundesstaat transformierten schweizerischen Staatswesens – dieBundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 12. September 1848 – in Art. 39Bst.  e, dass die Kantone ihre Beträge auf der Grundlage einer periodisch zu revidierenden«Geldskala» zu leisten hätten. 22 Dieses 1851 erstmals als verbindlich festgelegte Gradmaß wurdeunter der Geltung des vorerwähnten Art. 42 Bst. f aBV (1874) in das Bundesgesetz vom 9. März1875 betreffend die eidgenössische Geldskala überführt.23 Mit der Wendung der «nähere[n]Regulierung» wurde folglich auf die Normierung auf infrakonstitutioneller Ebene verwiesen.

Spätestens um die Wende vom 19. zum 20.  Jahrhundert dokumentieren sowohl dieWortprotokolle der Verhandlungen des schweizerischen Parlaments als auch weitere Berichteder Schweizer Regierung zu Gesetzgebungsvorhaben (sog. Botschaften des Bundesrates) mitzunehmender Deutlichkeit ein ähnliches Verständnis des Regulierungsbegriffs. So zitiert einbundesrätlicher Bericht vom 8. März 1895 eine Petition des schweizerischen Metzgerverbandes,wonach «sich (…) in breiten Schichten der Bevölkerung die Überzeugung Bahn» breche, dass«kein Gebiet des öffentlichen Lebens so sehr einer einheitlichen Regulierung» bedürfe, «wie die

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16 Hervorhebungen hinzugefügt.17 Vgl. in diesem Sinn E. BLUMENSTEIN, Das Problem der eidgenössischen Steuerkontingente,

Vierteljahresschrift für Schweizerisches Abgaberecht 1 (1920) S. 235-250, 236 f.; zur Aufhebung der Bestimmungvgl. Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die verfassungsmäßige Neuordnung desFinanzhaushaltes des Bundes vom 1. Februar 1957, Bundesblatt 1957 I S. 505-630, 592.

18 Vgl. J. J. BLUMER/J. MOREL, Handbuch des Schweizerischen Bundesstaatsrechtes. Band II/Abt. I, 2. Auflage,Basel 1880, S. 401.

19 Art. 2 des 20. Kapitels Vermittlungsacte des Ersten Consuls der fränkischen Republik zwischen den Parteien,in welche die Schweiz getheilt ist («Mediationsverfassung») vom 19. Februar 1803, wiedergegeben u.a.bei A. KÖLZ, Quellenbuch zur neueren schweizerischen Verfassungsgeschichte. Vom Ende der AltenEidgenossenschaft bis 1848, Bern 1992, S. 159-188, 176.

20 Art. 3 Bundesvertrag zwischen den XXII. Kantonen der Schweiz vom 7. August 1815, wiedergegeben u.a. beiKÖLZ, Quellenbuch (Anm. 19), S. 193-203, 194.

21 Vgl. dazu als leicht zugänglicher Überblick R. ROCA, Sonderbund, in: Historisches Lexikon der Schweiz(HLS). Version vom 20. Dezember 2012, URL: <http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D17241.php>; fernerTh. MAISSEN, Geschichte der Schweiz, Baden S. 178-204.

22 W. BURCKHARDT, Kommentar der schweizerischen Bundesverfassung vom 29. Mai 1874, 3. Auflage,Bern 1931, 351, 355; ferner BLUMENSTEIN, Steuerkontingente (Anm. 17), S. 237.

23 Vgl. BLUMENSTEIN, Steuerkontingente (Anm. 17), S. 237; BURCKHARDT, Bundesverfassung (Anm. 22),S. 355.

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Nahrungsmittelkontrolle.»24 Ferner bildeten beispielsweise «die gesamten Verwaltungsteile desBundes»,25 das «Schießwesen»,26 die Lebensmittelfälschung,27 die Entlohnung des Bundesrates,28

nach dem Verbot des Absinthes an Produzenten auszurichtende Entschädigungen29 oder der«Verkehr mit Automobilen und Fahrrädern»30 mögliche Gegenstände der «Regulierung». Auch dieNormen und Prinzipien des «Kriegsrechtes» wurden bereits im frühen 20. Jahrhundert unter denRegulierungsbegriff subsumiert.31 Dieser erfasste zudem nicht nur staatliche, sondern auch privateNormsetzung: Absprachen von Kartellen32 und Satzungen privater Vereine33 wurden ebenso als«Regulierungen» bezeichnet.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Bedeutung des Ausdrucks «Regulierung» auch inder zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zumindest im Kontext des schweizerischen Bundesstaats-und Bundesverwaltungsrechts vielschichtig war: Im Einklang mit dessen etymologischen Wurzelnim lateinischen Verb «regere» (für «gerade richten», «lenken») 34 steht «Regulierung» sowohl für

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24 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend Bundesgesetzgebung über den Verkehrmit Nahrungs- und Genussmitteln und mit solchen Gebrauchs- und Verbrauchsgegenständen, welchedas Leben und die Gesundheit gefährden können, vom 8. März 1895, Bundesblatt 1895 I S. 767-808, 794(Hervorhebungen hinzugefügt); im gleichen Sinn auch Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlungüber seine Geschäftsführung im Jahre 1894 vom 3. April 1895, Bundesblatt 1895 II S. 225-392, 304, wo von«der einheitlichen Regulierung» der Aktivitäten privater Vereine zur Förderung der militärischen Ausbildungaußerhalb der Dienstzeiten der Militärdienstpflichtigen die Rede ist.

25 Votum Ständerat O. MUNZINGER (Berichterstatter der Kommission), in: Amtliches stenographisches Bulletinder schweizerischen Bundesversammlung (Ständerat) 1895, S. 458/linke Spalte (Sitzung vom 27. Juni 1895).

26 Votum Ständerat A. J. J. KELLERSBERGER (Berichterstatter der Kommission), in: Amtliches stenographischesBulletin der schweizerischen Bundesversammlung (Ständerat) 1894, S. 210/linke Spalte (Sitzung vom 28. Juni1894).

27 Votum Ständerat J. A. SCHERB (Berichterstatter der Kommission), in: Amtliches stenographisches Bulletin derschweizerischen Bundesversammlung (Ständerat) 1899, S. 334/linke Spalte (Sitzung vom 21. Juni 1899).

28 Votum Nationalrat H. AFFOLTER, in: Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischenBundesversammlung (Nationalrat) 1918, S. 409/rechte Spalte (Sitzung vom 1. Oktober 1918): «(…) Regulierungdes Gehaltes des Bundesrates (…).»

29 Votum Ständerat J. A. LOCHER (Berichterstatter der Kommission), in: Amtliches stenographisches Bulletin derschweizerischen Bundesversammlung (Ständerat) 1910, S. 258/linke Spalte (Sitzung vom 21. Juni 1910).

30 Votum Nationalrat A. MÄCHLER (deutschsprachiger Berichterstatter der Kommission), in: Amtlichesstenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung (Nationalrat) 1919, S. 502/linke Spalte(Sitzung vom 4. Juni 1919): «Das Problem einheitlicher Regulierung des Verkehrs mit Automobilen undFahrrädern in der ganzen Schweiz beschäftigt uns bereits 15 Jahre (…).»; in diesem Sinn auch NationalratO. PFISTER, in: Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung (Nationalrat)1931, S. 49/rechte Spalte (Sitzung vom 18. März 1931).

31 Votum Ständerat R. SCHÖPFER (Berichterstatter der Kommission), in: Amtliches stenographisches Bulletinder schweizerischen Bundesversammlung (Ständerat) 1921, S. 201/linke Spalte (Sitzung vom 12. April 1921): «Esgalt, (…) den Krieg zu bekämpfen (…) und ihn durch Regulierungen des Kriegsrechtes zu mildern.»

32 Vgl. Votum Bundesrat E. SCHULTHESS-DISQUE, in: Amtliches stenographisches Bulletin derschweizerischen Bundesversammlung (Nationalrat) 1931, S. 368/linke Spalte (Sitzung vom 17. Juni 1931).

33 Vgl. Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1894 vom3. April 1895, Bundesblatt 1895 II S. 225-392, 304.

34 G. KÖLBER, Etymologisches Rechtswörterbuch, Tübingen 1995, S. 336/linke Spalte; E. SEEBOLD, in: Kluge.Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 25. Auflage, Berlin/Boston 2011, S. 754/rechte Spalte;vgl. auch M. RUFFERT, Begriff, in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht (Anm. 4), § 7 N 4.

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die Beeinflussung von Naturphänomenen (Wasserstand, Wildbestand etc.) durch direkte, physischeEinwirkung als auch für die normative Steuerung durch den Staat oder Private.35

B. Transnationale Diffusion: «regulation», «independent regulatory agencies» und«Regulatory State»

Die gängige verwaltungsrechtswissenschaftliche Begriffsverwendung von «Regulierung» istindessen höchstens lose mit der aufgezeigten Traditionslinie verbunden. Vielmehr dürftesie in engem Zusammenhang sowohl mit der Verwendung des Regulierungsbegriffs durchsupra- und internationale Gremien36 als auch mit der globalen Ausbreitung unabhängigerRegulierungsbehörden stehen. Letztere sind in den 1980er- und vor allem in den 1990er-Jahrengleichsam «epidemisch»37 wie Pilze aus dem Boden geschossen.38 Die rechtliche Ausgestaltungsolcher Institutionen auf nationaler und supranationaler Ebene hat sich dabei zumeist am Vorbildder «independent regulatory agencies» des U.S.-amerikanischen Verwaltungsrechts orientiert. 39 Auchdaher liegt der Schluss nahe, dass das derzeit herrschende verwaltungsrechtliche Verständnis von«Regulierung» wesentlich auf der Diffusion U.S.-amerikanischer Institutionen beruht. 40 Regulierungerscheint daher als «importiertes Konzept».41

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35 Evident wird diese Mehrdeutigkeit im Votum von Nationalrat U. Meister jun. (Berichterstatter der Kommission),in: Mitteilung der Kommission des Nationalrats zum Bundesgesetz betreffend den Bau einer schmalspurigenEisenbahn von Brienz nach Interlaken als Fortsetzung der Brünigbahn vom 19. Juni 1906, Amtliches Bulletinder Bundesversammlung (Nationalrat) 1906 II S. 722-724, 722/linke Spalte (Hervorhebungen hinzugefügt),die vom Bundesrat «Aufschluss über die augenscheinlich notwendige Regulierung der Bahnhofsverhältnisse inInterlaken sowohl in rechtlicher und finanzieller als [auch in] technischer Beziehung» verlangte.

36 Vgl. etwa ORGANISATION FOR ECONOMIC CO-OPERATION AND DEVELOPMENT (OECD),Recommendation of the Council on Regulatory Policy and Governance, Paris 2012, S. 21 (online verfügbar unter<http://www.oecd.org/gov/regulatory-policy/49990817.pdf>).

37 G. F. SCHUPPERT, Governance und Rechtsetzung, Baden-Baden 2011, S. 281, die «epidemische Ausbreitung»unabhängiger Regulierungsbehörden ansprechend.

38 ORGANISATION FOR ECONOMIC CO-OPERATION AND DEVELOPMENT (OECD), RegulatoryPolicies in OECD Countries. From Interventionism to Regulatory Governance, Paris 2002, S. 91 f.(Hervorhebungen hinzugefügt): «One of the most widespread institutions of modern regulatory governanceis the so-called independent regulator or autonomous administrative agencies with regulatory powers. (...)The use of this kind of institution has mushroomed during the 1980s and 1990s and continues to increase (...).»;zur Quantität und zum Verlauf der Ausbreitung vgl. JORDANA/LEVI-FAUR/FERNÁNDEZ I MARÍN,Regulatory Agencies (Anm. 6), S. 1344-1346.

39 D. HALBERSTAM, The Promise of Comparative Administrative Law. A Constitutional Perspective onIndependent Agencies, in: S. Rose-Ackerman/P. L. Lindseth (Hrsg.), Comparative Administrative Law,Cheltenham UK 2010, S. 185-204; ferner J. MASING, Soll das Recht der Regulierungsverwaltung übergreifendgeregelt werden? Gutachten D für den 66. Deutschen Juristentag, München 2006, D S. 72 f. m.w.H.;F. SCHORKOPF, Regulierung nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, JZ 63 (2008) S. 21-29, 24.

40 In diesem Sinn statt aller RUFFERT, Begriff (Anm. 34), N 10-12 m.w.H.; Th. VON DANWITZ, Was isteigentlich Regulierung?, DÖV 75 (2004) S. 977-986, 978.Mit dem Ausdruck «Diffusion» wird – im Unterschied zur bloßen Übernahme – freilich auch die Verschmelzungmit landesspezifischen Institutionen und Regelungsmodellen angesprochen (vgl. vorne unter Ziff. I zwischenAnm. 6 und 9). Im schweizerischen Bundesstaats- und Bundesverwaltungsrecht stellen das Milizsystem unddie traditionell verbreiteten Kommissionen – vgl. dazu BIAGGINI, Regulierungsbehörden (Anm. 13), S. 391und B. SCHINDLER, Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Schweiz, in: A. v. Bogdandy/S. Cassese/P. M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum. Band III. Verwaltungsrecht in Europa: Grundlagen,Heidelberg 2010, § 49 N 34, 39 – institutionelle Voraussetzungen dar, welche spezifische Strukturen für dietransnationale Diffusion der «independent regulatory agencies» bereitstellten.

41 RUFFERT, Begriff (Anm. 34), mittlerer Zwischentitel vor N 10.

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«Regulierung» als Begriff und Regelungskonzept fußt im U.S.-amerikanischen Verwaltungsrechtauf im 19.  Jahrhundert gelegten Grundlagen. 42 Die verfassungsrechtlichen Entwicklungslinienreichen freilich weiter zurück. In der vom 17.  September 1787 datierenden Verfassung derVereinigten Staaten von Amerika wird das Verb «to regulate» namentlich in der «commerce clause»verwendet. Diese ermächtigt den Kongress dazu, den Handel sowohl mit anderen Nationen alsauch unter den Gliedstaaten und im Verhältnis zur indigenen Bevölkerung «zu regulieren».43

Die Bestimmung der Reichweite der «commerce clause» – und damit einhergehend der Bedeutungdes Verbs «to regulate» – zählt auch in der Rechtsprechung des frühen 21.  Jahrhunderts zu denzentralen Streitpunkten der Judikatur des United States Supreme Court. So bildete die Fragestellung,ob die «commerce clause» dem Kongress auch die Kompetenz einräumt, Private zur Versicherungvon mit Krankheit verbundenen Risiken zu verpflichten, Kern der viel beachteten Entscheidungdes Gerichts vom 28.  Juni 2012 in Sachen National Federation of Independent Business v. Sebeliuszur Verfassungskonformität des Patient Protection and Affordable Care Act («Obamacare»). 44 DieRichterinnen und Richter stellten sich dabei mehrheitlich auf den Standpunkt, «to regulate» setze einein der sozialen Wirklichkeit vorbestehende menschliche Tätigkeit («activity») voraus, die nur nachträglichdurch den Kongress Rechtsnormen unterworfen werden dürfe.45 Mit dem Verb «to regulate» räumedie Verfassung dem Kongress demnach keine Befugnis ein, Personen zur Vornahme ökonomisch

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42 Anders dagegen SCHMOECKEL, «Regulierung» (Anm. 13), N 19 («In den USA entstand die Regulierungerst später [d.h. nach der Wende zum 20. Jahrhundert].»), der «Regulierung» offenbar mit «Intervention»gleichsetzt, was vor dem Hintergrund des U.S.-amerikanischen Verfassungs- und Verwaltungsrechts nichtgänzlich zu überzeugen vermag; vgl. denn auch statt anderer im oben dargelegten Sinn C. R. SUNSTEIN,After the Rights Revolution. Reconceiving the Regulatory State, Cambridge MA 1990, S. 13, 17 f., dernachweist, dass «regulations» bereits Teil des U.S.-amerikanischen Verwaltungsrechts des 19. Jahrhundertsbildeten (auch wenn die Transformation zum «regulatory state» erst im Zuge des New Deal folgen sollte) und dieentsprechenden Verwaltungsbehörden (agencies) ab 1824 (sic!) errichtet worden sind; vgl. zu Letzterem anhanddes weitgehend verallgemeinerungsfähigen Beispiels der Gründung der Interstate Commerce Commission (ICC) – lautM. J. HORWITZ, The Transformation of American Law. 1870-1960, New York/Oxford 1992, S. 216 «the firstinstitutionalization of the regulatory state» – im Jahr 1887 auch O. LEPSIUS, Verwaltungsrecht unter dem CommonLaw, Tübingen 1997, S. 78-83.

43 Article I Section 8 Clause 3 United States Constitution (U.S.-Const.): «[The Congress shall have Power] [t]oregulate Commerce with foreign Nations, and among the several States, and with the Indian Tribes; (…).» DasVerb «to regulate» taucht ferner an einer weiteren (Article I Section 8 Clause 5 U.S.-Const.), das entsprechendeSubstantiv («regulations») an sechs Stellen (Article I Section 4 Clause 1, Section 8 Clause 14, Section 9 Clause 6,Article III Section 2 Clause 2, Article IV Section 2 Clause 3 und Section 3 Clause 2 U.S.-Const.) im Text der mitbald 230 Jahren ältesten noch immer in Kraft stehenden geschriebenen Verfassung auf. In der «Bill of Rights»,die am 25. September 1789 vom Kongress beschlossen wurde und die Verfassung der Vereinigten Staatenergänzt, wird der Ausdruck in adjektivischer Form verwendet; vgl. II. Amendment U.S.-Const.: «A well regulatedMilitia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms, shall notbe infringed.» In der kontroversen Leitentscheidung District of Columbia v. Heller, 554 U.S. 570 (2008) gelangteder United States Supreme Court am 26. Juni 2008 zum Schluss, der wenig klar formulierte Verfassungszusatzgarantiere ein Individualrecht auf den Besitz einer Schusswaffe für traditionell als rechtmäßig verstandeneZwecke wie die Selbstverteidigung.

44 United States Supreme Court, National Federation of Independent Business [NFIB], et al. v. Kathleen Sebelius,Secretary of Health and Human Services, et al., 567 U.S. _ (2012) (slip opinion).

45 United States Supreme Court, NFIB (Anm. 44), S. 18 (opinion of ROBERTS, C.J.): «The power to regulatecommerce presupposes the existence of commercial activity to be regulated. If the power to ‹regulate› something includedthe power to create it, many of the provisions in the Constitution would be superfluous.» (Hervorhebungenteilweise im Original.)

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relevanter Tätigkeiten wie den Abschluss eines Krankenversicherungsvertrags zu verpflichten. 46 InAnlehnung an die Rechtsprechung aus dem frühen 19. Jahrhundert lässt sich «to regulate» daher mit«prescribing rules for something» umschreiben. 47 Die «commerce clause» überträgt dem Kongress demnachdie Befugnis, tatsächlich vorbestehende Tätigkeiten wirtschaftlichen Charakters allgemeinen Regeln zuunterwerfen.48

In der «Progressive Era» – also im Zeitraum zwischen 1890 und 1920 – wurde derAusdruck «regulation» vornehmlich zur Beschreibung staatlicher Regelwerke und Institutionenverwendet, mit denen Rechtsdurchsetzung, die vormals ausschließlich Privatklägern vorbehaltenwar (litigation), in wichtigen Wirtschaftszweigen Verwaltungsbehörden (agencies) übertragenwurde.49 Unter geänderten politischen Voraussetzungen setzte sich dieser Paradigmenwechselvon privater hin zu administrativer Rechtsdurchsetzung in der Periode des New Deal fortund wurde förmlich multipliziert.50 Dieses Verständnis von «regulation» als von unmittelbarerstaatlicher Leistungserbringung und Güterverteilung unterschiedener, regelhafter administrativerAufsicht, Rechtsdurchsetzung und Rechtserzeugung prägt schließlich auch die zunächst auf die VereinigtenStaaten, später auf Großbritannien und seit den 1990er-Jahren auch auf die Europäische Unionangewendete Figur des «Regulatory State». 51

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46 United States Supreme Court, NFIB (Anm. 44), S. 20-27 (opinion of ROBERTS, C. J.); a.M. statt anderer J. M.BALKIN, Commerce, Michigan Law Review 109 (2010) S. 1-52, 46 f.

47 Vgl. United States Supreme Court, Gibbons v. Ogden, 9 Wheat. 1, 196, 244 (1824): «What is this power? It is thepower to regulate; that is, to prescribe the rule by which commerce is to be governed (…).» (Hervorhebungenhinzugefügt); vgl. BALKIN, Commerce (Anm. 46), S. 28 f.; ferner A. R. AMAR, America’s Constitution. ABiography, New York 2005, S. 105-110 und in diesem Punkt ebenso R. E. BARNETT, The Original Meaning ofthe Commerce Clause, University of Chicago Law Review 68 (2001) S. 101-147, 139-146.

48 Ob solche Tätigkeiten im engeren Sinn «wirtschaftlich» zu sein brauchen – so wohl United States SupremeCourt, NFIB (Anm. 44), S. 18 (opinion of ROBERTS, C. J.) («…the existence of commercial activity to beregulated…»; Hervorhebungen hinzugefügt) – ist freilich umstritten; die Frage aufgrund einer historischenAuslegung verneinend BALKIN, Commerce (Anm. 46), S. 15-29.

49 Zu den Gründen für diesen Paradigmawechsel (fehlendes technisches Fachwissen der Richter, mangelndeKonsistenz administrativer Regelungen bei gerichtlicher Rechtsdurchsetzung, Verfahrenskosten alsProzesshindernis für sozial schwächere Parteien etc.) vgl. die einflussreichen Darlegungen von J. M. LANDIS,The Administrative Process, New Haven 1938, S. 30-41; für einen politökonomischen Erklärungsansatzdieser Verschiebung in der «Progressive Era» vom Privat- hin zum Verwaltungsrecht vgl. E. L. GLAESER/A. SHLEIFER, The Rise of the Regulatory State, Journal of Economic Literature 41 (2003) S. 401-425; vgl.sodann die konzisen Darstellungen bei St. G. BREYER/R. B. STEWART/C. R. SUNSTEIN/A. VERMEULE,Administrative Law and Regulatory Policy, 6. Auflage, New York 2006, S. 16-18 und – unter Einbezug derEntwicklungen in Deutschland – O. LEPSIUS, Regulierungsrecht in den USA: Vorläufer und Modell, in:Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht (Anm. 4), § 1/S. 3-75, N 18-54.

50 Vgl. R. E. SCHILLER, The Era of Deference. Courts, Expertise, and the Emergence of New DealAdministrative, Michigan Law Review 106 (2007) S. 399-441, insbesondere 429-440; für konziseNachzeichnungen dieser Entwicklung vgl. BREYER/STEWART/SUNSTEIN/VERMEULE, AdministrativeLaw (Anm. 49), S. 18-20 und LEPSIUS, Regulierungsrecht (Anm. 49), N 55-73.

51 Vgl. die nuancierte Aufarbeitung der Thematik bei M. LODGE, Regulation, the Regulatory State and EuropeanPolitics, West European Politics 31 (2008) S. 280-301 und DERS., From the Positive to the RegulatoryState. Causes and Consequences of Changes in the Mode of Governance, Journal of Public Policy 17 (1997)S. 139-167; vgl. für die Vereinigten Staaten insbesondere SUNSTEIN, Rights Revolution (Anm. 42), S. 18-31und für die Anwendung des Konzepts auf Großbritannien M. MORAN, The Rise of the Regulatory State inBritain, Parliamentary Affairs 54 (2001) S. 19-34. Die Übertragung des Konzepts auf die Europäische Uniongeht wesentlich auf G. MAJONE, The Rise of the Regulatory State in Europe, West European Politics 14 (1994)S. 77-101 zurück; zu den normativen Implikationen M. JACHTENFUCHS, The Governance Approach toEuropean Integration, Journal of Common Market Studies 39 (2001) S. 245-264, 252 f.

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C. Holismus und Interdisziplinarität

Besonders vor dem Hintergrund eines aus der Tradition des Common Law hervorgegangenenVerwaltungsrechts scheint demnach wesentlich, dass «regulation» erstens eine Regelbildung impliziert,die über den Einzelfall hinaus Bindungswirkung einfordert. In diesem Sinn regelbildend ist nichtnur ein Rechtssatz, sondern auch die Richtlinie bzw. eine «rule» einer Verwaltungsbehörde52

oder derjenige Leitentscheid eines Gerichts, mit dem eine Rechtsfrage oder eine unbestimmteZahl ähnlich gelagerter Fälle in grundsätzlicher Weise  geklärt wird.53 Zweitens transzendiert derRegulierungsbegriff die im kontinentaleuropäischen Rechtskreis maßgebende Trennlinie zwischenprivatem und öffentlichem Recht.54

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Der diesem Regulierungsbegriff inhärente Holismus dürfte indessen nicht nur auf die imRechtssystem verlaufenden Traditionsanschlüsse zurückzuführen sein. Wesentlicher scheint, dass sichdie «Regulierungstheorie» besonders im angelsächsischen Raum spätestens ab den 1970er-Jahrenals sozialwissenschaftlicher, insbesondere politökonomisch und politikwissenschaftlich ausgerichteterForschungsansatz etabliert, verselbstständigt und global auszubreiten begann. 55 Der anfänglichskeptische, namentlich durch George Stigler angestimmte Unterton, wonach Regulierung in allerRegel durch den betroffenen Wirtschaftssektor erarbeitet und zu dessen Vorteil konzipiert undangewendet wird (capture-Theorie),56 ist dabei einer deutlich freundlicheren Einschätzung gewichen,

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52 Zum formal rulemaking im U.S.-amerikanischen Verwaltungsrecht vgl. Administrative Procedure Act (APA),Pub.L. 79-404, 60 Stat. 237, enacted June 11, 1946 5 U.S.C §§ 553(c), 556/557. Im Normalfall des informalrulemaking hat die Behörde ein blosses sog. «notice-and-comment»-Verfahren durchzuführen, bei dem dieBetroffenen zu den vorgeschlagenen rules schriftlich Stellung nehmen können; vgl. APA, § 553(b); hierzu ausverwaltungsrechtsvergleichender Perspektive R. B. STEWART, U.S. Administrative Law: A Model for GlobalAdministrative Law?, Law and Contemporary Problems 68 (2004-2005) S. 63-108, 73-75.

53 Vgl. auch WINZELER, Art. 7 FINMAG (Anm. 12), N 1 (der Regulierung als eine «Kombination vonRechtssetzung und Rechtsanwendung» bezeichnet; Hervorhebungen weggelassen) und J. MASING,Die US-amerikanische Tradition der Regulated Industries und die Herausbildung eines europäischenRegulierungsverwaltungsrechts. Constructed Markets on Networks vor verschiedenen Rechtstraditionen,AöR 128 (2003) S. 558-607, 561: «‹Regulierung› meint dabei nicht, wie die aktuelle deutsche Diskussion zumRegulierungsverwaltungsrecht, einen Gegenbegriff zu einer hergebrachten Form von allgemeinen Regelungen,sondern meint staatliche Rechtssetzung durch statutes (Gesetze) bzw. auch behördliche rules überhaupt.»Besonders offenkundig ist diese Regelbildung durch Rechtsprechung im «pilot-judgment procedure» desEuropäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in dem anhand eines Einzelfalls in genereller Weise über eineProblemlage entschieden wird, die auch zahlreichen parallelen Verfahren zugrunde liegt (sog. «clone cases»); vgl.dazu L. Caflisch, New Practice Regarding the Implementation of the Judgments of the Strasbourg Court, ItalianYearbook of International Law 25 (2005) S. 3-23 sowie EGMR, Urteil Nr. 31443/96 vom 22. Juni 2004 inSachen Jerzy Broniowski v. Polen.

54 Zur spätestens mit der während des New Deal ergangenen Rechtsprechung des United States Supreme Court, mitder die Grenze zwischen privatem und öffentlichem Recht zusehends verwischte HORWITZ, American Law(Anm. 42), S. 207 f.

55 Für die Sichtweise der Politischen Ökonomie stilbildend G. J. STIGLER, The Theory of Economic Regulation,Bell Journal of Economics and Management Science 2 (1971) S. 3-21; daran anschließend R. A. POSNER,Theories of Economic Regulation, Bell Journal of Economics and Management Science 5 (1974) S. 335-358;S. PELTZMAN, Toward a More General Theory of Regulation, Journal of Law and Economics 19 (1976)S. 211-240 und F. S. MCCHESNEY, Rent Extraction and Rent Creation in the Economic Theory of Regulation,Journal of Legal Studies 16 (1987) S. 101-118.

56 STIGLER, Regulation (Anm. 55), S. 3: «[A]s a rule, regulation is acquired by the industry and is designed andoperated primarily for its benefit.»; mehr als 15 Jahre früher bereits L. L. JAFFE, The Effective Limits of theAdministrative Process. A Reevaluation, Harvard Law Review 67 (1954) S. 1105-1135, 1113 (die «industryorientation» als «endemic in any agency or set of agencies» bezeichnend), der gemäß HORWITZ, American Law(Anm. 42), S. 240 der erste «New Dealer» war, der das capture-Phänomen identifizierte.

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wonach sich Regulierung «smart», 57 «responsive»58 und «problem-centered»59 ausgestalten lässt. Paralleldazu hat sich die semantische Extension des sozialwissenschaftlich geprägten Regulierungsbegriffszusehends erweitert. Noch in den 1990er-Jahren wurde «regulation» – zumeist in Anlehnung anPhilip Selznick – als ständige Aufsicht durch eine staatliche Behörde umschrieben. 60 «Regulierung»bildete demgemäß ein Synonym zu sog. «control-and-command-regulations» (CAC) unter Ausschluss desStraf- und Strafprozessrechts.61 Auch wenn diese tendenziell staatszentrierte Begriffsumschreibungvon internationalen Organisationen wie der in der Politikberatung wirkungsmächtigen Organisationfür wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 62 nach wie vor maßgebend ist, verlegtensich im Wissenschaftskontext angesiedelte Begriffsbestimmungen vermehrt auf eine ausschließlichnegative Definition, wonach «Regulierung» im Gegensatz zur staatlichen Leistungserbringungund Güterverteilung (distributive Politik) steht. 63 Bestehen bleibt damit die Differenz zwischen«Regulierung» und «Governance»: «Regulierung» erscheint als Teilmenge64 und – neben redistributiverPolitik und direkter Leistungserbringung durch die Verwaltung – als eine von verschiedenen Formenvon «Governance».65 Diese Abgrenzung verschwimmt dagegen gemäß einem breiteren Anklangfindenden «dezentrierten», vom Subjekt der Steuerung losgelösten Ansatz zusehends:66 Demnach

57 N. A. GUNNINGHAM/P. GRABOSKY, Smart Regulation, Oxford/New York 1999, S. 373-448.58 I. AYRES/J. BRAITHWAITE, Responsive Regulation, New York/Oxford 1992, S. 158-162.59 M. SPARROW, The Regulatory Craft, Washington DC 2000, S. 131-133.60 Ph. SELZNICK, Focusing Organisational Research on Regulation, in: R. Noll (Hrsg.), Regulatory Policy and the

Social Sciences, Berkeley 1985, S. 363-367, 363 (Hervorhebungen im Original): «In its central meaning, regulationrefers to the sustained and focused control exercised by a public authority valued by the community», dazuA. I. OGUS, Regulation. Legal Form and Economic Theory, Oxford/Portland 2004, S. 108; R. BALDWIN/M. CAVE, Regulation, in: R. Baldwin/M. Cave/M. Lodge (Hrsg.). The Oxford Handbook of Regulation,Oxford/New York 2010, S. 3-16, 12 (diese Definition als «seminal» bezeichnend).

61 OGUS, Regulation (Anm. 60), S. 1. – Im obigen Sinn auch etwa OECD, Recommendation on Regulatory Policyand Governance (Anm. 36), S. 21: «For the OECD, regulation is defined broadly, referring to the diverse setof instruments by which governments set requirements on enterprises and citizens. Regulations include laws,formal and informal orders and subordinate rules issued by all levels of government, and rules issued by non-governmental or self-regulatory bodies to which governments have delegated regulatory powers.»; kritisch zumCAC-Ansatz etwa GUNNINGHAM/GRABOSKY, Smart Regulation (Anm. 57), S. 38-50.

62 Zur informellen aber wirkungsmächtigen Rolle der Politikberatung durch die OECD am Beispiel des «Programmefor International Student Assessment» (PISA) A. v. BOGDANDY/M. GOLDMANN, The Exercise of InternationalPublic Authority through National Policy Assessment, International Organizations Law Review 5 (2008)S. 241-298; ferner Ch. MÖLLERS, Die Governance-Konstellation. Transnationale Beobachtung durchöffentliches Recht, in: G. F. Schuppert/M. Zürn (Hrsg.), Governance in einer sich wandelnden Welt, PolitischeVierteljahresschrift 41 (2008) S. 238-256, 249 f., 252; vgl. auch ergänzend die Nachweise in Anm. 95.

63 Vgl. etwa J. BRAITHWAITE, The Regulatory State?, in: R. A. W. Rhodes/S. A. Binder/B. A. Rockman (Hrsg.),The Oxford Handbook of Political Institutions, Oxford/New York 2006, S. 407-430, 407; JACHTENFUCHS,Governance Approach (Anm. 51), S. 252 f.

64 BRAITHWAITE, Regulatory State (Anm. 63), S. 407 (Hervorhebungen hinzugefügt): «Regulation is conceived asthat large subset of governance that is about steering the flow of events, as opposed to providing and distributing.»

65 J. BRAITHWAITE/C. COGLIANESE/D. LEVI-FAUR, Can regulation and governance make a difference?Regulation & Governance 1 (2007) S. 1-7, 3 (Hervorhebungen hinzugefügt): «[W]e (…) conceive of ‹governance›as a broader term than ‹regulation›. Governments and governance are about providing, distributing, and regulating.Regulation can be conceived as that large subset of governance that is about steering the flow of events andbehavior, as opposed to providing and distributing.»; zum normativen Gehalt des Governance-Ansatzes miteiner dezidiert kritischen Würdigung KAHL, Pfade und Tendenzen (Anm. 4), S. 495-497 m.w.H.

66 Vgl. J. BLACK, Decentring. Regulation. Understanding the Role of Regulation and Self-Regulation in a «Post-Regulatory» World, Current Legal Problems 54 (2001) S. 103-146; ähnlich weit etwa GUNNINGHAM/GRABOSKY, Smart Regulation (Anm. 57), S. 4.

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haben sämtliche regelhaften, intentional auf die Verhaltensbeeinflussung und -steuerung gerichtetenHandlungen potenzieller Akteure – seien sie nun staatlicher, supranationaler, internationaler,transnationaler oder privater Provenienz – als «Regulierung» zu gelten. 67 In dieser Sichtweise werdenetwa Staaten, die auf dem Kapitalmarkt Anleihen ausgeben, durch Ratingagenturen «reguliert». 68

D. Regulierungstheorie als Erweiterung und Perspektivenwechsel derVerwaltungsrechtswissenschaft

Auch wenn in der sozialwissenschaftlich dominierten, trans- und interdisziplinärenRegulierungsforschung je nach Fragestellung und Fachrichtung mit einem ganz unterschiedlichenVerständnis von «Regulierung» operiert wird,69 und «regulation» daher – ähnlich übrigens wie«governance» – keiner präzisen deutschen Übersetzung zugänglich ist,70 bleibt allen Schattierungendes Begriffs gemeinsam, dass Regeln in einen Wirkungszusammenhang gestellt werden: Mit«Regulierung» sollen Wirkungen erzielt werden. 71 Diese Feststellung ist nur auf den ersten Blick«trivial».72 Recht als Produkt der Politik ist nämlich nicht stets auf die Änderung tatsächlicherZustände gerichtet, sondern soll sich nach dem Willen der rechtsetzenden Organe zuweilen inder bloßen Demonstration von Gestaltungswillen und damit in politischer Symbolik erschöpfen.73

Von politischen Behörden ausgehende «Regulierungen» sind demgegenüber stets das Produktinstrumenteller Politik.74 Das festgestellte Charakteristikum eines Wirkungszusammenhangs istaus einer rechtstheoretischen Perspektive insofern ertragreich, als dass das Rechtssystem als

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67 J. BLACK, Critical Reflections on Regulation, Australian Journal of Legal Philosophy 27 (2002) S. 1-35, 26(Hervorhebungen weggelassen): «[R]egulation› is the sustained and focused attempt to alter the behaviour ofothers according to defined standards or purposes with the intention of producing a broadly identified outcomeor outcomes, which may involve mechanisms of standard-setting, information-gathering and behaviour-modification.»; kritisch LODGE, Regulation (Anm. 51), S. 295.

68 BLACK, Critical Reflections (Anm. 67), S. 13, unter Bezugnahme auf J. BRAITHWAITE/P. DRAHOS, GlobalBusiness Regulation, Cambridge UK 2000, S. 27.

69 Vgl. nur OGUS, Regulation (Anm. 60), S. 1-5; bedenkenswert in diesem Zusammenhang BLACK, CriticalReflections (Anm. 67), S. 11: «Conceptual confusion is indicated by definitional chaos.»

70 So auch BLACK, Critical Reflections (Anm. 67), S. 2 («‹Regulation› is not a concept that travels well (…). As anywho have attempted to study ‹regulation› outside of English-speaking countries will be aware, there is often noparallel word or even concept, though that does not mean that the social activity to which the term ‹regulation› isused to refer does not exist.»)

71 Vgl. statt aller R. BALDWIN/M. CAVE/M. LODGE, Understanding Regulation. Theory, Strategy, andPractice, 2. Auflage, Oxford/New York 2012, S. 3; hinsichtlich der Wirkungsorientierung ebenso M. EIFERT,Regulierungsstrategien, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagendes Verwaltungsrechts. Band I, 2. Auflage, München 2012, § 19 N 7; E. SCHMIDT-ASSMANN, Dasallgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Auflage, Berlin/Heidelberg/New York 2004, Kap. 3 N 53(Regulierung als Gestaltungsaufgabe mit Finalsteuerung) und SCHORKOPF, Regulierung (Anm. 39), S. 21-29,21 (Finalsteuerung).

72 So aber KAHL, Pfade und Tendenzen (Anm. 4), S. 490/Fn. 204 (diesen «Bewirkungsaspekt» als «trivial»bezeichnend), mit Hinweis auf ein Zitat aus BVerfGE 88, 203 (253), wonach Recht eine «auf tatsächlicheGeltung abzielende (…) normative Ordnung» darstellt.

73 Vgl. N. LUHMANN, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995, S. 478 f.74 Eingehender zu dieser Differenz J. REICH, «Schutz der Kinder und Jugendlichen» als rechtsnormatives und

expressives Verfassungsrecht. Rechtsnatur und Normgehalt von Art. 11 Abs. 1 der Bundesverfassung, Zeitschriftfür Schweizerisches Recht 131 (2012) I S. 363-387, 370-373, entfaltet vornehmlich auf der Unterscheidungzwischen instrumenteller und symbolischer Politik nach LUHMANN, Recht der Gesellschaft (Anm. 73),S. 478 f.

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am Einzelfall orientierte, gerichtszentrierte Interpretationswissenschaft traditionell nicht aufdie erzeugten Folgen hin ausgerichtet ist, sondern sich der nachgelagerten Überprüfung desVorentschiedenen widmet. Indem der holistische Regulierungsbegriff die traditionelle interneTrennlinie des Rechtssystems überwindet, lässt sich Recht als Steuerungsinstrument im Sinne einesElements einer an den erzielten oder erzielbaren Wirkungen interessierten Regelungstheorie verstehen.

Vor diesem Hintergrund soll dann von «Regulierungen» die Rede sein, wenn es um die regelhafte,Folgen intendierende Einwirkung von Akteuren mit Verwaltungsfunktionen auf soziale Prozesse und Zuständegeht. Epistemisch ist mit einer regulierungstheoretischen Sichtweise folglich erstens eine Erweiterungder Perspektive verbunden, die das Recht mit der inhaltlichen Dimension der Politik – der«policy» – verknüpft. Zweitens führt die Ausrichtung auf die Steuerungs- und Wirkungsebene zu einerAufgabe der überkommenen rechtsaktbezogenen Fixierung und damit zu einem Perspektivenwechselinnerhalb der Verwaltungsrechtswissenschaft. Hierin liegt denn auch die Verbindungsliniezur «Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft», plädiert Letztere doch für eine Abkehr von der«rechtsaktbezogenen Perspektive» der Rechtswissenschaft als Interpretationswissenschaft und füreine Hinwendung zu einer Handlungs-, Entscheidungs- und Wirkungsorientierung. 75

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Zu betonen ist dabei der Stellenwert eines «differenziert-integrativen Ansatzes».76 Der Einbezugeiner regulierungstheoretischen, mithin vornehmlich sozialwissenschaftlich informierten Sichtweiseverpflichtet in besonderem Maß dazu, Argumente auf ihre normative Begründetheit zu überprüfen.Beispielsweise gehört die Auffassung, dass sich staatliche «Regulierungen» grundsätzlich nurbei Marktversagen oder negativen externen Effekten (Externalitäten) rechtfertigen lassen,zum Standardrepertoire einer ökonomisch informierten Regulierungstheorie.77 Aus rechtlicherSicht vermag das Argument eines möglicherweise bestehenden Marktversagens hinsichtlich derProduktion eines bestimmten Gutes jedoch nur Indizien dafür zu liefern, ob und in welchem Maßein öffentliches Interesse daran bestehen könnte, dass das entsprechende Gut durch ein öffentlichesUnternehmen bereitgestellt wird. 78 Ob aber Marktversagen und Externalitäten die einzigen

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75 Vgl. grundlegend A. VOSSKUHLE, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts. Band I, 2. Auflage, München 2012,§ 1 N 2-8, 11, 15; kritisch zum proklamatorischen Auftritt der Vertreterinnen und Vertreter der «NeuenVerwaltungsrechtswissenschaft» und deren «ausgeprägten Neigung zur Selbstkennzeichnung» insbesondereR. WAHL, Herausforderungen und Antworten. Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, Berlin 2006,S. 89, 92; abwägend-kritisch auch KAHL, Pfade und Tendenzen (Anm. 4), S. 463 f., 491-495; vgl. auch deneigenständigen, auf eine «interdisziplinäre Öffnung» ausgerichteten Ansatz aus einer (auch) schweizerischenPerspektive bei B. SCHINDLER, 100 Jahre Verwaltungsrecht in der Schweiz, Zeitschrift für SchweizerischesRecht 130 (2011) II S. 313-437, 413-419.

76 Ausführlich VOSSKUHLE, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft (Anm. 75), N 39 (mit zahlreichenNachweisen).

77 Stilbildend für die Auffassung, wonach negative externe Effekte (negative Externalitäten) eine notwendige, aberauch hinreichende Voraussetzung für staatliche Maßnahmen bilden A. PIGOU, The Economics of Welfare,4. Auflage, London 1932, insbesondere S. 18-20; vgl. auch J. E. Stiglitz, Whither Socialism?, Cambridge MA/London, insbesondere S. 42 f., 58-61. – Zu den ökonomischen Grundlagen vgl. etwa P. A. SAMUELSON/W. D. NORDHAUS, Economics, 18. Auflage, Boston etc. 2005, S. 30, 36 f., 365.

78 Vgl. für den Versuch einer Umsetzung eines differenziert-integrativen Ansatzes am Beispiel des TaxigewerbesJ. REICH, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Rahmenbedingungen der Regulierung des Taxigewerbes.Regulierungsrechtliche Standortbestimmung nach den Urteilen 2C_804/2010 und 2C_940/2010 desBundesgerichts vom 17. Mai 2011 zur Taxi-Verordnung der Stadt Zürich, Jusletter vom 18. Juli 2011, Rz. 4-8[online verfügbar unter <http://jusletter.weblaw.ch/article/de/_9450?lang=de>].

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Rechtfertigungsgründe für die Existenz eines wirtschaftlich tätigen öffentlichen Unternehmenssind, lässt sich dagegen nur aufgrund der maßgebenden normativen Grundlage entscheiden.79

III. Regulierungsrecht und verwaltungsrechtliche Systembildung

Wenn nun also dem Regulierungsbegriff auch im Rechtssystem erkenntnistheoretischer Wertzukommt, folgt daraus nicht notwendig, dass ein bestimmter Teil des Rechtsstoffs überBesonderheiten verfügt, die ihn als wie auch immer definiertes «Regulierungsrecht» ausweisen.Vielmehr besteht die Vermutung, dass die Abschichtung eines besonderen «Regulierungsrechts»in der deutschen Wissenschaft vom Verwaltungsrecht wesentlich auf die legislatorischeZufälligkeit zurückgeht, dass der Regulierungsbegriff in Netzwirtschaften betreffenden Gesetzen(Telekommunikationsgesetz, Postgesetz, Energiewirtschaftsgesetz) umschrieben worden ist.80

Erst aus diesem «genetischen Kern» des Regulierungsrechts81 ergibt sich ein Zusammenhangzwischen der Liberalisierung vormals staatlicher Monopole durch Aufgabenprivatisierung undeinem Verständnis des Regulierungsrechts als «Privatisierungsfolgerecht». 82 Dieser Konnexerscheint indessen mit Blick auf die erstmalige positivrechtliche Verortung des Regulierungsbegriffsim schweizerischen Bundesverwaltungsrecht jenseits des Rechts der Netzwirtschaften – imFinanzmarktrecht nämlich83 – keineswegs zwingend.

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Vor diesem Hintergrund vermag es auch nicht zu erstaunen, dass über den Begriff derRegulierung im regulierungsrechtlichen Sinn Uneinigkeit herrscht:84 Teilweise wird der Begriff fürzweckgerichtete, hoheitliche Einwirkungen auf soziale und wirtschaftliche Prozesse reserviert,85

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79 Zur hier angedeuteten Problematik der Leistungserbringung öffentlicher Unternehmen außerhalb rechtlicherMonopole in Konkurrenzierung Privater vgl. BGE 138 I 378 E. 8.4 S. 394 f., wo das SchweizerischeBundesgericht die Ansicht, wonach «eine staatliche unternehmerische Tätigkeit nur zulässig sei, wenn einMarktversagen vorliegt oder die Privatwirtschaft nicht in der Lage ist, die Bedürfnisse der Bevölkerungabzudecken (…)» zu Recht verwirft.

80 Vgl. statt anderer RUFFERT, Begriff (Anm. 34), N 44-48.81 KAHL, Pfade und Tendenzen (Anm. 4), S. 483.82 Zum Zusammenhang zwischen dem TKG und dem Regulierungsbegriff vgl. eingehend M. Ruffert, Regulierung

im System des Verwaltungsrechts, AöR 124 (1999) S. 237-281, 239 f.; desgleichen H. Ch. RÖHL, Soll das Rechtder Regulierungsverwaltung übergreifend geregelt werden?, JZ 61 (2006) S. 831-839, 832; H.-H. TRUTE,Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung,DVBl 111 (1996) S. 950-964, 953 f.; WAHL, Herausforderungen und Antworten (Anm. 75), S. 83 sowieA. Ch. THOMA, Regulierte Selbstregulierung im Ordnungsverwaltungsrecht, Berlin 2008, S. 35 f.; zu Rechtkritisch J. MASING, Grundstrukturen eines Regulierungsverwaltungsrechts, Die Verwaltung 36 (2003) S. 1-32,2 (wonach «Privatisierungsfolgerecht» bloßes «Abwicklungsrecht» suggeriere, mit dem man sich nicht zubeschäftigen brauche) und J.-P. SCHNEIDER, Flexible Wirtschaftsregulierung durch unabhängige Behörden imdeutschen und britischen Telekommunikationsrecht, in: E. Schmidt-Aßmann/K.-P. Dolde (Hrsg.), Beiträge zumöffentlichen Wirtschaftsrecht. Verfassungsrechtliche Grundlagen, Liberalisierung und Regulierung, öffentlicheUnternehmen, Frankfurt am Main 2005, S. 39-40, 41-43.

83 Art. 7 FINMAG (Anm. 11).84 Vgl. nur EIFERT, Regulierungsstrategien (Anm. 71), § 19 N 1 («‹Regulierung› hat noch keine einheitliche

Definition.») sowie RÖHL, Regulierungsverwaltung (Anm. 82), S. 832; kritisch MASING, Gutachten (Anm. 39),S. D 5-D 195, D 9 und D 191; DERS., Regulierungsverwaltungsrecht (Anm. 82), S. 1 f.

85 EIFERT, Regulierungsstrategien (Anm. 71), § 19 N 7; E. SCHMIDT-ASSMANN, Regulierte Selbstregulierungund verwaltungsrechtliche Systembildung, Die Verwaltung. Beiheft 4, Regulierte Selbstregulierung alsSteuerungskonzept des Gewährleistungsstaates, S. 253-271, 255.

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wogegen eine engere Variante den Ausdruck auf die Einwirkung hoheitlichen Handelnsauf bestimmte Wirtschaftssektoren oder zumindest «auf den wirtschaftlich geprägten Teil einesLebensbereichs» reduzieren will.86 Aufgrund der dargestellten Wurzeln des Regulierungsbegriffs imangelsächsischen Rechtskreis drängt sich diese Begriffsverengung indessen nicht auf.87 Folgerichtigwird auch das Umweltrecht, dessen Gehalt sich zumindest nicht durchgehend als «wirtschaftlich»bezeichnen lässt, als «wichtiges Feld» des Regulierungsrechts identifiziert.88

Die Charakteristiken, die jenen Rechtsgebieten gemeinsam sind, die üblicherweise dem«Regulierungsrecht» zugerechnet werden, 89 scheinen sich ohnehin nicht vollständig und direktüber den unklar konturierten Regulierungsbegriff zu erschließen.90 Kennzeichnend für dieverschiedenen Referenzgebiete vom Telekommunikations- bis hin zum Abfallrecht als Teilgebietdes Umweltrechts ist vielmehr, dass sich der Staat seit dem späten 20. Jahrhundert darauf verlegthat, bloß zu gewährleisten, dass bestimmte Leistungen – etwa im Bereich der Fernmeldediensteoder der Abfallentsorgung – überhaupt erbracht werden (Gewährleistungsverantwortung), er aberdavon absieht, die entsprechenden Güter selbst durch eine Verwaltungseinheit bereitzustellen(volle Erfüllungsverantwortung als Verwaltungsaufgabe).91 Dem Regulierungsrecht zuzuordnendeRechtssätze gestalten und strukturieren daher Märkte und sind auf dauerhafte Einwirkung,Einhegung und Begleitung des Marktgeschehens hin ausgerichtet.92 In dieser Perspektivewerden denn auch die Verbindungslinien zum sozialwissenschaftlich geprägten Regulierungsbegriffsichtbar: Das Regulierungsrecht adaptiert jene Umschreibung von «Regulation», die für den«Regulatory State» prägend ist (vgl. Ziff. III).

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Demnach lässt sich «Regulierung» im Sinne des Regulierungsrechts als die regelhafte,Folgen intendierende, förmliche oder schlichte, insbesondere informelle, typischerweise dauerhafteund gestaltende Einwirkung von Akteuren mit nationalen, trans-, supra- oder internationalenVerwaltungsfunktionen auf soziale Prozesse und Zustände, speziell durch Aufsicht, Rechtsdurchsetzungund administrative Rechtserzeugung, nicht aber durch unmittelbare staatliche Leistungserbringung

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86 RUFFERT, Begriff (Anm. 34), N 58 (Hervorhebungen hinzugefügt).87 Aus anderen Gründen ebenfalls kritisch MASING, Regulierungsverwaltungsrecht (Anm. 82), S. 2.88 SCHMIDT-ASSMANN, Regulierte Selbstregulierung (Anm. 85), S. 256 (bezogen auf die regulierte

Selbstregulierung).89 Zu möglichen Referenzgebieten vgl. RÖHL, Regulierungsverwaltung (Anm. 82), S. 833; KAHL, Pfade und

Tendenzen (Anm. 4), S. 483; vgl. sodann vor allem die Beiträge in FEHLING/RUFFERT, Regulierungsrecht(Anm. 4), §§ 8-18 (Telekommunikation, Energie, öffentlicher Verkehr, Post, Medien, Abfall, Wasser, sozialeInfrastrukturen im Gesundheitswesen, Hochschule und Finanzmarktaufsicht) sowie REICH, Regulierung desTaxigewerbes (Anm. 78), Rz. 3 und 9 (das Taxigewerbe, definiert als gewerbsmäßiger Transport von Personenund Waren ohne Fahrplan und festgelegte Linienführung, als Referenzgebiet behandeln).

90 Ähnlich wohl auch MASING, Gutachten (Anm. 39), S. D 9 f., 14.91 Zu den systematisierend entfalteten Abstufungen staatlicher Verantwortlichkeit vgl. E. SCHMIDT-ASSMANN,

Zur Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/G. F. Schuppert(Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, Baden-Baden 1993, S. 11-63, 43 f.; ferner KAHL,Pfade und Tendenzen (Anm. 4), S. 481 f. – Zu dem damit in Zusammenhang stehenden Modell desGewährleistungsstaates vgl. nachstehend Ziff. IV/A-B.

92 Ähnlich KAHL, Pfade und Tendenzen (Anm. 4), S. 483 m.w.H.

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oder Güterverteilung, umschreiben.93 Vom Regulierungsbegriff mitumfasst ist damit auch etwadie «administrative Informationsarbeit»,94 also die im transnationalen und internationalen Kontextzentrale Verhaltensbeeinflussung von Akteuren der Verwaltung, die in Netzwerken verbundensind, durch Information («regulation by information» 95). In diesem Sinn umschrieben ist dasRegulierungsrecht auch einem Verständnis als «Gewährleistungsverwaltungsrecht» zugänglich.96

«Regulierungsrecht» erweist sich in dieser Perspektive nicht als ein nach durchgängig einheitlichenKriterien strukturiertes, monolithisches Rechtsgebiet, das sich auf strukturell weitgehend identischeRegulierungsgegenstände bezieht. Vielmehr kann «Regulierungsrecht» als heuristisches und analytischesKonzept verstanden, jene Merkmale bündeln, die für jene Rechtsgebiete charakteristisch sind,die vom Rückzug des Staates auf seine Gewährleistungsverantwortung betroffen sind.97 Derregulierungsrechtliche Ansatz bietet demgemäß das Potenzial, für identische Problemlagen im Sinneder verwaltungsrechtlichen Systembildung übergreifende Regelungsmodelle zu entwickeln. 98

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IV. Charakteristiken und staatstheoretische Voraussetzungen von «Regulierung» und«regulierter Selbstregulierung»

A. Kennzeichen regulierter Selbstregulierung

Mit dem Aspekt der Gewährleistungsverantwortung steht auch das Konzept der «reguliertenSelbstregulierung» – zuweilen auch als «gesteuerte Selbstregulierung» bezeichnet 99 – inZusammenhang. Dessen Charakteristikum liegt im Zusammenwirken von hoheitlich ordnender undeinhegender Normsetzung einerseits und Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation andererseits.«Essenz des Begriffs» der regulierten Selbstregulierung ist mithin «der Verbund». 100 Hinzu

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93 Anders, da stärker auf die Ermöglichung von Wettbewerb ausgerichtet dagegen RUFFERT, Begriff (Anm. 34),N 58 m.w.H.

94 W. HOFFMANN-RIEM, Eigenständigkeit der Verwaltung, in: ders./Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen(Anm. 71), § 10 N 137 unter Verweis auf BVerfGE 105, 279 (306), wo indessen von «staatsleitende[r]Informationsarbeit» die Rede ist.

95 Im Kontext der Europäischen Union stilbildend G. MAJONE, The New European Agencies: Regulationby Information, Journal of European Public Policy 4 (1997) S. 262-275 und – für die Verbindung mit demNetzwerk-Ansatz – R. DEHOUSSE, Regulation by Networks in the European Community. The Role ofEuropean Agencies, Journal of European Public Policy 4 (1997) S. 246-261; zu den daraus entstehendenlegitimationstheoretischen Problemlagen A.-M. SLAUGHTER, Global Government Networks, GlobalInformation Agencies, and Disaggregated Democracy, Michigan Journal of International Law 24 (2002/2003)S. 1041-1076.

96 Zu diesem Zusammenhang statt anderer WAHL, Herausforderungen und Antworten (Anm. 75), S. 83 f. m.w.H.und RÖHL, Regulierungsverwaltung (Anm. 82), S. 833.

97 Illustrativ daher die Aufzählung der Referenzgebiete in Anm. 89.98 Zur verwaltungsrechtlichen Systembildung vgl. vornehmlich SCHMIDT-ASSMANN, Ordnungsidee (Anm. 71),

Kap. 1 N 3 f.; sodann Ch. MÖLLERS, Methoden, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle,Grundlagen (Anm. 71), § 3 N 35 f. m.w.H.; zur Funktion rechtswissenschaftlicher Dogmatik auch J. REICH,Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit. Evolution und Dogmatik von Art. 94 Abs. 1 und 4 der Bundesverfassung derSchweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999, Zürich/St. Gallen 2011, N 20-23.

99 Statt aller G. MÜLLER, Elemente einer Rechtssetzungslehre, 2. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2006, S. 29 f.100 SCHMIDT-ASSMANN, Regulierte Selbstregulierung (Anm. 85), S. 255: «Die Essenz des Begriffs ist der

Verbund.»; in der Sache ebenso A. VOSSKUHLE, «Regulierte Selbstregulierung» – Zur Karriere einesSchlüsselbegriffs, Die Verwaltung. Beiheft 4, Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des

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tritt ein weiteres Element: Die Kräfte gesellschaftlicher Selbstorganisation sollen durch einehoheitliche Rahmenordnung zur Verwirklichung von als öffentlich definierten Interessen beitragen.Insofern unterstreicht die Strategie der regulierten Selbstregulierung nicht den grundrechtlich primafacie geschützten «wildwüchsige[n] Freiheitsgebrauch der Grundrechtsberechtigten»,101 sondernversucht, gesellschaftliche Selbstorganisation zur Erreichung von Gemeinwohlzielen zu kanalisieren.Der verfassungsrechtliche Freiheitsgebrauch wird insofern «regulatorisch überformt»102 und fürdie Verwirklichung öffentlicher Interessen in Dienst genommen. 103 Da sich die regulierteSelbstregulierung dadurch auszeichnet, dass die gesellschaftliche Selbstorganisation mit derplanmäßigen hoheitlichen Einwirkung um eine auf höherem Niveau angesiedelte Steuerungsebeneergänzt wird, ist im angelsächsischen Schrifttum die Bezeichnung «meta-regulation» gängig.104

Die Verheißung regulierter Selbstregulierung liegt vor allem darin, dass ein höheres Maß anExpertise, Fachwissen und Sachnähe zu inhaltlich angemesseneren, schneller, flexibler undkostengünstiger durchsetzbaren und bei den Betroffenen auf höhere Akzeptanz stoßenden Regelnführt. 105 Neben der prekären demokratischen Legitimation der Normsetzung im Verfahrenregulierter Selbstregulierung sieht sich diese Regulierungsstrategie hauptsächlich den Vorwürfenausgesetzt, vor allem den Interessen der Regulierten selbst zu dienen (capture-Phänomen)106

und die Komplexität der Steuerung durch undurchsichtige institutionelle Arrangements undVerantwortungszusammenhänge auf ineffiziente Weise zu potenzieren.107

Vor diesem Hintergrund erhellt sich, dass der im Bereich der «[regulierten] Selbstregulierung»verwendete Regulierungsbegriff weder semantisch noch dogmatisch dem vorstehend unter Ziff. IIIfür das Regulierungsrecht entwickelten Regulierungsbegriff entspricht. «Regulierung» im Sinne derSelbstregulierung ist in der gesellschaftlichen Sphäre beheimatet. Selbstregulierung impliziert gleichwohl

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Gewährleistungsstaates, S. 197-200, 199 («Verwobenheit von Fremd- und Selbststeuerung»); aus schweizerischerSicht in der Sache ebenso MÜLLER, Rechtssetzungslehre (Anm. 99), S. 29 f. sowie G. BIAGGINI/R. H. WEBER, Rechtliche Rahmenbedingungen für verwaltungsunabhängige Behördenkommissionen,Zürich 2002, S. 225 f.; enger wohl A. MARTI, Aufgabenteilung zwischen Staat und Privaten auf dem Gebietder Rechtsetzung. Ende des staatlichen Rechtsetzungsmonopols?, Aktuelle Juristische Praxis 11 (2002) S.1154-1162, 1159 und DERS., Selbstregulierung anstelle staatlicher Gesetzgebung?, Schweizerisches Zentralblattfür Staats- und Verwaltungsrecht 101 (2000) S. 561-586, 569; für den angelsächsischen Kontext statt andererC. COGLIANESE/E. MENDELSON, Meta-Regulation and Self-Regulation, in: Baldwin/Cave/Lodge,Handbook of Regulation (Anm. 60), S. 146-168, 150.

101 B. PIEROTH/B. SCHLINK, Grundrechte. Staatsrecht II, 28. Auflage, Heidelberg 2012, N 222.102 EIFERT, Regulierungsstrategien (Anm. 71), § 19 N 145.103 Besonders deutlich in diesem Sinn U. DI FABIO, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher

Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997) S. 237-277, 238: «instrumentelleSelbstregulierung» (Hervorhebungen verändert); ferner M. SCHMIDT-PREUSS, Verwaltung undVerwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997)S. 160-234, 165; THOMA, Regulierte Selbstregulierung (Anm. 82), S. 39.

104 Vgl. COGLIANESE/MENDELSON, Meta-Regulation (Anm. 100), S. 147-153.105 Statt anderer EIFERT, Regulierungsstrategien (Anm. 71), § 19 N 59; A. OGUS, Rethinking Self-Regulation,

Oxford Journal of Legal Studies 15 (1995) S. 97-108, 97 f. m.w.H.106 OGUS, Self-Regulation (Anm. 105), S. 98 m.w.H.; DERS., Regulation (Anm. 60), S. 108 und

COGLIANESE/MENDELSON, Meta-Regulation (Anm. 100), S. 153; kritisch zur demokratischenLegitimation MÜLLER, Rechtssetzungslehre (Anm. 99), S. 36 f.; zum capture-Phänomen vgl. vorne unterZiff. II/C zwischen Anm. 55 und 57.

107 Vgl. EIFERT, Regulierungsstrategien (Anm. 71), § 19 N 60.

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keine bloß «spontane Ordnung»,108 sondern verlangt ein Mindestmaß an privaten Absprachen,selbstauferlegten Verhaltenspflichten und organisatorischen Vorkehrungen zur Erreichung einesgemeinsamen Zwecks.109 «Selbstregulierung» steht zusammengefasst für durch organisatorische undandere rechtliche und tatsächliche Vorkehrungen relativ stabilisierte Formen gesellschaftlicherSelbstorganisation.

B. Einbettung in das Staatsmodell des «Gewährleistungsstaates»

Die Verbindungslinie zwischen regulierter Selbstregulierung und Regulierungsrecht liegt indem für beide Konzepte maßgebenden Staatsmodell: Beide Konzepte beruhen auf derPrämisse einer auf Gewährleistungsverantwortung zurückgenommenen staatlichen Verantwortung (vgl.Ziff.  III). Vor diesem Hintergrund kann sich der Verbund gesellschaftlicher Selbstorganisationund hoheitlicher Steuerung als probate Strategie erweisen, die intendierten Gemeinwohlzielemit effizientem Ressourceneinsatz zu erreichen. Die herausgearbeitete, für die regulierteSelbstregulierung charakteristische Möglichkeit des durch hoheitliche Regelungen überformtenverfassungsrechtlichen Freiheitsgebrauchs beruht indessen auf einer Reihe historisch kontingenterFaktoren.110 Wie bereits angedeutet, setzte das Konzept der regulierten Selbstregulierung zunächsteinen Staat voraus, der eine «virtuelle Allzuständigkeit» beansprucht111 und an der damitverbundenen Verantwortung festhält, sich indessen von der umfassenden und unmittelbarenAufgabenerfüllung, wie sie für den Leistungsstaat charakteristisch ist, verabschiedet hat. Mithinreduziert der Staat den Grad der durch die Verwaltung selbst erbrachten Leistungen undzieht sich auf die Überwachung und Steuerung von im öffentlichen Interesse liegenden

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108 Für die begrifflichen Anleihen vgl. F. A. v. HAYEK, Freiburger Studien. Band V, Tübingen 1969, S. 97-107(unter Bezugnahme auf David Hume).

109 So auch THOMA, Regulierte Selbstregulierung (Anm. 82), S. 35.110 Zum Kontingenzbegriff, wonach ein Zustand auch anders sein könnte, jedoch nicht beliebig anders, da

er von zahlreichen Bedingungen abhängig ist, N. LUHMANN, Soziale Systeme, Frankfurt am Main 1984,S. 47; inhaltlich an diese systemtheoretischen Grundlagen anschließend zu einer Methodik des Denkens inPossibilitäten statt Kausalitäten M. Th. FÖGEN, Rechtsgeschichte – Geschichte der Evolution eines sozialenSystems, Rechtsgeschichte 1 (2002) S. 14-20, 17.

111 Vgl. dazu BVerfGE 98, 218 (246) – Rechtschreibreform: «Dem Grundgesetz liegt nicht die Vorstellungzugrunde, daß sich jede vom Staat ergriffene Maßnahme auf eine verfassungsrechtliche Ermächtigungzurückführen lassen müsse. Es geht vielmehr von der generellen Befugnis des Staates zum Handelnim Gemeinwohlinteresse aus, erlegt ihm dabei aber sowohl formell als auch materiell bestimmteBeschränkungen auf. Ein Regelungsverbot kann sich unter diesen Umständen nicht schon aus einer fehlendenverfassungsrechtlichen Ermächtigung, sondern nur aus den verfassungsrechtlichen Schranken staatlicherEntscheidungen ergeben.»Ähnliches gilt auch im schweizerischen Bundesverfassungsrecht: Ist ein Sachbereich nicht durch dieBundesverfassung dem Bund zugewiesen, fällt er in die Gesetzgebungshoheit der Kantone; vgl. Art. 3 undArt. 42 Abs. 1 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (SR 101; onlineverfügbar unter <http://www.admin.ch/ch/d/sr/c101.html>). Einen Verfassungsvorbehalt, wonach Kantonenur jene Aufgaben wahrnehmen dürfen, zu denen sie die jeweilige Kantonsverfassung ermächtigt, kennt dasBundesrecht nicht, doch kann das kantonale Verfassungsrecht eine entsprechende Vorschrift enthalten (vgl.etwa § 63 Abs. 1 Verfassung des Kantons Thurgau (SR 131.228; online verfügbar unter <http://www.admin.ch/ch/d/sr/131_228/a63.html>): «Der Kanton darf nur Aufgaben erfüllen, die ihm das Bundesrecht oder dieseVerfassung zuweisen.»); vgl. dazu P. TSCHANNEN, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft,3. Auflage, Bern 2011, § 21 N 4-6.

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Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation zurück.112 Dieser Rückzug von der unmittelbarenAufgabenerfüllung auf die Wahrnehmung der Gewährleistungsverantwortung ist Ausdruck desals «Gewährleistungsstaat» 113 bezeichneten Staatsmodells.114 Die darin für die gesellschaftlicheSelbstorganisation vorgesehenen Gestaltungsräume zur privaten Normsetzung, Selbstkontrolle undOrganisation («Selbstregulierung») sind aufgrund hoheitlicher Regulierung von den angesprochenengesellschaftlichen Akteuren zum Zweck der Verwirklichung öffentlicher Interessen zu nutzen. Sieberuhen mithin auf als Folge der Rücknahme unmittelbar eigener Aufgabenerfüllung rechtlicheingeräumter, nicht auf originärer, gleichsam «vorgefundener» Autonomie.

Formen der gesellschaftlichen Selbstorganisation während der vermeintlichen oder tatsächlichenHochblüte des liberalen, durch Distanznahme zur Gesellschaft geprägten Verfassungsstaates des19. Jahrhunderts oder des diesen ablösenden und sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundertsverdichtenden Interventionsstaates gründen demgegenüber auf anderen Voraussetzungen: BeideStaatsmodelle beruhen auf einer Konzeption von Freiheit, die bestimmte Aufgaben inder gesellschaftlichen Sphäre belässt und die Übernahme staatlicher Verantwortung inBereichen vormaliger gesellschaftlicher Selbstorganisation als «Intervention» in vorbestehendePrivatautonomie deutet.115 Gesellschaftliche, im öffentlichen Interesse liegende Selbstorganisationbasiert in diesem Koordinatensystem daher auf der Wahrnehmung einer als vorgefunden verstandenenFreiheit.

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Diese Wechselwirkungen zwischen verfassungsrechtlicher Zuordnung von Freiheit und Formengesellschaftlicher Selbstorganisation lassen sich am Beispiel der Berufsbildung im schweizerischenBundesstaat illustrieren. 116 Berufsbildung fiel in den meisten schweizerischen Kantonen bisetwa zur Mitte des 19.  Jahrhunderts in den Bereich der privaten Selbstorganisation, indemsie vornehmlich durch Zünfte gestaltet wurde. Da ein Auszubildender (Geselle) eng undlangjährig an den Ausbildner (Meister) gebunden war, bestanden für Letzteren genügendökonomische Anreize, in die Ausbildung und damit in das Humankapital des Angestellten zuinvestieren. Mit der 1874 erfolgten Einführung der Wirtschaftsfreiheit als individuelles Grundrechtwurde der Zunftherrschaft in sämtlichen Kantonen ein Ende bereitet und die beschriebeneAnreizstruktur fiel dahin. Da Auszubildende nicht mehr langfristig an den Betrieb gebundenwerden konnten, lief ein Ausbildungsbetrieb Gefahr, einen Gesellen auszubilden, ohne später

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112 Statt anderer TRUTE, Verwaltung (Anm. 82), S. 953 f.113 Stilbildend M. EIFFERT, Grundversorgung mit Telekommunikationsleistungen im Gewährleistungsstaat,

Baden-Baden 1998, S. 18; aus schweizerischer Sicht vgl. etwa SCHINDLER, Staat, Verwaltung undVerwaltungsrecht: Schweiz (Anm. 40), N 23.

114 Ähnlich statt aller MASING, Regulierungsverwaltungsrecht (Anm. 82), S. 31, der «Regulierungsverwaltungsrecht(…) als Gegenmodell zum Verständnis des Staates als Leistungsstaat» beschreibt; F. J. SÄCKER, DasRegulierungsrecht im Spannungsfeld von öffentlichem und privatem Recht, AöR 130 (2005) S. 180-224, 187. –Zum Erklärungswert von Staatsmodellen vgl. A. VOSSKUHLE, Der «Dienstleistungsstaat». Über Nutzen undGefahren von Staatsbildern, Der Staat 40 (2001) S. 495-523.

115 Vgl. zu den gedanklichen Voraussetzungen des Interventionsstaates M. VEC, Interventionsstaat, in:Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Band II, 14. Lieferung der 2. Auflage, Berlin 2012,S. 1279-1283 (online verfügbar unter <http://www.hrgdigital.de/.download/pdf/interventionsstaat.pdf >).

116 Dazu und zum Folgenden REICH, Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit (Anm. 98), N 388-392 m.w.H.

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von den vermittelten Fähigkeiten profitieren zu können, was sich negativ auf die Qualitätder Berufsbildung auswirkte. Entsprechend sah sich der Staat im frühen 20.  Jahrhundertgenötigt, die Berufsbildung finanziell zu unterstützen und den «Organisationen der Arbeitswelt»– also insbesondere Sozialpartnern und Berufsverbänden – die Kompetenz einzuräumen,Zulassungsbedingungen, Lerninhalte, Qualifikationsverfahren, Ausweise und Titel festzulegen. 117

Ob die Berufsbildung nun von den im 19. Jahrhundert als staatlich protegierte Produktionskartellein Misskredit gebrachten Zünften118 getragen wurde oder als «gemeinsame Aufgabe» des Staatesund der Sozialpartner und Berufsverbände bezeichnet wird119 – in beiden Fällen waren an derRegulierung gesellschaftliche und staatliche Kräfte beteiligt. Indessen hatte sich mit den geändertenverfassungsrechtlichen Voraussetzungen die Qualität dieses Verbunds von gesellschaftlicherSelbstorganisation und hoheitlicher Steuerung verändert. Rechtshistorische Forschung, die sichdem Untersuchungsgegenstand der «regulierten Selbstregulierung» wörtlich verschreibt, ist dahermit der methodisch kaum zu bewältigenden Herausforderung konfrontiert, unbesehen geänderterstaatstheoretischer Ausgangsbedingungen identische Kooperationsformen aufzuspüren.

C. Koordination staatlicher und privater Interessen im Hinblick aufgemeinwohlrelevante Ziele in rechtshistorischer Perspektive 120

1. Sogwirkung verwaltungsrechtlicher Begriffsbildung?

Die aufgezeigte Einbettung des verwaltungsrechtlichen Konzepts der regulierten Selbstregulierungin ein bestimmtes, historisch kontingentes, insbesondere verfassungsrechtlich begründetesStaatsmodell weist auf die Notwendigkeit hin, den Untersuchungsgegenstand rechtshistorischerForschung losgelöst von der verwaltungsrechtlichen Begriffsbildung zu bestimmen. Mit dieser

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117 Vgl. Art. 1 und Art. 28 Abs. 2 Satz 1 Bundesgesetz vom 13. Dezember 2002 über die Berufsbildung(Berufsbildungsgesetz, BBG; SR 412.10; online verfügbar unter <http://www.admin.ch/ch/d/sr/c412_10.html>).

118 Vgl. REICH, Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit (Anm. 98), N 396 m.w.H.; allgemein zur unterschiedlichenStellung der Zünfte in den verschiedenen Kantonen vgl. K. SIMON-MUSCHEID, Zünfte, in: HistorischesLexikon der Schweiz (HLS). Version vom 8. März 2011, URL: <http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D13729.php>.

119 Art. 1 Abs. 1 Satz 1 BBG (Anm. 117): «Die Berufsbildung ist eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Kantonenund Organisationen der Arbeitswelt (Sozialpartner, Berufsverbände, andere zuständige Organisationen undandere Anbieter der Berufsbildung).»

120 Der folgende Abschnitt stellt eine Besprechung von COLLIN/BENDER/RUPPERT/SECKELMANN/STOLLEIS, Regulierte Selbstregulierung (Anm. **) in dem durch den Titel des vorliegenden Beitragsvorgegebenen Kontext dar. Die im besprochenen Band vereinigten Aufsätze gehen auf eine Tagung vom 17. bis19. Juni 2010 zurück und sind im Rahmen des am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurtam Main angesiedelten Forschungsprojekts «Regulierte Selbstregulierung in rechtshistorischer Perspektive» entstanden(Homepage des Projekts unter <http://www.rg.mpg.de/de/forschung/regulierte-selbstregulierung/>). DasTeilprojekt ist Bestandteil des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Exzellenzclusters 243«Die Herausbildung normativer Ordnungen» (engl.: «The Formation of Normative Orders»). Der anzuzeigende Bandist der zweite in einer als dreibändig konzipierten Reihe unter dem Titel «Moderne Regulierungsregime». Dererste Band ist 2010 erschienen [P. COLLIN/G. BENDER/St. RUPPERT/M. SECKELMANN/M. STOLLEIS(Hrsg.), Selbstregulierung im 19. Jahrhundert (Anm. 122)], der dritte soll 2013 erhältlich sein [P. COLLIN/G.BENDER/St. RUPPERT/M. SECKELMANN/M. STOLLEIS (Hrsg.), Regulierte Selbstregulierung in derwestlichen Welt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main (erscheint voraussichtlich 2013)].

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methodischen Problematik sehen sich auch die Beiträge in dem von Peter Collin, Gerd Bender, StefanRuppert (alle Frankfurt am Main), Margrit Seckelmann (Speyer) und Michael Stolleis (Frankfurt am Main)gemeinsam herausgegebenen Band zur «Regulierte[n] Selbstregulierung im frühen Interventions-und Sozialstaat»121 konfrontiert, dessen Besprechung in diesem Rahmen einen rechtshistorischinformierten Zugang zur Thematik der Regulierung ermöglicht. Peter Collin präsentiert in seinemAufsatz zu Beginn des ersten Bandes der Reihe, in der das anzuzeigende Werk erschienen ist,methodisch konsequent eine weit ausgreifende Definition der «Regulierten Selbstregulierung»: Ersubsumiert jede organisatorisch gefestigte Koordination staatlicher und privater Interessen im Hinblick aufgemeinwohlrelevante Ziele unter den Begriff. 122

Wird der rechtshistorischen Untersuchung eine derart umfassende Bestimmung ihresGegenstandes zugrunde gelegt, bleibt die methodisch gebotene disziplinäre Eigenständigkeitder rechtshistorischen Forschung gegenüber der Verwaltungsrechtswissenschaft gewahrt. EinPhänomen wie dasjenige der Berufsbildung (vgl. Ziff.  IV/B) lässt sich dadurch trotz starkgewandelter äußerer Bestimmungsfaktoren über größere Zeiträume beobachten und beschreiben.Die autonome, im Vergleich zur verwaltungsrechtlich geformten Umschreibung deutlich weitergefasste Begriffsbestimmung dürfte sich für die rechtshistorische Forschung überdies generellals in besonderem Maß ertragreich erweisen, da sie – wie die Beiträge im anzuzeigenden Bandunterstreichen – ein differenziertes Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft sichtbar macht,das die in der staats- und verwaltungsrechtlichen Literatur retrospektiv oft suggerierte Vorstellungeiner historisch beobachtbaren strikten Sphärentrennung stark relativiert.123 Die Sichtbarmachungvielfältiger Kooperationsformen zwischen der Verwaltung und Privaten könnte zudem die bereitsin der wegweisenden verwaltungsrechtlichen Literatur des 19.  und des frühen 20.  Jahrhundertsangelegte Tendenz aufbrechen, Verwaltungshandeln auf ein striktes Subordinationsverhältnis – inälterer, noch pointierterer Diktion als «Unterworfensein (…) als Untertan» 124 beschrieben125 –zwischen Staat und Bürger zu reduzieren. Hinsichtlich der Rechtsformen des Verwaltungshandelns

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121 COLLIN/BENDER/RUPPERT/SECKELMANN/STOLLEIS, Regulierte Selbstregulierung (Anm. **).122 P. COLLIN, «Gesellschaftliche Selbstregulierung» und «Regulierte Selbstregulierung» – ertragreiche

Analysekategorien für eine (rechts-)historische Perspektive?, in: ders./G. Bender/St. Ruppert/M. Seckelmann/M. Stolleis (Hrsg.), Selbstregulierung im 19. Jahrhundert – zwischen Autonomie und staatlichenSteuerungsansprüchen. Moderne Regulierungsregime 1 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 259),Frankfurt am Main 2011, S. 3-31, 9.

123 Ähnlich P. COLLIN, Privatisierung und Etatisierung als komplementäre Gestaltungsprozesse, JZ 66 (2011)S. 274-282, 281.

124 Vgl. F. FLEINER, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 8. Auflage, Tübingen 1928, S. 164: «Der altedeutsche Sprachgebrauch bezeichnet den Bürger (Privaten) im Hinblick auf dieses Unterworfensein [gegenüberdem Staat] als Untertan.»

125 Vgl. aber die explizite Abwendung von dieser Diktion in BVerwGE 1, 159 (161): «Der Einzelne ist zwarder öffentlichen Gewalt unterworfen, aber nicht Untertan, sondern Bürger.» (Hervorhebungen hinzugefügt);zur Persistenz des überkommenen Sprachgebrauchs auch nach 1954 vgl. die Nachweise bei WAHL,Herausforderungen und Antworten (Anm. 75), S. 27 f.

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ließe sich damit die Verfügung kaum mehr als (alleinige) Vollendung des Rechtsstaates126 feiernund der verwaltungsrechtliche Vertrag als Anomalie beargwöhnen.127

Gleichwohl lässt sich feststellen, dass diese autonome Definition desUntersuchungsgegenstandes bei den Autorinnen und Autoren des anzuzeigenden Bandes nurauf verhaltenen Widerhall gestoßen ist. Zu groß scheint die Sogwirkung verwaltungsrechtlicherBegriffsbildung. Der Versuch, unmittelbar an den modernen, verwaltungsrechtlichen Begriffanzuschließen, wird gleich in mehreren Beiträgen des anzuzeigenden Bandes unternommen.Dies klingt in Formulierungen an, wonach mit der «regulierten Selbstregulierung» ein «modernerBegriff aus der Politik- und Verwaltungswissenschaft» an das untersuchte historische Phänomen«herangetragen» werde 128 oder dass die im betreffenden Beitrag behandelte Thematik weder«zu den Referenzgebieten» 129 noch «zum Kernbereich regulierter Selbstregulierungs-Praxen»zähle.130 Ähnliche Vorbehalte schimmern im Befund durch, dass autonome Rechtsetzung(nur) dann als Form der «regulierten Selbstregulierung» verstanden werden könne, wennman in der bloßen staatlichen Beschränkung vorbestehender körperschaftlicher Autonomiebereits «eine Form der staatlichen ‹Regulierung› erblicken» wolle 131 oder dass die behandelteThematik die regulierte Selbstregulierung nicht «in Reingestalt» abzubilden vermöge. 132 Wäreder übergreifende rechtshistorische Untersuchungsgegenstand im Titel des Sammelwerkes miteiner eigenständigen Umschreibung zum Ausdruck gebracht worden, hätten derartige verzichtbarscheinende Relativierungen wohl vermieden werden können.

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126 O. MAYER, Deutsches Verwaltungsrecht. Band I, 1. Auflage, Leipzig 1895, S. 94: «Der Rechtsstaat wird dadurchvollendet, dass auch der Verwaltungsakt mit seiner bindenden Kraft hineingestellt wird in die zu ordnendenVerhältnisse zwischen Staat und Untertan.» (Orthografie an die aktuellen Regeln der Rechtschreibung angepasst).

127 O. MAYER, Zur Lehre vom öffentlich-rechtlichen Vertrage, AöR 3 (1888) S. 3-86, 42 («Darum sind wahreVerträge des Staates auf dem Gebiete des öffentlichen Rechtes überhaupt nicht denkbar.»); vgl. aber diedifferenzierte rechtshistorische Einordnung bei M. STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts inDeutschland. Band II: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800-1914, München 1992, S. 412 f. –Den Vorrang der Verfügung im schweizerischen Kontext ausdrücklich befürwortend etwa P. TSCHANNEN,Systeme des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2. Auflage, Bern 2011, N 138; anders demgegenüber SCHMIDT-ASSMANN, Ordnungsidee (Anm. 71), Kap. 6 N 115, wonach «der Verwaltungsvertrag ein Institut [ist],das an rechtsstaatlicher Dignität dem Verwaltungsakt nicht nachsteht (…).»; zum Zusammenhang zwischender Rechtsformenlehre und den ihr zugrunde liegenden staatstheoretischen Fundamenten E. SCHMIDT-ASSMANN, Die Lehre von den Rechtsformen des Verwaltungshandelns, DVBl 104 (1989) S. 533-541, 533.

128 K. GROH, Gesellschaftliche Selbststeuerung? Verbändepluralismus und demokratische Staatslehre in derWeimarer Republik, in: Collin/Bender/Ruppert/Seckelmann/Stolleis, Regulierte Selbstregulierung (Anm. **),S. 33-52, 33.

129 A. THIER, Regulierte Selbstregulierung und Steuerrecht im Kaiserreich, in: Collin/Bender/Ruppert/Seckelmann/Stolleis, Regulierte Selbstregulierung (Anm. **), S. 165-196, 168.

130 J. SCHMIDT, Regulierte Selbstregulierung und Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert in Deutschland, in:Collin/Bender/Ruppert/Seckelmann/Stolleis, Regulierte Selbstregulierung (Anm. **), S. 69-86, 69.

131 C. KREMER, Autonomie als Rechtsquelle. Die Diskussion über nicht-staatliche Rechtsetzungsbefugnisse, in:Collin/Bender/Ruppert/Seckelmann/Stolleis, Regulierte Selbstregulierung (Anm. **), S. 3-32, 29.

132 W. RUDLOFF, Politikberatung – Politikbeeinflussung – Selbstnormierung? Staatliche Beratungsgremienin Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Collin/Bender/Ruppert/Seckelmann/Stolleis, RegulierteSelbstregulierung (Anm. **), S. 261-283, 283.

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2. Vielfalt der Koordinationsformen

Die zwölf im anzuzeigenden, in drei Kapitel unterteilten Band133 versammelten Beiträge deckenein thematisch heterogenes Feld ab und verdeutlichen damit die Vielfalt der Kooperationsformenüber die Trennlinie Staat/Gesellschaft in rechtshistorischer Perspektive. Thematisch erstrecktsich der Band von ideengeschichtlichen Abhandlungen über Fragestellungen des Kommunal-,Steuer-, Versicherungs-, Bahn-, Arbeits- und Lebensmittelrechts bis zur Politikberatung. Keinerder Beiträge ist den klassischen freien Berufen – also etwa dem Beruf des Rechtsanwalts undder Rechtsanwältin, des Arztes und der Ärztin oder des Apothekers und der Apothekerin– gewidmet. Dies, obwohl die entsprechenden Regulierungen verbreitet sowohl historisch alsauch gegenwärtig auf Verflechtungen zwischen Formen gesellschaftlicher Selbstorganisationund hoheitlicher Rechtsetzung beruhen134 und daher ein gewichtiges Beispiel für Varianten«regulierter Selbstregulierung» bilden.135 Ob angesichts der aufgezeigten Themenvielfalt stets einklarer gemeinsamer Bezugspunkt vorliegt, mag bezweifelt werden. Das gilt besonders für diePolitikberatung. Diese lässt sich aus heutiger Sicht zwar als eine Form der Regulierung verstehen(regulation by information).136 Die Verbindungslinie zur gesellschaftlichen Selbstorganisation istindessen nur sehr undeutlich auszumachen. So erschließt sich nicht unmittelbar, worin das Elementder Selbstorganisation zu suchen ist, wenn sich die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes durcheinen «Kolonialrat» beraten lässt, der sich aus Personen zusammensetzt, die «Kolonialgesellschaftenund -interessen» repräsentieren.137 Diese Konstellation deutet weniger auf Selbstorganisation, alsvielmehr auf den Versuch hin, durch die Beeinflussung staatlicher Regulierung im eigenen Interesse

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133 Die zwölf Beiträge des Bandes sind drei Kapiteln zugeordnet. Die ersten vier, von Carsten Kremer (Frankfurtam Main), Kathrin Groh (München), Gerd Bender (Frankfurt am Main) und Jürgen Schmidt (Berlin) verfasstenAufsätze stehen unter dem Titel «Regulierte Selbstregulierung in rechtshistorischer Perspektive» und ordnen das Themader regulierten Selbstregulierung in den historischen Kontext politischer und rechtlicher Auseinandersetzungenein. Die im Abschnitt «Referenzgebiete des Rechts» verzeichneten Beiträge von Mathias Schmoeckel (Bonn), WolfgangAyass (Kassel), Peter Collin (Frankfurt am Main) und Andreas Thier (Zürich) beobachten das Phänomen regulierterSelbstregulierung in ausgewählten Rechtsgebieten, nämlich im Eisenbahn-, Unfallversicherungs-, Kommunal-und Steuerrecht. Die vier im dritten und abschließenden Kapitel «Praxisfelder» versammelten Beiträge gehen denspezifischen Wirkungsweisen der Selbstregulierung in der Wohnraumwirtschaft (Karl Christian Führer, Hamburg),der Arbeitsvermittlung (Thomas Buchner, Wien), der Lebensmittelindustrie (Vera Hierholzer, Frankfurt am Main)und der Politikberatung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (Wilfried Rudloff, Kassel) nach.

134 Vgl. etwa die in der Schweiz in Art. 12 Bundesgesetz vom 23. Juni 2000 über die Freizügigkeit der Anwältinnenund Anwälte (Anwaltsgesetz, BGFA; SR 935.61; online verfügbar unter <http://www.admin.ch/ch/d/sr/935_61/a12.html>) festgelegten Berufsregeln für Anwältinnen und Anwälte, deren Einhaltung im KantonZürich durch die Aufsichtskommission über die Anwältinnen und Anwälte überprüft wird, an deren Entscheideaufgrund von § 20 Anwaltsgesetz [des Kantons Zürich] vom 17. November 2003 (LS 215.1; online verfügbarüber <http://www.zh.ch/internet/de/rechtliche_grundlagen/gesetze.html>) jeweils «drei vom Obergericht[also Richterinnen und Richter] und zwei von der Anwaltschaft gewählte Mitglieder [also Rechtsanwältinnen undRechtsanwälte]» mitwirken müssen. Vgl. als weiteres Beispiel etwa die in Art. 25 Abs. 1 Bst. a und Art. 26-32Bundesgesetz vom 23. Juni 2006 über die universitären Medizinalberufe (Medizinalberufegesetz, MedBG;SR 811.11; online verfügbar unter <http://www.admin.ch/ch/d/sr/c811_11.html>) festgelegte Verantwortunggesamtschweizerischer Berufsorganisationen für die Weiterbildung von Fachpersonen in der Humanmedizin, derZahnmedizin, der Chiropraktik, der Pharmazie und der Veterinärmedizin.

135 Vgl. nur T. ROSTAIN, Self-Regulatory Authority, Markets, and the Ideology of Professionalism, in: Baldwin/Cave/Lodge, Handbook of Regulation (Anm. 60), S. 169-200, 169.

136 Vgl. MAJONE, Regulation by Information (Anm. 95), S. 262-275; v. BOGDANDY/GOLDMANN, NationalPolicy Assessment (Anm. 62), S. 241-298.

137 Vgl. RUDLOFF, Politikberatung (Anm. 132), S. 271-273.

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finanzielle Vorteile zu erzielen. Bezüge zwischen diesem in der Politischen Ökonomie (publicchoice theory) als Rentenstreben (rent-seeking) bezeichneten, mit dem capture-Tatbestand verwandtenPhänomen 138 und «regulierter Selbstregulierung» bestehen konzeptionell kaum, auch wenneben diese Regulierungsstrategie in der Praxis für entsprechende volkswirtschaftlich ineffizientePraktiken missbraucht werden kann (vgl. Ziff. II/C und IV/A).

3. Teil I: «Schlüsseldiskurse in Recht und Politik»

In dem unter dem Titel «Autonomie als Rechtsquelle: Die Diskussion über nicht-staatlicheRechtsetzungsbefugnisse» stehenden Beitrag vertritt Carsten Kremer die gut begründete These,wonach der Ausdruck «Autonomie» im Zuge der Herausbildung einer vom Gedanken desRechtsstaates getragenen Verwaltungsrechtswissenschaft eine andere Bedeutung gewonnen hat:Wurde die Autonomie von Personal- und Gebietskörperschaften (Gemeinden, Universitäten etc.)im früheren 19.  Jahrhundert als eigenständige Rechtsquelle verstanden, gelangte in der zweitenHälfte des 19. Jahrhunderts die Auffassung zum Durchbruch, dass private Normsetzung eingedenkdes als rechtsstaatlich unerlässlich verstandenen staatlichen Rechtsetzungsmonopols nur auf derGrundlage einer staatlichen Delegationsnorm denkbar ist. Diese Akzentverschiebung ist im Staats-und Verwaltungsrecht vor allem mit Paul Laband und Otto Meyer verbunden. Demgegenüberverstand Fritz Fleiner «Autonomie» auch in der letzten Auflage seiner «Institutionen des DeutschenVerwaltungsrechts» von 1928 als «eine vom Staate unabhängige Rechtsquelle», die «den Beweis» liefere,«dass der Staat nicht der einzige Schöpfer des Rechts» sei.139

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Kathrin Groh untersucht unter dem Titel «Gesellschaftliche Selbststeuerung? Verbändepluralismusund demokratische Staatslehre in der Weimarer Republik» die Einschätzung der Rolle der Verbändedurch die Weimarer Staatsrechtswissenschaft. Der Beitrag legt unter Bezugnahme auf prominentedemokratisch gesinnte Vertreter (Gerhard Anschütz, Hermann Heller, Hans Kelsen, Hugo Preuss, RichardThoma) dar, dass die Weimarer Staatsrechtslehre der Interessenvertretung durch Verbände insgesamtwohlwollend gegenübergestanden und erst die Bonner Republik die Weimarer «Parteienprüderie»durch eine «Verbandsprüderie»140 ersetzt habe. Die Schwierigkeiten, die ausgeprägt demokratischeVerfasstheit des Staates mit der organisierten Interessenvertretung durch Verbände konzeptionellin Übereinstimmung zu bringen, lassen sich im Übrigen in der Nachkriegszeit auch für die Schweizbeobachten.141

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138 Zu diesem durch die Ökonomie geprägten Begriff vgl. als Übersicht etwa B. S. FREY/G. KIRCHGÄSSNER,Demokratische Wirtschaftspolitik, 3. Auflage, München 2002, S. 202-204 sowie detaillierter die klassischenBeiträge im Sammelband von R. D. TOLLISON/R. D. CONGLETON (Hrsg.), The Economic Analysisof Rent Seeking, Adlershot UK 1995; zur normativen, vor allem verfassungsrechtlichen Relevanz REICH,Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit (Anm. 98), N 357-360, 866.

139 FLEINER, Institutionen (Anm. 124), S. 78 f. (Hervorhebungen hinzugefügt); für weitere, insbesondere ausVorauflagen stammende Nachweise vgl. KREMER, Autonomie (Anm. 131), S. 27.

140 GROH, Verbändepluralismus (Anm. 128), S. 51.141 Pointiert beispielsweise H. HUBER, Das Staatsrecht des Interventionismus, Zeitschrift für Schweizerisches

Recht 40 (1951) S. 173-199, 180, 182 f., 192, 195, 197, 199, der angesichts des Verbandseinflusses voreiner «Desintegrierung des politischen Gesamtkörpers» und «eindringenden Wasser[n]» warnte, die «denVerfassungsstaat» überschwemmten und diesem «das Ende bereiten» würden, da sich die «staatliche

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In seinem Beitrag «Tarifautonomie, Regulierte Selbstregulierung, Korporatismus. Eine Skizze»schildert Gerd Bender das kollektive Arbeitsrecht als «den vielleicht bedeutendsten ‹Fall› der‹Regulierten Selbstregulierung›, den die Geschichte hervorgebracht hat (…).» 142 Im Kontextder soziologisch verstandenen «Arbeitsverfassung Deutschlands»143 lotet Bender die Interaktionpolitischer und verbandlicher Positionen auf einer mittleren Abstraktionsebene aus und konstatiertschließlich, dass «[a]m Ende Weimars (…) die Selbstregulierung» im Bereich der kollektivenArbeitsbedingungen «ganz und gar» geendet habe und verstaatlicht worden sei.144

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Jürgen Schmidt geht in seinem Aufsatz unter dem Titel «Regulierte Selbstregulierung undArbeiterbewegung im 19.  Jahrhundert in Deutschland» dem Phänomen der Integration privaterSelbstorganisation in staatlichen Regulierungsstrategien nach. Deutlich zeigt Schmidt dabeidie Wechselwirkungen zwischen privater Binnenorganisation («interne Selbstregulierung») undstaatlicher Rechtsetzung auf. Einerseits habe etwa der hohe Grad demokratischer Mitwirkungder Arbeiterbewegung Vorbildcharakter für staatliche Institutionen gewonnen und die denMitgliedern intern auferlegte Verpflichtung zum gesellschaftlichen Engagement habe die politischeDurchschlagskraft sozialer Ideen erhöht. Andererseits hätten die Erfolge der Arbeiterschaftdie Behörden nicht nur zur hoheitlich-imperialen Regulierung gezwungen, sondern auch dieÜbernahme von Aufgaben wie der Arbeitsvermittlung durch die Verwaltung ermöglicht, nachdemdie Kapazitäten der Gewerkschaften zusehends an Grenzen gestoßen seien.

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4. Teil II: «Referenzgebiete des Rechts»

Mathias Schmoeckel stellt die Frage, ob es eine «allgemeine Wirtschaftsfreiheit im 19.  Jahrhundertje gab»,145 in den Mittelpunkt seiner Untersuchung einer «Rechts- und Ideengeschichte derRegulierung im 19.  Jahrhundert am Beispiel der Bahn». Er kommt dabei zum Schluss, «dasses zumindest in Preußen sehr wohl eine wirtschaftsliberale Epoche gab, in der sich der Staataus dem Wirtschaftsgeschehen in prononcierter Weise heraushielt.»146 Diesen Umstand bringtSchmoeckel in direkten Bezug zur Staatsauffassung Immanuel Kants, seien doch die preußischenBeamten «von Kant beeinflusst» gewesen und hätten daher «die Freiheit der Wirtschaft zu

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Autorität» im Machtstreben der Interessengruppen aufzulösen drohe und ein Ineinanderwachsen vonStaat und Gesellschaft bewirkt werde, bei dem der Staat nicht eine vorgefundene soziale Ordnung schütze,sondern schöpferisch gestalte. Eine «Tendenz zur Abkehr von den parlamentarischen Formeln derGesetzgebungstätigkeit und zur Degradierung des Parlaments zur leeren Formel» machte freilich bereitsZ. GIACOMETTI, Die Fortbildung des öffentlichen Rechts der Schweizerischen Eidgenossenschaft in denJahren 1921-1928, JöR 16 (1928) S. 327-396, 330 im Jahr 1928 angesichts des Einbezugs von Interessengruppenin den Gesetzgebungsprozess aus.

142 G. BENDER, Tarifautonomie, Regulierte Selbstregulierung, Korporatismus. Eine Skizze, in: Collin/Bender/Ruppert/Seckelmann/Stolleis, Regulierte Selbstregulierung (Anm. **), S. 53-67, 54.

143 BENDER, Tarifautonomie (Anm. 142), S. 56.144 BENDER, Tarifautonomie (Anm. 142), S. 65, 67.145 M. SCHMOECKEL, Rechts- und Ideengeschichte der Regulierung im 19. Jahrhundert am Beispiel der Bahn, in:

Collin/Bender/Ruppert/Seckelmann/Stolleis, Regulierte Selbstregulierung (Anm. **), S. 89-122, 90.146 SCHMOECKEL, Rechts- und Ideengeschichte der Regulierung (Anm. 145), S. 118.

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befördern» versucht.147 Nachdem dieser ideengeschichtliche Rekurs auf an Kant erinnerndeFreiheitsvorstellungen auch durch mindestens einen konkreten Textnachweis dokumentiertwird,148 stellt sich indessen die Frage, in welcher Weise und in welchem Maß staatsphilosophischeGrundüberzeugungen für Beamte und Politiker im Verhältnis zu gegenläufigen Interessentatsächlich handlungsleitend gewesen sein können.149 Der ab 1873 einsetzende, auf das«Gründerfieber» folgende «Gründerkrach» mit dem daran anschließenden, zeitgenössisch als«Große Depression» bezeichneten konjunkturellen Einbruch,150 scheint nämlich auch gemäß derAnalyse Schmoeckels den Umschwung hin zum Modell der Staatsbahn und damit die Abkehr vomliberalen Staatsmodell energisch beschleunigt zu haben.151 Die Vehemenz und Schnelligkeit, mitder diese «Umwertung» gemäß der Analyse Schmoeckels vollzogen worden ist,152 deutet an, dasspolitische und staatsphilosophische Grundüberzeugungen nur einen von vielen handlungsleitendenFaktoren politischer Akteure bilden.153

Der Beitrag von Wolfgang Ayass steht unter dem Titel «Regulierte Selbstregulierung in denBerufsgenossenschaften der gesetzlichen Unfallversicherung». Träger der Unfallversicherungsind seit 1885 die Berufsgenossenschaften als mit Selbstverwaltungsrecht ausgestattete,selbstständige Körperschaften öffentlichen Rechts mit Zwangsmitgliedschaft. Im Kontext derSelbstregulierung wesentlich ist dabei der Umstand, dass mit der beschriebenen Ausgestaltungder Berufsgenossenschaften die Senkung der Unfallhäufigkeit intendiert war. 154 SolchePräventionsanstrengungen kommen der Allgemeinheit zugute und stellen daher ökonomischbetrachtet ein öffentliches Gut dar. Wie sich im Zuge der Liberalisierung der staatlichenGebietsmonopole im Bereich der Gebäudeversicherung gezeigt hat, sind Private ökonomischerRationalität folgend oft nicht bereit, ausreichend in derartige öffentliche Güter zu investieren. Dieskann zu ineffizienten privatwirtschaftlichen Versicherungsmodellen und damit zu einem insgesamtsignifikant höheren Preisniveau führen.155 Vor diesem Hintergrund vermag es nicht zu erstaunen,dass die Analyse von Ayass erhebliche Anstrengungen der Berufsgenossenschaften im Bereich der

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147 SCHMOECKEL, Rechts- und Ideengeschichte der Regulierung (Anm. 145), S. 118 sowie 97 f.148 Vgl. SCHMOECKEL, Rechts- und Ideengeschichte der Regulierung (Anm. 145), S. 97 f.149 Vgl. dazu im Kontext der Entstehungsbedingungen der schweizerischen Bundesverfassung im 19. Jahrhundert

REICH, Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit (Anm. 98), N 73 und 290 f.150 Vgl. dazu namentlich M. UEBELE/A. RITSCHL, Stock Markets and Business Cycle Comovement in Germany

Before World War I. Evidence from Spectral Analysis, Journal of Macroeconomics 31 (2009) S. 35-57, 54; fernerREICH, Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit (Anm. 98), N 197-200 (mit zahlreichen Nachweisen).

151 Vgl. SCHMOECKEL, Rechts- und Ideengeschichte der Regulierung (Anm. 145), S. 108-118, 122.152 Vgl. SCHMOECKEL, Rechts- und Ideengeschichte der Regulierung (Anm. 145), S. 120 («Der Wandel der

staatlichen Politik erfolgte überraschend schnell und gründlich»), 122 («Die Erfahrung des Gründerkrachs (…)führte zu einer raschen, recht umfassenden Umwertung»).

153 Vgl. in anderem Zusammenhang ebenso REICH, Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit (Anm. 98), N 73 und290 f. und – zur Frage, ob es einen schweizerischen «Nachtwächterstaat» realiter je gab – N 159-509, insbesondere159-161, 480-490 sowie 500-509.

154 W. AYASS, Regulierte Selbstregulierung in den Berufsgenossenschaften der gesetzlichen Unfallversicherung, in:Collin/Bender/Ruppert/Seckelmann/Stolleis, Regulierte Selbstregulierung (Anm. **), S. 123-143, 132.

155 K. EPPE/R. SCHAFER, The Transition from Monopoly to Competition. The Case of Housing Insurance inBaden-Wurttemberg, European Economic Review 40 (1996) S. 1123-1131.

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Prävention nachweisen kann, sei es durch den Erlass entsprechender Vorschriften, sei es durchKontrollen seitens «Beauftragter».156

Peter Collin ordnet in seinem mit «Kommunalrecht unter Regulierungsdruck in der Weimarer Zeit»überschriebenen Aufsatz die kommunale Selbstverwaltung für die Zeit des 19. Jahrhunderts dergesellschaftlichen, nicht der staatlichen Sphäre zu. 157 Er macht mit der Änderung des Finanzrechts,der umfassend verrechtlichten und damit technokratisch ausgestalteten Sozialfürsorge und derVerschärfung des Aufsichtsrechts drei Entwicklungslinien aus, welche die kommunale Autonomiein der Weimarer Republik rechtlich oder faktisch in unterschiedlichem Maß eingeschnürt haben.158

Collin deutet den in der Weimarer Republik als «Krise der Selbstverwaltung» thematisierten Prozessals Übergang der Kommune von einer durch Selbstbestimmung geprägten Korporation zu einermit der Erfüllung fremder Aufgaben befassten Gebietskörperschaft öffentlichen Rechts.159

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Im abschließenden Beitrag des II.  Teils des Bandes widmet sich Andreas Thier demThema «Regulierte Selbstregulierung und Steuerrecht im Kaiserreich». Er zeichnet dabei dierasante Zunahme der individuellen Steuerbelastung im Zeitraum zwischen 1850 und 1914nach und weist darauf hin, dass bereits im 18.  Jahrhundert Tendenzen ausgemacht werdenkönnen, das Steuerrecht unter Wahrung seines fiskalischen Hauptzwecks zur Verhaltenssteuerungeinzusetzen. Steuern sind demnach auch in historischer Perspektive weit mehr als der bloßePreis «we pay for civilized society»,160 der es dem Staat durch die Gewinnung finanzieller Mittelermöglicht, für Sicherheit, Ordnung und einen gewissen sozialen Ausgleich zu sorgen.161

In seinem Beitrag unterscheidet Thier drei Felder der Einwirkung der Steuergesetzgebungauf Prozesse gesellschaftlicher Selbstorganisation: privatrechtliche Marktordnung, kommunaleOrdnungsstrukturen und Wahlrechtsordnung. Hinsichtlich der Wechselwirkung zwischenSteuergesetzgebung und privatrechtlicher Marktordnung stellt Thier fest, dass sich in derDebatte um die preußische Steuergesetzgebung in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts dieEinsicht durchgesetzt habe, dass die wachsende Ungleichheit hinsichtlich der Vermögens- undEinkommensverhältnisse eine Neukonzeption des Prinzips der Allgemeinheit und Gleichheitder Besteuerung notwendig mache. Vor dem Hintergrund, dass die Reformbemühungen1891/92 in höheren Belastungen für bewegliches Kapital und Aktienbesitz mündeten,formuliert Thier die These, wonach das Steuerrecht trotz praktisch fehlender normativerQuerverbindungen die Funktion einer Auffangordnung des Privatrechts übernommen habe,

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156 Vgl. AYASS, Berufsgenossenschaften der gesetzlichen Unfallversicherung (Anm. 154), S. 132-136.157 P. COLLIN, Kommunalrecht unter Regulierungsdruck in der Weimarer Zeit, in: Collin/Bender/Ruppert/

Seckelmann/Stolleis, Regulierte Selbstregulierung (Anm. **), S. 145-163, 146 f.158 COLLIN, Kommunalrecht (Anm. 157), S. 149-155, 159-162.159 COLLIN, Kommunalrecht (Anm. 157), S. 163.160 So aber Oliver Wendell Holmes, Jr. in seiner abweichenden Meinung in der Entscheidung des United States

Supreme Court, Compañia General de Tabacos de Filipinas v. Collector of Internal Revenue, 275 U.S. 87, 100 (1927):«Taxes are what we pay for civilized society (…).»

161 Vgl. THIER, Steuerrecht (Anm. 129), S. 178 unter Bezugnahme auf A. WAGNER, Finanzwissenschaft undStaatssozialismus mit einer Einleitung über Stein’s und Roscher’s Finanzwissenschaft, Zeitschrift für die gesamteStaatswissenschaft 43 (1887) S. 37-116, 116 (online verfügbar unter <http://www.digizeitschriften.de/dms/toc/?PPN=PPN345616871_0043>).

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indem es mittlere Einkommen entlastete und Gewinne marktwirtschaftlicher Tätigkeiten zwarintensiver abschöpfte, den Kapitalismus aber nicht eigentlich begrenzte.162 Ausgangspunktder Analyse des Verhältnisses von Steuergesetzgebung und kommunalen Ordnungsstrukturenbildet das gegen Ende des 19.  Jahrhunderts in Preußen konstatierte Missverhältnis zwischendem Aufgabenwachstum im Bereich der kommunalen Leistungsverwaltung einerseits undder Komplexität der Erhebung der Kommunalsteuern anderseits, die sich wesentlich ausZuschlägen auf die staatliche Personalsteuer zusammensetzten.163 Weil Grundeigentümer undGewerbetreibende in besonderem Maß von der kommunalen Investitionstätigkeit profitierten,sollten die staatlichen Realsteuern auf die Kommunen übergehen.164 Da aber die Gutsbezirkeaufgrund ihres kommunalrechtlichen Sonderstatus dadurch realsteuerrechtlich privilegiert wurden,fällt die Bilanz der entsprechenden Regulierungsbemühungen nach Einschätzung Thiers gemischtaus.165 Der Wirkungszusammenhang zwischen Steuerrechtsgesetzgebung und Wahlrechtsordnungschließlich, wurde durch das preußische Dreiklassenwahlrecht erzeugt, das auf die geschuldetendirekten Staatsschulden abstellte.166 Thier vermag allerdings nachzuweisen, dass diese Akzessorietätzwischen Steuerrecht und Wahlrechtsordnung im Interesse des Machterhalts der sozialen Elitenbegrenzt worden ist.167

5. Teil III: «Praxisfelder»

Unter dem Haupttitel «Parität und ‹billiges Ermessen›» untersucht Karl Christian Führer gemäßdem Untertitel seines Beitrags «[d]ie regulierte Selbstregulierung als Mittel der Wohnungs- undMietenpolitik im späten Kaiserreich und in der jungen Weimarer Republik». Im Mittelpunktstehen dabei die «Mieteinigungsämter», die für die Entscheidung bestimmter Streitigkeiten zwischenMietern und Vermietern zuständig waren. Führer stellt die relativ kurze Episode dieses Modellsder regulierten Selbstregulierung als Versuch der Politik dar, sich angesichts des überproportionalgroßen politischen Einflusses der Grundeigentümer der Verantwortung für die infolge der Inflationentwerteten Mieten zu entziehen. Dieser politisch motivierte Versuch habe – so die abschließendeThese Führers – das «Konzept der Selbstregulierung (…) als Mittel der Wohnmarktpolitik (…) aufDauer diskreditiert (…).»168

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Der Beitrag von Thomas Buchner widmet sich der «Arbeitsvermittlung zwischen Kaiserzeitund Weimarer Republik». Gemäß der Analyse von Buchner galt Arbeitsvermittlung zunächstals Form präventiver Armutsbekämpfung und moralischer Läuterung und wurde daher von

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162 THIER, Steuerrecht (Anm. 129), S. 181.163 Vgl. THIER, Steuerrecht (Anm. 129), S. 182.164 Vgl. THIER, Steuerrecht (Anm. 129), S. 182-189.165 THIER, Steuerrecht (Anm. 129), S. 189.166 THIER, Steuerrecht (Anm. 129), S. 189.167 Vgl. THIER, Steuerrecht (Anm. 129), S. 189-195.168 K. Ch. FÜHRER, Parität und «billiges» Ermessen. Die regulierte Selbstregulierung als Mittel der Wohnungs-

und Mietenpolitik im späten Kaiserreich und in der jungen Weimarer Republik, in: Collin/Bender/Ruppert/Seckelmann/Stolleis, Regulierte Selbstregulierung (Anm. **), S. 199-215, 215.

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philanthropischen Vereinen, später auch von den Kommunen getragen. Um die Wendezum 20.  Jahrhundert wandelte sich die Arbeitsvermittlung freilich zur «öffentlichen Aufgabemit marktregulierenden Funktionen»,169 was wenige Jahre später zu einer Verlagerung derRegulierungsbemühungen auf die Reichsebene führte. Dementsprechend hat im Bereich derArbeitsvermittlung hoheitliche Regulierung gesellschaftliche Selbstregulierung usurpiert.

In ihrem mit «Selbstregulierung avant la lettre?» überschriebenen Beitrag zurNahrungsmittelindustrie im Deutschen Kaiserreich geht Vera Hierholzer zunächst auf diegeltenden, wesentlich durch Sekundärrecht der Europäischen Union geformten Vorschriftenüber die Lebensmittelhygiene ein. Diese Normen nehmen die Produzenten direkt in diePflicht, da eine umfassende Gewährleistung der Lebensmittelsicherheit anhand von behördlichenStichproben nicht zu bewerkstelligen wäre.170 Hierholzer legt in ihrem Beitrag dar, dass sichähnliche Regulierungsstrategien bereits für das spätere 19. Jahrhundert nachweisen lassen, indemBranchenverbände – etwa der 1876 gegründete Verband Deutscher Schokoladenfabrikanten – fürihre Mitglieder eigene Qualitätsrichtlinien erließen. Das arbeitsteilige Regulierungsregime erhielt imfrühen 20. Jahrhundert einen institutionellen, im staatlichen Recht begründeten Rahmen.

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Im letzten Beitrag des anzuzeigenden Bandes untersucht Wilfried Rudloff unter dem Titel«Politikberatung – Politikbeeinflussung – Selbstnormierung?» staatliche Beratungsgremien imKaiserreich und in der Weimarer Republik. Mit der Errichtung entsprechender Gremien sollteerstens Expertenwissen für die Verwaltung verfügbar gemacht werden, zweitens die Legitimationvon Entscheidungen durch den Einbezug der betroffenen Interessengruppen erhöht und drittensberufsständige Ordnungsmodelle verwirklicht werden. 171 Nach Ausführungen zur Einordnungder Politikberatung in die Thematik der Selbstregulierung – ein Zusammenhang, der höchstensschwach ausgeprägt ist (vgl. Ziff.  IV/C/2) – und zur Funktion des Beirats als staatlichesBeratungsgremium im Interventionsstaat, nimmt der Beitrag fünf Gremien näher in den Blick: Den1890 begründeten, der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes angegliederten «Kolonialrat», den1897 dem Reichsamt des Inneren zugeordneten «Wirtschaftlichen Ausschuss zur Vorbereitung undBegutachtung handelspolitischer Maßnahmen», den 1900 errichteten «Rechtsgesundheitsrat», denauf das Jahr 1921 zurückgehenden «Preußischen Landesgesundheitsrat» und den 1920 errichteten,berufsständischen «Vorläufigen Reichswirtschaftsrat». Bilanzierend hält Rudloff fest, dass in keinemdieser Fälle «von regulierter Selbstregulierung in Reingestalt» gesprochen werden könne.172

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169 Th. BUCHNER, Arbeitsvermittlung zwischen Kaiserzeit und Weimarer Republik. (Selbst-)Regulierung alsMarktkonstruktion, in: Collin/Bender/Ruppert/Seckelmann/Stolleis, Regulierte Selbstregulierung (Anm. **),S. 217-238, 229.

170 Vgl. V. HIERHOLZER, Selbstregulierung avant la lettre? Die Nahrungsmittelindustrie im Deutschen Kaiserreich,in: Collin/Bender/Ruppert/Seckelmann/Stolleis, Regulierte Selbstregulierung (Anm. **), S. 239-260, 239-241.

171 Zu den Begründungslinien vgl. RUDLOFF, Politikberatung (Anm. 132), S. 266 f.172 RUDLOFF, Politikberatung (Anm. 132), S. 283.

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V. Ergebnisse und Ausblick

A. Rechtsdogmatisches Potenzial des Regulierungsbegriffs

Im Kontext des schweizerischen Bundesverwaltungsrechts lässt sich feststellen, dass «Regulierung»in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl für die Beeinflussung von Naturphänomenendurch direkte, physische Einwirkung, als auch für die normative Steuerung durch den Staat undPrivate verwendet wurde (Ziff.  II/A). Diese bereits früh angelegte Mehrdeutigkeit des Begriffswird gegenwärtig zusätzlich überlagert durch sowohl transnationale als auch interdisziplinäreTraditionsanschlüsse (vgl. Ziff.  II/B und C). Gemeinsam ist all diesen Ansätzen, dass«Regulierung» ein holistisches Konzept beschreibt, das traditionelle Demarkationslinien, namentlichjene zwischen Einzelakt und Rechtssatz und jene zwischen öffentlichem und privatem Recht,(Ziff.  II/C). Besonders offenkundig ist dieser Holismus im sozialwissenschaftlichen Kontext:Nach einem weiten, dezentrierten Ansatz gelten sämtliche regelhaften, intentional auf dieVerhaltensbeeinflussung und -steuerung gerichteten Handlungen sowohl von im weiteren Sinn«staatlichen» als auch von privaten Akteuren als «Regulierungen». Während diese ausgreifendeDefinition je nach Untersuchungsgegenstand insbesondere für die rechtshistorische Forschungertragreich sein dürfte, da sie auch Regeln jenseits der Staatlichkeit sichtbar macht, erscheint esim verwaltungsrechtlichen Kontext zielführend, den Regulierungsbegriff von anderen möglichenFormen der Politik oder Governance abzugrenzen. Rechnet man nämlich weder distributivePolitik noch direkte Leistungserbringung durch Verwaltungseinheiten dem Regulierungsbegriff zu,werden Verbindungslinien zum Konzept des «Regulatory State» sichtbar, wodurch ein inter- undtransnationaler Verständigungshorizont geschaffen wird (vgl. Ziff. II/D).

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Analytischer Gewinn und rechtsdogmatisches Potenzial des Einbezugs von Regulierung im Sinnevon regelhafter, Folgen intendierender Einwirkung von Akteuren mit Verwaltungsfunktionenauf soziale Prozesse und Zustände sind zum einen darin zu suchen, dass sämtliche Formender Verhaltensbeeinflussung wie etwa die staatliche Informationstätigkeit als Handlungsformerfasst und bewertet werden können. Zum anderen ergeben sich über den gemeinsamenUntersuchungsgegenstand Querbezüge zur sozialwissenschaftlich informierten Regulierungstheorie.Diese Perspektivenerweiterung macht es jedoch erforderlich, normativ begründete Argumenteals solche zu identifizieren und von anderen Topi abzugrenzen (vgl. Ziff.  II/D). Derrechtsdogmatische Gewinn des Regulierungsrechts wiederum liegt vornehmlich in dessen Potenzial,zur verwaltungsrechtlichen Systembildung beizutragen (vgl. Ziff. III). Da weder distributive Politik nochdirekte Leistungserbringung durch Verwaltungseinheiten unter den Regulierungsbegriff fallen, ist eskonsequent, mit der Figur des «Regulierungsrechts» nur jene Teilrechtsgebiete zu erfassen, in denensich der Staat von der Erfüllungsverantwortung auf die Gewährleistungsverantwortung zurückgezogenhat. Typischerweise ist damit eine dauerhafte und gestaltende Aufgabe der Verwaltung verbunden.

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«Regulierung» im Sinne des Regulierungsrechts ist also zu definieren als regelhafte, Folgenintendierende, förmliche oder schlichte, typischerweise dauerhafte und gestaltende Einwirkungvon Akteuren mit nationalen, trans-, supra- oder internationalen Verwaltungsfunktionen

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auf soziale Prozesse und Zustände, speziell durch Aufsicht, Rechtsdurchsetzung undadministrative Rechtserzeugung, nicht aber durch unmittelbare staatliche Leistungserbringung oderGüterverteilung. Dieser für das Regulierungsrecht kennzeichnende Regulierungsbegriff vermagRechtsgebiete, deren Regelungsgegenstände sich strukturell teilweise stark unterscheiden, im Sinneder verwaltungsrechtlichen Systembildung zu bündeln. Der regulierungsrechtliche Ansatz schafftdemgemäß Grundlagen, um für identische Problemlagen übergreifende Regelungsmodelle zuentwickeln (vgl. Ziff. III).

B. Ausblick: Verwaltungsrechtswissenschaft und rechtshistorischesErkenntnisinteresse

Im Zuge der sich ab dem Jahr 2006 global ausbreitenden Finanzmarktkrise ist die Frage derMöglichkeiten und Grenzen regulierter Selbstregulierung (vgl. Ziff. IV/A und B) wieder stärker inden Fokus wissenschaftlicher und rechtspolitischer Diskussion gerückt. Oft sind gerade Bereiche,die erhebliche volkswirtschaftliche Gefahren und außenpolitische Reputationsrisiken bergen,Varianten regulierter Selbstregulierung unterworfen. Deutlich wird dies am Beispiel der Schweiz,wo nicht nur in wichtigen Bereichen des Finanzmarktrechts173 wie der Effektenbörsen,174 derEinlagesicherung175 oder des öffentlichen Anbietens strukturierter Produkte,176 sondern auch beider Bekämpfung der Geldwäscherei177 auf die Strategie der regulierten Selbstregulierung vertrautwird.178 Desgleichen will die Schweizer Regierung hinsichtlich der Umsetzung ihrer «Strategie füreinen steuerlich konformen und wettbewerbsfähigen Finanzplatz» (sog. «Weißgeldstrategie»), mitwelcher die Annahme unversteuerter Gelder durch Banken unterbunden werden soll, auf regulierteSelbstregulierung setzen.179 Schließlich wird auch im Bereich der regelmäßig von medial starkbeachteten «Lebensmittelskandalen» erschütterten Nahrungsmittelindustrie180 zur Gewährleistung

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173 Vgl. allgemein Art. 7 Abs. 3 FINMAG (Anm. 11): «Sie [die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (FINMA)]unterstützt die Selbstregulierung und kann diese im Rahmen ihrer Aufsichtsbefugnisse als Mindeststandardanerkennen und durchsetzen» (online verfügbar unter <http://www.admin.ch/ch/d/sr/956_1/a7.html>).

174 Vgl. etwa Art. 4 Abs. 1 Bundesgesetz vom 24. März 1995 über die Börsen und den Effektenhandel(Börsengesetz, BEHG; SR 954.1; online verfügbar unter <http://www.admin.ch/ch/d/sr/954_1/a4.html>)unter der Sachüberschrift «Selbstregulierung»: «Die Börse gewährleistet eine eigene, ihrer Tätigkeit angemesseneBetriebs-, Verwaltungs- und Überwachungsorganisation.»

175 Art. 37h Bundesgesetz vom 8. November 1934 über die Banken und Sparkassen (Bankengesetz, BankG;SR 952.0; online verfügbar unter <http://www.admin.ch/ch/d/sr/952_0/a37h.html>).

176 Art. 4 Abs. 3 Verordnung vom 22. November 2006 über die kollektiven Kapitalanlagen(Kollektivanlagenverordnung, KKV; SR 951.311; online verfügbar unter <http://www.admin.ch/ch/d/sr/951_311/a4.html>).

177 Vgl. Art. 12 Bst. c, Art. 14 Abs. 1 und 3, Art. 18 Abs. 1 und Art. 24-28 Bundesgesetz vom 10. Oktober1997 über die Bekämpfung der Geldwäscherei und der Terrorismusfinanzierung im Finanzsektor(Geldwäschereigesetz, GwG; SR 955.0; online verfügbar unter <http://www.admin.ch/ch/d/sr/c955_0.html>).

178 Im Kontext der Schweiz zu weiteren, im Umwelt- und Energierecht angesiedelten Beispielen vgl. MARTI,Aufgabenteilung (Anm. 100), S. 1157.

179 BUNDESRAT, Bericht zur Finanzmarktpolitik des Bundes vom 19. Dezember 2012, Bern 2012, S. 33 (onlineverfügbar über <http://www.sif.admin.ch> unter den Rubriken Themen/Finanzmarktpolitik).

180 Zum sog. «Pferdefleisch-Skandal» vom Februar 2013 vgl. statt anderer Food Safety: After the Horse has BeenBolted, The Economist vom 13. Februar 2013, online verfügbar unter <http://www.economist.com/news/business/21571907-horse-meat-food-chain-wake-up-call-not-calamity-after-horse-has-been-bolted>.

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der Lebensmittelsicherheit auf regulierte Selbstregulierung vertraut, indem jedermann, derLebensmittel, Zusatzstoffe oder Gebrauchsgegenstände herstellt, behandelt, abgibt, einführt oderausführt, verpflichtet ist, entsprechende Produkte einer Selbstkontrolle zu unterwerfen, die einer«Guten Herstellungspraxis» entspricht.181 Aus diesen Gründen ist es vielversprechend, auch inrechtshistorischer Perspektive erneut nach den Erfahrungen zu möglichen Risiken und Chancendes Zusammenwirkens hoheitlicher Normierung und gesellschaftlicher Selbstorganisation zufragen. Nach den vorstehend besprochenen versammelten Fallstudien (Ziff. IV/C) und den zurVeröffentlichung in einem weiteren Sammelwerk vorgesehenen rechtsvergleichenden Beiträgen182

dürfte der diesbezügliche Forschungsbedarf vor allem auf einer etwas höheren Abstraktionsebenezu lokalisieren sein, die es ermöglichen könnte, branchenübergreifende Erfolgs- und Risikofaktorendes beschriebenen Zusammenwirkens auszuloten. Auch für eine Verwaltungsrechtswissenschaft,die sich als handlungs-, entscheidungs- und wirkungsorientierte Wissenschaft versteht,183 ist esunerlässlich, empirische Möglichkeiten und Grenzen der Indienstnahme privater Selbstorganisationfür öffentliche Interessen im Blick zu behalten.

181 Art. 22 Abs. 1 (Selbstkontrolle und Pflicht, bei den entsprechenden Untersuchungen einer «GutenHerstellungspraxis» zu folgen) und Art. 1 Bst. c (Gesetzeszweck) Bundesgesetz vom 9. Oktober 1992 überLebensmittel und Gebrauchsgegenstände (Lebensmittelgesetz, LMG; SR 817.0; online verfügbar unter <http://www.admin.ch/ch/d/sr/c817_0.html>).

182 COLLIN/BENDER/RUPPERT/SECKELMANN/STOLLEIS, Regulierte Selbstregulierung in der westlichenWelt (Anm. 120).

183 VOSSKUHLE, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft (Anm. 75), N 3, 2-8, 11, 15.