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LITERATURWISSENSCHAFT Erzählte Adelswelten Zur Poetik Eduard von Keyserlings Stéphane Pesnel (Hg.)

Erzählte Adelswelten · 2020. 9. 12. · 3 „Alexander Lernet-Holenia, chemins de la narration“ (Maison Heinrich Heine, Paris, 11.– 12. Dezember 2015). Die Vorträge dieser

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Erzählte Adelswelten Zur Poetik Eduard von Keyserlings

Stéphane Pesnel (Hg.)

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Stéphane Pesnel (Hg.) Erzählte Adelswelten

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Literaturwissenschaft, Band 91

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Stéphane Pesnel (Hg.)

Erzählte Adelswelten

Zur Poetik Eduard von Keyserlings

Verlag für wissenschaftliche Literatur

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Die Publikation des Bandes wurde durch freundliche Unterstützung der Sorbonne Université und des Forschungszentrums REIGENN ermöglicht.

ISBN 978-3-7329-0591-1ISBN E-Book 978-3-7329-9405-2ISSN 1860-1952

© Frank & Timme GmbH Verlag für wissenschaftliche LiteraturBerlin 2020. Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts-gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Herstellung durch Frank & Timme GmbH, Wittelsbacherstraße 27a, 10707 Berlin.Printed in Germany.Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier.

www.frank-timme.de

Umschlagabbildung: Schloss Rundāle, Bauska (Lettland) © Eduard Panichev – stock.adobe.com

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Inhaltsverzeichnis

Stéphane PesnelVorwort ........................................................................................................... 7

Nicolas DujinKurland zu Lebzeiten Eduard von Keyserlings .......................................... 13

Anne Sommerlat-Michas„Allein im Schilderhäuschen“. Imaginierte und verarbeitete Lebenswelten in Eduard von Keyserlings Erzählwerk ...................................................... 25

Oliver JahrausHeterotopien im späteren Werk von Eduard von Keyserling .................... 45

Fried NielsenAbendliche Häuser – ein Roman adliger Lebenskunst? ............................. 59

Isabelle Ruiz „Dieses ewig glitzernde Meer“. Zur Bedeutung der Wassermotivik in Eduard von Keyserlings Roman Wellen ................................................. 67

Liina LukasKultur als Scham: Zur Soziologie der Liebe aus postkolonialer Sicht.Eduard von Keyserling und Anton Hansen Tammsaare ........................... 81

Giovanni TateoIrrwege der Liebe. Variationen eines Themas in Ferdinand von Saars Leutnant Burda und Eduard von Keyserlings Seine Liebeserfahrung ....... 99

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Peter KraussKeyserlings Interesse an Kunst und Kunstgeschichte. Platz und Funktion der bildenden Kunst in seinem Leben und Schaffen .................................................................. 119

Emmanuel Basset Gehört der Impressionismus auch zur Literatur? Versuch einer Definition am Beispiel von Eduard von Keyserling ......... 139

Rüdiger Görner Adel des Erzählens. Über Thomas Manns Interesse an Eduard von Keyserling ..................... 159

Autorinnen und Autoren des Bandes ....................................................... 175

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Stéphane Pesnel

Vorwort

Es gibt manchmal Glücksfälle im Leben eines Hochschullehrers. Ein solcher war für mich die Ernennung des Karrierediplomaten Fried Nielsen auf den Posten des Gesandten für Kultur an der Deutschen Botschaft in Paris im August 2012. Drei Jahre lang, vom Sommer 2012 zum Sommer 2015, durfte ich gemeinsam mit Fried Nielsen vier große Projekte durchführen bzw. planen, deren Zweck es war, den Fokus auf wichtige Autoren und Phasen der deutschsprachigen Literatur zu legen.

Es begann mit einer Veranstaltung zu Joseph Roths Radetzkymarsch im Dezember 2012,1 dann kamen im Dezember 2013 eine Tagung zu Eduard von Keyserling, deren Ergebnisse im vorliegenden Band versammelt sind, und im Dezember 2014 eine Tagung zu der künstlerischen Verarbeitung des Ersten Weltkriegs.2 Genau ein Jahr später fand eine letzte Veranstaltung statt, die wir vor Fried Nielsens Amtsantritt als Gesandter für Kultur an der Deutschen Botschaft in Warschau (August 2015) gemeinsam geplant hatten. Es ging im Dezember 2015 um die Romane und Erzählungen des großen österreichischen Autors Alexander Lernet-Holenia.3

1 „Lectures de La Marche de Radetzky. Rencontre à l’occasion du 80e anniversaire de la paru-tion du roman“ (Goethe Institut, Paris, 8. Dezember 2012). Die Vorträge dieses Studientages wurden in dem folgenden Band veröffentlicht: Lectures de La Marche de Radetzky, hg. von Stéphane Pesnel, Austriaca (77), 2013.

2 „Regards d’artistes sur la Grande Guerre / Der Erste Weltkrieg im Medium der Künste“ (Mai-son Heinrich Heine, Paris, 13. Dezember 2014). Die Vorträge dieses Studientages wurden in den folgenden Band aufgenommen: Michael Braun / Oliver Jahraus / Stefan Neuhaus / Stéphane Pesnel (Hg.), Nach 1914. Der Erste Weltkrieg in der europäischen Kultur, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2017.

3 „Alexander Lernet-Holenia, chemins de la narration“ (Maison Heinrich Heine, Paris, 11.–12. Dezember 2015). Die Vorträge dieser Tagung wurden in den folgenden Band aufgenom-men: Margit Dirscherl / Oliver Jahraus (Hg.), Prekäre Identitäten. Historische Umbrüche, ihre politische Erfahrung und literarische Verarbeitung im Werk Alexander Lernet-Holenias, Würz-burg, Königshausen & Neumann, 2020.

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Stéphane Pesnel

Zusammen mit Fried Nielsen haben wir versucht, ein originelles Format zu entwickeln, das auf eine zugleich anspruchsvolle und unterhaltsame Vermitt-lung literarischen Wissens abzielte. Eine „bunte Mischung“ aus akademischen Vorträgen, Gesprächen mit ÜbersetzerInnen und JournalistInnen, Lesungen, Filmvorführungen, musikalischen Darbietungen  … Unbestreitbare Höhe-punkte waren 2014 der Tanztheaterabend nach Jean Cocteaus L’Aigle à deux têtes mit den TänzerInnen Alexandra Bansch, Nicola Ayoub, Ikki Hoshino und dem Musiker Philippe Mathelon (Schlagzeug), und 2015 eine Lesung aus Alexander Lernet-Holenias Roman Die Standarte mit der Schauspielerin Irma Barry-Schmitt, dem Pianisten Philippe Chennevière und dem Germanisten Rüdiger Görner.

Bei all diesen Veranstaltungen erhielt der jeweilige Schlussabend zum Ausklang der Literaturtagung die vielsagende Benennung „Literatursalon“. Für das literatur- und kunstinteressierte Publikum, das diese Veranstaltungen zahlreich besuchte, bleiben diese „Literatursalons“ unvergessliche Erlebnisse und ich darf an dieser Stelle meinem Freund Fried Nielsen meine herzlichste Dankbarkeit für die ausgezeichnete Zusammenarbeit im Rahmen all dieser anregenden Projekte aussprechen.

Der vorliegende Band geht, wie bereits angedeutet, auf eine Tagung zurück, die im Dezember 2013 im Pariser Goethe Institut stattfand und von dem Kul-turreferat der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland organisiert worden war.4 Zu den institutionellen Partnern der Tagung gehörten auch die Botschaft der Republik Lettland und die Universität Paris-Sorbonne sowie die Verlage Steidl (Göttingen) und Actes Sud (Arles).5

4 „De la Courlande à Munich: Eduard Graf von Keyserling, narrateur et essayiste“ (Goethe Institut, Paris, 13.–14. Dezember 2014). Zum Programm gehörten, neben den akademischen Vorträgen, die für den vorliegenden Band überarbeitet wurden: ein Gespräch zu Editions- und Übersetzungsfragen mit Jacqueline Chambon (Actes Sud), Daniel Frisch (Steidl), Peter Krauss (Übersetzer) und Claire Stavaux (Moderatorin); eine Filmvorführung (Wellen von Vivian Naefe, 2004); eine Doppelausstellung (Zeichnungen von Karl Lagerfeld für die Ausgabe von Landpartie bei Steidl, Fotografien von lettischen Landschaften); und zum Abschluss ein „Literatursalon“, an dem Justyna Chmielowiec (Pianistin), Tilman Krause (Die Welt), Max Maldacker (Deutsche Botschaft) und Stéphane Pesnel (Moderator) beteiligt waren.

5 Der Herausgeber möchte sich bei Sorbonne Université und dem germanistischen Forschungs-zentrum REIGENN für die Übernahme der Publikationskosten des vorliegenden Bandes herzlich bedanken.

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Vorwort

Es ging auf der Tagung darum, die literarische Sonderstellung eines Erzäh-lers herauszuarbeiten, den man allzu oft als „baltischen Fontane“ bezeichnet hat, wobei der anscheinend wohlwollende Ausdruck ambivalent ist: Einer-seits mag es sich um eine lobende Bezeichnung handeln, andererseits rückt sie Keyserling in den Schatten des großen preußischen Dichters, der – als unangefochtene literarische Größe – zum Maßstab für die literarhistorische Einordnung weniger bedeutender Schriftsteller erhoben wird, denen zusätz-lich der (nicht unbedingt schmeichelhafte) Beigeschmack des Regionalen, des Pittoresk-Heimatlichen anhaften mag. Dass die nostalgisch getönte Faszination der Leserschaft für die Lebenskultur der deutschbaltischen Adelshäuser und die verschwundene Welt Kurlands die Modernität des Erzählers Keyserling häufig verdeckt haben mag, darf auch hinzugefügt werden.

Eduard von Keyserling (1855 in Tels-Paddern geboren – 1918 in München gestorben) ist zwar kein Unbekannter in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur,6 dafür aber ein Autor, den es in seiner Vielfalt und Komplexität wie-derzuentdecken gilt. Ein aus Anlass seines 100. Todesjahres erschienener Ro-man, Keyserlings Geheimnis, der sogar ein paar Monate lang ein „Spiegel-Best-seller“ gewesen ist, hat nicht wenig dazu beigetragen, sein Werk wieder in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken.7 Auch verfügen wir jetzt mit der sogenannten „Schwabinger Ausgabe“ über eine zuverlässige Edition seines er-zählerischen Werkes, die ein langjähriges Desiderat der Literaturwissenschaft gewesen ist.8 Man hat sich ja in der Vergangenheit mit Einzelausgaben der

6 Ein wichtiger Einführungsband ist: Thomas Homscheid, Eduard von Keyserling – Leben und Werk, Norderstedt, Books on Demand, 2009. Zur literarhistorischen Kontextualisierung des Autors, siehe: Peter Sprengel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München, Beck, 2004 (insb. S. 358–366); Gero von Wilpert, Deutschbaltische Literaturgeschichte, München, Beck, 2005 (insb. S. 219–224); Carola L. Gottzmann / Petra Hörner (Hg.), Lexikon der deutschsprachigen Lite-ratur des Baltikums und St. Petersburgs. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart (3 Bde), Berlin, De Gruyter, 2007.

7 Klaus Modick, Keyserlings Geheimnis, Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2018.8 Die zweibändige „Schwabinger Ausgabe“ besteht aus: Eduard von Keyserling, Landpartie.

Gesammelte Erzählungen, hg. und kommentiert von Horst Lauinger, Nachwort von Florian Illies, München, Manesse, 2018 und: Eduard von Keyserling, Feiertagskinder. Späte Romane, hg. und kommentiert von Horst Lauinger, Nachwort von Daniela Strigl, München, Manesse, 2019.

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Stéphane Pesnel

erzählerischen Werke, die in den verschiedensten Verlagen erschienen waren,9 oder auch mit etwas willkürlich zusammengestellten Sammlungen begnügen müssen.10 Es besteht kein Zweifel darüber, dass die „Schwabinger Ausgabe“ einen wichtigen Impuls für eine erneute Beschäftigung der Literaturwis-senschaftlerInnen mit dem Werk Keyserlings darstellen wird. Erfreulich ist übrigens die Tatsache, dass dem Erzähler Eduard von Keyserling in jüngster Vergangenheit einige hochwertige Publikationen gewidmet worden sind, die neue Perspektiven für die Erforschung seines Werkes eröffnen.11

In den hier versammelten Beiträgen werden, nach einer historischen Ein-führung (Nicolas Dujin), die ein paar wichtige Anhaltspunkte zur Geschichte Kurlands vermitteln soll,12 grundlegende Aspekte von Keyserlings Poetik be-leuchtet, die von der literarischen Rekonstruktion bzw. Re-Imagination adli-ger Lebenswelten (Anne Sommerlat-Michas, Fried Nielsen) bis hin zu grund-sätzlichen ästhetischen Fragen – Raumpoetik (Oliver Jahraus, Isabelle Ruiz), Intermedialität (Peter Krauss, Emmanuel Basset) – über den Keyserling’schen

9 Darunter befinden sich selbstverständlich auch vorzügliche Ausgaben, z. B.: Eduard von Key-serling, Abendliche Häuser, mit einem Nachwort von Helmut Bachmaier, München, Gold-mann, 1992 oder auch: Eduard von Keyserling, Wellen, hg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Gabriele Radecke, Stuttgart, Reclam, 2018.

10 Eine verdienstvolle Auswahlausgabe ist dagegen: Eduard von Keyserling, Werke, hg. von Rai-ner Gruenter, Frankfurt a. M., Fischer, 1973.

11 Erwähnt seien insbesondere folgende Bände: Michael Schwidtal / Jaan Undusk (Hg.), unter Mitwirkung von Liina Lukas, Baltisches Welterlebnis. Die kulturgeschichtliche Bedeutung von Alexander, Eduard und Hermann Graf Keyserling, Heidelberg, Winter, 2007; Christoph Jür-gensen / Michael Scheffel (Hg.), Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne, Stuttgart, Metzler, 2020. Letzterer enthält außerdem eine wertvolle Auflistung von „Keyserlings Zei-tungs- und Zeitschriftenbeiträge[n] (Essays, Kritiken und Rezensionen“ (S. 283–285) sowie von den „Journal- und Bucherstdrucke[n] der literarischen Texte Keyserlings“ (S. 287–290). Einen ausgezeichneten Überblick über die Sekundärliteratur zum Autor bieten die Bände Landpartie (wie Anm. 8), S. 731–740 und Feiertagskinder (wie Anm. 8), S. 685–716. Weitere interessante bibliographische Hinweise in: Homscheid, Eduard von Keyserling (wie Anm. 6), S.  507–520; Eduard von Keyserling, Nell’angolo di quiete [Im stillen Winkel], Übersetzung ins Italienische von Giovanni Tateo, Roma, L’orma, 2018, S. 119–122 („nota bibliografica“); Eduard von Keyserling, Œuvres choisies. Histoires de château [Ausgewählte Werke. Schlossge-schichten], Übersetzungen ins Französische von Peter Krauss und Marie-Hélène Desort, Arles, Actes Sud, 2012, S. 891–892 („bibliographie“).

12 Zur historischen Kontextualisierung, siehe auch: Gert von Pistohlkors, Baltische Länder, Ber-lin, Siedler, 1994 (= Deutsche Geschichte im Osten Europas); Norbert Angermann / Karsten Brüggemann, Geschichte der baltischen Länder, Stuttgart, Reclam, 2018.

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Vorwort

Liebesdiskurs, der hier anhand von kontrastiven Vergleichen analysiert wird (Liina Lukas, Giovanni Tateo), reichen. Der Band wird durch die Behandlung eines wichtigen Punktes der Keyserling-Rezeption abgerundet (Rüdiger Gör-ner), nämlich Thomas Manns Interesse an dem Autor der „Schlossgeschich-ten“.13 Den Autorinnen und Autoren der Beiträge sei abschließend für Ihr Bemühen gedankt, die Besonderheit von Keyserlings literarischem Standort näher zu bestimmen, d. h. das besonders komplexe Spannungsverhältnis he-rauszuarbeiten, das in seinem Werk zwischen der melancholischen „Schil-der[ung] einer untergehenden und mittlerweile untergegangenen Welt“14 einerseits und einem subtilen Experimentieren mit den Möglichkeiten der modernen Erzählkunst andererseits besteht.

13 Als komplementäre Lektüre empfiehlt sich folgender Aufsatz: Friedhelm Marx, Erzählte Heim-suchungen. Eduard von Keyserling und Thomas Mann, in: Jürgensen/Scheffel (Hg.), Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne (wie Anm. 11), S. 37–50.

14 Wilpert, Deutschbaltische Literaturgeschichte (wie Anm. 6), S. 220. Dieses „schwermütige Bild abgelebten Lebens“ schließt jedoch weder den Einsatz einer erzählerischen Ironie noch die Präsenz einer „subkutane[n] Gesellschaftskritik“ aus (ebd., S. 221).

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Nicolas Dujin

Kurland zu Lebzeiten Eduard von Keyserlings

Als Eduard von Keyserling 1855 geboren wird, ist Kurland ein Gouvernement des Russischen Reiches. Zarin Katharina II. hat nämlich diese Provinz im Jah-re 1795 in Folge der polnischen Ereignisse annektiert, welche das Verhältnis zwischen den einzelnen Ständen in Kurland umgewälzt hatten, sowie in Folge des Landtagsbeschlusses vom 18. März 1795, nach dem das Herzogtum an Russland abgetreten werden sollte.1 Kurland wurde dem Russischen Reich ein-verleibt. Von da an ist es eine der drei baltischen Provinzen des Zarenreiches (Kurland, Estland, Livland).

Die Last der Geschichte – das Erbe des Deutschritterordens, die polnische Lehnsherrschaft und der russische Einfluss seit dem Anfang des 18. Jahrhun-derts –, die Daten der Humangeographie – das Vorhandensein von verschie-denen ethnischen und sprachlichen Gemeinschaften, sowie eine von starken sozialen Ungleichheiten geprägte Situation –, und nicht zuletzt die Integration Kurlands in das Russische Reich haben zu einer recht eigenartigen Lage ge-führt. Die nunmehr russische Provinz ist aus Kurland im eigentlichen Sinne (d. h. dem westlichen Teil, mit Mittau als Hauptstadt) sowie aus dem Her-zogtum Semgallen (d. h. dem östlichen Teil, mit Dvinsk als Hauptstadt), der ehemaligen Diözese Pilten und dem Bezirk Palanga (an der Ostsee, 1819 von der Provinz Vilnius abgetrennt) zusammengesetzt.

In Kurland bestehen, wie gesagt, verschiedene sprachliche und ethnische Gemeinschaften nebeneinander. Die deutschsprachige Minderheit, Erbin der Ritter des Deutschordens, hat die politischen Zügel fest in der Hand und hält archaische Verhältnisse auf dem Gebiet des Grundbesitzes aufrecht. Selbst

1 Peter von Biron (1724–1800), Herzog von Kurland, wurde von Zarin Katharina II. zur Ab-dankung gezwungen, wobei ihm eine jährliche Rente von 36 000 Thaler zugesprochen wurde. Er akzeptierte die Übergabe Kurlands an Russland am 28. März 1795.

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Nicolas Dujin

wenn der Zar von den 1870er Jahren an eine Russifizierungspolitik eingeführt hat, die unter der Herrschaft von Zar Alexander III. noch verstärkt worden ist, bleibt die deutsche Kultur stark präsent, und die Kreise, in denen Eduard von Keyserling verkehrt, richten den Blick mehr nach Berlin als nach Moskau. Wie stehen gegen Ende des 19. Jahrhunderts die verschiedenen kurländischen Bevölkerungsgruppen dem Russischen Reich gegenüber, inwiefern fühlen sie sich dem Zarenreich zugehörig und loyal?

Voneinander abgetrennte sprachliche und ethnische Gemeinschaften

In Kurland bestehen verschiedene Bevölkerungsgruppen nebeneinander, die eher selten miteinander in Berührung kommen. Die Letten, eine bäuerliche Bevölkerungsgruppe, machen den Hauptteil der 567 000 Einwohner aus, die das Gouvernement in den 1860er Jahren zählt. Die deutschsprachige Min-derheit, größtenteils aus Nachfahren von Rittern des Deutschordens beste-hend, umfasst nur 8% der gesamten Bevölkerung, dafür hat sie eine führende Rolle inne und kontrolliert das lokale politische Leben. Die Vertreter dieser Gruppe werden als „Kurländer“ bezeichnet. Es handelt sich dabei vornehm-lich um Grundbesitzer, jedoch hat der Übergang zur russischen Herrschaft ihre Integration in den Dienstadel gefördert, was sie dazu geführt hat, sich dem Staatsdienst zu widmen. Die Großgrundbesitzer, die über Stimmen im Landtag verfügen, gehören mehrheitlich der Gruppe der „Kurländer“ an. Auf diese Weise nehmen sie am lokalen politischen Leben teil, und die russische Krone betrachtet sie als ihre Ansprechpartner, wenn es um die baltischen An-gelegenheiten geht. Russische und polnische Minderheiten gibt es auch, ebenso wie Juden, die in den Städten versammelt sind. In Mittau sind es ungefähr 5 000. Nach der Volkszählung von 1861 zählt die Hauptstadt der Provinz an die 18 000 Einwohner.

Die religiösen Gemeinschaften überschneiden sich mit diesen ethnischen Gruppierungen. 1523 hatte die Reformation Kurland erreicht, ohne jedoch die gesamte Bevölkerung in die evangelische Konfession hinüberzuführen. Es wird in unterschiedlichen Sprachen gepredigt: Ist in den Städten die deutsche

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Kurland zu Lebzeiten Eduard von Keyserlings

Sprache für den Gottesdienst üblich, so wird dieser auf dem Land eher in lettischer Sprache abgehalten.

Die pietistische Bewegung, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ebenfalls in Lettland entwickelt, betont die Notwendigkeit einer täglichen und indi-viduellen Lektüre der Bibel nachdrücklich. In Ermangelung eines lettischen Schulsystems übernehmen die Pastoren die Aufgabe der Alphabetisierung – und oft auch die Normalisierung der lettischen Sprache. Der Pietismus för-dert außerdem egalitäre Bestrebungen. Die Art und Weise, wie die lettische Bevölkerung wahrgenommen wird, verändert sich allmählich, zum Teil unter dem Einfluss der Aufklärung.2 Unmerklich entsteht und entwickelt sich eine lettische Bewegung. Die Landpastoren haben in dieser Hinsicht eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt, da sie in einer evangelisierenden Absicht dazu beigetragen haben, die Heilige Schrift ins Lettische zu übersetzen. Erwähnens-wert ist die Drucklegung einer lettischen Bibel im Jahre 1694. Das 19. Jahr-hundert intensiviert diese Anerkennung der lettischen Sprache, was mit einer weiterhin bedeutenden Rolle der Pastoren einhergeht. Im Jahre 1824 wird die „Lettisch-Literärische Gesellschaft“ gegründet, die dank dem entscheidenden Impuls von Pastor August Bielenstein (1826–1907) besonders aktiv wird.3 Let-tische Volkslieder und -gedichte werden in Sammlungen veröffentlicht. Dass sie sich zu einer Sprache, zu einer Kultur bekannten, führte die Letten unmerk-lich zu politischen Bestrebungen. In dieser Hinsicht soll angemerkt werden, dass der Aufstand von 1905 (der allerdings in den größeren Zusammenhang der russischen Revolution vom selben Jahr eingeordnet werden soll) weniger gegen die russische Herrschaft gerichtet ist denn gegen den großen Platz, den die deutschsprachige Minderheit innerhalb der kurländischen Gesellschaft immer noch einnimmt.

Bis in die 1870er Jahre hinein bleibt Deutsch die Sprache der Verwaltung und der Schulerziehung. Die zaristische Herrschaft weiß übrigens diese Spezi-fität der baltischen Provinzen zu nutzen. Die Vertreter der deutschsprachigen

2 Anne Sommerlat, „Le ciel des nobles et l’enfer des paysans“: défense, illustration et mise en scène du peuple letton à la fin du XVIIIe siècle, in: Les Cahiers du MIMMOC, 2/2006: https://journals.openedition.org/mimmoc/220, abgerufen am 07.07.2020.

3 Michel Cabouret, Aperçu sur l’identité et l’individualité des États baltes, in: Norois, n° 177, 1998, S. 27.

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Nicolas Dujin

Elite des Reiches haben eine kulturelle Vermittlungsrolle inne: Sie überset-zen die wissenschaftlichen, technischen und militärischen Schriften, die in Deutschland und Österreich veröffentlicht werden. Das Beförderungssystem tendiert dazu, diese Eliten zu begünstigen. So werden auf den Militärakade-mien mehr Punkte für die Beherrschung der deutschen Sprache vergeben als für die Beherrschung anderer Fremdsprachen. Die Russifizierungspolitik hat bis zur Herrschaft von Zar Alexander III., die in dieser Hinsicht einen Wen-depunkt markiert, eine eher beschränkte Wirkung. Die Einführung des allge-meinen Wehrdienstes im Jahre 1874 wird ebenfalls eine Rolle spielen.

Eine von sozialen Ungleichheiten geprägte Lage

Die Welt des Landadels, die Eduard von Keyserling in seinen Romanen und Erzählungen beschreibt, kennzeichnet sich durch die besonders unegalitären Beziehungen zwischen den verschiedenen sprachlichen Gemeinschaften. Das Vorhandensein des Großgrundbesitzes ist die sichtbarste Konkretisierung da-von. Die Korrelation zwischen Großgrundbesitz und sozialer Stellung erklärt sich außerdem dadurch, dass der Besitz eines Ritterguts zu einer Stimme im Landtag berechtigt. Die Landgüter des Adels vergrößerten sich zunehmend im Laufe des 19. Jahrhunderts, einige darunter hatten sogar recht imposante Flächen (zwischen 30 000 und 70 000 Hektar).4

Wie andere westlich gelegene Provinzen des Reiches hat Kurland jedoch die Rolle eines Experimentierlabors spielen dürfen, wie es die Abschaffung der Leibeigenschaft schon 1817 zeigt (während sie im gesamten Russischen Reich erst 1861 erfolgen wird). Zwar mag die Anerkennung eines Sonderrechtes durch den Zaren dabei mitgespielt haben, die Abschaffung der Leibeigenschaft 1817 ist aber auch ganz sicher das Ergebnis einer im ausgehenden 18. Jahrhun-dert einsetzenden Bewegung, an der evangelische Pfarrer und Philanthropen deutscher Kultur beteiligt gewesen waren. Sie hatten für eine Milderung der Verhältnisse im bäuerlichen Stand plädiert.

4 Siehe dazu Michel Cabouret, Notes sur l’évolution agraire de la Lettonie depuis la fin du XVIIIe siècle, in: Annales de Géographie, tome 99, n° 556, 1990, S. 715–717.

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Kurland zu Lebzeiten Eduard von Keyserlings

Wie dem auch sei, der Boden bleibt im Besitz des Adels. Die lettischen Bau-ern sind nunmehr frei, als Pächter müssen sie aber für die Nutzung der ihnen zur Verfügung gestellten Äcker und Felder ein hohes Entgelt entrichten. Bis zur Verabschiedung des Gesetzes, das mit der Abschaffung der Leibeigenschaft in der Gesamtheit des Russischen Reiches 1861 den ehemaligen Leibeigenen das Anrecht auf ein Grundstück gewährte, mussten sich die kurländischen Bauern mit einer Form von Knechtschaft weiterhin abfinden. Da sie nicht imstande waren, die hohen Pachten zu zahlen, waren die Bauern der Macht des kurländi-schen Adels weiterhin ausgeliefert. Dieser etablierte ein Wirtschaftssytem, das strukturell auf den großen Domänen beruhte und dabei auf die Arbeitskräfte zurückgriff, die eine wirtschaftlich bedrängte Bauernschaft stellte. Bestanden 1817 insgesamt 16 000 landwirtschaftliche Betriebe im Rahmen der privaten Gutshäuser, so ist deren Zahl 1840 schon auf 14 200 gesunken, und es sind 1883 nur noch 12 000.5 So gelangen etwa 25 % der Bauernhöfe in Besitz der Adelsgüter nach der Emanzipation vom Jahre 1817.

Die russischen Behörden mussten aufgrund eines stürmischen sozialen Klimas eingreifen. 1849 (eigentlich 1868 noch radikaler) wurde die Fron verbo-ten, und Kredithilfen wurden gewährt, um diese Entwicklung zu bremsen. Die Rückkehr zum landwirtschaftlichen Kleingrundbesitz dauerte jedoch lange. 1867 machten die Bauern, die kein Grundstück besaßen, noch an die 60 % der bäuerlichen Bevölkerung aus. Vor den 1870er Jahren hatten nicht einmal 10 % der Bauernhöfe von ihren Pächtern aufgekauft werden können. 1885 waren es ungefähr 70 %. In derselben Periode entstehen Versammlungen von Land-wirten, die von den wenigen Kleingrundbesitzern gewählt werden. Dank der Hilfe jener Versammlungen kann dem adligen Großgrundbesitz Widerstand geleistet werden, wenn es um die Pachtverträge geht, und dem Staat, wenn es um Abgaben und um die Einberufung zum Wehrdienst geht. Auch die intensi-ve Betreuung eines Netzwerkes von Schulen ist ihnen zu verdanken. Auf diese Weise wird eine erste Bresche in das vom ehemaligen Herzogtum vererbten Beziehungssytem geschlagen, das die „Kurländer“ und die lettischen Bauern vereint – auch wenn der deutschsprachige Adel eine starke Kontrolle auf diese Versammlungen und ihre Finanzen ausübt.

5 Cabouret, Notes sur l’évolution agraire de la Lettonie (wie Anm. 4), S. 715.

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Nicolas Dujin

Das Weiterbestehen und sogar das Erstarken des Großgrundbesitzes ist also ein auffallendes Merkmal der Periode. Der Reformversuch von 1863 er-möglicht es nicht, diese Zustände zu verändern. Diese Situation bildet, so Art-hur von Richter, Mitglied des Landrats, „eine Anomalie in der europäischen Welt“.6

Die archaischen Verhältnisse im Bereich des Bodenbesitzes bedeuten je-doch nicht, dass die Landwirtschaft rückwärtsgewandt bleibt. Im Gegenteil: Das Profil der landwirtschaftlichen Produktion verändert sich. Das Ende des baltischen Monopols, was die Erzeugung von Wodka betrifft, und der Einbruch der Getreidepreise nach den 1820er Jahren führen die Grundbesitzer dazu, sich der Viehzucht (insbesondere der Schafzucht) zuzuwenden. Die daraus gewonnene Wolle wird an Textilfabriken in Riga und Dorpat geliefert. Die Landwirtschaft modernisiert sich ebenfalls, was dazu beiträgt, die Macht der Großgrundbesitzer zu verstärken, da die Mechanisierung und der Gebrauch von Düngermitteln beträchtliche Investitionen voraussetzen. Der Großgrund-besitz beruht weiterhin auf landwirtschaftlichen Betrieben, die durch die Saat-gut- und Zuchtauswahl auf die Verbesserung der Produktivität achten.

Die landlosen Bauern sind zur Flucht in die Städte, aber auch ins Ausland gezwungen. Die Abschaffung der Leibeigenschaft und die Ansätze zu einer Agrarreform setzen Arbeitskräfte frei, die in den sekundären Sektor einflie-ßen. Dieser Sektor befindet sich hauptsächlich in der Hand von deutschbal-tischen Unternehmern und ist in Riga angesiedelt, wo man um die Mitte des 19. Jahrhunderts etwa fünfzig Manufakturen zählt. Im Jahre 1900 arbeiten an die 90 000 Menschen in der Industrie.

Reichstreue Untertanen?

Mit der Abtretung von Kurland an das Russische Reich durch Herzog Peter am 28. März 1795 wurde das Herzogtum in eine Provinz des Russischen Reiches umgewandelt. Jedoch ging dieser Entschluss mit einer Aufrechterhaltung der

6 Zitiert nach Oswald Schmidt, Rechtsgeschichte Liv-, Est- und Curlands, Dorpat, Karow, 1894 (= Dorpater Juristische Studien, Bd. 3), S. 228.