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Timothy Keller Es ist nicht alles Gott, was glänzt Was im Leben wirklich trägt Aus dem Amerikanischen übersetzt von Beate Zobel

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Erfolg. Wohlstand. Wahre Liebe. Viele Menschen jagen diesen Idealen hinterher. Doch keiner würde auf die Idee kommen, dass das Erreichen der großen Ziele das Schlimmste ist, was uns passieren kann. Kein Wunder, dass sich so viele Menschen unerfüllt, einsam und verloren fühlen. Wir haben aus all diesen eigentlich guten Dingen Götter gemacht. Götzen, die uns nicht das geben können, was wir wirklich brauchen. Nur wer die Götter erkennt, die ihn selbst und seine Kultur beeinflussen, kann sich und seine Welt verstehen. Lassen Sie den Druck, alles aus eigener Kraft erreichen zu müssen, hinter sich. Und finden Sie zu der Erfüllung, nach der sich Ihr Herz sehnt.

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Timothy Keller

Es ist nicht alles Gott, was glänzt

Was im Leben wirklich trägt

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Beate Zobel

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Über den Autor

Timothy J. Keller ist ein amerikanischer Theologe und Pastor. Er hat die Redeemer Presbyterian Church in Man-hatten, New York, gegründet, die als eine der 25 einfluss-reichsten Gemeinden in den USA gilt. Heute besuchen mehr als 5000 Menschen die Gottesdienste. Einige sei-ner Bücher wurden zu New York Times-Bestsellern.

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Dieses Buch widme ich meinen Söhnen David, Michael und Jonathan, die gelernt haben, Original und Fälschung zu unterscheiden.

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das für dieses Buch verwendete FSC®-zertifizierte PapierMunken Premium Cream liefert Arctic Paper Munkedals AB, Sweden

Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag Dutton, einem Mitglied der Penguin Group (USA) Inc.,unter dem Titel „Counterfeit Gods“.© 2009 by Timothy Keller© 2011 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Asslar,in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenDie Bibelzitate wurden, sofern nicht anders angegeben, der folgenden Bibelübersetzung entnommen: Gute Nachricht Bibel, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

1. Auflage 2011Bestell-Nr. 816 589ISBN 978-3-86591-589-4

Umschlaggestaltung: Immanuel GrapentinSatz: Marcellini Media GmbH, WetzlarDruck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

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Inhalt

EinführungDie Götzenfabrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

EinsWenn die großen Wünsche in Erfüllung gehen . . 27

ZweiLiebe ist nicht genug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

DreiGeld regiert die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

VierDie Verlockungen des Erfolges . . . . . . . . . . . . . 105

FünfMacht und Ehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 3 1

SechsDie verborgenen Götzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

SiebenDas Ende der falschen Götter . . . . . . . . . . . . . . 195

NachwortWie wir unsere Götzen aufspüren und ersetzen können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

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EINFÜHRUNG

Die Götzenfabrik

Es gibt mehr Götzen als Realitäten in der Welt.Friedrich Nietzsche: „Götzendämmerung“

Eine eigentümliche Schwermut

Als die gesamte Welt im Sommer 2008 in eine Finanz-krise geriet, entschloss sich eine auffallend große Zahl wohlhabender, mächtiger Männer zum Selbstmord. Der 41-jährige Finanzchef der angeschlagenen amerikani-schen Hypothekenbank Freddie Mac, die gut die Hälfte des Billionen Dollar schweren Hypothekenmarktes in den USA kontrollierte, wurde in seinem Wohnhaus in einem Washingtoner Vorort erhängt aufgefunden. Der Vorstandsvorsitzende und Firmenchef der führenden amerikanischen Immobilienauktionsgesellschaft Shel-don Good & Co. tötete sich mit einem Kopfschuss und wurde auf einem Parkplatz hinter dem Steuer seines roten Jaguars aufgefunden. Der französische Gründer und Fondsmanager des Investmentfonds Access Inter-national Advisors schlitzte sich in seinem Pariser Büro die Pulsadern auf, als er im Zusammenhang mit der Madoff-Betrugsaffäre Verluste von 1,4 Milliarden Dollar verbuchen musste. Er hatte das Vermögen zahlreicher

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europäischer Adelshäuser verwaltet. Der 49-jährige dä-nische Manager des Finanzriesen HSBC wurde in seiner Londoner Hotelsuite tot aufgefunden. Er hatte sich an einem Gürtel im Kleiderschrank erhängt. Während die New Yorker Investmentbank Bear Stearns & Co Inc., der die Insolvenz drohte, von ihrem Konkurrenten JP Mor-gan Chase & Co. übernommen wurde, nahm einer der Vorstände eine Überdosis Tabletten und sprang aus seinem Büro im 29. Stock. „Der Zusammenbruch seiner Bank . . . war mehr, als er verkraften konnte“, erklärte ein Freund. Der deutsche Milliardär und Eigentümer der Unternehmensgruppe Merckle warf sich vor einen Zug, nachdem er durch mehrere Fehlspekulationen in Bedrängnis geraten war und seinem Imperium die Illi-qui dität drohte.

Die Serie von Selbstmorden im Zusammenhang mit der Finanzkrise 2008/2009 erinnerte auf tragische Weise an die Weltwirtschaftskrise, als sich nach dem Börsenkrach vom Oktober 1929 in New York unter den Managern der betroffenen Banken und Firmen eben-falls eine Welle von Selbstmorden ausbreitete.1

In den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts bereiste Alexis de Tocqueville im Auftrag der französischen Re-gierung die USA und beschrieb in seinem Buch „Über die Demokratie in Amerika“, was er dort beobachtet hatte. Er schilderte eine „eigentümliche Schwermut, welche auf den Bewohnern der Vereinigten Staaten lastete, obwohl sie doch im Überfluss lebten“2. Schon damals glaubten die Amerikaner, dass sie durch den Er-werb von Wohlstand ihre Sehnsucht nach Glück stillen

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könnten. Und wenn wir in andere westliche Nationen blicken, stellen wir dort heute Ähnliches fest. Doch die-ser Glaube sei trügerisch, so schrieb de Tocqueville wei-ter, denn „die vergänglichen Freuden dieser Welt kön-nen das menschliche Herz niemals befriedigen“3. Diese eigentümliche Schwermut hat viele Gesichter, führt aber letztlich angesichts der Unerreichbarkeit dessen, was der Glaube sucht, immer in die Verzweiflung.

Dabei müssen Trauer und Verzweiflung getrennt be-trachtet werden. Trauer ist ein Schmerz, für den es einen Trost gibt. Wer eines von mehreren wertvollen Gütern verliert, hat immer noch andere Quellen des Trostes. Dem Familienvater, der seine Arbeitsstelle verliert, wer-den Frau und Kinder weiterhin Halt und Sinn geben. Im Gegensatz dazu gibt es für die Verzweiflung kein Heil-mittel. Wer sein einziges Ziel, seine einzige Hoffnung, den einzigen Sinn im Leben verliert, dem bleibt nichts. Verzweifelt fällt er ins Leere.

Woher stammt diese „eigentümliche Schwermut“, welche die Angehörigen der westlichen Welt auch in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs und inmit-ten aller emsigen Aktivitäten niemals ganz loslässt? Sobald der Wohlstand zu schwinden droht, stürzen die Menschen in einen Abgrund der Verzweiflung. Folgt man der Analyse von de Tocqueville, so hat die Schwer-mut ihren Ursprung darin, dass der Mensch sein ganzes Streben auf die „vergänglichen Freuden dieser Welt“ ausrichtet und diese zum Mittelpunkt seiner Welt er-hebt. Das ist nichts anderes als Götzendienst.

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Eine Kultur der Götzen

Bei dem Wort „Götzen“ denkt der moderne Mensch an primitive Völker, die vor mehr oder weniger kunstvoll gestalteten Figuren niederfallen. Im Buch der Apostel-geschichte findet sich im Neuen Testament eine leb-hafte Schilderung der Götzenverehrung, wie sie in der antiken griechisch-römischen Welt üblich war. Jede Stadt besaß ihre eigenen Gottheiten mit den entspre-chenden Tempeln. Als Paulus nach Athen kam, staunte er über die Vielzahl unterschiedlicher Götzen, die in dieser Stadt ihren Platz hatten (Apostelgeschichte 17,16). Der Parthenon für die Göttin Athena überstrahlte von seiner herausragenden Lage auf der Akropolis die gesamte Stadt. Aber darüber hinaus befanden sich an jeder Straßenkreuzung weitere Götterbilder. Da gab es Aphrodite, die Göttin der Liebe, der Schönheit und Be-gierde, Ares, den Kriegsgott, Artemis als Göttin der Jagd und Hüterin der Frauen und Kinder, die für Wohlstand und Fruchtbarkeit stand, Hephaistos, den Gott der Vul-kane, der Schmiedekunst und der Architektur, und un-zählige andere.

Die Praktiken unserer heutigen Welt unterscheiden sich nicht wesentlich von der Antike. Jede Zeit hat ihre eigenen Götzen, hat ihre Priester, ihre Schutzgeister und Rituale. Jede Gesellschaft hat ihre Tempel – seien es nun Bürohochhäuser, Wellness-Oasen oder Fitness-center, Studios oder Stadien. Dort werden die Opfer ge-bracht, die erforderlich sind, um Anspruch auf ein gutes Leben zu erwerben und Unglück fernzuhalten. Haben

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die Götter der Schönheit, der Macht, des Geldes und des Erfolges nicht längst die Herrschaft über uns und unsere Gesellschaft angetreten? Niemand würde sich vor einer Statue von Aphrodite niederwerfen, aber wie viele junge Frauen sind so besessen von ihrem Streben nach Schönheit, dass sie Depressionen oder Essstörun-gen bekommen, wenn ihr Körper nicht den eigenen Idealen entspricht? Keiner wird einer Artemisfigur Opfer darbringen, aber wenn das Streben nach Geld und Erfolg alles bestimmt und wenn auch Familie, Ver-wandte und Freunde zurückgelassen werden, um die Karriere voranzutreiben, ist das dann nicht, als würden der Artemis Menschenopfer dargebracht?

Eliot Spitzer musste im März 2008 als Gouverneur von New York zurücktreten, nachdem seine Bezie-hungen zu Prostituierten bekannt wurden. Zeitgleich schrieb der kanadische Journalist David Brooks in der New York Times einen Artikel über das „rank-link“-Un-gleichgewicht bei sehr erfolgreichen Persönlichkeiten in Politik und Wirtschaft, worin er ein typisches Phä-nomen un serer Gesellschaft sieht: Personen, die auf der Kar riere leiter zielstrebig ganz nach oben klettern und sich mühelos auf dem Parkett der Mächtigen und Reichen bewegen (hoher „rank“), lassen gleichzeitig die einfachsten sozialen Fähigkeiten vermissen (feh-lender „link“). Auf der vertikalen Ebene bewegen sie sich routiniert und fehlerlos, aber auf der horizontalen Ebene – im Umgang mit Ehepartnern, Verwandten und Freunden – wirken sie oftmals unbeholfen, deplatziert, entfremdet und einsam.

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Wie oft hört man von amerikanischen Präsident-schaftskandidaten, sie würden im Namen ihrer Fami-lien um diese Position kämpfen. Gleichzeitig verbrin-gen sie ihr Leben im Wahlkampf und leben getrennt von ihrer Familie. Wie viele erfolgreiche Persönlich-keiten kommen nach Jahren des Erfolges zu der späten Einsicht, dass Macht und Reichtum sie nicht erfüllen! Ihre Ehepartner und Kinder sind ihnen entfremdet, sie sind einsam und suchen nach Trost. Sie beginnen Affä-ren oder unternehmen andere riskante Schritte, um die innere Leere zu bekämpfen. Die Familien zerbrechen und Skandale werden publik.4

Sie haben dem Gott des Erfolgs gehuldigt, sie haben ihm alles zu Füßen gelegt, aber das Opfer war nicht genug. In der Antike waren die Götter blutgierig und schwer zu besänftigen. Die Götzen von heute sind es immer noch.

Verborgene Götzen

In der Zeit der New Economy, des Dotcom-, Immobi-lien- und Börsenbooms, hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Die Verbreitung des Internets, der Mobiltelefone und der Laptops weckte hohe Gewinn-erwartungen und führte im Zusammenhang mit den neuen technologischen Entwicklungen zu zahlreichen Unternehmensneugründungen. Aber aus heutiger Sicht, vor dem Hintergrund des weltwirtschaftlichen Niedergangs der Jahre 2008 und 2009, trat zutage,

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dass der Aufschwung jener Jahre eine von Habgier ge-triebene Kultur geschaffen hat. Schon vor zwei Jahr-tausenden wusste der Apostel Paulus, dass Geiz und Habsucht nicht nur schlechte Eigenschaften, sondern blanker Götzendienst sind: „Habsucht ist so viel wie Götzendienst“ (Kolosser 3,5), schreibt Paulus und warnt davor, dem Geld göttliche Eigenschaften beizumessen, um nicht in eine Haltung der Verehrung oder sogar Be-sessenheit zu verfallen.

Das Streben nach Geld kann zur Sucht werden, wo-bei die Abhängigen selbst, genau wie auch bei jeder anderen Sucht, das wahre Ausmaß der Gefahr nicht er-kennen können. Die Risikobereitschaft steigt, während das Maß an Befriedigung abnimmt. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem der Süchtige erkennt, von wel-chem Wahn er getrieben wurde. „Wie konnte ich nur so blind sein? Warum habe ich mich so verrückt verhal-ten? Warum habe ich alles, was ich eigentlich für rich-tig gehalten habe, so aus den Augen verloren?“, fragt sich der Süchtige, der aus seinem Rausch erwacht.

Die Bibel kennt das Problem, wenn sie davon spricht, dass die Götzen aus dem Herzen des Menschen ent-springen, das eine „Götzenfabrik“ ist.5

Mit dem Wort „Götze“ verbinden wir heute entweder die Vorstellung einer antiken Statue oder wir denken an ferne Länder, in denen auch heute noch Götzen im wahrsten Sinn des Wortes angebetet werden. Aber wir müssen gar nicht so weit reisen, um Götzen zu finden. Zu allen Zeiten und in jedem Land werden die Götzen verehrt, die in den Herzen der Menschen beheimatet

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sind. Der Prophet Hesekiel schrieb: „Diese Männer [die Ältesten von Israel] öffnen ihr Herz noch immer den Götzen“ (Hesekiel 14,3). Vermutlich haben die Ältes-ten so reagiert, wie wir es auch tun würden: „Götzen? Wieso Götzen? In meinem Haus findest du keinen ein-zigen Götzen!“ Aber Gott spricht hier davon, dass wir Dingen, die eigentlich gut sind – wie beruflicher Erfolg, Liebe, materieller Wohlstand, die Familie oder Ähn-liches –, eine zu hohe Bedeutung beimessen, ihnen zu viel Platz in unseren Herzen einräumen und sie zum Mittelpunkt unseres Lebens machen. Wir erwarten, dass diese Dinge unserem Leben Sinn, Sicherheit und Erfüllung geben.6

Das zentrale Motiv in Tolkiens „Der Herr der Ringe“ ist der Eine Ring des dunklen Herrschers Sauron, der die Fähigkeit besitzt, „sie zu knechten – sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden“ 7. Wer den Ring trägt, wird nicht nur unsichtbar. Macht und Ein-fluss des Ringes auf den Träger sind auch so groß, dass er selbst ehrbare Personen ins Verderben stürzt. Der Ring hat die Macht, zu betrügen und zu verderben, und strebt nach der absoluten Kontrolle über den Träger. Auf diese Weise korrumpiert der Ring einen Besitzer nach dem anderen.

Professor Tom Shippey, ein britischer Literaturwis-senschaftler und führender Tolkien-Forscher, bezeich-net die Fähigkeit des Ringes, selbst Personen, die den Ring mit den besten Absichten tragen, negativ zu be-einflussen, als „psychischen Verstärker“, der die guten, reinen Sehnsüchte des Herzens in einer Weise ver-

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stärkt, dass sie götzenähnliche Ausmaße annehmen.8 Einige der Figuren waren mit guten Absichten aufge-brochen; sie wollten Sklaven befreien, das Land ihres Volkes schützen oder Verbrecher gerecht bestrafen. Aber sobald sie den Ring trugen, erfasste sie eine fins-ter e Entschlossenheit, alles zu tun, um ihr jeweiliges Ziel zu erreichen. So entwickelte der gute Plan einen Absolutheitsanspruch, der sich über alle Werte und Be-ziehungen hinwegsetzte. Der Träger des Ringes wurde zunehmend von seinem Plan vereinnahmt. Die gute Absicht wurde zum Zwang, zum Götzen. Ein Leben ohne den Götzen wurde unvorstellbar. Um dem Götzen gerecht zu werden, war der Abhängige bereit, Gesetze zu brechen, die ihm früher heilig gewesen waren, an-dere zu verletzen und sogar sich selbst zu schaden. Eine geistliche Bindung war entstanden, die unweigerlich in den Abgrund führte. Diese Zusammenhänge kann man nicht nur in Tolkiens Werk wiederfinden, sondern auch im Leben vieler Menschen.

Alles kann zum Götzen werden

Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs haben den Vorteil, dass die Menschen eher bereit sind, auf bib-lische Warnungen zu hören und sich nicht zu sehr vom Streben nach Geld vereinnahmen lassen. Wer dem Geld zu viel Bedeutung beimisst, hat damit einen Götzen ein-geladen, der das Leben stark beeinflussen, den Lebens-stil verändern und in tiefe Verzweiflung führen kann.

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Wie oft geben wir Neid und Eifersucht Raum, wenn wir an die reichen Nachbarn oder den gut verdienenden Vorgesetzten denken, ohne uns darüber im Klaren zu sein, dass wir damit bereits dem Götzendienst Tür und Tor geöffnet haben.

Die Zehn Gebote der Bibel sind der wichtigste Moral-kodex weltweit. Gleich das erste Gebot „Ich bin der Herr, dein Gott! . . . Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ (2. Mose 20,2–3) wirft die Frage auf, was wohl mit „anderen Göttern“ gemeint sein könnte. Die Antwort findet sich in den folgenden Versen: „Du sollst dir kein Gottesbild anfertigen. Mach dir überhaupt kein Abbild von irgendetwas im Himmel, auf der Erde oder im Meer. Wirf dich nicht vor fremden Göttern nie-der und diene ihnen nicht“ (2. Mose 20,4–5). In dieser Aufzählung ist alles eingeschlossen. Viele sind sich be-wusst, dass Geld zum Götzen werden kann. Die meis-ten Menschen können sich auch vorstellen, dass Sex diese Gefahr in sich birgt. Aber die Zehn Gebote gehen viel weiter: Alles, was es auf der Erde und im Himmel gibt, alles kann an Gottes Stelle treten und zu einem falschen Gott werden.

Unlängst hörte ich von einem amerikanischen Offi-zier, der so hohen Wert auf die körperliche Ertüchtigung und den militärischen Gehorsam seiner Truppe legte, dass die Moral der Soldaten darunter zerbrach. Im Zuge dessen kam es während eines Gefechts zu einer Störung der Kommunikation, die am Ende für einige Soldaten den Tod bedeutete. In einem anderen Fall hatte eine Frau in ihrer Jugend große Armut durchlitten. Als junge

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Erwachsene achtete sie daher so verbissen auf mate-rielle Absicherung, dass sie sich mehrfach gegen Be-ziehungen mit jungen Männern entschied, die ihr nicht ausreichend finanzielle Sicherheit bieten konnten, bis sie schließlich einen reichen Mann heiratete, den sie nicht wirklich liebte. Die Ehe scheiterte bald, und sie fand sich in genau der wirtschaftlichen Not wieder, die sie so sehr gefürchtet hatte. Einige besonders begabte Baseballspieler, die sich mit ihrem Erfolg nicht zufrie-dengeben wollen, sondern ein Maximum an Ruhm und Erfolg anstreben, greifen zu verbotenen Substan-zen. Dies führt dazu, dass sie ihre Gesundheit ruinie-ren, den zweifelhaften Ruhm erlangen, Dopingsünder geworden zu sein, und schließlich wahrscheinlich ein viel schlechteres Ansehen haben, als wenn sie sich mit ihrem durchschnittlichen Erfolg zufriedengegeben hät-ten. In diesen Beispielen verkehrt sich das, worauf diese Menschen all ihre Hoffnung gesetzt haben, ins Gegen-teil. Keiner von ihnen verfolgt ein schlechtes Ziel, aber aus etwas Gutem wird das einzig Gute, das über alle an-deren Regeln und Ansprüche erhaben ist.9 Doch falsche Götzen führen immer in die Enttäuschung, oft auch in die Zerstörung.

Ist es verkehrt, wenn man Soldaten Disziplin bei-bringt, auf finanzielle Sicherheit achtet oder ein guter Sportler sein will? Natürlich nicht. Wir denken, Göt-zen müssten etwas Schlechtes sein, so finster und ab-schreckend wie die heidnischen Gottheiten, denen wir niemals huldigen würden. Doch das stimmt nur in den seltensten Fällen. Je hehrer das Ziel ist, das wir verfolgen,

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desto größer ist die Gefahr, dass es Götzenstatus erlangt. Nur die wirklich guten Dinge können uns vorgaukeln, sie wären der Garant für die Befriedigung unserer Be-dürfnisse und die Erfüllung unserer Hoffnungen. Alles kann zu einem falschen Gott werden, vor allem aber die allerbesten Ziele im Leben.

Wie entsteht ein Götze?

Was ist ein Götze? Alles, was uns wichtiger ist als Gott, was unsere Gedanken und Gefühle mehr gefangen nimmt als er und von dem wir uns das versprechen, was nur Gott geben kann, ist ein Götze.10

Einen falschen Gott kann man auch daran erkennen, dass einem das Leben sinnlos vorkäme, wenn er nicht mehr da wäre. Der Götze nimmt eine so zentrale Rolle im Leben ein, dass man ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, mit der allergrößten Leidenschaft verfolgt und ihm alle Kraft und alle verfügbaren emotionalen und finanziellen Ressourcen zur Verfügung stellt. Dabei kann es sich genauso um die eigene Familie handeln wie um den Beruf, um den Wunsch nach mehr Geld oder nach Erfolg oder Wertschätzung; es kann darum gehen, das Gesicht zu wahren oder die soziale Stellung zu verbessern. Eine Liebesaffäre kann ebenso einen zu hohen Stellenwert einnehmen wie das Streben nach dem Beifall der Kollegen, nach fachlicher Kompetenz, nach Sicherheit oder Komfort, Schönheit oder Bildung. Auch politische oder soziale Anliegen, die Einhaltung

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hoher moralischer Wertmaßstäbe oder besonders „tu-gendhaftes“ Verhalten, selbst Erfolg im christlichen Bereich kann diesen falschen Platz besetzen. Wenn der Lebenszweck eines Menschen darin besteht, dass er einer anderen Person hilft, sprechen die Psycho-logen von Kodependenz, aber im biblischen Sinn fällt auch das unter Götzendienst. Jedes Mal, wenn man im tiefsten Inneren davon überzeugt ist: „Solange ich das habe, hat mein Leben einen Sinn. Ich bin wichtig, wertvoll und abgesichert“, ist man einem Götzen auf den Leim gegangen. Es gibt viele Möglichkeiten, diese Beziehungsform zwischen einem Menschen und einer Sache zu beschreiben, aber das Wort „Anbetung“ trifft den Kern am ehesten.

Früher waren die Völker bei der Auswahl ihrer Göt-ter nicht sehr einfallsreich: Was immer sie sehen konn-ten und erlebten, wurde zum Gott erklärt. Da gab es einen Gott für die Arbeit, einen anderen Gott für Sex, den Kriegsgott, einen Gott für Reichtum, den Schutz-gott eines bestimmten Volkes – was immer in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielte, wurde als Gott ver-ehrt. Schönheit zum Beispiel ist etwas, an dem man sich erfreuen darf. Aber wenn man das Aussehen zum Mittelpunkt des Lebens erklärt und zum zentralen ge-sellschaftlichen Kriterium erhebt, dann hat man plötz-lich eine Aphrodite, eine wahre Göttin der Schönheit. Unglaublich viele Menschen, ja ganze Kulturen, drehen sich vor allem um das äußere Erscheinungsbild, geben unvorstellbare Mengen an Zeit und Geld dafür aus und meinen sogar, den Charakter eines Menschen an

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seinem Aussehen ablesen zu können. Was auch immer Glück, Sinn und Identität verspricht, ist ein Götze.

Das biblische Konzept des Götzendienstes ist sehr komplex; es schließt intellektuelle, psychologische, so-ziale, kulturelle und geistliche Kriterien mit ein. Zu per-sonenspezifischen Götzen können der geliebte Partner oder die Familie werden, andere Götzen können Geld, Macht und Erfolg sein, auch die Zugehörigkeit zu be-stimmten Gesellschaftsschichten kann zentrale Bedeu-tung erlangen. Die emotionale Abhängigkeit anderer Menschen bildet für einige die zentrale Lebensmitte, bei anderen sind es Gesundheit, Sportlichkeit oder Schön-heit. Viele Menschen setzen hierauf ihre Hoffnung und verbinden damit ihren Lebenssinn und ihre Erfüllung.

Auch ganze Kulturen haben ihre Götzen. Dazu kön-nen militärische Macht, technologischer Fortschritt oder wirtschaftlicher Aufschwung zählen. Frühere Gesellschaften verehrten Werte wie Familie, Arbeit, Pflichterfüllung und moralische Standards. In der west-lichen Welt strebt man nach Freiheit, Selbstverwirk-lichung, Wohlstand und Zufriedenheit. Daran ist zu-nächst einmal nichts auszusetzen. Doch wer sich davon Sicherheit, Frieden und Glück erhofft, der hat aus den ursprünglich positiven Zielen Götzen werden lassen.

Dann gibt es auch noch die Götzen des Intellekts, die sogenannten Ideologien. So folgten viele europäische Intellektuelle im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert dem Denken Rousseaus, wonach der Mensch in seinem Naturzustand, in dem er dem Ins-tinkt folgt, so lange gut ist, bis er sich in Kultur und Ge-

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sellschaft mit anderen Menschen zusammenschließt, wodurch das Böse im Menschen geweckt wird. Diese Weltanschauung wurde durch den Zweiten Weltkrieg überholt. Die britische Sozialistin und Sozialreformerin Beatrice Webb (1858–1943), die die Grundlagen des spä-teren englischen Wohlfahrtsstaates mitbegründete, erinnerte sich daran, dass sie ungefähr 1890 in ihren Tagebüchern festgehalten hatte, dass die Natur des Menschen grundsätzlich gut sei. Fünfunddreißig Jahre später hatte sie jedoch erkannt, wie allgegenwärtig die schädlichen Regungen und Impulse des Menschen sind, und sie schrieb über die Unmöglichkeit, diese negativen Eigenschaften zu ändern. Man könne das Streben nach Reichtum und Macht nicht unterbinden, gleichgültig, welches soziale System man auch errich-ten mochte; auch persönliche Bildung und die Entwick-lung der Wissenschaften könnten die schlechten Triebe des Menschen nicht zügeln, so Webbs spätere Beobach-tungen.11

Der englische Schriftsteller H. G. Wells (1866–1946) glaubte 1920, als er sein Buch The Outline of History („Die Weltgeschichte“, 1928) schrieb, noch voller En-thusiasmus an die Entwicklung des Menschen zum Guten und an den Weltstaat, der auf einem neuen Wertesystem aufbauen würde. Doch 1933 – desillusio-niert durch das egoistische und gewaltbereite Verhal-ten der europäischen Nationen – klang es in seinem pessimistischen Zukunftsroman The Shape of Things to Come schon ganz anders. In diesem fiktionalen Ge-schichtsbuch aus dem Jahre 2106 sieht er die Lösung

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für die Probleme der Menschheit in einer Weltregie-rung, die mit diktatorischen Mitteln Wissenschaft und Weltsprache fördern, Religion und alle politischen Geg-ner ausrotten und sich selbst in einer friedlichen Welt überflüssig machen könnte. Sein letztes Werk Mind at the End of Its Tether („Der Geist am Ende seiner Mög-lichkeiten“, 1946), das er 1945 unter dem Eindruck des Atombombenabwurfs schrieb, ist ein Ausdruck seiner Verzweiflung. Wells kommt zu dem Schluss, dass die Frist des Homo sapiens nun abgelaufen sei und er ab-gelöst würde von einer anderen Art, die ihm überlegen sei und die es besser verstehe, sich anzupassen.

Was war mit Wells und Webb geschehen? Beide hat-ten in jungen Jahren eine Ideologie zum Absolutum er-hoben und alles damit zu erklären und zu verbessern versucht. Indem sie alle ihre Überlegungen auf die An-nahme gründeten, dass der Mensch von Natur aus gut sei, gaben sie dieser Theorie den Platz, der nur Gott zu-steht.

In jeder Berufssparte gibt es allgemein anerkannte Sichtweisen, die man nicht infrage stellen darf. So ist es in der Geschäftswelt selbstverständlich, dass man sei-nen Wunsch nach privater Selbstverwirklichung hinter dem Erzielen von Gewinn zurückstellen muss. Genau entgegengesetzt verhält es sich in der Kunst, wo man sich von der Selbstdarstellung eine erlösende Kraft ver-spricht und überzeugt ist, dass fehlende Freiräume die Ursache aller menschlichen Probleme seien. Unsere Welt ist eben voller Götzen.

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Liebe, Vertrauen und Gehorsam

Die Bibel beschreibt das Verhalten der Menschen im Umgang mit Götzen anhand von drei grundlegenden Bildern: Die Menschen lieben ihre Götzen, sie vertrauen ihnen und sie gehorchen ihnen.12

Liebe zu den GötzenUm die Beziehung zu Götzen zu veranschaulichen, ver-wendet die Bibel mitunter das Bild eines Ehepaares. Gott möchte der einzige Ehemann seines Volkes sein, aber wenn uns andere Dinge wichtiger sind und wir uns da-ran mehr erfreuen als an ihm, dann ist das, als würden wir Ehebruch begehen.13 So können Familie oder Erfolg uns zum geistlichen Ehebruch verleiten, indem wir uns davon mehr Liebe und Wertschätzung versprechen, als wir von Gott erwarten. Götzen vereinnahmen unsere Fantasie. Wenn wir auf unsere Tagträume achten, kön-nen wir sie entlarven. Welche Gedanken machen uns Freude? Was sind unsere größten Träume? Hätte unser Leben noch einen Sinn, wenn wir diese Götzen verlie-ren würden? Wir wollen von unseren Götzen geliebt werden, sie sollen uns Selbstwert vermitteln und das Gefühl, dass wir schön und bedeutsam sind.

Vertrauen in die GötzenIn der Bibel macht Gott auch deutlich, dass er der einzige Weg zur Erlösung ist. Wenn wir von Erfolg oder Geld er-warten, dass sie uns Frieden und Sicherheit schenken, dann ist das Götzendienst.14 Die Götzen vermitteln uns