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19 November 2017 LE MONDE diplomatique | Oktober 2017, 316 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 , ISBN 978-3-8376-3797-7, E-Book: 26,99 www.transcript-verlag.de Phillip M. Ayoub Das Coming-out der Staaten Europas sexuelle Minderheiten und die Politik der Sichtbarkeit (übersetzt aus dem Englischen von Katrin Schmidt) ANZEIGE Es war einmal in Porto Alegre von Gerhard Dilger Wolfgang Henne, Rotgeflecktes, 2017, Zeichnung über Siebdruck, 21 x 29 cm Siebzehn Jahre nach seiner Gründung muss sich das Weltsozialforum neu erfinden. Die südamerikanische Linke ho für das nächste Treffen auf internationale Unterstützung. R iesengedränge im Hauptge- bäude der Bundesuniversi- tät Bahia: Draußen trägt eine studentische Trauergemein- de Brasiliens öffentliches Bildungswe- sen zu Grabe, drinnen gibt es afrobrasi- lianische Trommelwirbel zur Eröffnung eines großen Unikongresses – und zur Begrüßung von altgedienten Aktivis- tInnen sowie von NGO-Kadern aus den USA, Afrika und Europa. Die gehören dem Internationalen Rat des Weltso- zialforums (WSF) an und zerbrechen sich anschließend gemeinsam mit lo- kalen Machern die Köpfe darüber, wie die Generalversammlung der Weltzi- vilgesellschaft wieder neuen Schwung bekommen könnte. Denn vom 13. bis 17. März 2018 soll von einem nächsten Weltsozialforum in Salvador da Bahia aus die Botschaft um die Welt gehen: „Widerstand heißt kreative Transfor- mation.“ In den letzten Jahren hatte sich in der Szene Ernüchterung breitgemacht. Zu den letzten globalen Foren in Tunis (2013, 2015) und Montreal (2016) ka- men zwar Zehntausende, doch die me- diale Strahlkraft der Anfangsjahre, als etwa die New York Times von der „Su- permacht Weltöffentlichkeit“ schwärm- te, ist dahin. Zwischen 2001 und 2005 hatte das WSF viermal im südbrasilia- nischen Porto Alegre stattgefunden, da- zwischen (2004) einmal im indischen Mumbai. Zur Premiere kamen 15 000 TeilnehmerInnen, vier Jahre später wa- ren es zehnmal so viele. Die brasilianischen Foren waren – als geschickt gesetzter Kontrapunkt des Weltwirtschaftsforums in Davos und in Fortsetzung des Aufstands im mexikanischen Chiapas 1994 oder der globalisierungskritischen Proteste ge- gen den WTO-Gipfel in Seattle 1999 – von der Aufbruchstimmung jener Jahre geprägt. Denn sie wuchsen parallel mit dem politischen Linksruck in Südame- rika: In Venezuela wurde Hugo Chávez Präsident, in Brasilien der Exgewerk- schafter Luiz Inácio Lula da Silva und in Argentinien der Linksperonist Nés- tor Kirchner. Gemeinsam begruben sie 2005 das US-Projekt einer Freihandelszone von Alaska bis Feuerland unter dem großen Jubel der sozialen Bewegungen. Vier Jahre später, auf dem WSF in der brasi- lianischen Amazonasmetropole Belém, ließen sich neben Lula und Chávez der bolivianische Präsident Evo Morales, Rafael Correa aus Ecuador und Para- guays Staatschef Fernando Lugo fei- ern. Die lateinamerikanischen Staaten rückten zusammen mit dem Ziel, die Übermacht der USA Schritt für Schritt zurückzudrängen. Heute scheinen diese Zeiten eine halbe Ewigkeit her. Gemeinsame Initia- tiven ohne die USA gehören der Vergan- genheit an. Nur noch in Uruguay und Bolivien regiert die Linke einigermaßen komfortabel. Venezuelas „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ steckt in einer dramatischen Krise, 2012 wurde in Pa- raguay Fernando Lugo und 2016 in Bra- silien Lulas Nachfolgerin Dilma Rous- seff von reaktionären Parlamentsmehr- heiten gestürzt, und bei Wahlen hat die Rechte immer häufiger die Nase vorn. In Chile sieht es nach einem Come- back des millionenschweren Unterneh- mers Sebastián Piñera aus, in Argen- tinien ist Mauricio Macri, ebenfalls Großunternehmer, gerade dabei, sich langfristig im Präsidentenpalast von Buenos Aires einzurichten. Die Lin- ke steht dort ebenso hilf- und ideen- los da wie im Brasilien des illegiti- men, äußerst unpopulären Rousseff- Nachfolgers Michel Temer. Und dabei proklamieren linke Parteien, soziale Bewegungen und ihre Unterstützeror- ganisationen doch seit Porto Alegre un- ermüdlich: Es gibt Alternativen! Zwar haben Südamerikas progres- sive Regierungen den Rohstoffboom des letzten Jahrzehnts zum Ausbau von Sozialprogrammen genutzt. Die Millio- nen Menschen, die dadurch der Armut entkommen sind, bilden nun das neue, prekäre Proletariat. Doch strukturelle Reformen hin zu einer sozialökologi- schen Wirtschaftsweise, die beispiels- weise auf Ernährungssouveränität und kleinbäuerliche Landwirtschaft statt primär auf Rohstoffexport und Raub- bau an der Natur setzt, blieben aus. An der enormen sozialen Ungleich- heit änderte sich wenig, nicht nur in Brasilien ist der Zugang zu guter Bil- dung oder zur Gesundheitsversorgung nach wie vor den schmalen Mittel- und Oberschichten vorbehalten. Unterdes- sen wucherten Vetternwirtschaft und Korruption. Der Unmut über diese Schieflage brach sich in den Massen- protesten vom Juni 2013 1 Bahn, auf die die Regierung Rousseff hilflos reagier- te, während eine neue Rechte es schaff- te, daraus – mit tatkräftiger Unterstüt- zung der großen Medien – Kapital zu schlagen und den „parlamentarischen Staatsstreich“ von 2016 vorzubereiten. Eine selbstkritische Aufarbeitung der Frage, wie es zum Ende dieses „progressiven Zyklus“ kommen konn- te, steht bis heute aus. Stattdessen ver- breiten frühere Regierungspolitiker Verschwörungstheorien. Event oder Widerstand Statt weiterhin von links unten den Druck auf die Regierungen zu organi- sieren, ließen sich zahlreiche Gewerk- schafter oder Protagonisten sozialer Bewegungen in die Staatsgeschäfte einbinden. Eine Folge des Seitenwech- sels war die Schwächung und Entpoliti- sierung der Basis. In Brasilien gründe- ten Dissidenten der Arbeiterpartei (PT) schon bald die Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL), doch deren Ein- fluss blieb, von regionalen Ausnahmen abgesehen, marginal. Die heute durch Skandale und Wahlniederlagen gebeutelte PT hatte in den Anfangsjahren des Weltsozialfo- rums eine zentrale Rolle gespielt. Sei- ne Begründer – der israelisch-brasilia- nische linksliberale Unternehmer Oded Grajew, der befreiungstheologisch in- spirierte brasilianische Aktivist Chico Whitaker und der französische Attac- Gründer Bernard Cassen (einst Direk- tor von Le Monde diplomatique) – haben Porto Alegre als Schauplatz ausgewählt, weil dort das innovative, von PT-Stadt- verwaltungen entwickelte Konzept des Bürgerhaushalts angewandt wurde. 2 Lula trat hier erst als Präsidentschafts- kandidat und 2003 als neu gewählter Staatschef auf, der sich anschickte, die Brücke vom Weltsozialforum zum Welt- wirtschaftsforum in Davos zu schlagen. Die horizontale Struktur des WSF führte zu einem bunten Miteinander oder eher einem Nebeneinander, das Erwartungen an klare Zuspitzungen zwangsläufig enttäuschte. Machtstra- tegisch denkende Köpfe, die am liebs- ten eine antikapitalistische Fünfte In- ternationale geformt hätten, zogen sich aus dem Forum zurück. Unter den Mitgliedern des Internationalen Rats, des obersten WSF-Gremiums, sind nur noch wenige in der globalisierungskri- tischen Bewegung aktiv. Am Rande des letzten WSF im Som- mer 2016 taten sich AktivistInnen aus Montreal und Nordostbrasilien zusam- men. Ihnen gelang es, das WSF nach Salvador de Bahia zu lotsen – auch weil Bahia einer der letzten PT-regierten Bundesstaaten ist und selbst in Zeiten knapper Kassen ein für Linke weniger feindseliges Umfeld darstellt als der po- larisierte Süden oder Südwesten Brasi- liens. Auf einer Ratssitzung im Januar plädierten Whitaker und Grajew ver- geblich dafür, Salvador zu einem von vielen regionalen „Widerstandsforen“ zu erklären. Die große Mehrheit der anwesenden 30 Ratsmitglieder votier- te für einen globalen fünftägigen Event. Auch befürchten Kritiker eine Instru- mentalisierung des WSF durch die PT zu Wahlkampfzwecken, denn 2018 werden in Brasilien nicht nur der Prä- sident, sondern auch die Gouverneure sowie alle Landes- und Bundesparla- mente gewählt. Lula da Silva strebt ein Comeback an. Er führt in allen Umfragen, aber gegen ihn läuft auch ein Korruptions- verfahren. Falls die zweite Instanz das im Juli gegen ihn ergangene Urteil be- stätigt, wäre seine Kandidatur abrupt beendet. „Die lokale PT beginnt eigentlich erst jetzt, sich für das Forum zu inte- ressieren“, versichert Mauri Cruz, bei dem in der Vorbereitungszeit viele Fä- den zusammenlaufen. Der Aktivist aus Porto Alegre, der vor 15 Jahren dort Ver- kehrsdezernent war, ist für ein halbes Jahr nach Salvador gezogen, um nun das Forum vor Ort mit zu organisieren. Der Gesamtetat bleibt bescheiden. Die knapp 2,5 Millionen Euro sind ge- rade einmal halb so viel wie ursprüng- lich angestrebt. „Und selbst da war schon eingerechnet, was uns die Bun- desuniversität oder die Landesregie- rung in Form von erlassenen Mieten oder anderen Hilfen bei der Infrastruk- tur zur Verfügung stellen“, sagt Cruz, „wir machen das Beste aus dem, was wir haben.“ Da ist es äußerst willkommen, dass Brot für die Welt – anders als frühere Großsponsoren wie staatliche Banken, der halbstaatliche Erdölmulti Petro- bras, Oxfam oder die Ford Foundation – das WSF in der Planungsphase wei- terhin unterstützt. „Als Plattform des Austauschs bleibt es für uns wichtig“, meint Francisco Marí, der für das evan- gelische Hilfswerk als Ratsmitglied nach Salvador gekommen ist, „wäh- rend der Woche im März werden wir uns mit unseren Projektpartnern wie bei anderen internationalen Events auf gemeinsame Veranstaltungen und die weitere Vernetzung konzentrieren.“ Ähnlich sehen das Leute von Attac, po- litischen Stiftungen oder der deutschen Gewerkschaft Erziehung und Wissen- schaft (GEW). Die großen Protestbewegungen der letzten Jahre, ob in der arabischen Welt, in Griechenland, Spanien, Groß- britannien oder in den USA, fanden un- abhängig von den Weltsozialforen statt. „Stars wie Jeremy Corbyn oder Bernie Sanders wären hier höchst willkom- men“, sagt Mauri Cruz. Der Dauerstreit zwischen den „Ver- tikalisten“, die im Namen des Forums verbindliche Vorgaben verabschieden wollten, und den „Horizontalisten“ um Chico Whitaker ist in den Hin- tergrund getreten. Von der alten Gar- de der brasilianischen Organisatoren sind nur noch Whitaker und Grajew nach Salvador gekommen, doch den Ton gibt jetzt die nächste, pragmati- sche Generation um Mauri Cruz an, der im Namen des Netzwerks Abong (Brasilianische Vereinigung von NGOs) für Wirbel sorgt. In Salvador sollen die Debatten des Gastgeberlands im Mittelpunkt stehen. PT-kritische Kräfte wie die Wohnungs- losenbewegung Bahias (MSTB) wollen das WSF nutzen, um für ihre Anlie- gen zu werben. „Am Genozid an jun- gen Schwarzen in den Armenvierteln hat sich auch unter der Arbeiterpartei nichts geändert, die Polizei macht, was sie will“, sagt Wagner Moreira von der MSTB und dem neuen linken Debat- tenbündnis „Vamos“, das sich die junge spanische Partei Podemos zum Vorbild genommen hat. In Salvador, wo vier Fünftel der Be- völkerung afrikanische Wurzeln haben, werde die Schwarzenbewegung dem WSF ihren Stempel aufdrücken, glaubt der Aktivist mit den langen schwarzen Zöpfchen. Und auch die Indigenen, die gegen Erdölförderung und Staudamm- oder Bergbauprojekte kämpfen, wer- den sich Gehör verschaffen. Und natür- lich hofft er darauf, dass die südameri- kanische Linke Bilanz zieht. Ob das Weltsozialforum wenigstens die brasilianische Linke aus ihrer Le- thargie reißen kann, ist fraglich. „Hof- fentlich kann das WSF soziale Kräfte anziehen, die vorher nicht dabei wa- ren, vor allem die Jungen“, meint Fáti- ma Mello, eine Veteranin der brasilia- nischen NGO-Szene. In den 13 Jahren der Ära Lula/Rousseff wurde eine gan- ze Generation von Aktivistinnen koop- tiert. Nun muss wieder beharrliche Bil- dungs- und Aufbauarbeit an der Basis geleistet werden. 1 Siehe Gerhard Dilger, Kein Wunder in Brasilien, Le Monde diplomatique, Juli 2013 2 Beim Bürger- oder Beteiligungshaushalt in Porto Alegre – der mittlerweile seit Jahren auf Eis liegt – ent- schieden die Bürgerinnen und Bürger über die Priori- täten städtischer Investitionen in ihrem Stadtteil. Das Mitbestimmungsmodell fand weltweit Nachahmer. Siehe auch Ignacio Ramonet, „Warum Porto Alegre“, Le Monde diplomatique, Januar 2001. Gerhard Dilger leitet das Büro der Rosa-Luxemburg- Stiftung in São Paulo. © Le Monde diplomatique, Berlin

Es war einmal in Porto Alegre · Großunternehmer, gerade dabei, sich langfristig im Präsidentenpalast von Buenos Aires einzurichten. Die Lin-ke steht dort ebenso hilf- und ideen-los

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Page 1: Es war einmal in Porto Alegre · Großunternehmer, gerade dabei, sich langfristig im Präsidentenpalast von Buenos Aires einzurichten. Die Lin-ke steht dort ebenso hilf- und ideen-los

19November 2017LE MONDE diplomatique |

Oktober 2017, 316 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €,ISBN 978-3-8376-3797-7, E-Book: 26,99 €Oktober 2017, 316 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 ISBN 978-3-8376-3797-7, E-Book: 26,99 Oktober 2017, 316 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 ISBN 978-3-8376-3797-7, E-Book: 26,99

www. t r ansc r i p t -ve r l ag . de

Phillip M. Ayoub

Das Coming-out der StaatenEuropas sexuelle Minderheiten und die Politik der Sichtbarkeit(übersetzt aus dem Englischen von Katrin Schmidt)

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Es war einmalin Porto Alegrevon Gerhard Dilger

Wolfgang Henne, Rotgeflecktes, 2017, Zeichnung über Siebdruck, 21 x 29 cm

Siebzehn Jahre nach seinerGründung muss sich dasWeltsozialforum neu erfinden.Die südamerikanische Linke hofftfür das nächste Treffen aufinternationale Unterstützung.

R iesengedränge im Hauptge-bäude der Bundesuniversi-tät Bahia: Draußen trägt einestudentische Trauergemein-

de Brasiliens öffentliches Bildungswe-sen zu Grabe, drinnen gibt es afrobrasi-lianische Trommelwirbel zur Eröffnungeines großen Unikongresses – und zurBegrüßung von altgedienten Aktivis-tInnen sowie von NGO-Kadern aus denUSA, Afrika und Europa. Die gehörendem Internationalen Rat des Weltso-zialforums (WSF) an und zerbrechensich anschließend gemeinsam mit lo-kalen Machern die Köpfe darüber, wiedie Generalversammlung der Weltzi-vilgesellschaft wieder neuen Schwungbekommen könnte. Denn vom 13. bis17. März 2018 soll von einem nächstenWeltsozialforum in Salvador da Bahiaaus die Botschaft um die Welt gehen:„Widerstand heißt kreative Transfor-mation.“

In den letzten Jahren hatte sich inder Szene Ernüchterung breitgemacht.Zu den letzten globalen Foren in Tunis(2013, 2015) und Montreal (2016) ka-men zwar Zehntausende, doch die me-diale Strahlkraft der Anfangsjahre, alsetwa die New York Times von der „Su-permacht Weltöffentlichkeit“ schwärm-te, ist dahin. Zwischen 2001 und 2005hatte das WSF viermal im südbrasilia-nischen Porto Alegre stattgefunden, da-zwischen (2004) einmal im indischenMumbai. Zur Premiere kamen 15 000TeilnehmerInnen, vier Jahre später wa-ren es zehnmal so viele.

Die brasilianischen Foren waren– als geschickt gesetzter Kontrapunktdes Weltwirtschaftsforums in Davosund in Fortsetzung des Aufstands immexikanischen Chiapas 1994 oder derglobalisierungskritischen Proteste ge-gen den WTO-Gipfel in Seattle 1999 –von der Aufbruchstimmung jener Jahregeprägt. Denn sie wuchsen parallel mitdem politischen Linksruck in Südame-rika: In Venezuela wurde Hugo Chávez

Präsident, in Brasilien der Exgewerk-schafter Luiz Inácio Lula da Silva undin Argentinien der Linksperonist Nés-tor Kirchner.

Gemeinsam begruben sie 2005 dasUS-Projekt einer Freihandelszone vonAlaska bis Feuerland unter dem großenJubel der sozialen Bewegungen. VierJahre später, auf dem WSF in der brasi-lianischen Amazonasmetropole Belém,ließen sich neben Lula und Chávez derbolivianische Präsident Evo Morales,Rafael Correa aus Ecuador und Para-guays Staatschef Fernando Lugo fei-ern. Die lateinamerikanischen Staatenrückten zusammen mit dem Ziel, dieÜbermacht der USA Schritt für Schrittzurückzudrängen.

Heute scheinen diese Zeiten einehalbe Ewigkeit her. Gemeinsame Initia-tiven ohne die USA gehören der Vergan-genheit an. Nur noch in Uruguay undBolivien regiert die Linke einigermaßenkomfortabel. Venezuelas „Sozialismusdes 21. Jahrhunderts“ steckt in einerdramatischen Krise, 2012 wurde in Pa-raguay Fernando Lugo und 2016 in Bra-silien Lulas Nachfolgerin Dilma Rous-seff von reaktionären Parlamentsmehr-heiten gestürzt, und bei Wahlen hat dieRechte immer häufiger die Nase vorn.

In Chile sieht es nach einem Come-back des millionenschweren Unterneh-mers Sebastián Piñera aus, in Argen-tinien ist Mauricio Macri, ebenfallsGroßunternehmer, gerade dabei, sichlangfristig im Präsidentenpalast vonBuenos Aires einzurichten. Die Lin-ke steht dort ebenso hilf- und ideen-los da wie im Brasilien des illegiti-men, äußerst unpopulären Rousseff-Nachfolgers Michel Temer. Und dabeiproklamieren linke Parteien, sozialeBewegungen und ihre Unterstützeror-ganisationen doch seit Porto Alegre un-ermüdlich: Es gibt Alternativen!

Zwar haben Südamerikas progres-sive Regierungen den Rohstoffboomdes letzten Jahrzehnts zum Ausbau vonSozialprogrammen genutzt. Die Millio-nen Menschen, die dadurch der Armutentkommen sind, bilden nun das neue,prekäre Proletariat. Doch strukturelleReformen hin zu einer sozialökologi-schen Wirtschaftsweise, die beispiels-weise auf Ernährungssouveränität undkleinbäuerliche Landwirtschaft stattprimär auf Rohstoffexport und Raub-bau an der Natur setzt, blieben aus.

An der enormen sozialen Ungleich-heit änderte sich wenig, nicht nur inBrasilien ist der Zugang zu guter Bil-dung oder zur Gesundheitsversorgungnach wie vor den schmalen Mittel- undOberschichten vorbehalten. Unterdes-sen wucherten Vetternwirtschaft undKorruption. Der Unmut über dieseSchieflage brach sich in den Massen-protesten vom Juni 20131 Bahn, auf diedie Regierung Rousseff hilflos reagier-te, während eine neue Rechte es schaff-te, daraus – mit tatkräftiger Unterstüt-zung der großen Medien – Kapital zuschlagen und den „parlamentarischenStaatsstreich“ von 2016 vorzubereiten.

Eine selbstkritische Aufarbeitungder Frage, wie es zum Ende dieses„progressiven Zyklus“ kommen konn-te, steht bis heute aus. Stattdessen ver-breiten frühere RegierungspolitikerVerschwörungstheorien.

Event oderWiderstandStatt weiterhin von links unten denDruck auf die Regierungen zu organi-sieren, ließen sich zahlreiche Gewerk-schafter oder Protagonisten sozialerBewegungen in die Staatsgeschäfteeinbinden. Eine Folge des Seitenwech-sels war die Schwächung und Entpoliti-sierung der Basis. In Brasilien gründe-ten Dissidenten der Arbeiterpartei (PT)schon bald die Partei für Sozialismusund Freiheit (PSOL), doch deren Ein-fluss blieb, von regionalen Ausnahmenabgesehen, marginal.

Die heute durch Skandale undWahlniederlagen gebeutelte PT hattein den Anfangsjahren des Weltsozialfo-rums eine zentrale Rolle gespielt. Sei-ne Begründer – der israelisch-brasilia-nische linksliberale Unternehmer OdedGrajew, der befreiungstheologisch in-spirierte brasilianische Aktivist ChicoWhitaker und der französische Attac-Gründer Bernard Cassen (einst Direk-tor von Le Monde diplomatique) – habenPorto Alegre als Schauplatz ausgewählt,weil dort das innovative, von PT-Stadt-verwaltungen entwickelte Konzept desBürgerhaushalts angewandt wurde.2

Lula trat hier erst als Präsidentschafts-kandidat und 2003 als neu gewählterStaatschef auf, der sich anschickte, dieBrücke vom Weltsozialforum zum Welt-wirtschaftsforum in Davos zu schlagen.

Die horizontale Struktur des WSFführte zu einem bunten Miteinanderoder eher einem Nebeneinander, dasErwartungen an klare Zuspitzungenzwangsläufig enttäuschte. Machtstra-tegisch denkende Köpfe, die am liebs-ten eine antikapitalistische Fünfte In-ternationale geformt hätten, zogensich aus dem Forum zurück. Unter denMitgliedern des Internationalen Rats,des obersten WSF-Gremiums, sind nurnoch wenige in der globalisierungskri-tischen Bewegung aktiv.

Am Rande des letzten WSF im Som-mer 2016 taten sich AktivistInnen ausMontreal und Nordostbrasilien zusam-men. Ihnen gelang es, das WSF nachSalvador de Bahia zu lotsen – auch weilBahia einer der letzten PT-regiertenBundesstaaten ist und selbst in Zeitenknapper Kassen ein für Linke wenigerfeindseliges Umfeld darstellt als der po-larisierte Süden oder Südwesten Brasi-liens.

Auf einer Ratssitzung im Januarplädierten Whitaker und Grajew ver-geblich dafür, Salvador zu einem vonvielen regionalen „Widerstandsforen“zu erklären. Die große Mehrheit deranwesenden 30 Ratsmitglieder votier-te für einen globalen fünftägigen Event.Auch befürchten Kritiker eine Instru-mentalisierung des WSF durch diePT zu Wahlkampfzwecken, denn 2018werden in Brasilien nicht nur der Prä-sident, sondern auch die Gouverneuresowie alle Landes- und Bundesparla-mente gewählt.

Lula da Silva strebt ein Comebackan. Er führt in allen Umfragen, abergegen ihn läuft auch ein Korruptions-verfahren. Falls die zweite Instanz dasim Juli gegen ihn ergangene Urteil be-stätigt, wäre seine Kandidatur abruptbeendet.

„Die lokale PT beginnt eigentlicherst jetzt, sich für das Forum zu inte-ressieren“, versichert Mauri Cruz, beidem in der Vorbereitungszeit viele Fä-den zusammenlaufen. Der Aktivist ausPorto Alegre, der vor 15 Jahren dort Ver-kehrsdezernent war, ist für ein halbesJahr nach Salvador gezogen, um nundas Forum vor Ort mit zu organisieren.

Der Gesamtetat bleibt bescheiden.Die knapp 2,5 Millionen Euro sind ge-rade einmal halb so viel wie ursprüng-lich angestrebt. „Und selbst da warschon eingerechnet, was uns die Bun-desuniversität oder die Landesregie-rung in Form von erlassenen Mietenoder anderen Hilfen bei der Infrastruk-tur zur Verfügung stellen“, sagt Cruz,„wir machen das Beste aus dem, waswir haben.“

Da ist es äußerst willkommen, dassBrot für die Welt – anders als frühereGroßsponsoren wie staatliche Banken,der halbstaatliche Erdölmulti Petro-bras, Oxfam oder die Ford Foundation– das WSF in der Planungsphase wei-terhin unterstützt. „Als Plattform desAustauschs bleibt es für uns wichtig“,meint Francisco Marí, der für das evan-gelische Hilfswerk als Ratsmitgliednach Salvador gekommen ist, „wäh-rend der Woche im März werden wiruns mit unseren Projektpartnern wiebei anderen internationalen Events

auf gemeinsame Veranstaltungen unddie weitere Vernetzung konzentrieren.“Ähnlich sehen das Leute von Attac, po-litischen Stiftungen oder der deutschenGewerkschaft Erziehung und Wissen-schaft (GEW).

Die großen Protestbewegungender letzten Jahre, ob in der arabischenWelt, in Griechenland, Spanien, Groß-britannien oder in den USA, fanden un-abhängig von den Weltsozialforen statt.„Stars wie Jeremy Corbyn oder BernieSanders wären hier höchst willkom-men“, sagt Mauri Cruz.

Der Dauerstreit zwischen den „Ver-tikalisten“, die im Namen des Forumsverbindliche Vorgaben verabschiedenwollten, und den „Horizontalisten“um Chico Whitaker ist in den Hin-tergrund getreten. Von der alten Gar-de der brasilianischen Organisatorensind nur noch Whitaker und Grajewnach Salvador gekommen, doch denTon gibt jetzt die nächste, pragmati-sche Generation um Mauri Cruz an,der im Namen des Netzwerks Abong(Brasilianische Vereinigung von NGOs)für Wirbel sorgt.

In Salvador sollen die Debatten desGastgeberlands im Mittelpunkt stehen.PT-kritische Kräfte wie die Wohnungs-losenbewegung Bahias (MSTB) wollendas WSF nutzen, um für ihre Anlie-gen zu werben. „Am Genozid an jun-gen Schwarzen in den Armenviertelnhat sich auch unter der Arbeiterparteinichts geändert, die Polizei macht, wassie will“, sagt Wagner Moreira von derMSTB und dem neuen linken Debat-tenbündnis „Vamos“, das sich die jungespanische Partei Podemos zum Vorbildgenommen hat.

In Salvador, wo vier Fünftel der Be-völkerung afrikanische Wurzeln haben,werde die Schwarzenbewegung demWSF ihren Stempel aufdrücken, glaubtder Aktivist mit den langen schwarzenZöpfchen. Und auch die Indigenen, diegegen Erdölförderung und Staudamm-oder Bergbauprojekte kämpfen, wer-den sich Gehör verschaffen. Und natür-lich hofft er darauf, dass die südameri-kanische Linke Bilanz zieht.

Ob das Weltsozialforum wenigstensdie brasilianische Linke aus ihrer Le-thargie reißen kann, ist fraglich. „Hof-fentlich kann das WSF soziale Kräfteanziehen, die vorher nicht dabei wa-ren, vor allem die Jungen“, meint Fáti-ma Mello, eine Veteranin der brasilia-nischen NGO-Szene. In den 13 Jahrender Ära Lula/Rousseff wurde eine gan-ze Generation von Aktivistinnen koop-tiert. Nun muss wieder beharrliche Bil-dungs- und Aufbauarbeit an der Basisgeleistet werden.

1 Siehe Gerhard Dilger, Kein Wunder in Brasilien, Le

Monde diplomatique, Juli 20132 Beim Bürger- oder Beteiligungshaushalt in Porto

Alegre – der mittlerweile seit Jahren auf Eis liegt – ent-

schieden die Bürgerinnen und Bürger über die Priori-

täten städtischer Investitionen in ihrem Stadtteil. Das

Mitbestimmungsmodell fand weltweit Nachahmer.

Siehe auch Ignacio Ramonet, „Warum Porto Alegre“,

Le Monde diplomatique, Januar 2001.

Gerhard Dilger leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-

Stiftung in São Paulo.

© Le Monde diplomatique, Berlin