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Nationsbildung im 19. Jahrhundert EUGEN KOTTE GRUNDWISSEN KONTROVERS Die USA, Polen und Deutschland im Vergleich WOCHEN SCHAU GESCHICHTE ABITUR VORBEREITUNG KLAUSUR PRÜFUNGS- UND BASISWISSEN FÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

EUGEN KOTTE Nationsbildung im 19. Jahrhundert · 2016. 6. 3. · Nationsbildung im 19. Jahrhundert EUGEN KOTTE Zu diesem Buch Die Nationsbildungsprozesse des 19. Jahrhunderts prägen

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  • Nationsbildung im 19. Jahrhundert

    EUGEN KOTTE

    Zu diesem Buch

    Die Nationsbildungsprozesse des 19. Jahrhunderts prägen bis heute die Verfasstheit unserer Welt. Sie bestimmen die Gesellschaften, in denen wir zusammenleben und zwischen denen Konflikte ausgetragen wer-den. Nationsbildung ist ein zentrales Thema in der gymnasialen Ober-stufe und in der oberen Sekundarstufe I.Der Band stellt die drei sehr verschiedenen, prototypischen Entsteh-ungs prozesse Deutschlands, Polens und der USA in einer für Schü-lerinnen und Schüler verständlichen Sprache und leicht erschließbaren Struktur dar. Neueste Forschungsergebnisse werden dabei ebenso be -rücksichtigt wie aktuelle wissenschaftliche Kontroversen.

    Zur Reihe

    Die Bände der Reihe Grundwissen kontrovers dienen der Wiederholung und Festigung von Wissen und sind besonders bei der Vorbereitung von Vergleichsarbeiten, Klausuren und Abiturprüfungen hilfreich.

    Grundwissen kontrovers

    enthält das Wissen, über das Schülerinnen und Schüler den Lehrplänen entsprechend verfügen müssen

    deckt die zentralen Themen der gymnasialen Oberstufe und der oberen Jahrgänge der Sekundarstufe I ab

    hilft bei der Lösung von Darstellungs-, Interpretations- und Erörterungsaufgaben

    enthält einen Erörterungsteil, in dem fachwissenschaftliche Deutungskontroversen vorgestellt werden. Die Schülerinnen und Schüler können auf dieser Grundlage selbst Stellung beziehen.

    ISBN 978-3-7344-0231-9

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    Eugen Kotte, Dr., Prof. für Didaktik der Geschichte mit dem fachlichen Schwerpunkt Neuere und Neueste deutsche und

    europäische Geschichte (seit dem späten 18. Jahrhundert)

    GRUNDWISSEN KONTROVERS

    WOCHENSCHAUGESCHICHTE

    Die USA, Polen und Deutschland im Vergleich

    9 783734 402319

    WOCHENSCHAUGESCHICHTE

    ABITUR

    VORBER

    EITUNG

    KLAUSUR

    PRÜFUNGS- UND BASISWISSEN FÜR SCHÜLER INNEN UND SCHÜLER

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

  • Vorwort

    WOCHEN SCHAUGESCHICHTE

    Nationsbildung im 19. JahrhundertDie USA, Polen und Deutschland im Vergleich

    EUGEN KOTTE

    GRUNDWISSEN KONTROVERS

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

  • Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikatio n in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    www.wochenschau-verlag.deAlle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elek-tronischer Systeme verarbeitet werden.

    Titelgestaltung: Ohl DesignTitelbild: Frankfurter Wachensturm vom 3. April 1833, Farbholzschnitt von Fráncois Georgin (1801-1863)Gesamtherstellung: Wochenschau VerlagGedruckt auf chlorfreiem PapierISBN 978-3-7344-0231-9 (Buch)ISBN 978-3-7344-0232-6 (E-Book)

    © WOCHENSCHAU Verlag, Dr. Kurt Debus GmbH Schwalbach/Ts. 2016

    Die Reihe „Grundwissen kontrovers“ wird herausgegeben von Hans-Jürgen Pandel

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

  • Inhalt

    Grundwissen kontrovers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

    1. EInlEItung: Das 19. JahrhunDErt als ZEItaltEr DEs natIon BuIlDIng . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

    2. DIE ausgangssItuatIon: PolItIschE hErrschaftsvEränDErungEn, ökonomIschE transformatIonEn, gEsEllschaftlIchE EntwIcklungEn an DEr wEnDE vom 18. Zum 19. JahrhunDErt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

    2.1 Darstellung: USA – Dekolonisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37Widerstand gegen die Kolonialmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . 37Revolution und Unabhängigkeitskrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . 44Die Verfassungsgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

    2.2 Erörterung wissenschaftlicher Kontroversen: Die Amerikanische Revolution – Konsens oder Konflikt? . 63

    2.3 Darstellung: Polen als Objekt europäischer Großmachtpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70Das Bedingungsfeld: Polen in der mächtepolitischen Konstellation Mitte des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . 70Der Anfang vom Ende: Die Wahl Stanisław August Poniatowskis und die Erste Teilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71Ein letzter Versuch: Die polnische Verfassung vom 3. Mai 1791 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77Das Ende der polnischen Staatlichkeit in der Zweiten und Dritten Teilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

    2.4 Erörterung wissenschaftlicher Kontroversen: Die Polnischen Teilungen – Selbstverschuldung oder Großmachtpolitik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

    2.5 Darstellung: Deutschland – das Ende des übernationalen Verbands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89Der Reichsdeputationshauptschluss 1803 . . . . . . . . . . . . . 89Das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

    2.6 Erörterung wissenschaftlicher Kontroversen: Die Aufhebung des Alten Reiches – Rückschlag oder Neuanfang? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

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    Inhalt

    3. aufBruch unD staBIlIsIErung: gEfahrEn aBwEhr unD BEwährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

    3.1 Darstellung: USA – Konsolidierung der Republik . . . . . . . 97Frühe Administrationen (Washington, Adams, Jefferson, Madison) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97Der Krieg von 1812 zwischen den USA und Großbritannien 102

    3.2 Erörterung wissenschaftlicher Kontroversen: Die USA als paradigmatische Republik – Realität oder Utopie? . . . . . . 104

    3.3 Darstellung: Polen – Nation ohne Staat . . . . . . . . . . . . . . . 106Polen unter den Teilungsmächten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106Hoffnungen: Polen und Napoleon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

    3.4 Erörterung wissenschaftlicher Kontroversen: Polen – nostalgische Erinnerung an die Adelsrepublik oder revolutio närer Neubeginn? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

    3.5 Darstellung: Deutschland – Restauration oder Innovation in staatenbündischen Strukturen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115Französische Dominanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115Die Niederlage Napoleons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

    3.6 Erörterung wissenschaftlicher Kontroversen: Das „Dritte Deutschland“ – Weg in die Zukunft? . . . . . . . . 120

    4. natIonalE mIssIonEn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

    4.1 Darstellung: Die Westexpansion der USA . . . . . . . . . . . . . 123Monroe-Doktrin und Manifest Destiny . . . . . . . . . . . . . . . . . 123Die Texas-Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129Der Krieg zwischen den USA und Mexiko 1848 . . . . . . . . . 130

    4.2 Erörterung wissenschaftlicher Kontroversen: Der US-amerikanische Westen – soziales Ventil oder Kolonialgebiet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

    4.3 Darstellung: Polen in Europa – Kompensations- und Verfügungsmasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138Polen als Verhandlungs- und Verteilungsgegenstand auf dem Wiener Kongress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138Der Novemberaufstand 1830/1831 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

    4.4 Erörterung wissenschaftlicher Kontroversen: Die Mitte Europas – ein Herd der Instabilität? . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

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    Inhalt

    4.5 Darstellung: Die Deutschen in der Mitte Europas . . . . . . . 152Frühe nationale und liberale Forderungen und Bestrebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152Die Gründung des Deutschen Bundes auf dem Wiener Kongress 1814/1815 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157Die Karlsbader Beschlüsse 1819 und ihre Auswirkungen . . 161Das Revolutionsjahr 1830 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163Das Hambacher Fest 1832 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169Süddeutsche Kammerkämpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171Verfassungskonflikte in Norddeutschland: Das Beispiel Hannover und die „Göttinger Sieben“ . . . . . . . 173

    4.6 Erörterung wissenschaftlicher Kontroversen: Deutschland – Reform oder Revolution? . . . . . . . . . . . . . . 175

    5. krIsEn unD BEwährung: IntErnE konflIktE unD IhrE (vorläufIgE) lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

    5.1 Darstellung: USA – die Zerreißprobe des Bürgerkriegs . . 181Ökonomische Divergenzen zwischen Norden und Süden . . 181Die Sklavereifrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185Der Bürgerkrieg 1861-1865 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

    5.2 Erörterung wissenschaftlicher Kontroversen: Der US-amerikanische Civil War – ein moralischer oder ein struktureller Konflikt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

    5.3 Darstellung: Polen – revolutionäre Veränderungen und nationaler Entwicklungsgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196Entspannung in „Kongresspolen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201Ein letztes gewaltsames Aufbäumen: der Januaraufstand 1863/64 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202Maßnahmen zur Russifizierung und Germanisierung: Liberalisierung in Galizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205Das Programm der „organischen Arbeit“ . . . . . . . . . . . . . . 212

    5.4 Erörterung wissenschaftlicher Kontroversen: Polen – Abschied vom „romantischen Nationalismus“? . . . . . . . . . 219

    5.5 Darstellung: Zwischen und Reaktion und Revolution – Polarisierungen in Deutschland und der Versuch ihrer Neutralisierung im kleindeutschen Nationalstaat . . . . . . . 224Konturen eines Parteiensystems in den 1840er Jahren . . . . 224Die deutschen Revolutionen von 1848/49 . . . . . . . . . . . . . 228Reaktion und neuer Aufbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

  • 6

    Inhalt

    Militärische Auseinandersetzungen und preußisch- österreichische Rivalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247Preußen und die süddeutschen Staaten . . . . . . . . . . . . . . . 250Der Norddeutsche Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251Der Deutsch-Französische Krieg 1870/1871 . . . . . . . . . . . . 254Die Reichsgründung 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257Die Verfassung des Kaiserreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259Polarisierungen im Kaiserreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263Gesellschaftliche Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271Veränderungen in der Außenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279Der „Neue Kurs“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

    5.6 Erörterung wissenschaftlicher Kontroversen: Deutschland – Sonderweg oder Sonderbewusstsein? . . . 291

    6. sElBst unD frEmDBIlDEr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

    6.1 Darstellung: USA – Expansion als Lebensgrundlage . . . . 301Ursprünge: City upon a Hill und Continuing Revolution . . . . 301Einwanderung: Land of Opportunity und Melting Pot . . . . . . 304Besiedlung: Land of Plenty und Frontier . . . . . . . . . . . . . . . 310

    6.2 Erörterung wissenschaftlicher Kontroversen: Die USA im 19. Jahrhundert – Isolationismus oder Imperialismus? . . . 314

    6.3 Darstellung: Polen – das „Martyrium“ für Europa . . . . . . . 317Polen als Verbreiter des Christentums im östlichen Europa . 317Polen als „antemurale christianitatis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 319Polen als „Christus der Völker“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320

    6.4 Erörterung wissenschaftlicher Perspektiven: Polen im 19. Jahrhundert – geteiltes Land, geeintes Volk? . . . . . . . 322

    6.5 Darstellung: Deutschland – der Mythos des Reiches . . . . 326Liberal-nationale Beschwörungen des Reichsgedankens . . 326Vom Mythos zur Ideologie des Reiches . . . . . . . . . . . . . . . 327Großdeutsche Aspirationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330

    6.6 Erörterung wissenschaftlicher Kontroversen: Deutschland im 19. Jahrhundert – eine verspätete Nation? . . . . . . . . . . 332

    7. natIonsBIlDungEn Im 19. JahrhunDErt: PolItIschE rahmEn BEDIngungEn, gEsEllschaftlIchmEntalE ProZEssE unD strukturEllE mErkmalE . . . . . . . . . . . . . . . . 337

    Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

  • 7

    grunDwIssEn kontrovErs

    Der Titel dieser Reihe Grundwissen kontrovers scheint auf den

    ersten Blick ein Widerspruch in sich selbst zu sein. Im naiven

    Verständnis gilt Grundwissen als gesicherter Wissensbestand,

    der jedem Meinungsstreit entzogen ist und der über Generati-

    onen hinweg unverändert bleibt. Aber ein solches Grundwis-

    sen, das die Schülerinnen und Schüler am Ende ihrer Schulzeit

    für die nächsten 60 Jahre ihrer durchschnittlichen Lebenszeit

    versorgt, gibt es nicht und kann es auch nicht geben. Ge-

    schichtswissenschaft erarbeitet kein dogmatisches Wissen,

    das über die Zeiten stabil bleibt. Das hat drei Gründe:

    • JedeGegenwartproduziertständigneue Fragestellungen

    an die Vergangenheit, die die Geschichtswissenschaft zu

    beantworten sucht. Die Brennpunkte historisch-politischer

    Aufmerksamkeit wechseln, auch wenn sie längere Zeit

    stabil bleiben (Beispiel: Naher Osten). Auch die Probleme

    wandeln sich (Vereinigtes Europa, Terrorismus). Es kommt

    neues Wissen hinzu. Deshalb sollen Schülerinnen und

    Schüler Kompetenzen erwerben, die es ihnen ermögli-

    chen, sich auch ohne Schule historisch zu orientieren und

    ihr Wissen ständig zu revidieren.

    • DieGeschichtswissenschaftsorgtselbstdafür,dassihr

    Wissen sich ständig verändert. Ihr Ziel ist Forschungsfort-

    schritt. Neues Wissen kommt hinzu, altes wird neu gese-

    hen und manches gerät völlig in Vergessenheit. Die Histo-

    rikerinnen und Historiker produzieren ständig neues Wis-

    sen, denn Forschung ist auf Dauer ausgerichtete Wissens-

    produktion. Es werden neue Forschungskonzepte ent-

    wickelt (Beispiele: Geschlechtergeschichte, Umweltge-

    schichte, Globalgeschichte) und vertrautes Wissen veraltet

    durch neue Fragestellungen.

    • Historikerinnen und Historiker, die die gleiche Epoche be-

    arbeiten, kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Sie

    stehen grundsätzlich in Deutungskonkurrenz zueinander.

    An den gleichen Themen arbeiten immer mehrere – und

    die Geschichtswissenschaft hat sich inzwischen internatio-

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

  • 8

    nalisiert. Die Historikerzunft besteht aus vielen Forschen-

    den, die selten in allen Punkten übereinstimmen. Die Ge-

    schichtswissenschaft ist bisweilen schon als „zankende

    Zunft“ bezeichnet worden. Geschichte ist immer gedeutete

    Geschichte und die Konkurrenz besteht darin, plausiblere

    Deutungen eines Ereigniskomplexes als die Kollegin oder

    der Kollege vorzulegen.

    Grundwissen kontrovers unterstützt die Schülerinnen und

    Schüler bei der Lösung der drei Aufgabentypen der Einheitli-

    chen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (2005), die

    inzwischen auch in den oberen Klassen der Sekundarstufe I

    Verwendung finden. Darstellungs-, Interpretations- und Erörte-

    rungsaufgaben lassen sich mit Grundwissen kontrovers vorbe-

    reiten. Die einzelnen Bände dieser Reihe sind deshalb in Dar-

    stellungs- und Erörterungsteile gegliedert. Eine Darstellung ist

    eine mehr oder minder ausführliche Zusammenfassung eines

    historischen Ereignisverlaufes. Sie ist keine Aneinanderreihung

    von sog. Fakten, sondern eine durchdachte Konstruktion mit

    Deutungscharakter, die sich bewusst und begründet von ande-

    ren Deutungen unterscheidet. Die Erörterungen dagegen ent-

    halten fachwissenschaftliche Deutungskontroversen. Sie wer-

    den in den einzelnen Bänden nicht aufgelöst, sondern in ihrer

    Kontroversität stehen gelassen. Die Leserschaft von Grundwis-

    sen kontrovers muss selbst Stellung beziehen und erörtern,

    was für die eine oder andere Deutung spricht.

    Hans-Jürgen Pandel (Halle/S.)

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

  • 9

    1. EInlEItung: Das 19. JahrhunDErt als ZEItaltEr DEs natIon BuIlDIng

    In diesem Band werden drei sehr unterschiedliche Nationsbil-

    dungsprozesse in vergleichender Perspektive dargestellt, um

    das Phänomen des Nation Building, jenes soziopolitischen

    Prozesses, in dem sich innerhalb des 19. Jahrhunderts Ge-

    meinschaften auf der Grundlage empfundener Gemeinsamkei-

    ten, z. B. bestimmter kultureller Erscheinungen, zusammenfan-

    den, verschiedene symbolische Standards vereinbarten und

    häufig einen eigenen Staat anstrebten, in seinen verschiede-

    nen Ausformungen zu ergründen: In Nordamerika handelte es

    sich um britische Kolonien, die erst ihre Selbstständigkeit errei-

    chen mussten, um dann aus einer Pluralität heraus einen sou-

    veränen Staat begründen zu können. Polen wiederum war

    durch drei benachbarte europäische Großmächte wiederholt

    und restlos geteilt worden. Entsprechend war die Befreiung

    von der Fremdherrschaft die Vorbedingung für die Zusammen-

    führung der drei Teilungsgebiete in einem wieder erlangten

    polnischen Staat, der allerdings erst im 20. Jahrhundert er-

    reicht werden konnte. Die deutschen Staaten des beginnenden

    19. Jahrhunderts bildeten Elemente eines aus dem Mittelalter

    überkommenen, transnationalen Reiches, das eher einen ide-

    ellen Anspruch als einen geschlossenen Herrschaftsraum re-

    präsentierte und überdies in den Kriegen gegen das napoleo-

    nische Frankreich sein Ende fand, während die souveränen

    Gliedstaaten politisch zerstritten, existenziell bedroht und z. T.

    sogar fremdbeherrscht waren. Die Befreiung von der französi-

    schen Hegemonie und die Zurückdrängung der napoleoni-

    schen Vorherrschaft war hier Vorbedingung für die Erwägung

    Vergleichende Perspektive

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

  • 10

    Einleitung

    einer staatlichen Verbindung der deutschen Territorien, die in-

    des zunächst nicht zustande kam.

    In allen drei Fällen handelt es sich zwar um Emanzipations-

    prozesse, die sich aber deutlich unterscheiden: Der Vorgang

    der Dekolonisation eines zunächst (auf die weiße Bevölkerung

    bezogen) weitgehend aus Großbritannien besiedelten Gebiets,

    dessen Einwohner sich in den ersten 150 Jahren trotz ihres

    unterschiedlich motivierten Dissidententums zu Großbritannien

    bekannten, ist etwas ganz anderes als die Herauslösung aus

    der Fremdherrschaft dreier in unterschiedlichem Ausmaß als

    Unterdrücker erscheinender auswärtiger Mächte, die ein vor-

    mals selbstständiges Großreich annektiert hatten. Die Entwick-

    lung in den deutschen Ländern war dagegen durch das Prinzip

    einer ausgeprägten territorialstaatlichen Souveränität gekenn-

    zeichnet, die zwar in den Institutionen des Heiligen Römischen

    Reiches zusammenfloss, aber angesichts der vielfältigen

    Transformationsprozesse bereits im 18. Jahrhundert deutlich

    an politischer Wirksamkeit verloren hatte.

    Es kann daher kaum verwundern, dass in den frühen USA,

    die als (prä)demokratische, föderale Republik organisiert wur-

    den, Elemente der englischen Rechtstradition in affirmativer

    Weise eine erhebliche Rolle spielten, während in Polen noch

    lange Zeit die Vergangenheit der von der Szlachta (eine aus

    niederem Adel und Großbauerntum bestehende spezifische

    soziale Schicht in Polen, deren Bevölkerungsanteil je nach

    Region zwischen 8 Prozent und 15 Prozent lag) dominierten

    Adelsrepublik auch die Zukunftsvisionen in scharfer Oppositi-

    on zu den von den Teilungsmächten angewandten Herrschaft-

    spraktiken prägte. Für die deutschen Staaten bedeutete das

    spätestens im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hörbar

    artikulierte Nationalstaatsdesiderat vor allem die Zusammen-

    führung der deutschen Territorien, die zu diesem Ziel auf einen

    Großteil ihrer Souveränität hätten verzichten müssen. In den

    USA musste die Souveränität also erst gewonnen, in Polen die

    Selbstständigkeit wiedererrungen werden, in den deutschen

    Staaten hingegen stand den Fürsten ein Souveränitätsverlust

    bevor. Nicht nur Bedingungskonstellationen und politische

    Planungen in den drei als Beispielen ausgewählten Ländern

    Emanzipation

    Politische Traditionen und Strukturen

    Staatswesen und Regie-rungsformen

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

  • 11

    Das 19. Jahrhundert als Zeitalter des Nation Building

    unterschieden sich – trotz aller auch feststellbaren Paralle-

    len –, auch die Projektionen der Nationalstaaten gestalteten

    sich unterschiedlich mit letztlich dann auch deutlich verschie-

    denen Resultaten. In den USA entstand eine föderale Repub-

    lik, Polen blieb im 19. Jahrhundert geteilt, und der National-

    staat in Deutschland, der nur um Österreich „amputiert“ entste-

    hen konnte, war als monarchischer Obrigkeitsstaat angelegt,

    dessen zentrale exekutive Institutionen ihren Einfluss maßgeb-

    lich ihrer Verbindung zum dominanten Preußen verdankten.

    Für alle drei Beispiele ist zu konstatieren, dass sich die Nati-

    onen vor den Nationalstaaten herausbildeten, zunächst durch

    Visionen und Diskussionen in elitären Zirkeln (die koloniale,

    sozioökonomische Elite in den nordamerikanischen Kolonien,

    die Szlachta und – zögerlich – auch die Magnaten in Polen,

    das Bildungsbürgertum in Deutschland) und dann mit einer

    Breitenbewegung in die Bevölkerung hinein, maßgeblich be-

    wirkt durch revolutionäre, seltener durch reformerische An-

    strengung und natürlich durch Propaganda, Bildung, Sozialisa-

    tion. Für die späteren USA ist festzuhalten, dass dieser Prozess

    der Amerikanisierung spätestens in den 1750er Jahren im

    French and Indian War begann, aber bereits auf vorherige

    Formen kolonialer Selbstverwaltung und höherer Bildungs-

    streuung zurückgreifen konnte. In Polen war die Vorstellung

    von der Rzespospolita auch noch vorherrschend, als die sozi-

    ale Basis der Nationalbewegung ausgeweitet werden sollte.

    Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts setzte sich hier

    nach dem gescheiterten Januaraufstand mit dem reaktivierten

    und zunehmend konsequenter verfolgten Konzept der „organi-

    schen Arbeit“ die systematische Einbindung auch ländlicher

    sowie klein- und unterbürgerlicher Schichten anhaltend durch.

    Für verschiedene deutsche Staaten sind im Vormärz in den

    1830er Jahren erste signifikante Aktionseinheiten aus Bauern,

    Bürgern und Studenten sowie der Bildungselite festzustellen,

    während das Beamtenbürgertum noch weitgehend in Reform-

    vorstellungen verharrte. Alle drei Länder wiesen sich den jewei-

    ligen nationalen Ideen widmende und – in sehr verschiedenem

    Ausmaß – liberalen Vorstellungen öffnende Eliten auf, deren

    nationsbezogene Visionen auf unterschiedliche Art und zu un-

    Nationsbildung

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

  • 12

    Einleitung

    terschiedlichen Zeitpunkten größere Teile der Bevölkerung er-

    reichten. In allen drei Beispielen hatten gelungene oder ge-

    scheiterte Kriege, Revolutionen oder Aufstände Katalysator-

    funktionen. Dies gilt ebenso für die den Staatsgründungspro-

    zess der USA ermöglichende Amerikanische Revolution wie

    für die gescheiterten polnischen Aufstände von 1830/1831

    und – in wesentlich stärkerem Ausmaß – von 1863/1864

    und – im deutschen Fall – auch für die politisch letztlich nicht

    erfolgreichen Revolutionen von 1848 sowie die Kriege im Vor-

    feld der Reichsgründung von 1871. Zweifelsohne erhob sich in

    diesen zum Teil blutigen und verlustreichen Auseinanderset-

    zungen das eben auch gewaltbereite Gesicht des Nationalis-

    mus.

    Die vergleichende Darstellung von Nationsbildungsprozes-

    sen und Nationalstaatsgründungen birgt also erheblich größe-

    re Erkenntnismöglichkeiten als die noch immer überwiegend

    gepflegte nationale Einzelfallbehandlung oder die rein additive

    Summierung verschiedener Nationenbildungen. Die Europa-

    historikerin Ulrike von Hirschhausen und der Neuzeithistoriker

    Jörn Leonard haben in einem vor einigen Jahren herausgege-

    benen Sammelband Vorzüge einer vergleichenden Darstel-

    lung geltend gemacht (Hirschhausen/Leonard 2001, S. 21-

    45), die in Anspruch genommen und z. T. noch ergänzt werden

    können: Der Vergleich unterschiedlicher Varianten der Nations-

    idee in verschiedenen Ländern muss zwar deskriptiv von einer

    deutlich differenzierenden Beschreibung der Einzelfälle ausge-

    hen, die aber im Fortgang der Analyse die Identifikation von

    Gemeinsamkeiten wie auch von Unterschieden erst ermög-

    licht, aus denen die Erkenntnis übergreifender historischer

    Phänomene hervorgeht, für die nach Erklärungen gesucht

    wird. Die komparative Darstellung und Analyse legt also über

    die transnationale Perspektive Problemfelder frei, die bei Ein-

    zelfallbetrachtungen oder additiven Verfahren nicht in den

    Blick geraten. Sie bedient sich dabei des zudem analytisch

    hilfreichen interkulturellen Konzepts der Verfremdung, das den

    Blick vom eigenen kulturellen Standpunkt insbesondere bei

    historischen Phänomenen, Ereignissen und Prozessen, in de-

    nen sich beziehungs- und verflechtungsgeschichtliche Aspek-

    Konflikte als Katalysator

    Historische Komparatistik

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  • 13

    Das 19. Jahrhundert als Zeitalter des Nation Building

    te erheblich verdichten (unterschiedliche Auswirkung der na-

    poleonischen Ära in den USA, Polen und den deutschen

    Staaten, 1848 und die Folgen, polnische und deutsche Aus-

    wanderung in die USA, industrielle Verflechtungen, Polen unter

    preußischer und österreichischer Herrschaft, Erster Weltkrieg),

    zumindest ein Stück weit in die Sichtweise der anderen über-

    führt, um durch diese Irritation eine Reflexion der bisher eige-

    nen nationalen Optik zu bewirken (Mickel 1993, S. 152).

    In der vergleichenden Darstellung und Analyse der drei aus-

    gewählten Nationsbildungsprozesse können Problemkomple-

    xe – in allerdings unterschiedlicher und sicher nicht erschöp-

    fender Intensität – angegangen werden, deren Erörterung sich

    der Einzelfallbetrachtung oder der additiven Behandlung zu-

    mindest in der notwendigen Ausführlichkeit entzieht: So kön-

    nen Zusammenhänge zwischen der Nationsbildung und Mo-

    dernisierungsprozessen wie Urbanisierung, Industrialisierung,

    soziale Mobilität und Entwicklung von Kommunikationsmitteln

    fundierter erörtert werden, da sie sich in den drei Ländern und

    erst recht im internationalen Austausch in unterschiedlicher

    Weise und zu unterschiedlichen Zeiten zeigten.

    Auch kann die Entwicklung nationaler Identitäten in ihren

    verschiedenen Stadien durch eine komparative Betrachtung

    deutlicher verfolgt und die These von der „Gleichzeitigkeit des

    Ungleichzeitigen“ (Koselleck 1992, S. 132), die für die Prozes-

    se des Nation Building im 19. Jahrhundert formuliert wurde,

    substanzieller überprüft werden. Mit Blick auf die von den je-

    weiligen Obrigkeiten auf Druck hin eingeleiteten Reformpro-

    zesse wie auch auf Integrationsbemühungen frisch gegründe-

    ter Nationalstaaten (sowohl der USA ab 1787 wie auch des

    Deutschen Reiches mit Vorlauf in den Einzelstaaten sowie in

    Polen mit der Idee der „organischen Arbeit“) kann verglei-

    chend die Bedeutung von Sozialisationsinstanzen (z. B. der

    Schule), staatsbürgerlichen Aufgaben (z. B. der Wehrpflicht)

    und partizipatorischer Einbindung (z. B. dem Wahlrecht) für die

    Herausbildung einer auf oder auch gegen den staatlichen Be-

    zugsrahmen gerichteten Identität festgestellt werden. Unter

    diesem Aspekt kommen Institutionen, Medien, Austauschforen

    und Symbolreservoirs der Nationsbildungen in den Blick. Da-

    Nationsbildung und Moderni-sierungspro-

    zesse

    Nationale Identität

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

  • 14

    Einleitung

    bei wird es interessant sein herauszufinden, ob sich alle drei

    Nationen ähnlicher Techniken, Symbolisierungen und kulturel-

    ler Markierungen bedienten, um die permanente Vergegenwär-

    tigung selektiv ausgewählter und glorifizierend interpretierter

    Aspekte der eigenen Vergangenheit als Loyalitätsmuster zu

    nutzen. Es geht damit auch um die Frage der Militarisierung

    und Monumentalisierung der nationalen Erinnerungskulturen,

    die angesichts der drei Beispiele sehr unterschiedlich zu be-

    antworten ist.

    Die auf diese Weise materialisierte Selbstsicht steht in einer

    Wechselwirkung mit der Wahrnehmung der anderen, der

    Nachbarn, mit Fremd- und Feindbildern, die sich nicht nur ge-

    sellschaftlich, sondern auch politisch auswirkten. Der Zusam-

    menhang von Identität und Alterität ist in allen drei untersuch-

    ten Fällen zu beobachten, schlägt sich aber – bedingt durch

    äußerst verschiedene Konditionen – höchst unterschiedlich

    nieder. Rassistische Vorstellungen entwickelten sich in den

    USA vonseiten der dominanten Weißen vornehmlich gegen

    Teile der Bevölkerung des eigenen Landes (Indigenous Peo-

    ple, Asian und African Americans, Hispanics), während in Po-

    len das Bedrohungsszenario durch Deutsche und Russen do-

    minierte, in den deutschen Staaten hingegen Frankreich als

    ebenbürtiger Erbfeind angesehen wurde, während hier im

    letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend rassistische

    Argumentationsmuster die Wahrnehmung des polnischen Be-

    völkerungsteils dominierten.

    Nicht allein unter diesem Aspekt ist es erforderlich, rekurrie-

    rend auf das Konzept der „multiplen Identität“ (Loth 2002,

    S. 95), das (angestrebte oder auch schon erreichte) nationale

    Zugehörigkeitsgefühl im Verhältnis zu anderen, d. h. lokalen,

    regionalen, sozialen oder auch transnationalen identitätskons-

    titutiven Bezugsgrößen zu untersuchen. Die Voraussetzungen

    innerhalb des durch Eigenentwicklung der einzelnen Kolonien,

    aber auch durch hohe politische Partizipation geprägten Nord-

    amerikas, des durch die Teilungsmächte zerschnittenen, von

    der Szlachta dominierten Polens und des durch fürstlich-mon-

    archisch regierte Territorialstaaten gebildeten Heiligen Römi-

    schen Reiches könnten unterschiedlicher kaum sein, zeigen

    Fremd- und Feindbilder

    Konzept der „multiplen Identität“

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  • 15

    Das 19. Jahrhundert als Zeitalter des Nation Building

    aber in allen drei Fällen intensive Bemühungen um identitäts-

    wirksame Zentralisierungen, die mit den überwiegend lebens-

    weltlich erfahrbaren Zugehörigkeitsempfindungen und Teilnah-

    memöglichkeiten in Einklang zu bringen waren.

    Der Vergleich verschiedener Nationsbildungsprozesse lässt

    bereits vermuten, dass diverse Typologien, die für europäische

    oder von Europa maßgeblich beeinflusste außereuropäische

    Staaten aufgestellt wurden, in ihrem häufig mitklingenden Ab-

    solutheitsanspruch problematisch sind. Dennoch liefern diese

    Schemata wichtige analytische Kategorien, die in der dem

    Vergleich notwendigerweise vorausgehenden Einzelfallunter-

    suchung angewandt werden können und dann im Vergleich als

    übergeordnete historische Phänomene erkannt oder verwor-

    fen werden müssen. Die in diesem Band vorgenommene Dar-

    stellungsstruktur hat sich an derartigen Konzepten orientiert

    und sie mit der chronologischen Abfolge der Ereignisse zu

    verbinden versucht.

    Als unstrittig ist wohl vorauszusetzen, dass entscheidende

    Vorbedingungen des Nation Building bereits in Entwicklungen

    des 18. Jahrhunderts zu sehen sind. Für die USA ist selbstver-

    ständlich die Amerikanische Revolution seit den 1760er Jah-

    ren von grundlegender Bedeutung. Die Menschen in diesem

    neuen Staat errangen ungefähr zum selben Zeitpunkt ihre Un-

    abhängigkeit, als Polen seine staatliche Existenz verlor, was für

    den polnischen Nationsbildungsprozess eine gleichermaßen

    erhebliche Rolle spielte. Für die deutschen Staaten erforderte

    das schleichende Verschwinden des Heiligen Römischen Rei-

    ches, dessen durch Napoleon nur noch beschleunigtes Ende

    1806 mehr Erleichterung als Bestürzung auslöste (Angermeier

    1991, S. 450), die Reflexion gemeinsamer Möglichkeiten zwi-

    schen ungebundener einzelstaatlicher Souveränität und straff

    organisiertem Nationalstaat, der maßgeblich die Diskussion

    um eine Kulturnation (die über staatliche Grenzen hinaus be-

    hauptet werden konnte) vorangestellt wurde. Diese einschnei-

    denden Prozesse des 18. Jahrhunderts beinhalteten entschei-

    dende Voraussetzungen für die Nationsbildungsvorgänge des

    19. Jahrhunderts, sie verweisen aber gleichermaßen auf Kon-

    flikte, in denen Nationsvorstellungen unterschiedlicher Art

    Typologien für Nationsbil-

    dungsprozesse

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

  • 16

    Einleitung

    auch ideologisch verortet waren. Kulturhistoriker warnen daher

    vor einer vereinseitigenden Lesart, die sich nahezu ausschließ-

    lich auf Gedächtnisorte und Erinnerungsweisen konzentriert,

    mit denen eine identitätsstiftende Relevanz im Nation Building

    nachgewiesen werden kann (Csáky 2002, S. 28). Die Berech-

    tigung derartiger Untersuchungen wird nicht bestritten, aber es

    wird daran erinnert, dass sich auch „[d]as Deutungsmuster

    Nation […] nur in seiner Pluralität [erschließt]: Nationsvorstel-

    lungen oszillierten innergesellschaftlich und waren zeitlichem

    Wandel unterworfen“ (Hirschhausen/Leonard 2001, S. 30) –

    dies ist gerade bei einer vergleichenden Erörterung des Nation

    Building zu bedenken.

    Bereits im 19. Jahrhundert wies der Religionswissenschaft-

    ler Ernest Renan die Französische Revolution als Geburtsstun-

    de des modernen Nationsverständnisses aus. Inspiriert wurde

    insbesondere die erste Phase dieses frühen, mindestens ein

    Jahrzehnt andauernden Umbruchprozesses durch den revolu-

    tionären Unabhängigkeits- und Staatsgründungsprozess der

    USA, in dem nicht nur die bereits in der aufklärerischen Staats-

    philosophie propagierten Menschenrechte in einem Grund-

    satzdokument festgeschrieben wurden, sondern auch mit der

    verfassungsmäßigen Feststellung des Volkes als Träger der

    Souveränität politische Herrschaft grundsätzlich neu definiert

    wurde.

    Diese fundamentale Veränderung, die auch als Reaktion auf

    die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beschleunigten

    ökonomischen Veränderungen und die entsprechenden sozia-

    len Konsequenzen zu verstehen ist, „war die folgerichtige Ant-

    wort auf dem Weg Europas in die Moderne“ (Schulze 1994,

    S. 212). Denn die veränderte Auffassung vom Ursprung und

    von der Legitimation politischer Macht wandelte auch das Ver-

    ständnis von der Nation, das im Mittelalter noch auf einen

    räumlich definierten Zweckverband oder eine gesellschaftliche

    Korporation rekurrierte und in der Frühen Neuzeit bis in das

    18. Jahrhundert hinein lediglich in elitären Zirkeln diskutiert

    wurde. Allerdings vollzog sich dieser Wandel keineswegs als

    Bruch (Weichlein 2006, S. 8), sondern das veränderte Begriffs-

    verständnis ging einher mit den die Lebensformen radikal be-

    Wandel der Nationsvorstel-lungen

    Ursprünge modernen Nationsver-ständnisses

    Sattelzeit

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

  • 17

    Das 19. Jahrhundert als Zeitalter des Nation Building

    einflussenden Transformationsprozessen in einem zeitlichen

    Abschnitt vom letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bis ungefähr

    1830, den der Geschichtstheoretiker Reinhart Koselleck mit

    dem Begriff „Sattelzeit“ (Koselleck 1972, S. XIII-XXIII) als For-

    mationsphase des modernen Nationsgedankens und damit

    des Nationalismus auswies. In dieser Zeit wurzelten unter-

    schiedliche Varianten des Nationsbegriffs, die in der For-

    schung später mit den Termini „Kulturnation“, „Staatsnation“

    oder „Volksnation“ (Lepsius 1990, S. 232-239) bezeichnet

    wurden und seit langem beschworene kulturelle Muster mit

    dem neuartigen Bedürfnis der gesellschaftlichen Organisation

    in einem Nationalstaat verbanden.

    Entscheidender aber war die Annahme der Konstitution der

    Nation durch ihre Bürger, die auf diese Weise von Adressaten

    zu Mitgliedern und Akteuren, von Untertanen zu Staatsbürgern

    wurden. Die Akzeptanz der Volkssouveränität machte aus den

    frühneuzeitlichen „Adelsnationen“ Volksnationen, die Nation

    wurde zur „Gemeinschaft mündig gewordener Bürger“ (Schul-

    ze 1994, S. 213). Zwar war auch dieses neue Begriffsverständ-

    nis noch weit von heutigen Demokratieauffassungen entfernt,

    doch konfrontierten insbesondere die während der Französi-

    schen Revolution und auch noch in der Ära Napoleons stattfin-

    denden Kriege die Bevölkerungen und Regierungen anderer

    europäischer Staaten mit einer durch die Berufung auf Men-

    schen- und Bürgerrechte wie durch die Betonung der Volks-

    souveränität grundsätzlichen Einbindung auch der einfachen

    Bevölkerung, die nun verstärkt – und in Teilen auch erfolg-

    reich – ihre Zugehörigkeit zur Nation und damit letztlich ihre

    politische Teilhabe einklagen konnte. Der Neuzeithistoriker

    Dieter Langewiesche hat dieses Phänomen als bereits frühzei-

    tig wirksamen Doppelcharakter des modernen Nationsbegrif-

    fes zwischen „Partizipationsverheißung und Gewaltbereit-

    schaft“ (Langewiesche 1994, S. 12) bezeichnet.

    Neben dieser Herausforderung der Verankerung eines poli-

    tischen Gemeinwesens in der Zustimmung seiner Bürger rief

    die napoleonische Fremdherrschaft in den besetzten und be-

    drohten Staaten Europas jedoch vor allem Widerstandskräfte

    hervor, die die Entstehung nationaler Bewegungen begünstig-

    Varianten des Nationsbegriffs

    Volksnationen

    Menschen- und Bürgerrechte

    Reaktive Nationsbildung

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

  • 18

    Einleitung

    ten. Der Historiker Lothar Gall, Spezialist für das 19. Jahrhun-

    dert, hat dieses Phänomen schon 1995 als „reaktive Nationa-

    lisierung“ bezeichnet, in der bereits seit der Aufklärung existen-

    te politische Ideen umgestaltet und mit neuer Stoßrichtung

    reali siert wurden (Gall 1995, S. 568-579). Sehr deutlich zeigt

    sich dieser Wirkungszusammenhang in denjenigen Staaten,

    deren Regierungen und politische Eliten – maßgeblich be-

    schleunigt durch die militärischen Niederlagen und finanzielle

    Erschöpfung – dem massiven Reformdruck begegnen muss-

    ten, wollten sie von innen drohenden Aufständen und Umstür-

    zen ebenso entgegenwirken wie neuerlicher äußerer Aggres-

    sion. Wenngleich die nationalen Forderungen noch nicht durch

    die gesamte Bevölkerung getragen wurden, so zielten sie doch

    auf Einbindung aller sozialen Schichten, die in gemeinsamen

    Anliegen zusammengeführt werden sollten. „Freiheit“ wurde

    zur zentralen Parole im doppelten Sinne: als Befreiung von

    Fremdherrschaft und äußerer Bedrohung wie auch als politi-

    sche Freiheit der Selbstbestimmung durch eine verfassungs-

    mäßig garantierte Partizipation im Prozess der politischen Ent-

    scheidungsfindung, deren Akteure durch die Souveränität des

    Volkes legitimiert wurden. Mit der Forderung nach nationaler

    Selbstbestimmung unter Einbindung der Bevölkerung argu-

    mentierten die Nationalbewegungen jetzt durchaus auch

    staatsverstärkend, indem sie die Mitwirkung des Bürgers am

    politischen Gemeinwesen einklagten. Die Idee der Nation wur-

    de an das Ziel einer Staatsbürgergesellschaft gebunden, in

    der mit der Garantie gleicher Rechte die frühneuzeitliche Privi-

    legiengesellschaft von Gottes Gnaden abgeschafft werden

    sollte (Langewiesche 1995, S. 31-32).

    Viele Regierungen, auch in Deutschland (hier besonders

    deutlich in Preußen und Bayern nach 1806), reagierten auf diese

    Herausforderungen und führten Reformen durch, die die aktive

    Einbindung breiter Bevölkerungsschichten in den Staat ermög-

    lichen und ihm auf diese Weise die Loyalität seiner Bürger si-

    chern sollten. Dabei pflegten die Monarchen, Fürsten und Regie-

    rungen „ein ausgeprägt instrumentelles Verhältnis zum nationa-

    len Gedanken“ (Weichlein 2006, S. 66), indem sie das Engage-

    ment der Staatsbürger förderten und im selben Maße das kriti-

    Die Forderung nach Freiheit

    Staatsbürger-gesellschaft

    Reformen zu Beginn des 19. Jahrhun-derts

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

  • 19

    Das 19. Jahrhundert als Zeitalter des Nation Building

    sche Potenzial schmälerten. Das Verhältnis der Bürger zu ihrem

    Staat wurde neu definiert, aber Mitwirkung bedeutete noch nicht

    Mitbestimmung. Vielmehr galt es, Monarchie und Aktivbürger-

    schaft miteinander zu vereinbaren. Deutlich wurde dies beson-

    ders auf dem Wiener Kongress, auf dem das nationale Prinzip

    nur dann akzeptiert wurde, wenn es sich mit fürstlicher Herr-

    schaftsausübung verbinden ließ (Schulze 1994, S. 212).

    Damit aber drohten die in den napoleonischen Kriegen in

    vielen Ländern Europas aufgenommenen Projekte der Befrei-

    ung von Fremdherrschaft und gleichzeitiger Durchsetzung der

    Volkssouveränität auseinanderzufallen. Insbesondere in jenen

    Ländern, die nicht durch eine staatliche Klammer zusammen-

    gehalten wurden (dies trifft z. B. auf Deutschland und Italien,

    aber auch auf das geteilte Polen zu), verstärkte sich entspre-

    chend die Überzeugung, dass die Freiheit nur in staatlicher

    Einheit zu verwirklichen sei, sollte sie nicht dem monarchi-

    schen Interesse geopfert werden. Auch in bereits vorhandenen

    Staaten (z. B. Frankreich, Spanien) verstärkten sich die Integra-

    tionsbemühungen mit Blick auf die erhoffte „Einheit von Volk,

    Kultur und Staat“ (Schulze 1994, S. 274).

    Um diesem Desiderat nachkommen zu können, war die

    Einbindung möglichst breiter Bevölkerungsschichten erforder-

    lich. Dabei ging es zunächst um die Emanzipation des Bürger-

    tums, dessen Vertreter eine ihrer unter veränderten ökonomi-

    schen Bedingungen und entsprechend sich wandelnden ge-

    sellschaftlichen Strukturen gestiegenen Bedeutung entspre-

    chende politische Rolle anstrebten. Diese Bemühungen fan-

    den ihren Ausdruck in den liberalen Forderungen nach einer

    die Menschen- oder Grundrechte verbürgenden Verfassung

    und einer parlamentarischen Repräsentation der Bevölkerung

    im politischen Gefüge des Nationalstaats.

    Darüber hinaus aber wurde die Nation im Verlauf der ersten

    Hälfte des 19. Jahrhunderts auch zur Projektionsfläche sozial

    äußerst unterschiedlicher Freiheitsvorstellungen und griff in ih-

    rer Wirkung weit über das Bürgertum hinaus. Sie diente nicht

    mehr nur zur Abwehr äußerer Feinde, sondern auch zur Be-

    kämpfung ungleicher Gesellschaftsverhältnisse durch über-

    kommene Ständestrukturen. Da das Volk – zunächst mehr als

    Die Forderung nach Einheit

    Die Forderung nach Freiheit

    Die Forderung nach Gleichheit

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

  • 20

    Einleitung

    Adressat denn als Träger – im Mittelpunkt der Nationsvorstel-

    lung stand, wurden – in sich verstärkender Weise – auch

    Gleichheitsideen beschworen. Die Nation wurde im Verlauf des

    19. Jahrhunderts – insbesondere von demokratischen Kräf-

    ten – immer stärker als Solidargemeinschaft deklariert, die mit

    dem Anspruch auf ein gemeinsames Merkmal aller ihr zugehö-

    rigen Individuen als Kollektiv bestand.

    Diese integrative Funktion der Nation bedeutete jedoch

    nicht, dass ihre Trägerschichten, maßgeblich also das liberale

    Bürgertum in seinen unterschiedlichen Facetten, den Emanzi-

    pationsanspruch auf die unterbürgerlichen Schichten ausge-

    weitet und diesen so ebenfalls die politische Teilhabe ermög-

    licht hätte (Schulze 1994, S. 238). Zwar wurden in der Phase

    des „Völkerfrühlings“, insbesondere im Vorfeld der zahlreichen

    europäischen Revolutionen um die Jahrhundertmitte, die

    durch Agrar- und Versorgungskrisen älteren Typs wie auch

    durch neuartige Konjunktureinbrüche im Zuge der Industriali-

    sierung hervorgerufenen sozialen Proteste unterbürgerlicher,

    z. T. auch bäuerlicher Bevölkerungskreise als willkommene

    Verstärkung im Kampf um einen die Grundrechte garantieren-

    den, durch eine Verfassung organisierten und von einer Volks-

    versammlung mitgestalteten Staat instrumentalisiert, aber die

    Gravamina der besitzlosen Schichten fanden in den politi-

    schen Forderungen der Liberalen kaum Berücksichtigung. Die

    liberalen Nationalbewegungen hatten sich nur zögerlich dem

    Weg revolutionärer Veränderung geöffnet und waren nach

    ersten Erfolgen sehr schnell bereit, mit den alten Herr schafts-

    eliten Bündnisse gegen allzu weitreichende Umsturzversuche

    einzugehen. Besonders deutlich zeigte sich der Widerstand

    der Liberalen gegen eine egalitäre Beteiligung unterbürgerli-

    cher Schichten durch das in vielen europäischen Staaten auch

    nach den ersten Erfolgen 1848 weiterhin gültige Zensuswahl-

    recht, durch das letztlich Eigentum und Besitz über Voten und

    Mandate bei einer Wahl bestimmten (Weichlein 2006, S. 30).

    Zwar konnte sich in Deutschland das liberale Paulskirchenpar-

    lament zum Prinzip der allgemeinen, gleichen, geheimen und

    freien Wahl durchringen, aber in den deutschen Einzelstaaten

    wie auch in den meisten europäischen Staaten hatten auch

    Die integrative Funktion der Nation

    Wahlrecht

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

  • 21

    Das 19. Jahrhundert als Zeitalter des Nation Building

    nach 1848 restriktive Wahlrechtsbestimmungen Bestand.

    Selbst in den USA dauerte es nach der Revolution (1763-1787)

    etliche Jahrzehnte, bis das Zensuswahlrecht durch eine demo-

    kratische Regelung aufgehoben wurde.

    Von der historischen Forschung ist immer wieder betont

    worden, dass sich der Nationalismus nach der Gründung oder

    Formierung von Nationalstaaten veränderte (Weichlein 2006,

    S. 42). Dabei war die – zumindest angenommene – Realisie-

    rung des Ziels einer kulturell-gesellschaftlich-staatlichen Ein-

    heit nur ein Faktor für den Funktionswandel des Nationalismus

    von einer maßgeblich emanzipatorischen und integrativen

    Kraft zu einer innere und äußere Gegner ausgrenzenden Ideo-

    logie. Teile der Nationalismusforschung sehen die Verände-

    rung einer ursprünglich mit liberalen Desideraten verbundenen

    Nationsvorstellung zu einer reaktionären Ideologie insbeson-

    dere im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Zusammen-

    hang mit den durch die fortschreitende Industrialisierung ver-

    bundenen sozialen Verwerfungen (Winkler 1978, S. 78-79).

    Wieso sich z. B. Teile des deutschen Liberalismus mit der

    1871 maßgeblich durch die Obrigkeiten herbeigeführten

    Reichseinigung zufriedengaben und dabei auf viele liberale

    Gestaltungsideen verzichteten, kann aber kaum hinreichend

    durch ökonomische Interessen und soziale Ängste des Besitz-

    bürgertums erklärt werden (Schulze 1994, S. 239). Entschei-

    dender ist wohl – mit Blick auf die unmittelbaren politischen

    Ergebnisse – das Scheitern der Gründung eines deutschen

    Nationalstaats in den Jahren 1848/1849, das dann auch die

    ohnehin schon brüchige Utopie eines „Völkerfrühlings“ begrub

    (Weichlein 2006, S. 46). Der Nationalstaat kam – zumindest in

    Deutschland – in einer nicht zuletzt durch die Kriege der

    1860er Jahre günstigen, wenngleich in dieser Weise kaum

    vorhersehbaren und daher auch nicht durch geniale Strategie

    herbeigeführten europäischen Situation als Bund der deut-

    schen Fürsten unter maßgeblicher Regie Otto von Bismarcks

    zustande, war aber als politisches Ziel letztlich auch ein Resul-

    tat des Drucks einer seit den 1850er Jahren wieder erstarkten

    Nationalbewegung, denn „[o]hne diffuse, aber allein legitimie-

    rende Macht der Einheitsbewegung wäre kein Deutsches

    Gründung von National-

    staaten

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

  • 22

    Einleitung

    Reich, sondern ein Großpreußen entstanden“ (Schulze 1994,

    S. 243).

    Diese Erörterung mag für den Funktionswandel des Natio-

    nalismus im 1871 entstandenen Deutschen Reich, der zumin-

    dest in den 1870er Jahren Bismarck die weitgehende Unter-

    stützung der Nationalliberalen sicherte, eine von mehreren

    Begründungen darstellen, die entsprechenden Veränderungen

    in anderen europäischen Staaten erklärt sie allerdings nicht.

    Allgemein ist für diese Entwicklung vom liberalen zum reaktio-

    nären Nationalismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts

    festgehalten worden, dass die integrative Funktion zugunsten

    eines zunehmend exklusiven Charakters verloren ging (Hirsch-

    hausen/Leonard 2001, S. 28-29). Gegen diese These hat der

    Nationalismusforscher Dieter Langewiesche bereits 1994 ein-

    gewendet, dass der „Nationalismus als Integrationsideologie

    […] die Außenabgrenzung als konstitutives Merkmal“ (Lange-

    wiesche 1994, S. 11) immer schon beinhaltete. Bei allen Be-

    schwörungen eines „Völkerfrühlings“ und einer nationsüber-

    greifenden Gemeinsamkeit in den liberalen Zielsetzungen gab

    es auch vor 1848 ein ganz offensichtlich nach außen gerichte-

    tes aggressives Potenzial, so beispielsweise in Deutschland

    1840 während der „Rheinkrise“ gegen Frankreich, als ältere

    Feindbilder aus den Napoleonischen Kriegen reaktiviert wur-

    den oder 1848 in der Schleswig-Frage gegen Dänemark, die

    letztlich sogar zum auch von der Paulskirche geforderten Krieg

    führte. Es ist daher auch für die erste Hälfte des 19. Jahrhun-

    derts kaum möglich, die Nationsbildung als Integrationspro-

    zess ausschließlich auf einen emanzipatorischen und partizi-

    patorischen Grundzug, der das Selbstbild beeinflusste, zu re-

    duzieren. Sie umfasste immer auch schon ein aggressives Po-

    tenzial, das in den damit verbundenen Feindbildern zum Aus-

    druck kam (Langewiesche 1994, S. 12). Dies ist für den ersten

    Versuch einer deutschen Nationalstaatsgründung unschwer

    am Beispiel der Polen-Debatte in der Frankfurter Paulskirche

    nachzuweisen, in der die unterstellte, bis ins Mittelalter zurück-

    geführte deutsche Kulturmission in Ostmitteleuropa gegen die

    den Polen zugeschriebene Zivilisationsunfähigkeit angeführt

    wurde und überdies bereits konfessionelle Vorbehalte artiku-

    Reaktionärer Nationalismus im späten 19. Jahrhun-dert

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  • 23

    Das 19. Jahrhundert als Zeitalter des Nation Building

    liert wurden, die auf den Kulturkampf des Kaiserreichs, der mit

    besonderer Härte in den preußischen Teilungsgebieten Polens

    geführt wurde, vorauswiesen. Derartige Kulturkämpfe, die sich

    gegen Gruppierungen im Innern der Nationalstaaten richteten,

    gab es auch in anderen europäischen Ländern.

    Die Abgrenzung gegen äußere „Erbfeinde“ und der Aus-

    schluss inländischer Gruppierungen, so z. B. in vielen Ländern

    der Juden, aber auch der Sozialisten und Sozialdemokraten

    sowie bisweilen der Katholiken, verdeutlicht, dass gegenüber

    der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zentralen Frage

    der Emanzipation nun der Gesichtspunkt der Loyalität in den

    Vordergrund trat (Hirschhausen/Leonard 2001, S. 24). Mit der

    Erreichung des Ziels der Konsolidierung oder Schaffung kons-

    titutioneller Nationalstaaten gegen Fremdherrschaft und mon-

    archisch-ständische Strukturen erschöpfte sich die grosso

    modo einigende Grundlage der nationalen Massenbewegung.

    Nun traten die unter der Oberfläche schon vorher vorhandenen

    Differenzen offen zutage und zeitigten im pluralen Wettstreit der

    Parteien ihren Niederschlag in Parlamenten. Dennoch blieb im

    Gedanken der Nation die Idee des gesamtgesellschaftlichen

    Konsenses bestimmend, sodass ausgegrenzt wurde, was als

    nicht integrierbar galt, und der parlamentarische Streit unter

    das Stigma der die Einheit der Nation gefährdenden Zwietracht

    gestellt wurde (Weichlein 2006, S. 31). Hüter der Nation war

    nun nicht mehr eine bürgerliche Bewegung, sondern die Spit-

    zen des Staates definierten die nationale Zugehörigkeit. „Staat

    und Nation bedingten sich zunehmend gegenseitig, und die

    Staatsraison verbündete sich nunmehr mit dem nationalen

    Egoismus, eine Verbindung, die sich um die Jahrhundertmitte

    bei allen europäischen Nationalstaaten zu zeigen begann und

    gegen Ende des 19. Jahrhunderts die europäische Politik im-

    mer ausschließlicher beherrschte“ (Schulze 1994, S. 268).

    In vielen europäischen Staaten und bereits vorher schon in

    den USA leistete diese Entwicklung einer Monumentalisierung

    und teilweise auch Militarisierung der Erinnerungskultur Vor-

    schub, die vordergründig eine spezifische Auffassung von der

    Nation propagierte und von großen Teilen der Bevölkerungen

    in der Bestrebung um loyale Teilhabe an der Nation z. B. durch

    Loyalität

    Staatliche Erinnerungs-

    kultur

    © Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts.

  • 24

    Einleitung

    initiierende Aktivitäten, unterstützende Vereinstätigkeit, finanzi-

    elle Beteiligung und zustimmende Hochschätzung mitgetra-

    gen wurde. Doch verbirgt sich – wie der österreichische Kultur-

    historiker Moritz Csáky in seiner Auseinandersetzung mit den

    etablierten Theorien zu Erinnerungsorten feststellt – beispiels-

    weise im nationalen Denkmal unter Einbezug seiner Planung,

    Konstruktion wie auch Wahrnehmung eine „Mehrdeutigkeit,

    […] Dynamik, […] Mehrfachkodierung“ (Csáky 2002, S. 38),

    durch die „die mit Denkmälern und nationalen Inszenierungen

    verbundene Anverwandlung des Nationalen zunächst nur ein

    Deutungsangebot, aber keine verbindliche Definition darstell-

    te. Die im Denkmal wie in der Inszenierung artikulierten Nati-

    onsdeutungen markierten einen Raum gegenläufiger Interes-

    sen, in dem Inklusionswünsche und Exklusionsrealität aufein-

    andertrafen“ (Hirschhausen/Leonard 2001, S. 29). Auch wenn

    noch im Vorfeld des Ersten Weltkriegs die in der anfänglichen

    Kriegseuphorie von großen Teilen der Bevölkerung in den be-

    teiligten Staaten reflektierte, vordergründige Vorstellung von

    der Einheit der Nation dominierte, wurde die nun staatlich ein-

    gefasste Idee der Nation zum innenpolitischen Kampfargu-

    ment, das von seinen Befürwortern absolut gesetzt wurde, so-

    dass inneren wie äußeren Gegnern schlichtweg ihr Existenz-

    recht abgesprochen werden konnte. Äußerstenfalls wurde die

    zunehmende Diversität der modernen Gesellschaften gegen

    Ende des 19. Jahrhunderts noch durch einen blassen und

    schalen Nationalismus überdeckt (Schulze 1994 S. 261), der

    indes die Vielfalt der mit dem Konzept des Nationalstaats ver-

    bundenen politischen Entwürfe nicht mehr integrieren konnte.

    Die für die Stiftung nationaler Identität immer schon konstitu-

    tiven, aber im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in nationalis-

    tischer Übersteigerung besonders betonten Feindbilder liefer-

    ten nicht nur Legitimation und Orientierung für die eigene Nati-

    on, durch die unter deren Mitgliedern Loyalität verbürgt werden

    sollte, sondern stellten auch die Negativfolie für eine Selbstglo-

    rifizierung bereit, die durch Inanspruchnahme eines spezifi-

    schen geschichtlichen Auftrags, einer säkularen historischen

    Mission Plausibilität erhalten sollte. Dieses Sendungsbewusst-

    sein, das häufig mit der Behauptung der eigenen kulturellen

    Nationales Sendungs-bewusstsein

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  • 25

    Das 19. Jahrhundert als Zeitalter des Nation Building

    Höherwertigkeit sowie der zivilisatorischen Leistung begründet

    wurde, betonte ebenso die Einzigartigkeit der eigenen Nation,

    wie es zur Disziplinierung der Bevölkerung beitrug (Weichlein

    2006, S. 139). Einzigartigkeit und Missionsauftrag der eigenen

    Nation begründete letztlich ihr Prestige, das gegen Ende des

    19. Jahrhunderts zunächst von den europäischen Großmäch-

    ten, dann aber auch durch die USA mit der Verfügbarkeit eines

    kolonialen Betätigungsfeldes im Zusammenhang stand.

    Das Modell für den zunehmend imperialen Nationalismus,

    der für Österreich und Russland, aber auch für Preußen im

    Hinblick auf ihre in den mittel- und osteuropäischen Raum hin-

    einreichenden Staatsbildungen schon in der ersten Hälfte des

    19. Jahrhunderts zu konstatieren ist (Zernack 1998, S. 101),

    bildete der britische Empire-Nationalismus, der die durch zu-

    nehmende soziale Stratifizierung und nationale Auseinander-

    setzungen ausgelösten massiven inneren Konflikte im Insel-

    reich überwölbte und letztlich sogar den Verlust der wirtschaft-

    lichen und politischen Weltmachtstellung Großbritanniens

    überwinden half (Schulze 1994, S. 257). Diese Imperialismus

    und Nationalismus zusammenfügende Konstruktion wurde mit

    der angeblichen Überlegenheit der Briten gegenüber anderen

    Völkern, insbesondere denjenigen mit nichtweißer Hautfarbe,

    begründet, sodass die Existenz des Empire als Interesse der

    gesamten menschlichen Zivilisation ausgewiesen werden

    konnte.

    Diese in Großbritannien verbreitete Überzeugung zeitigte

    Wirkung bei einer das Bild der Kulturnation gegen den wilhel-

    minischen Reichsnationalismus ausspielenden politischen

    Richtung im Deutschen Reich, die die als demütigend empfun-

    dene, von Bismarck unter Betonung der deutschen „Mission“

    in Mitteleuropa zur Beruhigung der anderen Großmächte aufer-

    legte Selbstbeschränkung überwinden wollte. Gefordert wurde

    „Weltpolitik“, durch die die deutsche Nation, deren Kulmina-

    tions punkt nun nicht mehr in der Reichsgründung von 1871

    gesehen wurde, ihrer Vollendung entgegenschreiten könne.

    Die „völkischen“ Träger eines derartigen Bewusstseins waren

    maßgeblich Angehörige des liberalen, gebildeten und besit-

    zenden Bürgertums, also die Erben der deutschen Nationalbe-

    Imperialer Nationalismus

    Kulturnation

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  • 26

    Einleitung

    wegung von 1848 (Schulze 1994, S. 263), die der imperialen

    Ausdehnung Großbritanniens, Frankreichs und Russlands

    nicht mehr tatenlos zusehen wollten.

    Vor diesem Hintergrund bildeten Überlegenheitsanspruch

    und Sendungsbewusstsein eine in den Augen von Expansio-

    nisten hinreichende Legitimation, auch gewaltsam in benach-

    barte Räume vorzudringen oder Gebiete und Ethnien in ande-

    ren Kontinenten unter Zwang zu unterwerfen und als Kolonien

    auszubeuten. Verschiedene deutsche Staaten hatten ihre

    Ausdehnungsbegierden bereits im 18. Jahrhundert in die Mitte

    und in den Osten Europas gerichtet, und auch im Kaiserreich

    blieb ein Mitteleuropa unter deutsch-österreichischer Hegemo-

    nie weitgehend unumstrittenes, partiell bereits realisiertes Ziel.

    In den 1880er Jahren hingegen wurde der Ruf nach deutschen

    Kolonien immer lauter, an deren Berechtigung die Verfechter

    deutscher „Weltpolitik“, die alsbald in Weltmachtstreben um-

    schlug, keinen Zweifel ließen. Als mit dem Industrialisierungs-

    schub zur militärischen Stärke und zum politischen Gewicht

    des Kaiserreichs auch noch das gewaltige ökonomische Po-

    tenzial trat, schien die von Bismarck begünstigte Konzentration

    auf Europa zu begrenzt: 1887 bzw. 1891 entstanden mit der

    Deutschen Kolonialgesellschaft und dem Alldeutschen Ver-

    band Organisationen, die massiv eine Beteiligung des Deut-

    schen Reiches an der Aufteilung überseeischer Gebiete einfor-

    derten.

    Als dann auch noch das sorgsam austarierte Bündnissys-

    tem Bismarcks durch die Politik der neuen Reichsregierung

    ausgehebelt und ein großdeutsche Fantasien beflügelnder

    einseitiger Schulterschluss mit Österreich-Ungarn vollzogen

    wurde, schien angesichts der bewusst auch von offiziellen

    Stellen geförderten Einkreisungsängste aus der Sicht völki-

    scher Kräfte die Forderung nach gleichberechtigter Beteili-

    gung des Deutschen Reiches an der bereits lange zuvor be-

    triebenen Kolonialisierung der Welt geradezu geboten. Damit

    geriet das Deutsche Reich nicht nur realpolitisch in Gegensatz

    zu Großbritannien, was Bismarck immer hatte verhindern wol-

    len. Die durch die suggerierte Bedrohungslage nochmals ge-

    steigerten Überlegenheits- und Heilbringungsgefühle, die in

    Expansion

    Kolonialismus

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  • 27

    Das 19. Jahrhundert als Zeitalter des Nation Building

    fataler Verbindung zu einer aus der Evolutionslehre Charles

    Darwins abgeleiteten Berechtigung der Durchsetzung des

    Stärkeren zu biologistischen Abgrenzungsbestrebungen unter

    den Völkern und schließlich zu rasseideologischen Bewer-

    tungsschemata führten, brachten auch die Notwendigkeit ihrer

    Bestätigung durch Expansion mit sich. Sofern das räumliche

    Ausgreifen erfolgreich war, wurden wiederum die Sendungs-

    und Höherwertigkeitsüberzeugungen bestärkt. Dieser Zusam-

    menhang vollzog sich in vielen europäischen Bevölkerungen,

    die auf diese Weise in immer schärfere Gegensätze gerieten.

    Die konstituierenden Merkmale der Nationen wurden aller-

    dings unterschiedlich ausgewiesen. Der eingangs erwähnte

    Ernest Renan hat 1882 die gemeinsame Sprache, das geteilte

    religiös-konfessionelle Bekenntnis, den festgelegten oder be-

    anspruchten Raum, die Überzeugung von einer vereinenden

    ethnischen Herkunft oder auch die Deckungsgleichheit ökono-

    mischer Interessen als für die Nationsbildung unzureichende

    Konstitutionsmerkmale zurückgewiesen und die Nation statt-

    dessen als „geistiges Prinzip“ beschrieben, indem sie als Wil-

    lensgemeinschaft durch die Zustimmung der Menschen auf

    der Basis von diesen geteilter Erinnerungen wie auch Erwar-

    tungen und Entwürfe konstituiert werde (Renan 1882, S. 56).

    Damit basierte nach Auffassung Renans die Nation auf dem

    individuell-voluntaristischen Selbstbekenntnis zur Zugehörig-

    keit zu einem Kollektiv, dem in der Französischen Revolution

    im Anspruch auf die Souveränität des Volkes mit Blick auf die

    politische Partizipation der Weg gebahnt wurde. Der US-ameri-

    kanische Nationenforscher Benedict Anderson hat diesen Zu-

    sammenhang im Begriff der imagined community zu fassen

    versucht (Anderson 1991, S. 6), indem das Bekenntnis zur

    Nation durch in Medien (Bildern, Texten) propagierte, identi-

    tätsstiftende Images ausgelöst wurde. Der aus Großbritannien

    stammende Historiker Eric Hobsbawm sprach für die medial

    vermittelten Erinnerungen, die oftmals erst im aktualisierten

    Kommunikationsprozess gemeinsam wurden, von einer inven-

    ted tradition. Er verstand die für ihn die Nation konstituierende

    Konstruktion von Traditionsbeständen allerdings nicht vor-

    nehmlich als Erfindung, sondern auch als Wiederbelebung von

    Imagined communities

    Invented traditions

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  • 28

    Einleitung

    Traditionen, durch die in „eine[r] Reihe von Praktiken ritueller

    oder symbolischer Natur“ (Hobsbawm 1998, S. 97) Werte und

    Verhaltensformen innerhalb einer Gesellschaft etabliert oder

    aufrechterhalten werden sollten. Durch die Propagierung von

    invented traditions sollte in Krisen- und Umbruchzeiten, die

    gerade während des Nation Building im späten 18. und im

    19. Jahrhundert in Form von Revolutionen (z. B. für die hier

    zentralisierten Beispiele 1763-1787, 1830/1831, 1848/1849),

    Aufständen (verschiedene Bevölkerungen in Europa unter na-

    poleonischer Herrschaft 1799-1813, Polen 1830/1831 und

    1863/1864) und Kriegen (US-Unabhängigkeitskrieg 1775-

    1783, „Befreiungskriege“ 1813-1815, „Einigungskriege“ 1864,

    1866, 1870/1871) als Katalysator wirkten (Hirschhausen/Leo-

    nard 2001, S. 40), die beruhigende Kontinuität zu einer als

    glorreich dargestellten Vergangenheit als Erfolgsrezept für die

    Zukunft hergestellt werden. Die Veränderungen wurden auf

    diese Weise gerechtfertigt, indem für die Innovationen ein weit

    in die Vergangenheit reichender Ursprung behauptet wurde

    (Weichlein 2006, S. 25).

    Damit sind invented traditions Teil jener Ideologien, die nach

    Benedict Anderson zur imagined community führen, die sie

    jenseits aller sozialen Unterschiede als Identitätsgröße und

    Inte gra tions modell etablieren (Hirschhausen/Leonard 2001,

    S. 18-19). Sie werden in der Ideologie veranschaulicht über

    historisch-politische Mythen, die die Existenz einer von Men-

    schen gebildeten Gruppe wie z. B. der Nation zwar nicht erklä-

    ren, aber in Ursprungsgeschichten deuten, die in die Vergan-

    genheit verlegt werden, aber auf Gegenwart und Zukunft in

    einer umfassenden Sinnstiftung weisen (Kotte 1997, S. 392-

    393). Geschichte wird durch griffige Mythen in narrativer Deu-

    tung handlungsorientierend über schriftliche und mündliche

    Medien (Aufrufe, Reden, Zeitungen und Zeitschriften, Literatur)

    vermittelt, in architektonischen und gegenständlichen Visuali-

    sierungen (Repräsentationsbauten, Denkmälern) wie auch in

    Bildern ikonisch verdichtet und durch Zeremonien, Rituale,

    Gedenkfeiern und -tage reinszeniert (Münkler 2009, S. 15).

    Europäische Nationalbewegungen bedienten sich länder-

    über grei fend der so konstruierten invented traditions, die in

    Historisch-politische Mythen

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  • 29

    Das 19. Jahrhundert als Zeitalter des Nation Building

    nationalen Geschichtsmythen, die mit einer Semantik des Ur-

    sprungs und damit der Wiedererweckung, nicht aber der Inno-

    vation veranschaulicht wurden (Weichlein 2006, S. 25) und

    Wesensgeschichten von Nationen beglaubigten. Sie vermittel-

    ten auf diese Weise eine (letztlich auf subjektivem Integrations-

    willen basierende) Zugehörigkeit zur Nation.

    Die Romantik gilt in der Forschung europaweit als „formative

    Phase der Mythisierung der Nation“ (Weichlein 2006, S. 124),

    doch nicht nur für die ihr nachfolgende liberal-nationale Bewe-

    gung in den deutschen Staaten des Vormärz eignete sich zu

    diesem Zweck das mittelalterliche Heilige Römische Reich mit

    dem zur Kulminationsfigur stilisierten Kaiser Friedrich Barba-

    rossa, auf den bereits in der Frühen Neuzeit die ursprünglich

    seinem Enkel angedichtete Wiederkehr aus dem Kyffhäuser in

    Zeiten großer Not übertragen wurde. Auch der Nationalstaat

    von 1871, dessen Eliten zunächst noch mit dem universalen

    Anspruch des Alten Reiches gehadert hatten, wurde als Wie-

    dergeburt des mittelalterlichen Reiches, als „zweites Reich“,

    gepriesen und Wilhelm I. zur Reinkarnation Barbarossas als

    „Barbablanca“ stilisiert (Kotte 2009, S. 246-247). In Polen

    diente der mittelalterliche Sieg des polnisch-litauischen Heeres

    über den Deutschen Orden bei Grunwald/Tannenberg (1410)

    zur Veranschaulichung der Überwindbarkeit der Teilungs-

    mächte im 19. Jahrhundert. In den USA wurde im Sinne des

    Ursprungs und der Wiedergeburt das autoritätsspendende

    Vatersymbol sowohl auf die Pilgrim Fathers in den neuengli-

    schen Koloniegründungen als auch auf die Founding Fathers

    der Amerikanischen Revolution übertragen, um für die Nach-

    kommen einen fortdauernden Auftrag im gesellschaftlichen

    Konsens und in der politischen Mission zu begründen.

    Vor dem Hintergrund verschiedenster Herausforderungen

    der Gegenwart des 19. Jahrhunderts wurden bestimmte Inter-

    pretationen vergangener Ereignisse als Leitlinien zur Bewälti-

    gung aktueller Situationen und als Verheißungen für die Zu-

    kunft breitenwirksam propagiert. Die deutsche Situation war

    dabei grundlegend von der Überwindung der Zersplitterung

    und der Herstellung (national-)staatlicher Einheit geprägt. Die

    US-amerikanische Herausforderung bestand in der Konsolidie-

    Romantik

    Gegenwartsbe-zogenheit der

    Vergangen-heitsbetrach-

    tung

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