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EUROPARECHT Nomos Verlagsgesellschaft Baden-Baden Heft 4 Juli – August 2006 E 21002 F

EuR 06 04 - europarecht.nomos.de · 10 Richtlinie 2004/8/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.2.2004 über die Förderung einer am Nutzwärmebedarf orientierten Kraft-Wärme-Kopplung

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EUROPARECHT

Nomos VerlagsgesellschaftBaden-Baden

Heft 4 • Juli – August 2006

E 21002 F

EURO

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2006

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4Europarecht_4-2006 27.09.2006 16:23 Uhr Seite 1

Inhaltsverzeichnis

Aufsätze

Prof. Dr. Matthias Schmidt-Preuß, Bonn Der Wandel der Energiewirtschaft vor dem Hintergrund der europäischen Eigentumsordnung ........................................................................................ 463

Philipp Kubicki, Frankfurt (Oder) Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft ..................... 489

Dr. Daniel Riedel, Mannheim Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG – zwei Arten tertiärer Kommissionsakte und ihre dogmatischen Fragestellungen ............. 512

Rechtsprechung

Europäische Gerichte / Gerichte der Mitgliedstaaten

Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten im Luftverkehr Urteil des Gerichtshofs vom 30.05.2006 (Nichtigkeitsklage), Europäisches Parlament/Rat der Europäischen Union und Kommission der Europäi-schen Gemeinschaften, verb. Rs. C-317/04 und C-318/04 ........................... 544

Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, Grundsatz ne bis in idem Urteil des Gerichtshofs vom 29.06.2006 (Rechtsmittelverfahren), SGL Carbon AG/Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Rs. C-308/04 P .............................................................................................. 554

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Effektiver Rechtsschutz gegen „targeted sanctions“ des UN-Sicherheitsrats? von Priv.-Doz. Dr. Stefanie Schmahl, LL.M., Potsdam/Bremen ................... 566

Finanzielle Zuwendungen an Religionsgemeinschaften sowie deren Untergliederungen und EG-Beihilferecht von Christopher Patt, LL.M. Eur., München ................................................ 577

Fortsetzung Inhaltsverzeichnis hintere Umschlagseite

Fortsetzung Inhaltsverzeichnis

Rezensionen

Walter Frenz, Handbuch Europarecht – Band 1, Europäische Grundfreiheiten; Band 2, Europäisches Kartellrecht (Prof. Dr. Armin Hatje, Bielefeld) ................................................................ 604

Bibliographie

Bücher und Zeitschriften ............................................................................... 606

EUROPARECHT In Verbindung mit der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Europarecht

herausgegeben von

Claus-Dieter Ehlermann, Ulrich Everling, Hans-J. Glaesner, Meinhard Hilf, Hans Peter Ipsen †, Joseph H. Kaiser †, Peter-Christian Müller-Graff,

Gert Nicolaysen, Hans-Jürgen Rabe, Jürgen Schwarze

Schriftleiter: Armin Hatje, Ingo Brinker

41. Jahrgang 2006 Heft 4, Juli – August

Der Wandel der Energiewirtschaft vor dem Hintergrund der europäischen Eigentumsordnung

Von Matthias Schmidt-Preuß, Bonn∗

A. Entwicklung und „Führungsrolle“ der Europäischen Energiepolitik

Die gemeinschaftsrechtliche Energiepolitik hat sich in den letzten Jahren zunächst kaum merklich, dann aber geradezu rasant entwickelt.1 An die Stelle der früheren terra incognita ist heute ein immer weiter um sich greifendes Geflecht von Recht-setzungsakten getreten und ein Ende ist kaum abzusehen. Zufall ist dies nicht. Die EG-Organe haben – systematisch und gezielt, Schritt für Schritt – ihr Kompetenz-feld expansiv entwickelt. Ziel ist der einheitliche Energiebinnenmarkt. Wenn bereits 1988 der damalige Kommissionspräsident Jacques Delors voraussagte, dass bis Ende des Jahrtausends ca. 80% des nationalen Wirtschaftsrechts gemein-schaftsrechtlich determiniert sind, muss dies inzwischen für den Energiesektor deutlich höher angesiedelt werden. Aktueller Kristallisationspunkt ist die Libera-lisierung der Strom- und Gasmärkte. Das „zweite Paket“ liegt mit den Beschleu-

∗ Der Autor ist Ordinarius für Öffentliches Recht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, den der Verfasser beim „Bonner Energie-Gespräch“ am 14.11.2005 gehalten hat.

1 Vgl. Schmidt-Preuß, Gemeinschaftskompetenz oder nationale Gestaltungsautonomie – Strukturfragen im Kontext der Energiepolitik, in: FS f. Baur, 2002, S. 309 (310 ff.); ders., Europarechtliche und verfassungs-rechtliche Rahmenbedingungen der Energiepolitik, UTR 61 (2002), S. 27 (31 ff.).

464 EuR – Heft 4 – 2006 Schmidt-Preuß, Der Wandel der Energiewirtschaft

nigungs-Richtlinien Strom und Gas 20032 sowie der EG-cross-border-Verord-nung Strom3 von 2003 vor. Jüngst ist die EG-Gas-Zugangs-Verordnung4 hinzuge-treten. Kaum ist diese kopernikanische Wende auf nationaler Ebene umgesetzt, wird bereits über ein mögliches „drittes Paket“ gesprochen. Der Fortschrittsbe-richt5 avisiert das ownership unbundling noch nicht ausdrücklich, thematisiert es aber und bringt es als weiteres Mittel der Wettbewerbsförderung ins Spiel. Hinzu kommen weitere energische Vorstöße aus Brüssel: Zu nennen sind hier – nach Verabschiedung der Gasversorgungs-Richtlinie6 – der vollendete Rest des – ganz im Zeichen der Diskussion um die Versorgungssicherheit stehenden – „Energie-pakets“ vom Dezember 20037 und die Erdölinitiative von 2002.8 Regenerative Energien,9 KWK10 und – einschneidend – der Zertifikate-Handel11 sind bereits in Richtlinien gegossen. Hält man sich dieses Potpourri energiepolitischer Aktivitäten – die Liste ließe sich erweitern, und über den EURATOM-Sektor wurde noch gar nicht gespro-chen – vor Augen, lässt sich mit einiger Berechtigung von einer nahezu schon ubiquitären europäischen Energiepolitik sprechen. Fast wie in einem Sog zieht

2 Richtlinie 2003/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2003 über gemeinsame Vor-

schriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 96/92/EG, ABl. L 176 (vom 15.7.2003), S. 37; Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30/EG, ABl. L 176 (vom 15.7.2003), S. 57.

3 Verordnung (EG) Nr. 1228/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2003 über die Netz-zugangsbedingungen für den grenzüberschreitenden Stromhandel, ABl. L 176 (vom 15.7.2003), S. 1.

4 Verordnung (EG) Nr. 1775/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28.9.2005 über die Bedin-gungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen, ABl. L 289 (vom 3.11.2005), S. 1.

5 Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Bericht über die Fortschritte bei der Schaffung des Erdgas- und Elektrizitätsbinnenmarktes, KOM(2005) 568 endg., S. 12 f. mit dem Hinweis, dass inzwischen etwa die Hälfte aller Mitgliedstaaten im Stromübertragungsnetz- und im Ferngasleitungsbereich bereits das Eigentumsunbundling eingeführt hätten.

6 Richtlinie 2004/67/EG des Rates vom 26.4.2004 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Erdgas-versorgung, ABl. L Nr. 127 (vom 29.4.2004), S. 92.

7 Richtlinie 2006/32/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.4.2006 über Endenergieeffizienz und Energiedienstleistungen und zur Aufhebung der Richtlinie 93/76/EWG des Rates, ABl. L 114 (vom 27.4.2006), S. 64; Richtlinie 2005/89/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18.1.2006 über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Elektrizitätsversorgung und von Infrastrukturinvestitio-nen, ABl. L 33 (vom 4.2.2006), S. 22.

8 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Angleichung der Maßnah-men zur Sicherung der Versorgung mit Erdölerzeugnissen (KOM[2002]488), inzwischen zurückgenommen.

9 Richtlinie 2001/77/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.9.2001 zur Förderung der Strom-erzeugung aus erneuerbaren Energiequellen im Elektrizitätsbinnenmarkt, ABl. L Nr. 283 (vom 27.10.2001), S. 33.

10 Richtlinie 2004/8/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.2.2004 über die Förderung einer am Nutzwärmebedarf orientierten Kraft-Wärme-Kopplung im Energiebinnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 92/42/EWG, ABl. L 52 (vom 21.2.2004), S. 50.

11 Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.10.2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates, ABl. L Nr. 275 (vom 25.10.2003), S. 32; dazu nunmmehr Richtlinie 2004/101/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.10.2004 zur Änderung der Richtlinie 2003/87/EG über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft im Sinne der projektbezo-genen Mechanismen des Kyoto-Protokolls, ABl. Nr. 338 (vom 13.11.2004), S. 18 („linking directive“).

Schmidt-Preuß, Der Wandel der Energiewirtschaft EuR – Heft 4 – 2006 465

eine Maßnahme eine neue nach sich – das alles ohne Energietitel.12 Kein Zweifel: Die Gemeinschaft hat die energiepolitische Führungsrolle übernommen und übt sie mit Rasanz und Intensität aus. Damit sieht sich die auf Planungssicherheit angewiesene Energiewirtschaft grundlegend neuen Rahmenbedingungen gegen-über, die einschneidender kaum sein könnten.

B. Die Architektur des gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsgrundrechts

I. Funktion und Stellenwert des gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsgrundrechts

1. Marktwirtschaftliche Ausschluss- und Anreizfunktion des Eigentums

a) Im zweiten Teil stellt sich die Frage nach den Grenzen einer EG-Rechtsetzung. Sie ist um so drängender, als die Gemeinschaft – wie angedeutet – ihre Führungs-rolle zunehmend selbstbewusst wahrnimmt, was sich in weitreichenden und im-mer stärker einschneidenden Maßnahmen manifestiert. Damit wendet sich der Blick speziell auf das gemeinschaftsrechtliche Eigentumsgrundrecht, das im Mit-telpunkt des Interesses steht. b) Dem Eigentum kommt für die Marktwirtschaft – auch für die offene Markt-wirtschaft des EG-Vertrages13 und den europäischen Energiebinnenmarkt – eine fundamentale Bedeutung zu. Es ist durch eine Ausschlussfunktion gekennzeich-net, der Eigentümer genießt Exklusivität.14 Er kann jeden Dritten ausschließen, mit seinem Eigentum privatnützig umgehen und es nach Belieben nutzen. Kurz: Der Eigentümer genießt Nutzungs- und Verfügungsfreiheit.15 Er kann seine Sach-anlagegüter für Investitionen einsetzen. Dabei muss er darauf vertrauen können, dass ihm das Ergebnis seines Investments nicht wieder genommen wird.16 Nur wenn ihm der Gewinn als Prämie für Risikoübernahme und Initiative verbleibt, wird er sich zum finanziellen Engagement bereit finden. Neben die Exklusivität tritt damit die Anreizfunktion17 des Eigentums. Sie ist konstitutiv für Investitionen, technischen Fortschritt und Wachstum sowie nicht zuletzt auch für Energiever-sorgungssicherheit. Ökonomische Ratio verbindet sich hier mit der Logik rechts-staatlichen Eigentumsschutzes.

12 Zu Art. III–256 VVE Oppermann, Europarecht, 3. Aufl., 2005, § 20, Rn. 39; Schmidt-Preuß, Energiepolitik –

jetzt in Brüsseler Hand?, et 2003, S. 776. 13 Art. 98 EG: „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“. 14 Schmidt-Preuß, Substanzerhaltung und Eigentum, 2003, S. 24. 15 Hierzu Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 14, Rn. 8, 14; Schmidt-Preuß, Die Gewähr-

leistung des Privateigentums durch Art. 14 GG im Lichte aktueller Probleme, AG 1996, S. 1 unter Bezug-nahme auf BVerfGE 79, 292 (303); vgl. auch EuGH, verb. Rs. C-296/93 und C-307/93 (Frankreich und Ir-land/Kommission), Slg. 1996, I-795, Rn. 64; EuG, Rs. T-65/98 (van den Bergh Foods Ltd.), Slg. 2003, II-4653, Rn. 171.

16 Vgl. Generalanwalt Mischo, Rs. C-363/01 (Flughafen Hannover-Langenhagen I), Slg. 2003, I-11893, Rn. 69: „Möglichkeit der Gewinnerzielung durch Gebrauch ihres [der Flughafenbetreiber, scil. d. Verf.] Eigentums“.

17 Schmidt-Preuß (Fn. 14), S. 24 f.

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c) Vor diesem Hintergrund ist nach Bestand und Wirkkraft des gemeinschafts-rechtlichen Eigentumsgrundrechts zu fragen. Als Primärrecht bindet es den Ge-meinschaftsgesetzgeber. Das von ihm erlassene Sekundärrecht – vor allem Richt-linien, seltener Verordnungen – muss damit auch das Eigentumsgrundrecht wah-ren.

2. Fundamente des Grundrechtsschutzes auf Gemeinschaftsebene

Die Existenz von Gemeinschaftsgrundrechten wurde vom EuGH18 erstmals in der Rechtssache Stauder im Jahre 1969 anerkannt. Zehn Jahre später hat das Eigen-tumsgrundrecht in der Rechtssache Hauer eine beachtliche Bekräftigung durch den EuGH19 erfahren. Gemeinschaftsgrundrechte werden fundiert als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, deren Wahrung dem Gerichtshof aufgege-ben ist. Dabei bezieht er sich – für das Eigentum etwa in der Rechtssache Hauer – als Rechtserkenntnisquelle auf die Verfassungstradition der Mitgliedstaaten sowie die von ihnen eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen, insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Art. 6 II EUV bringt dies zum Ausdruck. Einen geschriebenen Grundrechtskatalog – wie etwa den des GG – gibt es nach geltendem Recht auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts nach wie vor nicht. Nach dem Scheitern der Referenden zum EU-Verfassungsvertrag in Frank-reich und den Niederlanden wird sich hieran wohl so schnell nichts ändern. Die im Verfassungsvertrags-Entwurf vorgesehene Grundrechte-Charta 2004 bleibt aber als Fixierung gemeinsamer Überzeugungen von Bedeutung. Die als Vorbild dienende Grundrechte-Charta von 2000 entbehrt der verbindlichen Rechtsquali-tät. Sie wurde anlässlich des Europäischen Rates von Nizza durch die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission feierlich prokla-miert mit dem Bekenntnis, sie im Wege der Selbstverpflichtung zu beachten. Auch der EuGH20 hat jetzt die Gelegenheit genutzt, auf sie ausdrücklich als Aus-legungshilfe zurückzugreifen.

II. Der Schutzbereich des gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsgrundrechts

1. Innehabung von Eigentumstiteln sowie Nutzungs- und Verfügungsfreiheit

Der Schutzbereich des gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsgrundrechts erschließt sich etwa – im Sinne der Rechtserkenntnisquelle – über Art. 1 des 1. Zusatzproto-kolls zur EMRK. Dessen erster Satz garantiert jeder natürlichen oder juristischen

18 EuGH, Rs. 29/69 (Stauder), Slg. 1969, 419, Rn. 7. 19 EuGH, Rs. 44/79 (Hauer), Slg. 1979, 3727, Rn. 17 ff. – Hauer; hierzu Herdegen, Europarecht, 8. Aufl., 2006,

§ 9, Rn. 17; erstmals anerkannt wurde das EG-Eigentumsgrundrecht in EuGH, Rs. 4/73 (Nold), Slg. 1974, 491, Rn. 14.

20 EuGH, Urteil vom 27.6.2006, Rs. C-540/03 (Familienzusammenführung), Rn. 38 und 58; s. bereits EuG, Rs. T-54/99 (max.mobil), Slg. 2002, II-313, Rn. 48 und 57.

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Person21 das „Recht auf Achtung ihres Eigentums“. In der englischen Fassung klingt es noch eindringlicher: „Every … person is entitled to the peaceful enjoy-ment of his possessions.“ Der EuGH verwendet zwar nicht explizit die Kategorien Haben und Nutzen.22 In der Sache ist dies aber wohl auch sein Konzept. So lässt sich einer Reihe von Entscheidungen entnehmen, dass die Innehabung des Eigentumstitels (etwa des Sacheigentums), aber eben auch die Nutzungskomponente den Eigentumsschutz ausmachen. Schon in der Hauer-Entscheidung des EuGH23 war von der „Benut-zung des Eigentums“ die Rede. Jüngst hat der Gerichtshof24 in der Rechtssache Booker Aquaculture einen Eigentumsverstoß (u.a. deswegen) verneint, weil die Nutzung eines Fischzuchtbetriebes auch nach einer seuchenbedingten Vernich-tungsaktion weiterhin möglich war. Damit lässt sich auch auf der gemeinschafts-rechtlichen Ebene von der Nutzungs- und Verfügungsfreiheit sprechen. Das schließt z.B. den Einsatz von Sachkapital (Anlagegütern) wie Finanzkapital (Geldmitteln) zu Investitionszwecken ein. Dabei erscheint der erzielte Gewinn als Surrogat für das aufgewendete – „verbrauchte“ – Kapital. Dem Eigentümer müs-sen diese „Früchte seiner Arbeit“25 verbleiben.

2. Schutzbereich des gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsgrundrechts

Der Schutzbereich des gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsgrundrechts konkreti-siert sich in verschiedenen Segmenten: • So erfasst es zunächst jedes vermögenswerte Recht wie z.B. das Sacheigentum.

Hierzu gehören sowohl Gegenstände des beweglichen Vermögens als auch Grundstücke.26

• Des Weiteren gehören zum Schutzbereich des gemeinschaftsrechtlichen Eigen-tumsgrundrechts auch Forderungen und Rechte aus Verträgen, also relative Rechte, die für den Berechtigten einen vermögensrechtlichen Wert haben.27

21 Die Grundrechtsfähigkeit jedenfalls von gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen wird vom EuGH, Rs. C-

363/01 (Flughafen Hannover-Langenhagen I), Slg. 2003, I-11893, Rn. 53 ff. – offenbar ohne weiteres ange-nommen; dies sollte auch für die deutsche Doktrin maßgeblich sein; dazu näher Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2. Aufl., 2005, S. 68 f., 717 f.

22 Vgl. aus der deutschen Literatur zum Eigentumsschutz Papier, in: Maunz/Dürig (Fn. 15), Art. 14, Rn. 8; Schmidt-Preuß (Fn. 15), AG 1996, S. 1.

23 EuGH, Rs. 44/79 (Hauer), Slg. 1979, 3727, Rn. 30. 24 EuGH, verb. Rs. C-20/00 und C-64/00 (Booker Aquaculture), Slg. 2003, I-7411, Rn. 80 ff., 91. Den „Inha-

bern der Aquakulturbetriebe“ werde die „weitere Ausübung ihrer Tätigkeit ermöglicht“ (Rn. 80). 25 EuGH, Rs. 5/88 (Wachauf), Slg. 1989, 2609, Rn. 19 (Hervorhebung v. Verf.); ebenso EuGH, Rs. C-2/92

(Bostock), Slg. 1994, I-955, Rn. 14. 26 EuGH, verb. Rs. C-20/00 und C-64/00 (Booker Aquaculture), Slg. 2003, I-7411, Rn. 79 ff. (für bewegliche

Sachen); EuGH, Rs. 44/79 (Hauer), Slg. 1979, 3727, Rn. 17 und 23 (für unbewegliche Sachen); jeweils impli-zit.

27 Vgl. EuGH, Rs. C-84/95 (Bosphorus), Slg. 1996, I-3953, Rn. 19: betr. Leasingrecht; EGMR, Nr. 17849/91 (20.11.1995), Rn. 30 – Pressos Compania Naviera S.A. (für gesetzliche Schadensersatzansprüche); s. auch Cremer, Eigentumsschutz, in: Marauhn/Grote (Hrsg.), Konkordanzkommentar zum europäischen und deut-schen Grundrechtsschutz, 2006, Rn. 43.

468 EuR – Heft 4 – 2006 Schmidt-Preuß, Der Wandel der Energiewirtschaft

• Weiter sind Kapitalbeteiligungen als gesellschaftsrechtlich vermittelte Anteils-rechte vom gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsgrundrechtsschutz erfasst. Al-lerdings gibt es hierzu noch keine Äußerung des EuGH. Der EGMR28 hat die Frage zu Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls in der Lithgow-Entscheidung aus dem Jahre 1986 – mit Relevanz für das Gemeinschaftsrecht – ohne weiteres bejaht. Das entspricht dem Charakter des Eigentumgrundrechts als Herrschaftsrecht.29 Es schließt die Vermögens- ebenso wie die Einfluss- und Gestaltungskompo-nente ein. Auch das Anteils-/Mitgliedschaftsrecht ist damit geschützt. Auf die Parallele des Mitbestimmungs-Urteils des BVerfG30 sei verwiesen.

• Nicht ganz einfach ist die Frage zu beantworten, ob der EuGH das Recht am Unternehmen (bzw. am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb) aner-kennt. Ausdrücklich ist dies nicht geschehen.31 Der Sache nach lassen sich aber Formulierungen in der Entscheidung Flughafen Hannover-Langenhagen I32 in diese Richtung deuten, die von einer eigentumsbezogenen Gewinnerzielung ausgehen. Gleiches gilt für das nicht minder bedeutsame Urteil in der Rechts-sache Booker Aquaculture, wo der Gerichtshof33 ausdrücklich auf den Fortbe-stand eines Fischzuchtbetriebs abstellte.34 Leichter tut sich hier der EGMR.35 Er bejaht das Recht am Unternehmen und erkennt dabei ausdrücklich auch den sog. „good will“ – also die geschäftlichen Beziehungen, die über die Sachge-samtheit des Unternehmens hinausgehen, bzw. den „Kundenstamm“ – als ei-gentumsgrundrechtlich geschützt an. Diese großzügigere Sichtweise – auch im Hinblick auf die Gewinnchancen – wird damit zu tun haben, dass es in der EMRK wie auch in den Zusatzprotokollen keine explizite Garantie der Berufs-freiheit gibt.36

Das BVerfG37 hat es im Rahmen des Art. 14 GG bekanntlich offen gelassen, ob es ein eigentumsgrundrechtlich geschütztes Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbetrieb gibt. Eine Erkenntnis dürfte aber unstreitig sein: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Dann aber gilt dies auch für die

28 EGMR, EuGRZ 1988, 350, Rn. 107- Lithgow; hierzu auch Gelinsky, Der Schutz des Eigentums gemäß Art. 1

des Ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 1996, S. 24 f. 29 Schmidt-Preuß (Fn. 14), S. 24. 30 BVerfGE 50, 290 (341 ff.) – Mitbestimmung. 31 Vgl. EuGH, Rs. 59/83 (S.A. Biovilac B.V.), Slg. 1984, 4057, Rn. 21 ff.; hierzu Günter, Berufsfreiheit und

Eigentum in der Europäischen Union, 1998, S. 37. 32 EuGH, Rs. C-363/01 (Flughafen Hannover-Langenhagen I), Slg. 2003, I-11893, Rn. 55: Unter Eigentumsas-

pekten sei es keineswegs so, dass der Flughafenbetreiber „aus seinen wirtschaftlichen Leistungen auf dem Markt … keinen Gewinn erzielen könnte“.

33 EuGH, verb. Rs. C-20/00 und C-64/00 (Booker Aquaculture), Slg. 2003, I-7411, Rn. 80 ff. 34 In diesem Sinne auch EuG, Rs. T-65/98 (van den Bergh Foods Ltd.), Slg. 2003, II-4653, Rn. 171. 35 EGMR, NJW 2001, 1558 – Steuerberaterpraxis: „Im vorliegenden Fall hatte die Rücknahme der Bestellung

des Bf., der seine Steuerberaterpraxis schließen musste, unbestreitbar einen Verlust an Goodwill und Einkünf-ten zur Folge. Daher liegt hier ein Eingriff in sein Recht auf Achtung seines Eigentums vor.“ Näher Cremer (Fn. 27), Rn. 48.

36 S. auch Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 22, Rn. 4 und 13; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europä-ischen Union, 2004, Rn. 809; Cremer (Fn. 27), Rn. 48 mit Fn. 251.

37 BVerfGE 105, 252 (278) – Glykol.

Schmidt-Preuß, Der Wandel der Energiewirtschaft EuR – Heft 4 – 2006 469

Gesamtheit38 eines Unternehmens. So schützt das Eigentum z.B. die Nutzung von Maschinen für die Produktherstellung und von Lieferwagen für den Ver-trieb. Der Wert des Unternehmens erschöpft sich aber nicht in der Summe des Werts von Maschinen und Fahrzeugen, sondern wird auch von den Ertragser-wartungen hinsichtlich des „going concern“ als Ganzem bestimmt. Das spricht für die eigentumsgrundrechtliche Anerkennung des Rechts am Unternehmen auch im Gemeinschaftsrecht und ebenso im deutschen Staatsrecht. Dabei be-steht selbstverständlich kein Anspruch auf reine Marktchancen. Sie sind volatil und genießen keinen Eigentumsschutz. Das gilt auch für den Marktanteil.39

• Ob öffentlich-rechtliche Genehmigungen dem EG-Eigentumsrecht unterliegen, lässt sich der Rechtsprechung des EuGH nicht eindeutig entnehmen. Das Urteil des Gerichtshofs40 in der Rechtssache Irish Farmers Association öffnet hier die Tür einen Spalt und geht damit über die frühere Judikatur41 hinaus.42 Zulassun-gen stellen ein eigentumsgrundrechtliches Aktivum dar, jedenfalls wenn die Anlage errichtet ist und genutzt wird. Der EGMR43 dürfte den Eigentums-schutz von Genehmigungen (permits) im Rahmen des Rechts am Unternehmen verorten. Für die deutsche Doktrin lassen sich hieraus Anregungen entnehmen.

III. Die Rechtfertigung von Eingriffen in das gemeinschaftsrechtliche Eigentumsgrundrecht

1. Verhältnismäßigkeit: Geeignetheit, Erforderlichkeit und Proportionalität

Die Gretchenfrage lautet: Ist der Eingriff durch EG-Gesetzgebungsakte – nament-lich durch Richtlinien und Verordnungen – gerechtfertigt? Nach der Standard-formel des EuGH44 sind Gemeinschaftsgrundrechte nicht schrankenlos gewähr-leistet, sondern Beschränkungen unterworfen, sofern diese „tatsächlich dem Ge-meinwohl dienenden Zielen der Europäischen Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesens-gehalt antastet“. Ob der Hinweis des Gerichtshofs auf die „gesellschaftliche

38 Auf die Rechts- und Sachgesamtheit kommt es nach BGHZ 111, 349 (356); BVerwGE 81, 49 (54) an. 39 EuGH, Rs. C-280/93 (Bananenmarktordnung), Slg. 1994, I-4973, Rn. 79: kein Marktanteilsschutz. 40 EuGH, Rs. 22/94 (Irish Farmers Association), Slg. 1997, I-1809, Rn. 26. 41 EuGH, Rs. C-44/89 (Deetzen II), Slg. 1991, I-5119, Rn. 27. 42 In diesem Sinne auch Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer, Rs. C-186/96 (Demand), Slg. 1998, I-8529,

Rn. 43. 43 So EGMR, Nr. 10873/84 (7.7.1989), Rn. 53 – Tre Traktörer; s. darüber hinaus – ohne „good will“-Bezug –

auch EGMR, Nr. 12033/86 (18.2.1991), Rn. 40 – Fredin („revocation of the permit interfered with the appli-cants’ right to the peaceful enjoyment of their possesions“); s. auch Grabenwarter, Europäische Menschen-rechtskonvention, 2. Aufl., 2005, § 25, Rn. 4; für Eigentumsschutz (Art. 14 GG) von Industrieanlagenzulas-sungen Schmidt-Preuß, Atomausstieg und Eigentum, NJW 2000, S. 1524 r. Sp.

44 Z.B. EuGH, Urt. v. 12.7.2005, Rs. C-154/04 und C-155/04 (Alliance for Natural Health), EuZW 2005, S. 598, Rn. 126; EuGH, verb. Rs. C-37/02 und C-38/02 (Di Lenardo Adriano Srl), Slg. 2004, I-6911, Rn. 82; ferner etwa EuGH, verb. Rs. 20/00 und 64/00 (Booker Aquaculture), Slg. 2003, I-7411, Rn. 68.

470 EuR – Heft 4 – 2006 Schmidt-Preuß, Der Wandel der Energiewirtschaft

Funktion“45 der Grundrechte glücklich gewählt ist – darüber kann man geteilter Meinung sein. Schwerer wiegt, dass es eine ausdifferenzierte und systematisch konzise Schrankendogmatik in der Rechtsprechung des EuGH nach wie vor nicht gibt. Daher ist die Frage nach der Wirksamkeit des gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsschutzes gerade an dieser Stelle virulent. Gibt es ein Schutzniveauge-fälle im Vergleich zu Art. 14 GG? Wenn auch die generelle Vergleichbarkeit des Grundrechtsschutzes auf gemeinschaftlicher und nationaler Ebene vom BVerfG46 bejaht wurde, können bisweilen Sorge und Skepsis aufkommen, was die prakti-sche Durchschlagskraft des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes an-geht. Äußerlich mag dies seinen Ausdruck darin finden, dass statistisch gesehen noch kein Rechtsetzungsakt der Gemeinschaft ausdrücklich wegen Verstoßes gegen das Eigentumsgrundrecht47 (wie überhaupt gegen ein Grundrecht) aufge-hoben worden ist. Wichtiger aber sind die folgenden Erwägungen: Erstens: Die Beschränkung des Eigentums wird vom EuGH48 vielfach am Krite-rium der Geeignetheit geprüft. Hier nimmt er die Kontrolldichte sehr stark zurück und praktiziert nur eine reine Evidenzkontrolle. Allerdings räumt auch die deut-sche Doktrin einen – wenn auch nicht unbegrenzten – Gestaltungs- und Einschät-zungsspielraum des Gesetzgebers ein.49 Abzulehnen ist aus Gründen der Balance und des effektiven Rechtsschutzes eine Beweislast des Betroffenen, die der EuGH50 – bereits auf der Geeignetheitsstufe – auferlegen will. Zweitens: Die Erforderlichkeitsprüfung des EuGH ist knapp, fast kursorisch. Hierzu findet sich oft nur ein kurzer bestätigender Satz. Konzeptionell wird re-gelmäßig auf das Ermessen der Gesetzgebungsorgane rekurriert.51 Eine nähere Alternativenprüfung findet eher selten statt.52 Einwände sind zu erheben, soweit der EuGH53 vom Betroffenen verlangt, mögliche Alternativen darzulegen.54 Drittens – und am wichtigsten: Das Kriterium der Proportionalität – in der deut-schen Diktion die Verhältnismäßigkeit i.e.S. ( = Angemessenheit = Zumutbarkeit = Proportionalität) – kommt in der gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsdoktrin und damit auch beim Eigentumsgrundrecht noch nicht voll zur Geltung.

45 So auch EuGH, verb. Rs. 20/00 und 64/00 (Booker Aquaculture), Slg. 2003, I-7411, Rn. 68. 46 BVerfGE 73, 339 (378 ff., bes. 387) – Solange II: „im Wesentlichen gleichzuachten“; s. auch BVerfGE 102,

147 (162 ff.) – Bananenmarktordnung; krit. P.M. Huber, Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl., 2002, § 8, Rn. 67.

47 Einen isolierten Verstoß gegen den Vertrauensgrundsatz hat der EuGH, Rs. 232/81 (Agricola Commerciale Olio Srl), Slg. 1984, 3881, Rn. 19: geprüft und bejaht; s. auch EuGH, Rs. 120/86 (Mulder), Slg. 1988, 2321, Rn. 21 ff.; hierzu von Milczewski, Der grundrechtliche Schutz des Eigentums im Europäischen Gemein-schaftsrecht, 1994, S. 78 ff., 85 ff. – Zu einem Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (bei eben-falls isolierter Prüfung) EuGH, verb. Rs. C-453/03 u.a. (Mischfuttermittel), EWS 2006, 73 Rn. 76 ff.

48 EuGH, Rs. C-280/93 (Bananenmarktordnung), Slg. 1994, I-4973, Rn. 90. 49 Z.B. BVerfGE 50, 290 (341) – Mitbestimmung. 50 EuGH, Rs. C-280/93 (Bananenmarktordnung), Slg. 1994, I-4973, Rn. 95. 51 Z.B. EuGH, Rs. C-306/93 (SMW Winzersekt GmbH), Slg. 1994, I-5555, Rn. 21. 52 EuGH, Rs. C-491/01 (The Queen/Secretary of State for Health), Slg. 2002, I-11453, Rn. 139. 53 EuGH, Rs. C-317/00 P(R) („Invest“ Import und Export GmbH), Slg. 2000, I-9541, Rn. 61 (Beschluss des

Präsidenten). 54 Zu Recht gegen eine solche Beweislast von Danwitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Gemein-

schaftsrecht, EWS 2003, S. 393 (396); Jarass (Fn. 36), § 6, Rn. 47.

Schmidt-Preuß, Der Wandel der Energiewirtschaft EuR – Heft 4 – 2006 471

Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Erwägungen seien im folgenden fünf Problemfelder des Eigentumsschutzes auf Gemeinschaftsebene näher ausge-leuchtet: Erster Kritikpunkt: Auch in jüngerer Zeit finden sich nach wie vor Judikate, in denen der EuGH55 die Prüfung bei der Erforderlichkeit – der zweiten Stufe – abbricht. Dann fehlt es völlig an der Proportionalitätsprüfung („Verhältnismä-ßigkeit i.e.S.“) mit ihrer Abwägung von Belastung und Gemeinwohlnutzen. Dies ist nicht akzeptabel.56 Auch die Grundrechtecharta 2000/2004 spricht in ihrem Einschränkungsvorbehalt des Art. 52 GrC / Art. II–112 Abs. 1 VVE57 – über Geeignetheit und Erforderlichkeit hinausgehend – von der Verhältnismäßigkeit.58 Die Abwägung auf der Stufe der Proportionalität ist unverzichtbar.59 Dabei sind die widerstreitenden Belange – z.B. Eigentumsgrundrecht und Wettbewerb – jeweils zu gewichten und sodann gegeneinander „abzugleichen“. Vorbildlich ist insofern die Rechtsprechung des EGMR60 mit dem Test der gebotenen „fair ba-lance“. Er fragt nach der Ziel/Mittel-Relation. Ausschlaggebend ist, ob der erwar-tete Vorteil das mit der Regelung verbundene Opfer aufzuwiegen vermag. Diesen Ansatz sollte sich auch der EuGH zu eigen machen.61 In die richtige Richtung weist jetzt der Gerichtshof62 in der Rechtssache Booker Aquaculture. Zweiter Kritikpunkt: Vielfach wird – mit oder ohne Proportionalität63 – formelar-tig ein Hinweis auf den Wesensgehalt eingewoben, den es zu wahren gelte. Nach

55 So z.B. EuGH, verb. Rs. C-37/02 und C-38/02 (Di Lenardo Adriano Srl), Slg. 2004, I-6911, Rn. 84 ff.; ferner

z.B. EuGH, Rs. C-491/01 (The Queen/Secretary of State for Health), Slg. 2002, I-11453, Rn. 122 ff. 56 S. auch von Danwitz, (Fn. 54), EWS 2003, S. 393 (395, 399 f.); O. Koch, Der Grundsatz der Verhältnismä-

ßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 2003, S. 260 ff.; vgl. aber auch Rengeling/Szczekalla (Fn. 36), Rn. 442.

57 Art. 112 Abs. 1 Grundrechtecharta 2004: „Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkann-ten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freihei-ten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorge-nommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entspre-chen.“

58 Vgl. insoweit auch Jarass (Fn. 36), § 6, Rn. 49; s. aber auch von Danwitz, (Fn. 54), EWS 2003, S. 393 (399). 59 S. auch König, Der Schutz des Eigentums im Europäischen Recht, in: Depenheuer (Hrsg.), Eigentum, 2005,

S. 113 (128); von Danwitz (Fn. 54), EWS 2003, S. 393 (396); O. Koch (Fn. 56), S. 260 ff. 60 Z.B. EGMR, Nr. 46720/99, 72203/01 und 72552/01 (30.6.2005), Rn. 93 – Jahn: „The Court reiterates that an

interference with the peaceful enjoyment of possessions must strike a ‘fair balance’ between the demands of the general interest of the community and the requirements of the protection of the individual’s fundamental rights.“ Vgl. auch EGMR, Nr. 36677/97 (16.4.2002), Rn. 60 – S.A. Dangeville: Es komme darauf an, ob die Regelung „struck a fair balance between the competing interests“; beispielhaft auch EGMR, Nr. 33202/96 (5.1.2000), Rn. 114 ff. – Beyeler; zur Notwendigkeit, die Beeinträchtigung für den Betroffenen zu gewichten und in die Abwägung einzustellen vgl. EGMR, NJW 2002, 45, Rn. 89 – früherer König von Griechenland u.a. / Griechenland: „keine unverhältnismäßige Last“; vgl. auch Grabenwarter (Fn. 43), § 18, Rn. 16 sowie § 25, Rn. 17.

61 Zu Ansätzen einer Abwägung im Zusammenhang mit Grundrechten EuGH, Rs. C-84/95 (Bosphorus), Slg. 1996, I-3953, Rn. 25 f.; EuGH, Rs. C-274/99 P (Connolly), Slg. 2001, I-1611, Rn. 48 sowie im Kontext der Warenverkehrsfreiheit EuGH, Rs. C-112/00 (Schmidberger), Slg. 2003, I-5659, Rn. 80 f.

62 EuGH, verb. Rs. C-20/00 und C-64/00 (Booker Aquaculture), Slg. 2003, I-7411, Rn. 79 ff.; s. dort das Krite-rium, ob es sich um einen „unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff“ handelt (Rn. 79). S. im Kontext der Meinungsfreiheit EuGH, Rs. C-274/99 P (Connolly), Slg. 2001, I-1611, Rn. 48.

63 Vgl. EuGH, Rs. C-280/93 (Bananenmarktordnung), Slg. 1994, I-4937, Rn. 78 (mit Standardformel zur Ver-hältnismäßigkeit).

472 EuR – Heft 4 – 2006 Schmidt-Preuß, Der Wandel der Energiewirtschaft

der erwähnten Standard-Begrenzungsformel des EuGH64 unterliegt das Eigentum Beschränkungen, sofern diese „tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Europäischen Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antasten würde“. Hier-bei ist unklar, ob der Wesensgehalt nur eine resümierende Umschreibung der Standardformel ist oder ob sich darunter möglicherweise eine Art Äquivalent zur Proportionalität verbirgt.65 Letzteres wäre zu begrüßen, müsste dann aber klar und konsistent entfaltet werden. Davon kann bislang – trotz der in diesem Punkte hoffnungsvoll stimmenden Entscheidung Irish Farmers Association66 – noch kei-ne Rede sein. Nach wie vor bleibt der Wesensgehalt – der auch in Art. 52 GrC / II–112 VVE enthalten ist – wenig fassbar. Dritter Kritikpunkt: Bei der Durchführung der Proportionalitätsprüfung ist eine Abwägung unter Berücksichtigung aller relevanten Aspekte geboten. Im Sinne der fair balance des EGMR müssen die Waagschalen auf beiden Seiten jeweils adäquat „gefüllt“ werden. Dabei sind die subjektiven Grundrechtspositionen in die Abwägung einzustellen.67 Vierter Kritikpunkt: Die Verhältnismäßigkeit wird vielfach isoliert, d.h. vor68 oder nach69 der Grundrechtsprüfung vorgenommen. Das kann weder sachlich noch systematisch überzeugen. Eine Grundrechtsprüfung ohne eigenständige organische Verhältnismäßigkeitsprüfung würde ihres inneren Leitmaßes entbeh-ren. Grundrechtsexterne Verhältnismäßigkeitsprüfungen zerreißen die gebotene Abwägung aus einem Guss. Fünfter Kritikpunkt: Das Verhältnis zwischen Vertrauensschutz/Rechtssicher-heit70 auf der einen und dem Eigentumsgrundrecht auf der anderen Seite ist nicht restlos geklärt. Bisweilen bleibt offen, ob es sich um eine grundrechtsexterne Berechtigung handelt, wie es in der Rechtssache SEP/NEA71 den Anschein hat. Im Kontext des Eigentumsgrundrechts sollte der EuGH den Vertrauensschutz

64 Z.B. EuGH, verb. Rs. C-37/02 und C-38/02 (Di Lenardo Adriano Srl), Slg. 2004, I-6911, Rn. 82 sowie Fn. 44. 65 In diese Richtung EuGH, Rs. C-491/01 (The Queen/Secretary of State for Health), Slg. 2002, I-11453,

Rn. 150; krit. zur Wesensgehalt-Klausel von Danwitz, Eigentumsschutz in Europa und im Wirtschaftsvölker-recht, in: Ders./Depenheuer/Engel, Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S. 215 (280): „Leerformel“; P.M. Huber (Fn. 46), § 8, Rn. 71; Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht 1989, S. 421; O. Koch (Fn. 56), S. 233 ff.; König (Fn. 59), S. 128; Heselhaus, Schutz von Unternehmen durch das Eigentumsgrundrecht im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Bruha/Nowak/ Petzold (Hrsg.), Grundrechtsschutz für Unternehmen im europäischen Binnenmarkt, 2004, S. 97 (117 ff.).

66 EuGH, Rs. C-22/94 (Irish Farmers Association), Slg. 1997, I-1809, Rn. 26; dazu von Danwitz (Fn. 65), S. 266 (Fn. 241) mit dem Hinweis auf eine mögliche „Abkehr“ von der Deetzen-Judikatur (Fn. 41).

67 So nachdrücklich von Danwitz (Fn. 54), EWS 2003, 393 (396). 68 EuGH, verb. Rs. C-248/95 und C-249/95 (SAM Schiffahrt GmbH), Slg. 1997, I-4475, Rn. 67 ff. bzw. 71 ff. 69 EuGH, Rs. C-22/94 (Irish Farmers Association), Slg. 1997, I-1809, Rn. 26 bzw. 30; EuGH, Rs. C-280/93

(Bananenmarktordnung), Slg. 1994, I-4937, Rn. 77 ff. bzw. 88 ff. 70 Beide Elemente werden vom Gerichtshof getrennt, vgl. z.B. EuGH, verb. Rs. C-37/02 und C-38/02 (Di

Lenardo Adriano Srl.), Slg. 2004, I-6911, Rn. 63 ff.; s. zum (isolierten) subjektivierten Vertrauensschutz EuGH, Urt. v. 24.11.2005, Rs. C-506/03 (transeuropäische Netze), Rn. 58 ff.

71 EuGH, Urt. v. 7.6.2005, Rs. C-17/03 (SEP/NEA), EWS 2005, 315, Rn. 72 ff.

Schmidt-Preuß, Der Wandel der Energiewirtschaft EuR – Heft 4 – 2006 473

grundrechtsintern als Abwägungsfaktor prüfen, wie dies im Alessandrini-Urteil72 vom 30.6.2005 auch deutlich anklingt. Das ist der richtige Weg. Dem entspricht es, wenn das BVerfG73 die Kontinuitätsgewähr zunehmend innerhalb des Art. 14 GG prüft.

2. Booker Aquaculture: verhältnismäßigkeitswahrende Kompensation

Eine positive Perspektive eröffnet der EuGH74 mit seinem bemerkenswerten Ur-teil in der Rechtssache Booker Aquaculture. Dies betrifft die Beurteilung einer Nutzungsbeschränkung. Dreh- und Angelpunkt ist erneut das Gebot der – bereits gewürdigten – fair balance im Sinne der vorbildlichen Judikatur des EGMR.75 Hier hat der EuGH einen bedeutsamen Schritt nach vorn getan. Namentlich hat er die Frage, ob „Beschränkungen des Eigentumsrechts bei Fehlen einer Entschädi-gung einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff“76 darstellen können, in der Sache positiv beantwortet. In die-sem Fall könne zur Vermeidung einer sonst drohenden Unverhältnismäßigkeit unter Beachtung des Gestaltungsspielraums des Gemeinschaftsgesetzgebers eine Entschädigung geboten sein.77 Insoweit kann man tatsächlich von „Heilung“ sprechen. Der Höhe nach muss die Entschädigung angemessen sein.78 Verpflich-tet wäre – der Kausalität entsprechend – die Gemeinschaft. Unzweideutig unter-streicht der EuGH aber auch, dass es – wie im entschiedenen Fall – je nach Sach-lage der Verhältnismäßigkeit entsprechen könne, dass die Ausübungsbeschrän-kung zumutbar ist und eine Entschädigung entfällt.79 Unabhängig von dem in concreto unterschiedlichen Ergebnis erinnert Booker Aquaculture aber in der Begründungsstruktur in beachtlicher Weise an die Grundsatzentscheidungen des BVerfG80 zur ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung in Sachen Pflichtexemplar und rheinland-pfälzisches Denkmalschutzgesetz.

72 EuGH, Rs. C-295/03 P (Alessandrini), Slg. 2005, I-5673, Rn. 89. 73 BVerfGE 101, 239 (257); 76, 220 (244 f.); 75, 78 (104); 71, 1 (11 f.); s. auch Maurer, in: Isensee/Kirchhof

(Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 2. Aufl., 1996, § 60, Rn. 48 ff. 74 EuGH, verb. Rs. C-20/00 und C-64/00 (Booker Aquaculture), Slg. 2003, I-7411. 75 S.o. Fn. 60. 76 EuGH, verb. Rs. C-20/00 und C-64/00 (Booker Aquaculture), Slg. 2003, I-7411, Rn. 79. 77 EuGH, verb. Rs. C-20/00 und C-64/00 (Booker Aquaculture), Slg. 2003, I-7411, Rn. 85. 78 Zur Frage der Entschädigungshöhe ist man auf die Rechtsprechung des EGMR verwiesen, vgl. exemplarisch

EGMR, NVwZ 1999, 1325 (1326), Rn. 48 – Papachelas: „Ein Entzug von Eigentum ohne Zahlung eines sei-nem Wert in angemessener Weise entsprechenden Entschädigungsbetrages ist normalerweise ein übermäßiger Eingriff, der nicht nach Art. 1 Zusatzprotokoll gerechtfertigt werden kann. Dieser Artikel garantiert aber nicht in jedem Falle ein Recht auf volle Entschädigung, denn berechtigte Ziele des ‚öffentlichen Interesses’ können für eine geringere Entschädigung als zum vollen Marktwert sprechen“. S. auch EGMR, EuGRZ 1988, 350, Rn. 121 – Lithgow; Rn. 121: Die Entschädigung müsse zum Wert „reasonably related“ sein. Dafür komme eine Orientierung am Börsenwert in Betracht (Rn. 125 f.).

79 EuGH, verb. Rs. C-20/00 und C-64/00 (Booker Aquaculture), Slg. 2003, I-7411, Rn. 25. 80 BVerfGE 58, 137 (147 ff.) – Pflichtexemplar; 100, 226 (241 ff.) – rheinland-pfälzisches Denkmalschutzgesetz

(Subsidiarität der finanziellen Kompensation gegenüber dem Realausgleich).

474 EuR – Heft 4 – 2006 Schmidt-Preuß, Der Wandel der Energiewirtschaft

3. Keine EG-Kompetenzgrundlage für Enteignungen zu Lasten mitgliedstaatlich konstituierter Vermögensrechtspositionen

Alles dies gilt nur, wenn es sich nicht um eine Enteignung, sondern um eine Aus-übungs- bzw. Benutzungsregelung handelt. Was der EuGH unter Enteignung versteht, ist nicht klar zu ermitteln.81 Dass es dieses Institut auf Gemeinschafts-ebene gibt, erschließt sich aus Art. 17 Abs. 1 Satz 2 GrC / Art. II–77 Abs. 1 Satz 2 VVE. Hiernach bedarf es im Falle des Eigentumsentzugs (Enteignung) stets einer Entschädigung. Damit scheint es, als komme man nicht darum herum, sich mit der Abgrenzung von Enteignung und Nutzungsbeschränkung zu befassen. Der EGMR82 tut sich insoweit leicht: Er sieht in jedem formalen Entzug einer Vermögensposition eine Enteignung. Dem stellt er die sog. de-facto-Enteignung gleich, die eine tatsächliche Entleerung bei formal voll fortbestehendem Eigen-tumstitel betrifft.83 Zugleich versteht er das Entschädigungserfordernis als Aus-druck des Verhältnismäßigkeitsgebots.84 Die Judikatur des EuGH bietet hier kaum handfeste Wegweisungen. Allerdings mag man dafür Verständnis haben angesichts der Kompetenzausübungsschranke des Art. 295 EG.85 Danach lässt der EG-Vertrag „die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt“. Wollte man die Grundig/Consten-Doktrin86 nach wie vor zugrundelegen, wäre zwischen der Regelung der Aus-übung und des Bestandes eines Rechts zu unterscheiden. Erstere wäre zulässig, Letztere nicht.87 Danach hätte sich die Enteignung mitgliedstaatlich konstituierter Vermögensrechtspositionen verboten, weil sie dessen Existenz beseitigt. Nichts anderes aber gilt, wenn man in neueren Entscheidungen des EuGH88 eine Abkehr von der Grundig/Consten-Doktrin sehen wollte.89 Legt man diese – nicht wirklich

81 In der Grundlagenentscheidung Hauer findet sich allein die Unterscheidung zwischen Entzug und Aus-

übungsbeschränkung, EuGH, Rs. 44/79 (Hauer), Slg. 1979, 3727, Rn. 19, ohne dass auf Fragen des Inhalts oder der Abgrenzung eingegangen wird.

82 EGMR, EuGRZ 1983, 525, Rn. 63 – Sporrong und Lönnroth: „formal expropriation“, „deprivation of posses-sions“; s. ferner EGMR, Nr. 46720/99, 72203/01 und 72552/01 (30.6.2005), Rn. 65 – Jahn.

83 EGMR, EuGRZ 1983, 525, Rn. 63 – Sporrong und Lönnroth; die dritte Kategorie des Eigentumsschutzes ist in Art. 1 Abs. 1 Satz 1 des 1. ZP der EMRK lokalisiert, ibid. Rn. 61 ff. Näher zur de-facto-Enteignung Ge-linsky (Fn. 28), S. 56 ff.

84 EGMR, EuGRZ 1988, 341, Rn. 54 – James; vgl. auch Meyer-Ladewig, EMRK, 2003, 1. Zusatzprotokoll, Art. 1, Rn. 29; ebenso für das deutsche Staatsrecht Schmidt-Preuß (Fn. 43), NJW 2000, S. 1524 (1529).

85 In diese Richtung Müller-Michaels, Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der Europäischen Union, 1997, S. 46 f.; von Danwitz (Fn. 65), S. 271.

86 EuGH, verb. Rs. 56 und 58/64 (Grundig/Consten), Slg. 1966, 322 (394). 87 So E. Klein, in: Hailbronner/E. Klein/Magiera/Müller-Graff, Handkommentar EU-/EG-Vertrag, Art. 222,

Rn. 6. 88 Vgl. z.B. EuGH, Rs. C-350/92 (Spanien/Rat), Slg. 1995, I-1985, Rn. 19 und 22; vgl. hierzu auch Generalan-

walt Jacobs, Rs. C-350/92 (Spanien/Rat), Slg. 1995, I-1985, Rn. 20; s. auch Rodríguez Iglesias, Die Bedeu-tung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für die Errichtung des Binnenmarktes, in: Schwarze (Hrsg.), Unverfälschter Wettbewerb für Arzneimittel im europäischen Binnenmarkt, 1998, S. 9 (20), mit dem Hinweis, dass der EuGH seit 1990 die Unterscheidung zwischen Ausübung und Bestand gewerblicher Schutz-rechte nicht mehr verwende.

89 In diesem Sinne Devroe, Privatizations and Community law: Neutrality versus policy, CMLR 34 (1997), S. 267 (270); Ludwigs, Rechtsangleichung nach Art. 94, 95 EG-Vertrag, 2004, S. 266 f.; s. aber auch Hesel-haus (Fn. 65), S. 112 f.

Schmidt-Preuß, Der Wandel der Energiewirtschaft EuR – Heft 4 – 2006 475

zwingende90 – Sichtweise zugrunde, wäre damit keinerlei Relativierung des Art. 295 EG verbunden. Vielmehr bleibt es dabei, dass diese Vorschrift eine ele-mentare Kompetenzausübungsschranke darstellt. Bisher ist Art. 295 EG als Sper-re gegenüber Verstaatlichungen oder Privatisierungen diskutiert worden.91 Da-rüber hinaus aber setzt die Eigentumsordnung den Bestand von Eigentum voraus. Art. 295 EG verbietet den gemeinschaftsrechtlich veranlassten Entzug von mit-gliedstaatlich konstituiertem Eigentum. Das schließt Enteignungen aus: Sie besei-tigen die Existenz mitgliedstaatlich begründeten Eigentums a limine.92 Hierzu bedürfte es nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung einer Kompe-tenzgrundlage. Auch wenn zunächst eine Sachkompetenz93 in Anspruch genom-men werden könnte, würde die Kompetenzausübungsschranke des Art. 295 EG einem derartigen Entzug von Eigentum (expropriation) entgegenstehen. Die se-kundärrechtliche Verpflichtung bzw. Veranlassung zur Vornahme von Enteig-nungen mitgliedstaatlich konstituierter Vermögensrechtspositionen ist damit aus Kompetenzgründen ausgeschlossen.94 Dem steht nicht entgegen, dass Art. 17 Abs. 1 Satz 2 GrC / Art. II–77 Abs. 1 Satz 2 VVE von der angemessenen Entschädigung im Falle eines Eigentumsent-zugs spricht. Zum einen sind die Ebenen von Kompetenz und Grundrechtsgeltung nicht notwendig deckungsgleich. Zum anderen sprechen die vorstehenden Rege-lungen nur den Fall des Entzugs von gemeinschaftsrechtlichen Vermögensrechts-positionen an. Die weitere Judikatur des EuGH zu Art. 295 EG bleibt abzuwarten. Bisher führt die Vorschrift ein Schattendasein. Das könnte sich ändern, wie das noch auf-zugreifende Beispiel des ownership unbundling zeigt (C. III. 5).

90 Vgl. EuGH, Rs. C-491/01 (The Queen/Secretary of State for Health), Slg. 2002, I-11453, Rn. 147. 91 Vgl. z.B. Everling, Eigentumsordnung und Wirtschaftsordnung in der Europäischen Gemeinschaft, in: FS f.

Raiser, 1974, S. 379 (383); Brinker, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 295, Rn. 3; Hatje, Wirtschaftsverfassung, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 683 (697).

92 Zur Grundrechtsebene im Kontext des ownership unbundling s.u. unter C. III. 5. 93 So dürfte – falls es einmal zur Einführung des ownership unbundling kommen sollte – Art. 95 EG als Grund-

lage herangezogen werden. Dabei ist seine Anwendbarkeit für eine solche Maßnahme wie das ownership un-bundling bereits fraglich, weil die Harmonisierungskompetenz keine Basis für systemverändernde Umgestal-tungen ist, vgl. Schmidt-Preuß (Fn. 1), UTR 61 (2002), S. 27 (37 ff.).

94 EuGH, Rs. C-309/96 (Annibaldi), Slg. 1997, I-7493, Rn. 23; Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, nach Art. 6 EU-Vertrag, Rn. 154; J.F. Baur/Pritzsche/Klauer, Ownership Unbundling, 2006, S. 48 f.; im Grundsatz auch von Danwitz (Fn. 65), S. 271, der allerdings Gemeinschaftsregelungen mit „ent-eignender Wirkung“ für möglich hält; so auch Penski/Elsner, Eigentumsgewährleistung und Berufsfreiheit als Gemeinschaftsgrundrechte in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, DÖV 2001, S. 265 (269); letzteren Aspekt betonend Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Komm. zu EUV und EGV, 2. Aufl., 2002, Art. 295 EG-Vertrag, Rn. 11 sowie Art. 6 EU-Vertrag, Rn. 158; Calliess, Eigentumsgrundrecht, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl., 2005, § 17, Rn. 27.

476 EuR – Heft 4 – 2006 Schmidt-Preuß, Der Wandel der Energiewirtschaft

C. EG-eigentumsgrundrechtlich relevante Referenzfelder im Energiesektor

Vor dem Hintergrund der Architektur des gemeinschaftsrechtlichen Eigentums-schutzes sind im Folgenden die Eckwerte anhand einiger ausgewählter Referenz-felder zu testen.

I. Entgeltregulierung bei Strom und Gas

1. Eigentumsbezogene Gewinnerzielung à la Flughafen Hannover-Langenhagen I

Der EuGH95 hat in seiner Entscheidung in der Rechtssache Flughafen Hannover-Langenhagen I vom 16.10.2003 wegweisende Aussagen zum Eigentumsschutz gegenüber Richtlinienbestimmungen getroffen, die sich auf die Preisfestsetzung von Flughafenbetreibern gegenüber ihren Kunden – Fluglinien – beziehen. Im Ausgangsstreit hatte sich die Lufthansa dagegen gewehrt, neben dem Nutzungs-entgelt für die Inanspruchnahme der Bodenabfertigungseinrichtungen noch ein Entgelt für den „Zugang zum Markt“ – als Gegenleistung für die Eröffnung einer Erwerbschance – zu zahlen. Die Bedeutung dieser Entscheidung muss als hoch eingeschätzt werden. Dies gilt einmal für den Schutzbereich, der – wie bereits angesprochen – im Sinne eines Rechts am Unternehmen inkl. einer eigentumsbe-zogenen Gewinnerzielung gedeutet werden kann.96 Aber auch auf der Schranken-ebene finden sich bemerkenswerte Aussagen, die für die Entgeltregulierung im Energiesektor von großem Interesse sind. So hat der EuGH97 in der Rechtssache Hannover-Langenhagen I ausdrücklich dem Flughafenbetreiber die Erzielung von „Gewinn“ zugestanden und betont, dass er „auch eine Gewinnspanne erzielen kann“. Das kann man im Kontext nur so verstehen, wie es Generalanwalt Mischo98 ausgedrückt hat: Notwendig ist eine „angemessene(n) Gewinnspanne“. Die Beschleunigungs-Richtlinien entsprechen diesen Anforderungen. Dies ergibt sich aus dem Erfordernis, bei der Entgeltregulierung die „Lebensfähigkeit der Netze“99 zu wahren. Das setzt die Lebensfähigkeit des Netzbetreibers voraus. Betriebswirtschaftliche Ineffizienz wird allerdings auch vom gemeinschaftsrecht-lichen Eigentumsgrundrecht nicht honoriert.100

95 EuGH, Rs. C-363/01 (Flughafen Hannover-Langenhagen I), Slg. 2003, I-11893, Rn. 53 ff. 96 EuGH, Rs. C-363/01 (Flughafen Hannover-Langenhagen I), Slg. 2003, I-11893, Rn. 55: Unter Eigentumsas-

pekten sei es keineswegs so, dass der Flughafenbetreiber „aus seinen wirtschaftlichen Leistungen auf dem Markt … keinen Gewinn erzielen könnte.“ S. auch Rn. 58, aus der sich im Rückschluss ergibt, dass die Eigen-tumsgarantie dem Eigentümer „die Nutzung seines Eigentums zur Gewinnerzielung“ ermöglicht.

97 EuGH, Rs. C-363/01 (Flughafen Hannover-Langenhagen I), Slg. 2003, I-11893, Rn. 56. 98 Rs. C-363/01 (Flughafen Hannover-Langenhagen I), Slg. 2003, I-11893, Rn. 70. 99 Art. 23 Abs. 2 lit. a) Beschleunigungs-Richtlinie Strom; Art. 25 Abs. 2 lit. a) Beschleunigungs-Richtlinie Gas. 100 Vgl. für Art. 14 GG Schmidt-Preuß (Fn. 14), S. 58.

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2. Opfergrenze, Substanzgarantie und kapitalmarktorientierte Eigentumsbetrachtung

Die Frage bleibt, wie die Opfergrenze zu konkretisieren ist. Von Bedeutung auch für das gemeinschaftsrechtliche Eigentumsgrundrecht könnten hier die Maßstäbe sein, die im Rahmen des Art. 14 GG gelten. Wie dort lässt sich auch beim ge-meinschaftsrechtlichen Eigentumsgrundrecht von einer Substanzgarantie101 spre-chen. So müssen es die regulativen Vorgaben einem effizienten Netzbetreiber ermöglichen, sich aus eigener Kraft am Markt zu behaupten. Das Gemeinschafts-grundrecht Eigentum ist verletzt, wenn die Entgelthöhe so gering fixiert wird, dass dies mittel- oder langfristig zur Gefährdung oder gar Beseitigung eines effi-zienten Netzbetreibers führen würde. In einem solchen Fall wäre die Opfergrenze überschritten und das Eigentumsgrundrecht verletzt. Bekräftigt wird dies durch die kapitalmarktorientierte Eigentumsbetrachtung.102 Setzt der Regulator die Entgelte zu niedrig an, wird ein Eigenkapitalgeber nicht bereit sein, die vom Betreiber für seine Investitionen benötigten Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, sondern sich einem anderen Investment mit attraktiverer rate of return zuwenden. Dies führt mittel- oder langfristig zur Gefährdung oder gar Beseitigung der Unternehmensexistenz. Entsprechendes gilt für den gleich-falls versperrten Weg zum notwendigen Fremdkapital. Die kapitalmarktorientierte Eigentumsbetrachtung führt bei der Bestimmung des Eigenkapitalzinssatzes zum Capital Asset Pricing Model (CAPM).103 Hans-Jürgen Papier104 hat darauf hingewiesen, dass man das Verfassungsrecht nicht durch kostenrechnerische Ableitungen überfordern dürfe. Dem ist zuzustimmen. Eine punktgenaue Zumutbarkeitsgrenze kann in der Tat nicht aus einer offen formulierten Grundrechtsbestimmung abgeleitet werden. Was aber doch möglich erscheint, ist die Definition einer – mit allen Konservativitäten ermittelten – Min-destschwelle, bei deren Überschreitung jedenfalls eine Eigentumsverletzung an-zunehmen ist.105 Das gilt auch für das gemeinschaftsrechtliche Eigentumsgrund-recht.

101 Zum Folgenden Schmidt-Preuß (Fn. 14), S. 47 ff. 102 Ibid., S. 55 ff. 103 Ibid., S. 63 ff. mit dem Ergebnis eines eigentumsgrundrechtlich gebotenen Mindest-Eigenkapitalzinssatzes

von 6,5% (Strom). 104 Papier, Verfassungsfragen der Durchleitung, in: FS f. Baur, 2002, S. 209 (214 ff.) sowie ders., in:

Maunz/Dürig (Fn. 15), Art. 14, Rn. 521; ders., Die Regelung von Durchleitungsrechten, 1997, S. 50, in Aus-einandersetzung mit Schmidt-Preuß, Verfassungskonflikt um die Durchleitung? – Zum Streitstand nach dem VNG-Beschluss des BGH, RdE 1996, S. 1 ff. sowie ders. (Fn. 15), AG 1996, S. 1 ff.

105 Schmidt-Preuß (Fn. 14), S. 61 sowie zur Ableitung im Einzelnen S. 63 ff.

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II. Eigentum und langfristige Verträge im Gassektor

1. Maßstäblichkeit des gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsgrundrechts

Fragen des gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsgrundrechts können sich auch dort stellen, wo – außerhalb der Regulierung – ein Verstoß gegen das Kartellver-bot des Art. 81 EG oder der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung gem. Art. 82 EG geltend gemacht werden. Insoweit wäre die Kommission im direkten Vollzug ohne weiteres an die Gemeinschaftsgrundrechte – hier das Eigentums-grundrecht – gebunden. Aktueller Hintergrund ist die Tatsache, dass im Gassektor langfristige Gaslieferungsverträge zwischen Importeuren und inländischen Wei-terverteilern bestehen. In Deutschland hat das BKartA106 derartige Verträge unter-sagt, um Bezugsalternativen zu ermöglichen. Ein laufzeitverkürzender Eingriff in langfristige Bezugsverträge der Gaswirtschaft gem. Art. 81, 82 EG muss sich dem Test des gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsgrundrechts stellen. Vertragliche Rechte sind – wie bereits dargelegt107 – vom Schutzbereich des Eigentums erfasst.

2. Laufzeitverkürzung: Enteignung oder Nutzungsregelung?

Da mit einer kartellrechtlichen Missbrauchsverfügung der (noch) laufende Ver-trag „außer Kraft gesetzt“ wird, er also insoweit „nicht mehr existent“ ist, kann im Sinne der formal expropriation von einem vollständigen Entzug der vertraglichen Rechte für die Restlaufzeit und damit einer Enteignung ausgegangen werden. Nur wenn man demgegenüber den Akzent auf eine Gesamtbetrachtung unter Einbe-ziehung der bereits abgelaufenen Zeitspanne legen wollte, könnte man ggf. zu einer Ausübungsregelung gelangen. Diese Sichtweise drängt sich nicht auf, da Entzugsobjekt nicht in erster Linie der vergangene Zeitabschnitt, sondern vor allem die künftige Restlaufzeit ist. Hierauf liegt auch bei einer Gesamtbetrach-tung unübersehbar der Akzent.

3. Geeignetheit und Erforderlichkeit

Selbst wenn man aber von einem existenten Vertrag ausgehen wollte, der „nur“ einer zeitlichen Verkürzung unterläge, müsste – wie erwähnt – die unter dieser Prämisse denkbare Ausübungsregelung ebenfalls den Verhältnismäßigkeitsgrund-satz wahren.108 Dieser grundlegende Maßstab fordert zunächst ein abwägungsfä-higes Gemeinschaftsziel, das hier in den angestrebten Wettbewerbsimpulsen ge-

106 BKartA, Beschluss vom 13.1.2006, WuW/E DE-V 1147 ff.; ZNER 2006, 74 ff.; Bericht in et 2006, 59 ff. Das

OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.6.2006, VI-2 Kart 1/06 (V); Bericht in IR 2006, 156 hat die Eilentschei-dung des BKartA bestätigt und die Rechtsbeschwerde zugelassen. S. aber auch Bunte, Langfristige Gasliefer-verträge nach nationalem und europäischem Kartellrecht, 2003, S. 21 ff., 59 ff.; zur energiepolitischen Aus-gangslage S. 7 ff.

107 S.o. Fn. 27. 108 EuGH, verb. Rs. C-20/00 und C-64/00 (Booker Aquaculture), Slg. 2003, I-7411, Rn. 79; s.o. B. III.

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sehen werden kann. Geeignetheit wäre gegeben, wenn zu erwarten wäre, dass ohne langfristige Bindungen konkurrierende Anbieter auf dem Gas-Großhan-delsmarkt aufträten und damit mehr Wahlfreiheit bei den Nachfragern entstünde. Gravierende Probleme stellen sich aber bei der konkreten Erforderlichkeit auf der zweiten Stufe. Dies liegt daran, dass bei objektiver Prognose mit der kurzfristigen Eröffnung des freien europäischen Gasbinnenmarktes zu rechnen ist, der zu durchgreifenden Marktöffnungsprozessen auch im Privatkundensektor führen und insofern weitere kartellrechtliche Maßnahmen entbehrlich machen dürfte. Ebenso ist ins Kalkül zu ziehen, ob ein vom Unternehmen „angebotenes“ Mittel nicht bereits ausreicht, um den erwünschten Wettbewerbseffekt zu erzielen.

4. „Fair balance“

Sieht man von diesen Bedenken einmal ab, werden die Probleme auf der dritten Stufe109 – der Proportionalität – vollends manifest. Im Rahmen der fair balance konkurrieren hier das (gemeinschaftsrechtliche) Eigentumsgrundrecht samt sei-nem internen Maßstab des Vertrauensschutzes bzw. der Rechtssicherheit110 auf der einen mit dem Gemeinschaftsziel des Wettbewerbs auf der anderen Seite. Dabei kommt dem Eigentümer – hier als Inhaber langfristiger Vertragsrechte – zunächst die Substanzgarantie111 zugute. Eine Gefährdung oder gar Beseitigung der Unternehmensexistenz infolge einer Laufzeitverkürzung muss er unter keinen Umständen hinnehmen. Diese eigentumsgrundrechtliche Grenze angesichts der Belastungen infolge von take-or-pay-Verpflichtungen gegenüber dem Exporteur hat der Gemeinschaftsgesetzgeber erkannt. Er hat sie in Art. 21 Abs. 1 sowie Art. 27 i.V.m. Art. 18 Beschleunigungs-Richtlinie Gas zu Recht berücksichtigt. Danach ist Abhilfe zu schaffen, wenn „ernsthafte wirtschaftliche und finanzielle Schwierigkeiten“ drohen. Generell ist in der erforderlichen konkreten Abwägungsbilanz (fair balance)112 von ausschlaggebender Bedeutung, dass die Langfristigkeit der Verträge ökono-misch die Forderungen der internationalen Lieferanten reflektiert, die Finanzbei-träge zur Aufschließung und Ausbeutung ihrer Felder für die Dauer des Invest-ments verlangen. Insofern schlägt zugunsten des Eigentums der Vertrauens-schutzgedanke113 zu Buche. Der Importeur hat beim seinerzeitigen Abschluss im berechtigten Vertrauen gehandelt, dass die langfristigen Verträge Bestand haben. Andernfalls könnte er die ebenso langfristig eingegangenen Verpflichtungen ge-genüber dem Produzenten nicht amortisieren. Auf Grund der take-or-pay-Klausel muss er in jedem Fall über die Laufzeit des Vertrages Zahlungen leisten, auch

109 Zur Notwendigkeit dieses Kriteriums und zur Praxis des EuGH oben B. III. 1. 110 EuGH, verb. Rs. C-37/02 und C-38/02 (Di Lenardo Adriano Srl), Slg. 2004, I-6911, Rn. 63 ff. 111 S.o. Fn. 101. 112 S.o. B. III. 1. 113 Entgegen der Praxis des EuGH ist er – systematisch überzeugender – im Rahmen des Eigentumsgrundrechts

zu prüfen, s.o. B. III. 1 („vierter Kritikpunkt“).

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wenn kein Gas abgenommen wird. Es ist lediglich ein Reflex dieser negativen Risikostruktur im upstream-Geschäft, wenn auch im downstream-Bereich lang-fristige Verträge praktiziert werden. Insbesondere gilt für die Altverträge, die vor dem Ablauf der Umsetzungsfrist der Ursprungs-Richtlinie Gas (10.8.2000) abge-schlossen wurden, ein erhöhter Vertrauensschutz. Dem Eigentumsgrundrecht ist in der gebotenen konkreten Abwägung die erstreb-te Wettbewerbsverbesserung als kollidierendes Gemeinschaftsziel gegenüberzu-stellen und zuzuordnen. Das Gewicht dieses Gemeinschaftszieles ist jedoch durch die – bereits erwähnte – bevorstehende Marktöffnung im Gassektor signifikant gemindert, da hierdurch nachhaltige Wettbewerbsprozesse ausgelöst werden dürf-ten. Darüber hinaus ist auch – gleichfalls mit der Folge eines geminderten Ge-wichts des erstrebten Wettbewerbsgewinns – zu bedenken, dass der über die Gas-quellen verfügende Lieferant selbst womöglich in den bislang vom Importeur bedienten Absatzmarkt eintreten könnte. Vor diesem Hintergrund wird sich das Eigentumsgrundrecht in der konkreten Abwägung mit dem Wettbewerbsziel durchsetzen. Anders wäre es nur bei nachweisbaren überragenden Gemein-schaftsinteressen. Dass in diesem Sinne ohne eine Laufzeitverkürzung – zumal eine solche von kurzer Frist und ohne angemessene Übergangsregelung – Wett-bewerb nicht zur Entfaltung kommen könnte, ist jedoch nicht ersichtlich. Dann aber wäre es ein unzumutbares, eigentumsgrundrechtlich nicht vertretbares Opfer, dem Unternehmen eine Laufzeitverkürzung aufzuerlegen.

5. Kompatibilität mit der NEA/SEP-Entscheidung des EuGH

Gegenteiliges ergibt sich nicht aus der NEA/SEP-Entscheidung des EuGH114 vom 7.6.2005. Der Gerichtshof sah in der vorrangigen Zuweisung von Importkapazität an den vormaligen Importmonopolisten eine Verletzung des Diskriminierungs-verbots. Dagegen hat das Vorlageersuchen nach einer Verletzung des Eigentums-grundrechts nicht gefragt.115 Dementsprechend verhält sich das Urteil hierzu nicht. Im Übrigen hob der Gerichtshof116 auf die von der Regierung der Nieder-lande nicht wahrgenommene Möglichkeit ab, rechtzeitig eine Ausnahmeregelung zugunsten der langfristigen Verträge der SEP zu beantragen. Eine solche System-lösung steht aber bei langfristigen Verträgen der Gasversorgung nicht zur Verfü-gung.

III. Unbundling: „Vier plus eins“

Das Unbundling dient der Transparenz, der Vermeidung von Quersubventionen und dem Wettbewerb. Hierzu sehen die Beschleunigungs-Richtlinien Strom und

114 EuGH, Urt. v. 7.6.2005, C–17/03 (SEP/NEA), EWS 2005, S. 315. 115 Ibid. Rn. 31. 116 Ibid. Rn. 57 ff.

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Gas vier Regelungsvarianten vor, die eine Verselbständigung des Netzbetriebs bezwecken.

1. Das buchhalterische unbundling

Das buchhalterische unbundling117 verlangt – erstens – eine Rechnungslegung sowie – zweitens – eine getrennte interne Kontenführung. Diese – erhebliche Kosten verursachenden – Maßnahmen greifen in die Nutzungsfreiheit des Eigen-tümers ein. Die Separierung bezweckt namentlich Transparenz, eine effektivere Entgeltregulierung sowie die bessere Kontrolle von Quersubventionen, also die Aktivierung des Wettbewerbs à la Art. 4 EG. Im Rahmen der Verhältnismäßig-keitsprüfung seien Geeignetheit und Erforderlichkeit unterstellt. Sodann käme in der – wie oben dargelegt118 – unverzichtbaren Abwägung alles darauf an, ob die Kostenbelastung in Anbetracht des Wettbewerbziels noch erträglich oder die Opfergrenze überschritten ist. Im Wege der Prognose ist kaum zu erwarten, dass der EuGH das buchhalterische unbundling als Verstoß gegen das gemeinschafts-rechtliche Eigentumsgrundrecht werten würde. Vielmehr dürfte er bei einer Ab-wägung mit dem Ziel der Wettbewerbsförderung keine durchgreifenden rechtli-chen Bedenken erheben. Aus dieser Sicht würde sich das Rechnungslegungs-unbundling als zumutbares Instrument im Interesse eines diskriminierungsfreien Marktzutritts erweisen.119

2. Das informatorische unbundling

Einen noch stärkeren eigentumsrelevanten Belastungseffekt120 verursacht die zweite Ebene, das informatorische unbundling.121 Informationen aus dem Netzbe-reich etwa über Zählerdaten, Lastgänge, Bezugsdaten oder Engpässe sollen dem Vertrieb durch „chinese walls“ vorenthalten werden. Zwar ist die Trennung der Datenverarbeitungssysteme nicht geboten, doch müssen die Zugriffsmöglichkeiten ausgeschlossen werden. Damit gehen Synergieeffekte verloren. Die Zugangsbe-rechtigungen müssen neu konfiguriert werden; dies verursacht erhebliche Kosten. Neben den finanziellen Belastungseffekten im IT-Bereich greift das informatori-

117 Art. 18 und 19 Beschleunigungs-Richtlinie Strom; Art. 16 und 17 Beschleunigungs-Richtlinie Gas. 118 S.o. B. III. 1 und 2. 119 Schmidt-Preuß, in: Baur/Pritzsche/Simon (Hrsg.), Unbundling in der Energiewirtschaft, 2006, 1. Kap. Rn. 69;

zur verfassungsrechtlichen Würdigung 2. Kap. Rn. 13 ff. – Nauschütz, Das Unbundling integrierter Erdgasun-ternehmen – rechtliche Grenzen europäischer Wirtschaftsregulierung, 2005, S. 263, 278, verneint in der Sache offenbar bereits den Schutzbereich des Eigentums, wenn sie davon spricht, dass die „Nutzung der Vermö-genswerte des Unternehmens allenfalls am Rande“ betroffen sei. Insofern fehle es an einem Eingriff in das Eigentum: Der durch das Rechnungslegungs-unbundling verursachte Mehraufwand sei keine „Beschränkung der Nutzung des Unternehmenseigentums“; Herrmann, Europäische Vorgaben zur Regulierung der Energie-netze, 2005, S. 95 f., bejaht generell die Übereinstimmung der unbundling-Vorschriften der Beschleunigungs-richtlinien Strom bzw. Gas mit den EG-Grundrechten.

120 A.A. Nauschütz (Fn. 119), S. 263, die hier – wie beim Rechnungslegungs-unbundling – bereits den Schutzbe-reich verneint; die EG-Grundrechtskonformität generell bejahend Herrmann (Fn. 119), S. 95 f.

121 Art. 12 und 16 Beschleunigungs-Richtlinie Strom; Art 10 und 14 Beschleunigungs-Richtlinie Gas.

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sche unbundling in die mitgliedschaftlichen Informationsrechte ein, die aus dem Anteilsrecht des Gesellschafters fließen und Eigentumsschutz genießen. Im deut-schen Recht sind dies die Auskunftsrechte des GmbH-Gesellschafters gem. § 51 a GmbHG und das Auskunftsrecht des Aktionärs gem. § 131 AktG. Geeignetheit und Erforderlichkeit unterstellt, könnte sich das gemeinschaftsrechtliche Eigen-tum nur dann gegenüber dem Wettbewerbsziel durchsetzen, wenn die Kostenbe-lastung unerträglich und deshalb die Opfergrenze überschritten wäre. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass – wie erwähnt – die Datenverarbeitungssysteme nicht getrennt werden müssen. Insgesamt ließe sich nur schwer prognostizieren, dass der EuGH einen Verstoß gegen das gemeinschaftsrechtliche Eigentumsgrundrecht annehmen würde.

3. Das operationelle unbundling

Das operationelle unbundling122 will die unternehmerische Einflussnahme der Muttergesellschaft auf den operativen Netzbetrieb verhindern. Dem dient erstens als strukturelle Maßnahme die Inkompatibilitätsregelung, die u.a. für Leitungs-personen des Übertragungsnetzbetriebs die Zugehörigkeit zu den Wettbewerbsbe-reichen Erzeugung, Verteilung und Vertrieb ausschließt (vice versa für Leitungs-personen des Verteilernetzbetriebs). Entsprechendes gilt für den Gassektor. Hinzu tritt eine verhaltensbezogene Vorkehrung, die einer unternehmerischen Einfluss-nahme auf das operative Netzgeschäft entgegensteht und so die Eigenständigkeit des Netzbetreibers wahrt. Damit greift das operationelle unbundling massiv in das gemeinschaftsrechtliche Eigentumsgrundrecht ein. Das Mitgliedschaftsrecht um-fasst als Herrschaftsrecht sachliche und personelle Gestaltungsmacht. Geeignet-heit und Erforderlichkeit erneut unterstellt, sind im Rahmen der Proportionalität das Anteilseigentum mit seinen mitgliedschaftlichen Befugnissen bei der Bestel-lung von Organwaltern und der Ausübung unternehmerischen Einflusses mit dem Wettbewerbsziel abzuwägen. Insoweit wäre es mit dem Anteilseigentum nicht zu vereinbaren, wenn der Allein- oder Mehrheitsgesellschafter passiv bleiben müss-te, obwohl die Rentabilität des Tochterunternehmens auf dem Spiel steht. Zu Recht haben die Beschleunigungs-Richtlinien Strom bzw. Gas entsprechende Sicherungen eingezogen. So sind insbesondere die Genehmigung des jährlichen Finanzplans und die Festlegung genereller Verschuldungsgrenzen dem Mutterun-ternehmen vorbehalten.123 Das trägt den Erfordernissen des Eigentumsgrund-rechts Rechnung. Zu Recht stellt z.B. Art. 10 Abs. 2 lit. c i.V.m. Art. 23 Abs. 2 Strom-Beschleunigungs-RL die Gewährleistung von Befugnissen des Mutterun-ternehmens sicher, die dem Schutz der Rentabilität des Tochterunternehmens dienen.

122 Art. 10 und 15 Beschleunigungs-Richtlinie Strom; Art. 9 und 13 Beschleunigungs-Richtlinie Gas. 123 Art. 10 Abs. 2 lit. c) und Art. 15 Abs. 2 S. 2 lit. c) Beschleunigungs-Richtlinie Strom; Art. 9 Abs. 2 lit. c) und

Art. 13 Abs. 2 S. 2 lit. c) Beschleunigungs-Richtlinie Gas.

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Verhältnismäßigkeitswahrende Funktion hat die sog. de minimis-Regelung, nach der Verteilnetzbetreiber mit bis zu 100.000 unmittelbar bzw. mittelbar ange-schlossenen Kunden vom operationellen unbundling ausgenommen werden kön-nen (Art. 15 Abs. 2 a.E. Beschleunigungs-Richtlinie Strom; Art. 13 Abs. 2 a.E. Beschleunigungs-Richtlinie Gas). Dies kommt gerade kleineren kommunalen Energieversorgungsunternehmen zugute, für die ein operationelles unbundling eine nicht zumutbare Belastung darstellen würde. Insgesamt dürfte nicht zu er-warten sein, dass der EuGH das operationelle unbundling als Verstoß gegen das gemeinschaftsrechtliche Eigentumsgrundrecht werten würde. 124

4. Das legal unbundling

Die Beschleunigungs-Richtlinien fordern – viertens – das legal unbundling.125 Damit wird der Netzbetrieb aus dem Konzernverbund herausgelöst und unter dem Aspekt der Rechtsform verselbständigt. Das Ziel ist die gesellschaftsrechtliche Trennung des Netzbetriebs von den Wettbewerbsaktivitäten des integrierten EVU, namentlich vom Bereich „Vertrieb“. Damit geht der gesellschaftsrechtliche Verbund verloren: Der Netzbetrieb wird isoliert. Auf diese Weise soll eine dis-kriminierungsfreie Netznutzung gewährleistet werden. Wie die Beschleunigungs-Richtlinien ausdrücklich klarstellen, ist die Übertragung des Netzeigentums auf die auszugliedernde Gesellschaft nicht erforderlich. Vielmehr kann das Eigentum am Netz im (weit verbreiteten) Modell der ausgegliederten 100%-Tochter bei der Mutter verbleiben. Diese kann es an die Netzbetriebs-Tochter verpachten. Auch wenn das operationelle unbundling bereits sehr weitreichende Entflechtungseffek-te bewirkt, geht die gesellschaftsrechtliche Verselbständigung noch einmal dar-über hinaus. Dies liegt an der Eigenständigkeit der Gesellschaft und der corporate identity, über die sie verfügt. Das Anteilsrecht ist Teil des Eigentumsgrundrechts. Als Herrschaftsrecht umschließt es auch die Freiheit zur Konzernbildung. Das legal unbundling greift damit in das gemeinschaftsrechtliche Eigentumsgrund-recht ein. In der Abwägung sind die Synergieverluste infolge der Verselbständigung dem dadurch kausal bewirkten Wettbewerbsgewinn gegenüberzustellen. Dabei verdie-nen drei Fälle eines mildernden Realausgleichs Erwähnung. So ist die Umset-zungsfrist für das legal unbundling auf der Strom- und Gasverteilernetzebene bis zum 1.7.2007 hinausgeschoben (Art. 30 Abs. 2 i.V.m. Art. 15 Abs. 1 Beschleuni-gungs-Richtlinie Strom; Art. 33 Abs. 2 i.V.m. Art. 13 Abs. 1 Beschleunigungs-

124 Schmidt-Preuß (Fn. 119), 1. Kap. Rn. 72 f.; zur verfassungsrechtlichen Würdigung 2. Kap. Rn. 22 ff. –

Keinen Verstoß gegen das gemeinschaftsrechtliche Eigentumsgrundrecht sieht Nauschütz (Fn.119), S. 261 f. In Bezug auf „getätigte Investitionen“ liege „nur eine Wertminderung vor“; im Ergebnis für EG-Grund-rechtskonformität der unbundling-Vorschriften der Beschleunigungsrichtlinien Strom bzw. Gas insgesamt Herrmann (Fn. 119), S. 95 f.

125 Art. 10 Abs. 1 und Art. 15 Abs. 1 Beschleunigungs-Richtlinie Strom; Art. 9 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 Beschleunigungs-Richtlinie Gas.

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Richtlinie Gas). Damit wird den Unternehmen eine – belastungsmildernde – Übergangsfrist eingeräumt. Ferner schlägt zu Buche, dass die Beschleunigungs-Richtlinien – wie erwähnt – lediglich den Übergang des Netzbetriebs fordern. Schließlich gilt die verhältnismäßigkeitswahrende Funktion der de minimis-Rege-lung, nach der Verteilernetzbetreiber mit bis zu 100.000 unmittelbar bzw. mittel-bar angeschlossenen Kunden vom legal unbundling ausgenommen werden kön-nen (Art. 15 Abs. 2 a.E. Beschleunigungs-Richtlinie Strom; Art. 13 Abs. 2 a.E. Beschleunigungs-Richtlinie Gas). Vor diesem Hintergrund ist die Prognose zu stellen, dass der EuGH auch hier kaum von einem Verstoß gegen das gemein-schaftsrechtliche Eigentumsgrundrecht ausgehen würde.126

5. Das ownership unbundling

Ganz anders liegen aber die Dinge beim ownership unbundling. Damit wäre nicht nur der ordnungspolitische, sondern auch der eigentumsgrundrechtliche Rubikon überschritten. Der Zwang zum Verkauf sämtlicher oder mindestens der zur Be-herrschung befähigenden Anteilsrechte127 stellt einen vollständigen Entzug dar. Dass die Anteile ggf. über die Börse an Private gehen, schließt nicht per se den Enteignungstatbestand aus: Der Zwangsverkauf an das Publikum ist nur ein Hilfsmittel für die Kappung der kapitalmäßigen Verbindung.128 Damit handelt es sich um einen Fall der Enteignung129 in der Variante der formal expropriation. Bisher sind Enteignungsfragen vom EuGH noch nicht judiziert worden, wohl aber vom EGMR.130 Die Gründe dafür wurden schon angesprochen.131 Sie treten hier grell ins Rampenlicht: Art. 295 EG garantiert, dass die Eigentumsordnung in den Mitgliedstaaten „unberührt“ bleibt. Wie oben132 bereits ausgeführt, fehlt es an einer Kompetenzgrundlage für Ver-pflichtungen zur Enteignung mitgliedstaatlich konstituierter Vermögensrechtspo-sitionen. Dies aber wäre der Fall bei einer Richtlinie, die den Mitgliedstaaten die Einführung des ownership unbundling aufgeben wollte. Dadurch würden mit-gliedstaatliche Eigentumspositionen beseitigt. Dem steht die Kompetenzaus-übungsschranke des Art. 295 EG entgegen. Bei Beachtung dieser Sperre stellt sich die Eigentumsproblematik nicht.

126 Schmidt-Preuß (Fn. 119), 1. Kap. Rn. 74 ff.; zur verfassungsrechtlichen Würdigung 2. Kap. Rn. 27 ff. –

Nauschütz (Fn. 119), S. 259 ff., verneint eine Eigentumsentziehung und nimmt stattdessen – ohne nähere Be-gründung – eine als zulässig unterstellte Eigentumsbeschränkung an; EG-Grundrechtskonformität generell be-jahend wiederum Herrmann (Fn. 119), S. 95 f.

127 Zu weiteren Ausgestaltungsformen des ownership unbundling J.F. Baur/Pritzsche/Klauer (Fn. 94), S. 26 ff. 128 Dass die Käufer Private sind, stünde der Enteignung namentlich dann nicht entgegen, wenn man mit dem

EGMR auf den übergeordneten Gemeinwohlzweck abstellt, vgl. EGMR, EuGRZ 1988, 341, Rn. 40, 41 („zwangsweise Eigentumsübertragung von einem Individuum auf ein anderes“), 45 – James.

129 Schmidt-Preuß (Fn. 119), 1. Kap. Rn. 77 f.; ebenso Baur/Pritzsche/Klauer (Fn. 94), S. 71 (für den Zwangs-verkauf bzw. die Verstaatlichung).

130 Vgl. EGMR, EuGRZ 1983, 525, Rn. 63 – Sporrong und Lönnroth: „formal expropriation“, „deprivation of possessions“; s. ferner EGMR, Nr. 46720/99, 72203/01 und 72552/01 (30.6.2005), Rn. 65 – Jahn.

131 S.o. B. III. 3. 132 S.o. B. III. 3.

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Käme es demgegenüber gleichwohl zu einer Richtlinie über die Einführung des ownership unbundling, wäre neben dem Kompetenzverstoß auch das gemein-schaftsrechtliche Eigentumsgrundrecht verletzt.133 Insoweit dürfte es bereits an der Geeignetheit fehlen, da ein derart marktfremdes Mittel wie das branchenweit Kapitalbeteiligungen auflösende ownership unbundling als Instrument zur Wett-bewerbsförderung nicht tauglich ist. An der Erforderlichkeit fehlt es, da Alterna-tivmaßnahmen wie weitere Einflussreduzierungen oder Treuhandlösungen zur Verfügung stehen, die geringer einschneidend und zumindest gleich wirksam sind. Namentlich aber vermag der beabsichtigte Wettbewerbsgewinn im Rahmen der Abwägung den – massiven, branchenweit Anteilsrechte entziehenden – Ein-griff in das Eigentumsgrundrecht nicht aufzuwiegen. Bei diesem Ergebnis stellt sich die Frage der angemessenen Entschädigung durch die – belastungskausale – Gemeinschaft als Element des gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsgrundrechts nicht. Wollte man – entgegen der hier vorgenommenen Qualifizierung als Enteignung – gleichwohl von einer Ausübungsregelung ausgehen, würde es – bei hilfsgutachtli-cher Prüfung – bereits an der Eignung bzw. Erforderlichkeit fehlen. Insbesondere läge der Verstoß gegen das gemeinschaftsrechtliche Eigentumsgrundrecht auf der Stufe der Proportionalität offen zu Tage. Die gegenteilige Meinung – weiterhin hypothetisch unterstellt – würde jedenfalls eine angemessene Entschädigung nach den Grundsätzen von Booker Aquaculture134 unabdingbar erfordern. Andernfalls wäre die fair balance an dieser Stelle gestört. Eine Unterschreitung des vollen Marktwerts – vom EGMR135 für Ausnahmefälle hingenommen – dürfte hier ange-sichts der Massivität des Eingriffs nicht in Betracht kommen. Sollte es bei einem Zwangsverkauf über die Börse angesichts des „Käufermarktes“ zu einem Kurs-verfall kommen, könnte von einem Marktpreis nicht mehr ausgegangen werden. Insofern bedürfte es einer Mindestentschädigung, um von einer fair compensation sprechen zu können. Entschädigungspflichtig wäre die Gemeinschaft, da sie für den Belastungsakt verantwortlich ist. Insofern gilt das Kausalitätsprinzip.

IV. Investitionspflichten

Nach den Beschleunigungs-Richtlinien müssen die Mitgliedstaaten Pflichten der Netzbetreiber einführen, die Einschränkungen der Investitionsfreiheit136 darstel-len.137 Diese ist als Nutzungs- und Verfügungsfreiheit vom Eigentumsgrundrecht

133 Ebenso J. F. Baur/Pritzsche/Klauer (Fn. 94), S. 75 ff.; so auch (auf verfassungsrechtlicher Ebene) Jacob,

Unbundling im neuen Energierecht, in: Schmidt-Schlaeger/Zinow (Hrsg.), Grundlagen des Energierechts, 2004, S. 87 (103 f.).

134 S.o. B. III. 2. 135 EGMR, Nr. 13092/87 und 13984/88 (9.12.1994), Rn. 71 – Holy Monasteries; EGMR, EuGRZ 1988, 350,

Rn. 121 – Lithgow; vgl. auch Grabenwarter (Fn. 43), § 25, Rn. 20. 136 Dazu Schmidt-Preuß, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutsch-

land, Bd. IV, 3. Aufl., 2006, § 93, Rn. 42 ff. 137 Art. 9 und 14 Beschleunigungs-Richtlinie Strom; Art. 8 und 12 Beschleunigungs-Richtlinie Gas.

486 EuR – Heft 4 – 2006 Schmidt-Preuß, Der Wandel der Energiewirtschaft

geschützt (B. II). Eine Investitionspflicht als Gegenstand laufender Kontrolle und im Sinne einer echten – vollstreckbaren – Rechtspflicht würde allerdings der marktwirtschaftlichen Regulierungsphilosophie zuwiderlaufen. Eine dirigistische Regulierung widerspräche der offenen Marktwirtschaft der EG. Der Energiebin-nenmarkt steht für Markt, Wettbewerb, unternehmerische Flexibilität und Versor-gungssicherheit. Das schließt rigide – im Wege der Verwaltungsvollstreckung durchsetzbare – Investitionspflichten aus.

V. Emissions trading

1. Maßstabsproblematik vor dem Hintergrund des TEHG-Urteils des BVerwG

Die EG-Emissionshandels-Richtlinie138 verpflichtet die Mitgliedstaaten, ein Ge-nehmigungssystem einzuführen, das den Emittenten von CO2 zwingt – vorhande-ne oder zuzukaufende – Emissionszertifikate abzugeben. Hier ergeben sich zwei Fragestellungen. Zum einen erscheint es als problematisch, wenn die weitere Ausnutzung einer bestehenden immissionsschutzrechtlichen Genehmigung davon abhängt, dass sich der Anlagenbetreiber dem Zertifikatssystem unterwirft. Dies kommt der Belastung durch eine Hypothek gleich. Das BVerwG139 hat in seiner TEHG-Entscheidung vom 30.6.2005 hierin keinen Verstoß gegen das EG-Eigen-tumsgrundrecht gesehen, ohne allerdings eine bis ins Letzte gehende Grund-rechtsexegese vorzunehmen. Die Heranziehung dieses Prüfungsmaßstabs beruht auf der Annahme, dass die Systementscheidung für den Emissionshandel zwin-gend durch die EG-Richtlinie determiniert sei.140 Ein solches 1:1-Kriterium ver-langt das BVerfG141 im Mischfuttermittel-Beschluss vom 27.7.2004 als Voraus-setzung dafür, dass der deutsche Umsetzungsakt nicht an den Grundrechten des GG, sondern (wie die EG-Richtlinie) an den Gemeinschaftsgrundrechten gemes-sen wird. Wenn das BVerwG vor diesem Hintergrund in seinem vorerwähnten TEHG-Urteil ein Prüfkonzept entwickelt, das einen einheitlichen Regelungsge-genstand in eine Systementscheidung einerseits und die konkrete Ausgestaltung andererseits „zerlegt“, kann dies nicht überzeugen. Bei einer solchen Sichtweise wäre die Abtrennbarkeit einer gedanklichen „Grundfrage“ ohne weiteres bei jeder Richtlinie denkbar. Dies hätte automatisch zur Folge, dass gerade die Kernprob-lematik der Regelung allein am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte geprüft würde, während für den Maßstab des GG nur die vergleichsweise unbedeutenden Modalitäten des Umsetzungsaktes verblieben. Richtig erscheint es statt dessen,

138 Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.10.2003 über ein System für den

Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates, ABl. L 275 (vom 25.10.2003), S. 32.

139 BVerwG, NVwZ 2005, 1178 ff. – TEHG; Vorinstanz VG Würzburg, NVwZ 2005, 471 ff. 140 So BVerwG, NVwZ 2005, 1178 (1181 f.). 141 BVerfG, 2. Kammer des 1. Senats, NVwZ 2004, 1346 f. – Mischfuttermittel; befürwortend Schmidt-Preuß

(Fn. 119), 2. Kap. Rn. 3 ff.

Schmidt-Preuß, Der Wandel der Energiewirtschaft EuR – Heft 4 – 2006 487

mit dem Mischfuttermittel-Beschluss des BVerfG142 den zwingenden Charakter der Vorgaben als ausschlaggebend anzusehen. Nur unter dieser Voraussetzung einer gebotenen 1:1-Umsetzung lässt sich davon ausgehen, dass die mitgliedstaat-liche Umsetzungsnorm bloß „wiederholt“, was gemeinschaftsrechtlich zwingend vorgegeben ist. Dies legt es nahe, den mit der Richtlinie „identischen“ Umset-zungsakt an den Gemeinschaftsgrundrechten zu messen. So liegt es namentlich im Fall einer numerischen Vorgabe in Form eines Grenzwertes, aber auch bei „eindeutigen“ qualitativen Bestimmungen.143 Wo dagegen Bandbreiten der Be-wertung bestehen und der Umsetzungsgesetzgeber über Interpretations- und Ge-staltungsspielräume verfügt, wird nationale Staatsgewalt ausgeübt, die an den Grundrechten der jeweiligen Verfassungsordnung zu messen ist. Maßgeblich ist eine Gesamtbetrachtung des Regelungskomplexes. Die Vorschriften der EG-Emissionshandels-Richtlinie belassen dem Umsetzungsgesetzgeber Gestaltungs-spielräume und Interpretationsprärogativen. Von zwingenden Vorschriften im Sinne einer 1:1-Konstellation kann nicht die Rede sein. Dies gilt insbesondere für die von der Richtlinie keineswegs beantworteten, sondern signifikant offen gelas-senen – das Herzstück des emissions trading bildenden – Fragen der Gesamtmen-ge, der Entscheidung hinsichtlich der Kostenlosigkeit und der Berechnung der individuellen Zuteilungsmengen. Ferner kann auch aus Art. 4 der Emissionshan-dels-Richtlinie nichts Gegenteiliges abgeleitet werden, da er lediglich einen – die Voraussetzungen der Systementscheidung bildenden – Genehmigungsvorbehalt für die Emission von CO2, nicht aber diese selbst enthält. Daher kommen als Maßstab nicht die Gemeinschaftsgrundrechte, sondern die des GG in Betracht.

2. Zertifikate als Schutzobjekt

Die zweite Frage betrifft das Eigentum an den Zertifikaten selbst. Sie unterfallen dem Schutzbereich des EG-Eigentumsgrundrechts.144 Dies gilt auch dann, wenn man sie als öffentlich-rechtliche Genehmigung qualifiziert. Dass der EuGH145 es nicht gänzlich ablehnt, diese dem gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsschutz zu unterstellen, wurde schon angedeutet. Das Kriterium der Eigenleistung, das im Sozialrecht seinen Platz hat, passt im Bereich der Industriezulassungen nicht, die als eigentumsgrundrechtliches Aktivum zu werten sind. Der EGMR würde hier den Eigentumsschutz von Zulassungen wohl im Schutzbereich des Rechts am Unternehmen lokalisieren. Insgesamt ist damit das Zertifikat gegenüber Eingrif-

142 BVerfG, 2. Kammer des 1. Senats, NVwZ 2004, 1346 f. – Mischfuttermittel; Schmidt-Preuß (Fn. 119),

2. Kap. Rn. 5; vgl. zum Ganzen auch Pieroth/Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 21. Aufl., 2005, Rn. 191. 143 Insoweit verlangt Hatje, Die gemeinschaftsrechtliche Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, 1998, S. 376,

dass die Richtlinie „genaue Vorgaben macht“. 144 Dazu oben B. II. 2 a.E. mit Fn. 40 – 43; auf staatsrechtlicher Ebene nimmt Burgi, Emissionszertifikate als

Eigentum im Sinne von Art. 14 Grundgesetz, RdE 2004, S. 29 (32 ff.), Eigentumsschutz gem. Art. 14 GG an, wobei er das Zertifikat als vermögenswerte Position des Privatrechts qualifiziert.

145 Vgl. EuGH, Rs. C-22/94 (Irish Farmers Association), Slg. 1997, I-1809, Rn. 26; s. ferner oben B. II. a.E. (dort auch zur Rechtsprechung des EGMR).

488 EuR – Heft 4 – 2006 Schmidt-Preuß, Der Wandel der Energiewirtschaft

fen des Richtliniengebers eigentumsgrundrechtlich geschützt. Das gilt zum einen für Maßnahmen während der Zuteilungsperiode. Zum anderen muss durch ange-messene Folgeausstattung Sorge getragen werden, dass einem effizienten Unter-nehmen die weitere Anlagennutzung möglich bleibt.146

D. Ausblick

Als Resümee ergibt sich: Die Europäisierung der Energiepolitik vollzieht sich rasant. Wettbewerb und Marktöffnung erfordern Flexibilität und Effizienz. Zu den unverzichtbaren Rahmenbedingungen gehört auch die gemeinschaftsrechtli-che Eigentumsordnung. Nur auf einer solchen Basis ist eine sichere und preis-würdige Energieversorgung möglich – und ein peaceful enjoyment des Eigen-tums.

146 Enger Heselhaus (Fn. 65), S. 115.

EuR – Heft 4 – 2006 489

Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft

Von Philipp Kubicki, Frankfurt (Oder)*

I. Einleitung

Die Rechtsprechung des EuGH zur Unionsbürgerschaft steht beispielhaft für eine neue Dimension der durch das EG-Recht vermittelten subjektiven Rechte der Staatsbürger der Mitgliedstaaten. Im Mittelpunkt dieser Entwicklung stehen der Unionsbürgerstatus nach Art. 17 Abs. 1 EG und das unionsbürgerliche Freizügig-keitsrecht nach Art. 18 Abs. 1 EG. Den Grundstein für diese Rechtsprechung legte der Gerichtshof in der Rechtssache Grzelczyk aus dem Jahr 2001, in der er erstmals feststellte, dass der „Unionsbürgerstatus dazu bestimmt [ist], der grund-legende Status“1 der Gemeinschaftsangehörigen zu sein. Hiervon ausgehend wur-de das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 12 Abs. 1 EG im Lichte der Bestimmungen der Unionsbürgerschaft ausgelegt und dessen sachlicher Anwen-dungsbereich über Art. 18 Abs. 1 EG erheblich erweitert2. In zahlreichen Folgeur-teilen hat der EuGH diese Rechtsprechung nicht nur im Rahmen der Kombination mit Art. 12 Abs. 1 EG weiter ausgebaut, sondern dem Freizügigkeitsrecht deutli-chere Konturen verliehen sowie darüber hinaus ein von der Staatsangehörigkeit unabhängiges Diskriminierungsverbot entwickelt3. Im Anschluss an den Beitrag von Scheuing aus dem Jahr 20034 soll diese Ent-wicklung im Folgenden nachgezeichnet und die ihr zugrunde liegenden dogmati-schen Strukturen sowie die damit verbundenen Probleme aufgezeigt werden. Die weiteren Ausführungen orientieren sich dabei an den drei grundlegenden (Sach-verhalts-)Konstellationen, welche die Rechtsprechung des EuGH zur Unionsbür-gerschaft kennzeichnen: Art. 18 Abs. 1 EG als eigenständige Rechtsposition (II.) sowie dessen Zusammenwirken einerseits mit Art. 12 Abs. 1 EG gegenüber Maß-nahmen des Aufenthaltstaates (III.) und andererseits mit einem von der Staatsan-gehörigkeit unabhängigen Diskriminierungsverbot gegenüber Maßnahmen des Herkunftsstaates eines Unionsbürgers (IV.).

* Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Europa-

recht an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). 1 EuGH, Rs. C-184/99 (Grzelczyk), Slg. 2001, I-6193, Rn. 31. Bis dahin war die Rechtsprechung eher von einer

zurückhaltenden Bezugnahme auf die Unionsbürgerschaft im Allgemeinen und auf Art. 18 EG im Besonderen geprägt, siehe z.B. EuGH, Rs. C-85/96 (Martínez Sala), Slg. 1998, I-2691, Rn. 60. Vgl. auch v. Bogdandy/ Bitter, Unionsbürgerschaft und Diskriminierungsverbot, in: FS Zuleeg, Europa und seine Verfassung, 2005, S. 309 (311 f.).

2 EuGH (Grzelczyk), Rn. 30 ff. (Fn. 1). 3 Darüber hinaus spielt die Unionsbürgerschaft auch als Auslegungspostulat im Rahmen der Arbeitnehmerfrei-

zügigkeit eine Rolle. Vgl. EuGH, Rs. C-138/02 (Collins), Slg. 2004, I-2703, Rn. 60 ff. Jüngst bestätigt in EuGH, Rs. C-258/04 (Ioannidis), Slg. 2005, I-8275, Rn. 21 f. Zum erst genannten Urteil Niemann, Von der Unionsbürgerschaft zur Sozialunion?, EuR 2004, S. 946 (950). Diese Konstellation wird im Folgenden außer Betracht gelassen.

4 Scheuing, Freizügigkeit als Unionsbürgerrecht, EuR 2003, S. 744 ff.

490 EuR – Heft 4 – 2006 Kubicki, Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft

II. Unionsbürgerliche Freizügigkeit – Art. 18 Abs. 1 EG

Die unionsbürgerliche Freizügigkeit vermittelt ein von der Ausübung einer wirt-schaftlichen Tätigkeit unabhängiges Bewegungs- und Aufenthaltsrecht5. Die durch den EuGH in der Rechtssache Baumbast explizit festgestellte unmittelbare Anwendbarkeit6 hat dieser Bestimmung eine eigenständige – primärrechtliche – Bedeutung neben dem Sekundärrecht7 gesichert und dessen ehemals rechtsbe-gründende Funktion in eine rechtsbeschränkende umgewandelt8. Nicht zuletzt daraus folgt eine auch in den Urteilen zum Ausdruck kommende allgemeine schematische Unterteilung des unionsbürgerlichen Freizügigkeitsrechts in Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung9. Neben einigen hierzu noch offenen Einzelfragen (1. bis 7.) bedarf vor allem die systematische Verortung des Art. 18 Abs. 1 EG im System der EG-vertraglichen gewährleisteten (subjektiven) Rechts-positionen einer Klärung (8.)10. Die hierbei vertretenen Auffassungen spiegeln sich auch in der uneinheitlichen Terminologie des EuGH wieder, in der Art. 18 Abs. 1 EG wechselweise als „Grundfreiheit“11, „Grundrecht“12 oder allgemein als „fundamentaler Grundsatz“13 bezeichnet wird.

1. Persönlicher Schutzbereich und Drittstaatsangehörige

In persönlicher Hinsicht knüpft Art. 18 Abs. 1 EG an die Definition der Unions-bürgerschaft in Art. 17 Abs. 1 Satz 2 EG und erfasst jede natürliche Person, wel-che die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt. Der Fall einer daneben bestehenden – auch effektiveren – Staatsangehörigkeit eines Drittstaates ist bis-her noch nicht entschieden worden. Allerdings ist zu erwarten, dass der EuGH insoweit – vergleichbar der Konstellation bei den Grundfreiheiten – allein auf die

5 Ein engeres Begriffsverständnis liegt dagegen Art. 45 Grundrechtscharta (GRC) zugrunde, wonach nur die

Bewegungsfreiheit von dem Begriff der Freizügigkeit erfasst wird, nicht dagegen das Aufenthaltsrecht. Vgl. hierzu auch Scheuing (Fn. 4), S. 745.

6 EuGH, Rs. C-413/99 (Baumbast), Slg. 2002, I-7091, Rn. 84 ff. Bestätigt in EuGH, Rs. C-200/02 (Zuh und Chen), Slg. 2004, I-9925, Rn. 26. Mittlerweile auch h.M. im Schrifttum, vgl. Kadelbach, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundfreiheiten und Grundrechte, 2. Aufl. 2005, § 21, Rn. 39, m.w.N.

7 Ursprünglich in Form der drei sog. Aufenthaltsrichtlinien: Richtlinie 93/96/EWG v. 29.10.1993, ABl. 1993 Nr. L 317, S. 59 (für Studierende); Richtlinie 90/365/EWG v. 28.06.1990, ABl. 1990 Nr. L 180, S. 28 (für aus dem Erwerbsleben ausgeschiedene Arbeitnehmer und Erwerbstätige); Richtlinie 90/364/EWG v. 28.06.1990, ABl. 1990 Nr. L 180, S. 26 (für sonstige Personen). Mit Wirkung vom 30.04.2006 wurden diese sowie zahl-reiche weitere freizügigkeitsrelevante Rechtsakte durch die Richtlinie 2004/38/EG vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu be-wegen und aufzuhalten, ABl. 2004 Nr. L 229, S. 35, ersetzt.

8 Scheuing (Fn. 4), S. 766 f. 9 Vgl. etwa EuGH (Zuh und Chen), Rn. 33 (Fn. 6). 10 Vgl. hierzu Seyr/Rühmke, Das grenzüberschreitende Element in der Rechtsprechung des EuGH zur Unions-

bürgerschaft, EuR 2005, S. 667 (669 ff. m.w.N.). 11 EuGH, Rs. C-224/98 (D’Hoop), Slg. 2002, I-6191, Rn. 29; EuGH, Rs. C-148/02 (Garcia Avello), Slg. 2003, I-

11613, Rn. 24. 12 EuGH (Zuh und Chen), Rn. 33 (Fn. 6). Vgl. insoweit auch Art. 45 GRC. 13 EuGH (Zuh und Chen), Rn. 31 (Fn. 6).

Kubicki, Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft EuR – Heft 4 – 2006 491

mitgliedstaatliche Staatsangehörigkeit abstellen wird14. Reine Drittstaatsangehö-rige sind dagegen per definitionem (Art. 17 Abs. 1 Satz 2 EG) von der Unions-bürgerschaft ausgeschlossen; lediglich als Familienangehörige stehen ihnen se-kundärrechtlich begründete und damit abgeleitete Rechte auf Bewegung und Auf-enthalt zu15. Dass in solchen Fällen dennoch eine unmittelbare Berufung auf Art. 18 Abs. 1 EG möglich ist, ergibt sich aus der Rechtssache Zhu und Chen16. Dort ging es u.a. um das Aufenthaltsrecht einer drittstaatsangehörigen Mutter einer (minderjährigen) Unionsbürgerin, die ihre irische Staatsangehörigkeit nach dem ius soli-Grundsatz erworben hatte (s.u. II. 3.). Da die Mutter als Familienan-gehörige für den Aufenthalt ihres freizügigkeitsberechtigten Kindes aufkam, scheiterte eine direkte Berufung auf die Richtlinie 90/363, die insoweit nur die umgekehrte Situation einer materiellen Unterstützung der Familienangehörigen durch den Unionsbürger vorsah17. Um die praktische Wirksamkeit des Aufent-haltsrechts des Kindes zu sichern, hat der EuGH auch der Mutter ein auf Art. 18 Abs. 1 EG gestütztes Aufenthaltsrecht zuerkannt und so den persönlichen Schutz-bereich um Drittstaatsangehörige erweitert18. Die Relevanz solcher Konstellatio-nen ist jedoch begrenzt, da ein Staatsangehörigkeitserwerb allein nach ius soli-Grundsätzen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union kaum noch möglich ist19.

2. Sachlicher Schutzbereich und Verschmelzung mit dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 12 Abs. 1 EG?

Der sachliche Schutzbereich des Art. 18 Abs. 1 EG ist auf das Aufenthalts- und Bewegungsrecht (insbesondere Ein- und Ausreise20) beschränkt, wobei dem erst-genannten Recht in der bisherigen Rechtsprechung die weitaus größere Bedeu-tung zukommt. Während das Aufenthaltsrecht jedoch in sachlicher Hinsicht kaum Fragen aufwirft – erfasst werden Aufenthalte von nur kurzer Dauer bis hin zum Daueraufenthalt –, ist die Reichweite des Bewegungsrechts unklar. Weder den Urteilen des EuGH21 noch den sekundärrechtlichen Ausgestaltungen lässt sich entnehmen, ob allein die physische Ein- bzw. Ausreise der berechtigen Personen

14 So auch Kadelbach, in: Ehlers (Fn. 6), § 21, Rn. 32. Vgl. zur parallelen Konstellation bei den Grundfreiheiten

EuGH, Rs. C-369/90 (Micheletti), Slg. 1992, I-4239, Rn. 10. 15 Vgl. jeweils Art. 1 der Aufenthaltsrichtlinien (Fn. 7) sowie Art. 3 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG (Fn. 7). 16 EuGH (Zuh und Chen), Rn. 42 ff. (Fn. 6). 17 Art. 1 Abs. 2 lit. b (Fn. 7). Dies gilt auch nach Art. 7 Abs. 1 lit. b und c Richtlinie 2004/38/EG (Fn. 7). 18 EuGH (Zuh und Chen), Rn. 46 (Fn. 6). Die Richtlinie wird insoweit nur ergänzend zu Art. 18 Abs. 1 EG

herangezogen. 19 Zur zwischenzeitlich geänderten Rechtslage in der Republik Irland Tryfonidou, Further Cracks in the ’Great

Wall’ of the European Union? European Public Law 2005, S. 527 (531 f.). 20 Haag, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Aufl. 2003, Art. 18 EG,

Rn. 8. 21 In EuGH, Rs. C-378/97 (Wijsenbeek), Slg. 1999, I-6207, Rn. 24 ff., widmete sich der EuGH zwar dem Recht

auf Einreise. Allerdings ging es dort nur um die Zulässigkeit von Personenkontrollen an den Binnengrenzen der Mitgliedstaaten.

492 EuR – Heft 4 – 2006 Kubicki, Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft

erfasst wird oder ob auch alle damit zusammenhängenden Aspekte einbezogen werden wie etwa die Frage nach der Benutzung von Kraftfahrzeugen oder die Mitnahme von Sachen und (Haus-) Tieren (z.B. Kampfhund). Die praktische Wirksamkeit des Art. 18 Abs. 1 EG streitet für eine weite Auslegung, so dass alle Umstände in den Schutzbereich der Bewegungsfreiheit einzubeziehen sind, die einen unmittelbaren Ein- bzw. Ausreisebezug aufweisen – ohne dabei Fragen nach möglichen Begrenzungen im Rahmen eines Eingriff oder der eventuellen Recht-fertigung vorwegzunehmen. Wendet der EuGH das unionsbürgerliche Freizügigkeitsrecht dagegen im Zu-sammenhang mit Rechtspositionen wie etwa Sozialhilfe22 oder Studienbeihilfen23 an, so werden diese nicht im sachlichen Schutzbereich des Art. 18 Abs. 1 EG verortet, sondern nur über Art. 12 Abs. 1 EG oder über das von der Staatsangehö-rigkeit unabhängige Gleichbehandlungsgebot erfasst. Art. 18 Abs. 1 EG dient insoweit lediglich der Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereichs des jewei-ligen Diskriminierungsverbots (vgl. III. u. IV.). Eine in Teilen des Schrifttums konstatierte Verschmelzung von Freizügigkeitsrecht und Diskriminierungsver-bot24 lässt sich der Rechtsprechung bisher nicht entnehmen.

3. Grenzüberschreitendes Moment

Kennzeichnend für Art. 18 Abs. 1 EG ist ferner das Vorliegen eines grenzüber-schreitenden Moments. Diese Voraussetzung besteht unanbhängig davon, ob die aus dem Freizügigkeitsrecht folgenden Rechtspositionen gegen den Bestim-mungs- oder den Herkunftsstaat gerichtet werden25. Wie auch die Grundfreiheiten findet das Freizügigkeitsrecht – sei es als eigenständige Rechtsposition oder in Verbindung mit den Diskriminierungsverboten (III. und IV.) – keine Anwendung auf rein innerstaatliche Sachverhalte26. Eine bloß mittelbare oder rein hypotheti-sche Aussicht auf die Wahrnehmung der Freizügigkeit ist jedoch nicht ausrei-chend27.

22 EuGH (Grzelczyk), Rn. 27 ff. (Fn. 1). 23 EuGH, Rs. C-209/03 (Bidar), Slg. 2005, I-2119, Rn. 28 ff. 24 So v. Bogdandy/Bitter (Fn. 1), S. 318 m.w.N. 25 In der Rechtssprechung überwiegen die gegen den Bestimmungsstaat gerichteten Konstellationen. Vgl. aber

EuGH (Wijsenbeek), Rn. 24 ff. (Fn. 21) als Beispiel für das gegen den Herkunftsstaat gerichtete unionsbürger-liche Bewegungsrecht, sowie EuGH, Rs. C-406/04 (De Cuyper), noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 36 ff., als Beispiel für das gegen den Herkunftsstaat gerichtete unionsbürgerliche Aufen-thaltsrecht.

26 EuGH (Garcia Avello), Rn. 26 ff. (Fn. 11); EuGH (Zuh und Chen), Rn. 18 f. (Fn. 6). Dazu auch Seyr/Rühmke (Fn. 10), S. 674 f. Anders wohl Borchardt, Der sozialrechtliche Gehalt der Unionsbürgerschaft, NJW 2000, S. 2057 (2059); Staeglich, Rechte und Pflichten aus der Unionsbürgerschaft, ZEuS 2003, S. 485 (506 ff.), die unter Verweis auf die Unionsbürgerschaft eine Erweiterung des sachlichen Anwendungsbereichs des Vertrags auf reine Inlandssachverhalte befürworten.

27 EuGH, Rs. C-299/95 (Kremzow), Slg. 1997, I-2629, Rn. 16, für den Fall einer strafrechtlichen Verurteilung. Prinzipiell – so der EuGH – sei eine Beeinträchtigung des Freizügigkeitsrechts durch Freiheitsentzug jedoch möglich.

Kubicki, Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft EuR – Heft 4 – 2006 493

Während sich das grenzüberschreitende Moment im Fall des Rechts auf freie Bewegung aus dem (bevorstehenden oder erfolgten) pysischen Aufenthaltswech-sel ergibt, ist ein tatsächlicher Grenzübertritt für die Geltendmachung des Aufent-haltsrechts nicht zwingend erforderlich. In der Rechtssache Zhu und Chen erwarb das Kind chinesischer Eltern die irische Staatsangehörigkeit nach dem ius soli-Grundsatz durch Geburt in Nordirland. Ohne mit ihrer Tochter das Vereinigte Königreich verlassen zu haben, berief sich die Mutter im Namen ihrer Tochter anschließend auf Art. 18 Abs. 1 EG, um ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht für sich und ihr Kind zu erhalten. Den im Verfahren geltend gemachten Einwand des rein innerstaatlichen Sachverhalts wies der EuGH unter Verweis auf die rechtmäßig erworbene irische Staatsangehörigkeit zurück. In solchen Konstellationen ergibt sich das grenzüberschreitende Moment daher allein aus dem formalen Band der mitgliedstaatlichen Staatsangehörigkeit und nimmt insoweit statischen Charakter an28. An dieser Stelle wird auch der Unterschied zu den Personenverkehrsfreihei-ten deutlich, bei denen der grenzüberschreitende Austausch des Produktionsfak-tors Arbeit im Vordergrund steht und sich im mitgliedstaatlichen Aufenthalts-wechsel der Arbeitnehmer oder Selbständigen manifestiert. Folgerichtig steht das Aufenthaltsrecht dort auch in einem akzessorischen Verhältnis zur jeweiligen Grundfreiheit. Indem der Gerichtshof das Vorliegen einer mitgliedstaatlichen Staatsangehörigkeit für die Berufung auf das unionsbürgerliche Aufenthaltsrecht genügen lässt, trägt er der Einführung der Unionsbürgerschaft sowie der Entkop-pelung des Rechts auf freien Aufenthalt von der Ausübung wirtschaftlicher Tätig-keiten Rechnung und unterstreicht hierdurch die eigenständige Bedeutung des Art. 18 Abs. 1 EG. In der Rechtssache Garcia Avello, der eine Kombination von Art. 12 Abs. 1 EG und Art. 18 Abs. 1 EG zugrunde lag (vgl. auch III. 1.), geht der Gerichtshof sogar einen Schritt weiter und lässt es genügen, dass zwei belgisch-spanische Staatsan-gehörige in Belgien – ohne selbiges je verlassen zu haben – unter Berufung auf ihre spanische Staatsangehörigkeit die genannten Vertragsbestimmungen im Zu-sammenhang mit dem belgischen Namensrecht geltend machen können (dazu auch o. III. 1.). Grenzüberschreitendes Moment ist auch in dieser Rechtssache allein die (jeweils andere) mitgliedstaatliche Staatsangehörigkeit; ein reiner In-landsfall ist bei EG-Mehrstaatlern daher stets ausgeschlossen. Die völkerrechtlich zulässige Bevorzugung der eigenen Staatsangehörigkeit29 wird bei EG-Mehr-staatlern dadurch gemeinschaftsrechtlich ausgeschlossen.

28 So auch – allerdings kritisch – Mörsdorf-Schulte, Europäische Impulse für Namen und Status des Mehrstaa-

ters, IPRax 2004, S. 315 (317 f.). 29 Siehe Art. 3 des Haager Übereinkommens von 12.4.1930 über einzelne Fragen beim Konflikt von Staatsange-

hörigkeiten (League of Nations Treaty Series, Bd. 179, S. 89). Vgl. EuGH (Garcia Avello), Rn. 28 (Fn. 11).

494 EuR – Heft 4 – 2006 Kubicki, Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft

4. Diskriminierungs- und/oder Beschränkungsverbot?

Ein weiterer Unterschied zu den Grundfreiheiten besteht auf der Eingriffsebene. Sowohl die teilweise propagierte Übertragung der grundfreiheitlichen Kategorien des Diskriminierungs- und Beschränkungsverbots auf Art. 18 Abs. 1 EG30 als auch dessen Qualifizierung als spezielle Ausprägung des Art. 12 Abs. 1 EG31 finden in der Rechtsprechung des EuGH keine Stütze. In keinem seiner Urteile legt der Gerichtshof einen auf unterschiedslose Maßnahmen bezogenen Verbots-inhalt im Sinne einer eigenständigen, von einer Ungleichbehandlung zu unter-scheidenden Kategorie zugrunde. Soweit den Rechtssachen eine Kombination von Art. 18 Abs. 1 EG mit einem der beiden Diskriminierungsverbote zugrunde liegt, ist das Freizügigkeitsrecht allein für die Eröffnung des sachlichen Anwen-dungsbereichs von Bedeutung32. Die geltend gemachte Ungleichbehandlung be-zieht sich dagegen auf Rechtspositionen, die mit dem unionsbürgerlichen Aufent-halts- und Bewegungsrecht zwar im (tatsächlichen) Zusammenhang stehen, aber als solche darüber hinausgehen (wie etwa Studienbeihilfen oder Überbrückungs-geld) und wird ausschließlich auf Art. 12 Abs. 1 EG oder das von der Staatsange-hörigkeit unabhängige Diskriminierungsverbot gestützt (s.u. III. 1., IV.)33. Ein Rückgriff auf die grundfreiheitlichen Kategorien des Diskriminierungs- und Beschränkungsverbots erfolgt auch nicht in den Urteilen, die ausschließlich Art. 18 Abs. 1 EG zum Gegenstand haben. Die Verweigerung einer darauf ge-stützten Aufenthaltserlaubnis34 sowie die sich aus (unterschiedslosen) Personen-kontrollen bei der Einreise ergebenden Behinderungen35 sah der EuGH als Ein-griffe an, ohne dabei zwischen Diskriminierung und Beschränkung zu unterschei-den. Eine solche Unterscheidung würde auch im Wortlaut und der Teleologie der unionsbürgerlichen Freizügigkeit keine Stütze finden. Der Formulierung des Art. 18 Abs. 1 EG ist weder ein Gleichbehandlungsgebot noch ein Beschrän-kungsverbot zu entnehmen. Ferner ergibt sich vor allem aus der sekundärrechtli-chen Ausgestaltung des Schrankenvorbehalts in Art. 18 Abs. 1 EG, dass in Fragen des Aufenthalts- und Bewegungsrechts für EG-Ausländer weiterhin ein Sonderre-gime gilt, im Vergleich zu EG-Inländern eine Ungleichbehandlung gemein-

30 So explizit bei Kadelbach, in: Ehlers (Fn. 6), § 21, Rn. 42, 45, wonach zwischen den personenbezogenen

Grundfreiheiten und der Freizügigkeit „im Hinblick auf die denkbaren Eingriffe keine Unterschiede“ beste-hen.

31 Magiera, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 18 EGV, Rn. 8, 15; unklar Hilf, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Band I, Art. 18 EGV, Rn. 7. Vgl. auch Bode, Von der Freizügigkeit zur sozialen Gleichstellung aller Unionsbürger?, EuZW 2003, S. 552 (555 f.), m.w.N.

32 Vgl. etwa EuGH (Bidar), Rn. 32 ff. (Fn. 23); EuGH (D’Hoop), Rn. 29 (Fn. 11). 33 EuGH (Bidar), Rn. 63 (Fn. 23); EuGH (D’Hoop), Rn. 35 (Fn. 11). So auch Kanitz/Steinberg, Grenzenloses

Gemeinschaftsrecht?, EuR 2003, S. 1013 (1018 f.), insb. Fn. 4; sowie Obwexer, Anmerkung zu EuGH (Grzelczyk), EuZW 2002, S. 56, im Hinblick auf die Kombination von Art. 12 Abs. 1 EG und Art. 18 Abs. 1 EG. Anders dagegen noch Borchardt (Fn. 25), S. 2059.

34 EuGH (Baumbast), Rn. 93 (Fn. 6); EuGH (Zhu und Chen), Rn. 33 (Fn. 6). 35 EuGH (Wijsenbeek), Rn. 41 ff. (Fn. 21).

Kubicki, Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft EuR – Heft 4 – 2006 495

schaftsrechtlich vorgegeben oder zumindest akzeptiert ist36. Raum für die An-wendung eines in Art. 18 Abs. 1 EG verorteten Diskriminierungsverbots – und damit auch des Beschränkungsverbots – bliebe nur außerhalb der durch das Se-kundärrecht gezogenen Grenzen. Zwar sind Ungleichbehandlungen und auch (unterschiedslose) Beschränkungen in den dann noch verbleibenden Fällen mög-lich37. Ob solche Konstellationen indes Anlass bieten, um Eingriffe zu kategori-sieren, ist sehr fraglich – insbesondere im Vergleich zu den Grundfreiheiten, de-ren wirtschaftsbezogener sachlicher Anwendungsbereich sehr weit gefasst ist. Dort wird der Gewährleistungsgehalt zu einem wesentlichen Teil über den Ein-griffsbegriff und die Kategorien der Diskriminierung und Beschränkung gesteu-ert38. Vergleichbare Fragen stellen sich angesichts des begrenzten sachlichen Anwendungsbereiches im Rahmen der unionsbürgerlichen Freizügigkeit nicht. Sinn und Zweck des Art. 18 Abs. 1 EG lassen es daher genügen, dass in Bezug auf den Eingriff allein maßgeblich ist, ob eine der durch diese Bestimmung ge-währten Rechtspositionen in irgendeiner Weise beeinträchtigt wird39 bzw. ob der Aufenthalt als solcher rechtmäßig ist.

5. Vorbehalt sozialer Absicherung

Bei den Beschränkungen und Bedingungen, denen Art. 18 Abs. 1 EG seinem Wortlaut nach unterliegt40, steht der sekundärrechtlich ausgestaltete sog. Vorbe-halt sozialer Absicherung im Vordergrund41. Die insoweit auch beim Freizügig-keitsrecht anwendbaren primärrechtlichen Schranken zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit (Art. 39 Abs. 3 EG, Art. 46 Abs. 1 EG,

36 Vgl. Kadelbach, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 548 (zum Verhältnis Unionsbür-

gerschaft und Staatsangehörigkeit) und S. 553 (zur unionsbürgerlichen Freizügigkeit). 37 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-24/97 (Kommission/Deutschland), Slg. 1998, I-2133, Rn. 13 ff., in der es um eine

gegen Art. 39, 43, 49 EG sowie die einschlägigen Richtlinien verstoßende diskriminierende Behandlung von EG-Ausländern bei Verstößen gegen die Ausweispflicht hinsichtlich des Verschuldensmaßstabs und des Buß-geldrahmens ging.

38 Deutlich wird dies vor allem an der Keck-Formel, vgl. allgemein Ehlers, in: Ehlers (Fn. 6), § 7, Rn. 25 ff.; sowie speziell für die Warenverkehrsfreiheit Epiney, in: Ehlers (Fn. 6), § 8, Rn. 37 ff.

39 So im Ergebnis auch Kluth, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 18 EGV, Rn. 5, der hierfür jedoch den Begriff „Beschränkung“ wählt. Im Ergebnis bestätigt wird die hier vertretene Auffassung durch EuGH (De Cuyper), Rn. 39 (Fn. 25). Zwar wird auch dort der Begriff „Beschränkung“ verwendet, das be-schränkende Moment folgt jedoch nicht aus einer unterschiedslosen Beeinträchtigung, sondern daraus, dass „einige Staatsangehörige […] benachteiligt [werden]“ im Zusammenhang mit einer Leistung bei Arbeitslo-sigkeit.

40 Eine rechtliche Differenzierung zwischen diesen beiden Begriffen scheint der EuGH (bisher) nicht vorzuneh-men, vgl. EuGH (Baumbast), Rn. 87 ff. (Fn. 6); EuGH (Grzelczyk), Rn. 42 f. (Fn. 1). So auch Wollenschläger, Aufenthalt und Sozialhilfe für Unionsbürger ohne wirtschaftliche Tätigkeit, EuZW 2005, S. 309 (311).

41 Ausführlich hierzu Scheuing (Fn. 4), S. 769 ff. In einem neueren Urteil prüft der EuGH auch die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige (…) als sekundärrechtliche Schranke des Freizügigkeitsrechts, vgl. EuGH (De Cuyper), Rn. 36 ff. (Fn. 25). Im Ergebnis verwirft der Gerichtshof die geprüften Verordnungsbestimmungen jedoch als nicht einschlägig.

496 EuR – Heft 4 – 2006 Kubicki, Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft

Art. 55 EG – sog. ordre-public-Vorbehalt) spielen dagegen keine nennenswerte Rolle42. Die Voraussetzung, wonach ein Unionsbürger über eine alle Risiken im Aufnah-mestaat erfassende Krankenversicherung und ausreichende Existenzmittel verfü-gen muss, um ein Aufenthaltsrecht geltend zu machen, wurde mit den drei Auf-enthaltsrichtlinien eingeführt und von der neuen Freizügigkeitsrichtlinie mit ge-ringfügigen Modifizierungen übernommen43. Entfallen diese Voraussetzungen, kann der Mitgliedstaat aufenthaltsbeendende Maßnahmen ergreifen. Erst diese wirken konstitutiv, ein automatischer Verlust des Aufenthaltsrechts ist nach der Rechtsprechung des EuGH ausgeschlossen44. Entscheidende Bedeutung kommt dabei dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu, an dem aufenthaltsbeendende (und in anderer Weise eingreifende) Maßnahmen zu messen sind. Bei dessen Anwen-dung ist zu beachten, dass Art. 18 Abs. 1 EG als „fundamentale[r] Grundsatz“ des Gemeinschaftsrechts weit auszulegen ist45. Im Ergebnis geht der EuGH dabei zwar über eine reine Missbrauchskontrolle hinaus46. Die Beendigung des Aufent-haltsrechts schon allein wegen des Fehlens ausreichender Existenzmittel oder einer nicht umfassenden Krankenversicherung wäre jedoch unverhältnismäßig47. Der Aufnahmemitgliedstaat muss alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigen, wie z.B. Dauer der finanziellen Schwierigkeiten oder die Verantwortung des Uni-onsbürgers für diese Situation48.

6. Allgemeiner Rechtfertigungsmaßstab für Eingriffe in Art. 18 Abs. 1 EG

Zusätzlich zum Vorbehalt sozialer Absicherung und den geschriebenen primär-rechtlichen Schranken hat der EuGH – zum Teil unter Rückgriff auf die Erwä-gungsgründe der Aufenthaltsrichtlinien, wonach die öffentlichen Finanzen nicht über Gebühr belastet werden dürfen – Art. 18 Abs. 1 EG für die Anwendung eines ungeschriebenen und abstrakt formulierten Rechtfertigungsgrundes geöff-

42 Maßgeblich ist allerdings auch insoweit die sekundärrechtliche Konkretisierung dieser Schutzgründe, vgl.

EuGH, verb. Rs. C-482/01 u. C-493/01 (Orfanopoulos), Slg. 2004, I-5257, Rn. 46 ff. (55). Mit Wirkung zum 30.04.2006 ist nunmehr auch hier allein die Richtlinie 2004/38/EG (Fn. 7) einschlägig. Dazu Hailbronner, Die Unionsbürgerrichtlinie und der ordre public, ZAR 2004, S. 299 (302 f.).

43 Siehe jeweils Art. 1 der Aufenthaltsrichtlinien (Fn. 7) sowie Art. 7 Abs. 1 lit. b und c Richtlinie 2004/38/EG (Fn. 7). Hierzu und zu sonstigen Fragen bzgl. der neuen Richtlinie Hailbronner, Neue Richtlinie zur Freizü-gigkeit der Unionsbürger, ZAR 2004, S. 259 (260 ff.). So besteht die Pflicht zum Nachweis umfassender Krankenversicherung und ausreichender Existenzmittel erst ab einer Aufenthaltsdauer von über drei Monaten (vgl. Art. 14 Abs. 2 i.V. m. Art. 6 sowie Art. 7 Abs. 1 lit. b und c). Der Vorbehalt sozialer Absicherung ent-fällt dagegen gänzlich, sofern die betreffende Person nach einem fünfjährigen ununterbrochenen rechtmäßi-gen Aufenthalt das Recht auf Daueraufenthalt erwirbt (Art. 16).

44 EuGH (Grzelczyk), Rn. 43 (Fn. 1); EuGH, Rs. C-456/02 (Trojani), Slg. 2004, I-7573, Rn. 45. 45 EuGH (Zuh und Chen), Rn. 31 (Fn. 6). Siehe auch EuGH (Orfanopoulos), Rn. 65 (Fn. 42). 46 Darauf beschränkend Borchardt (Fn. 25), S. 2060; vgl. ferner Scheuing (Fn. 4), S. 772. Siehe auch EuGH

(Zuh und Chen), Rn. 34 (Fn. 6), wonach eine rechtmissbräuchliche Inanspruchnahme des Gemeinschafts-rechts auch im Rahmen der Unionsbürgerschaft unterbunden werden kann.

47 Vgl. etwa EuGH (Baumbast), Rn. 93 (Fn. 6). 48 EuGH (Grzelczyk), Rn.44 f. (Fn. 1). Vgl. auch Bode (Fn. 31), S. 555. Kritisch hierzu Sander, Die Unionsbür-

gerschaft als Türöffner zu mitgliedstaatlichen Sozialversicherungssystemen?, DVBl. 2005, S. 1014 (1021 f.).

Kubicki, Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft EuR – Heft 4 – 2006 497

net. Während der Gerichtshof in den Rechtssachen Baumbast sowie Zuh und Chen feststellt, dass die „die Wahrnehmung des Aufenthaltsrechts der Unions-bürger von der Wahrung der berechtigten Interessen der Mitgliedstaaten abhän-gig gemacht werden kann […]“49, greift er in der Rechtssache De Cuyper auf den Begriff des Allgemeininteresses zurück50. Unabhängig von der gewählten Formu-lierung wird den Mitgliedstaaten folglich Raum gelassen, Einschränkungen der Freizügigkeit auch aus anderen als finanziell motivierten Gründen vorzunehmen, soweit hierfür neben den Schutzgütern der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit noch Bedarf besteht. Ob es sich hierbei um eine eigenständige Rechtsfertigungskategorie oder um die den Grundfreiheiten entliehene Rechtfer-tigung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses handelt, ist aufgrund der nicht einheitlichen Terminologie einstweilen noch offen.

7. EG-Grundrechte als Schranke-Schranke?

In der Rechtsprechung des EuGH ist bisher ungeklärt, ob mitgliedstaatliche Ein-griffe in Art. 18 Abs. 1 EG – ähnlich wie bei den Grundfreiheiten51 – auch an den EG-Grundrechten zu messen sind52. In der Rechtssache Zhu und Chen berief sich das vorlegende Gericht im Zusammenhang mit Art. 18 Abs. 1 EG zwar auf das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens aus Art. 8 EMRK53. Es ging dabei allerdings nicht um dessen Funktion als Schranken-Schranke, sondern um eine über den Wortlaut des Art. 18 Abs. 1 EG hinausgehende Erweiterung des persön-lichen Anwendungsbereichs um die drittstaatsangehörige Mutter einer minderjäh-rigen Unionsbürgerin. Im Ergebnis wurde die Erweiterung jedoch allein mit der praktischen Wirksamkeit des Aufenthaltsrechts des minderjährigen Kindes be-gründet und die Frage nach der Bedeutung der EG-Grundrechte im Rahmen des

49 EuGH (Baumbast), Rn. 90 (Fn. 6); EuGH (Zuh und Chen), Rn. 32 (Fn. 6). 50 EuGH (De Cuyper), Rn. 40 (Fn. 25). Bereits vor dieser Rechtssache wurde im Schrifttum die Auffassung

vertreten, dass eine Rechtfertigung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses auch im Rahmen des Art. 18 Abs. 1 EG möglich ist, so vor allem Obwexer (Fn. 33), S. 58; Scheuing (Fn. 4), S. 778 f.; auch Bode (Fn. 31), S. 555.

51 EuGH, Rs. C-368/95 (Familapress), Slg. 1997, I-3689, Rn. 24; EuGH, Rs. C-260/89 (ERT), Slg. 1991, I-2925, Rn. 43. Hierzu Frenz, Freiheitsbeschränkungen durch Grundrechte, EWS 2005, S. 15 (16 f.) sowie Eh-lers, in: Ehlers (Fn. 6), § 7, Rn. 94; § 14, Rn. 13.

52 Vgl. hierzu und den damit verbundenen Problemen ausführlich v. Bogdandy/Bitter (Fn. 1), S. 320 ff. Eine entsprechende Konstellation lag zwar bereits der Rechtssache des EuGH (Kremzow), Rn. 12 f. (Fn. 26), zugrunde. Aufgrund der nur hypothetischen Betroffenheit der unionsbürgerlichen Freizügigkeit durch einen Freiheitsentzug lehnte der Gerichtshof jedoch bereits den Gemeinschaftsbezug ab, so dass die Frage nach der Beachtung der EG-Grundrechte nicht mehr beantworten werden brauchte.

53 EuGH (Zuh und Chen), Rn. 32 (Fn. 6).

498 EuR – Heft 4 – 2006 Kubicki, Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft

Art. 18 Abs. 1 EG allgemein offen gelassen54. Für eine Übertragung der Schran-ken-Schranken-Funktion der EG-Grundrechte auf die unionsbürgerliche Freizü-gigkeit spricht die den Grundfreiheiten vergleichbare Konstellation55. Auch bei Art. 18 Abs. 1 EG handelt es sich um eine EG-vertraglich verbürgte Rechtspositi-on des Einzelnen, deren mitgliedstaatliche Beeinträchtigungen mit dem primären Gemeinschaftsrecht im Übrigen – insb. den EG-Grundrechten – vereinbar sein müssen56. Auf diese Weise würde Art. 18 Abs. 1 EG ebenfalls zum „Transmissi-onsriemen“57 für die Erstreckung des Anwendungsbereichs der EG-Grundrechte werden. Einstweilen bleibt jedoch die weitere Rechtsprechung abzuwarten.

8. Art. 18 Abs. 1 EG als Recht sui generis

Die vorangehenden Ausführungen machen deutlich, dass sich die unionsbürgerli-che Freizügigkeit weder als EG-Grundrecht noch als Grundfreiheit einordnen lässt. Einen grenzüberschreitenden Moment voraussetzend und primär gegen die Mitgliedstaaten gerichtet, entspricht Art. 18 Abs. 1 EG trotz der Aufnahme seiner Gewährleistungen in Art. 45 der Grundrechtscharta nicht dem Bild klassischer EG-Grundrechte, deren primäre Funktion in der Bändigung der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft liegt58, unabhängig von dem Vorliegen eines grenzüberschreiten-den Sachverhalts59. Gegen eine grundrechtliche Einordnung spricht zudem der Vorbehalt sozialer Absicherung, der die Inanspruchnahme der unionsbürgerlichen Freizügigkeit letztlich an finanzielle Voraussetzungen knüpft60. Diese Aspekte lassen sich in umgekehrter Hinsicht zwar für eine Zuordnung zu den Grundfrei-heiten anführen61. Hiergegen streitet jedoch die Loslösung der aus Art. 18 Abs. 1 EG folgenden Rechte auf Aufenthalt und Bewegung von der Ausübung einer alle Grundfreiheiten beherrschenden wirtschaftlichen Tätigkeit. Auch die fehlende Relevanz der grundfreiheitlichen Kategorien der Diskriminierung und der Be-schränkung auf der Eingriffsebene unterstreicht die strukturellen Unterschiede zu den Grundfreiheiten und spricht für eine eigenständige Position des unionsbürger-

54 Anders v. Bogdandy/Bitter (Fn. 1), S. 321, die davon ausgehen, dass der EuGH die Erweiterung im Ergebnis

auf das EG-Grundrecht stützt. Unter der Prämisse einer Verschmelzung von Art. 18 Abs. 1 EG mit Art. 12 Abs. 1 EG sowie einer Fortentwicklung des Art. 18 Abs. 1 EG hin zum Beschränkungsverbot sehen die bei-den Autoren zudem eine weitergehende Erstreckung des Anwendungsbereich der EG-Grundrechte. Nach der hier vertretenen Auffassung sind solche Ansätze jedoch abzulehnen (vgl. oben II. 2. u. 4.), so dass die Frage nach der Funktion der EG-Grundrechte im Rahmen des Art. 12 Abs. 1 EG bzw. dem von der Staatsangehö-rigkeit unabhängigen Diskriminierungsverbot unabhängig von Art. 18 Abs. 1 EG und nur auf Grundlage des jeweiligen Gleichbehandlungsgebote zu beantworten ist.

55 Für die an dieser Stelle nicht zu erörternden grundsätzlichen Bedenken gegen diese Rechtsprechung siehe Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 39), Art. 6 EUV, Rn. 62 m.w.N.; Kanitz/Steinberg (Fn. 33), S. 1022 f., so-wie v. Bogdandy/Bitter (Fn. 1), S. 321 f.

56 So die Argumentation in Bezug auf die Anwendung der EG-Grundrechte im Rahmen der Grundfreiheiten EuGH (ERT), Rn. 41 (Fn. 51). Vgl. auch Ehlers, in: Ehlers (Fn. 6), § 7, Rn. 94.

57 Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 39), Art. 6 EUV, Rn. 60. 58 Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fn. 39), Art. 6 EUV, Rn. 45. 59 So auch Seyr/Rühmke (Fn. 10), S. 672. 60 Gebauer, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschafsgrundrechte, 2004, S. 214 ff. 61 Für eine solche Einordnung Seyr/Rühmke (Fn. 10), S. 672 f. m.w.N.

Kubicki, Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft EuR – Heft 4 – 2006 499

lichen Freizügigkeitsrechts im System der EG-vertraglichen gewährleisteten sub-jektiven Rechte. Daran ändert auch der Rückgriff auf die Rechtfertigung aus Gründen des Allgemeininteresses in der Rechtssache De Cuyper nichts, da es sich hierbei zwar um eine ungeschriebene, aber letztlich im Vertrag ebenso vorgese-hene „Beschränkung“ des Art. 18 Abs. 1 EG handelt wie im Fall der geschriebe-nen Rechtfertigunggründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit.

III. Art. 18 Abs. 1 EG und das allgemeine Diskriminierungsverbot nach der Staatsangehörigkeit

Von weitaus größerer Bedeutung für die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft als das unionsbürgerliche Freizügigkeitsrecht ist dessen Zu-sammenspiel mit Art. 12 Abs. 1 EG. Das Zusammenwirken beider Vorschriften erfasst gemeinschaftswidrige Ungleich- und Gleichbehandlungen von nicht-er-werbstätigen EG-Ausländern durch den Aufnahmestaat und wirkt nicht nur als Abwehr-, sondern vor allem als Teilhaberecht62. Diese mit der Rechtssache Grzelczyk eingeleitete Entwicklung bestätigte der EuGH inzwischen mehrfach (1.) und dehnte sie in den Entscheidungen Trojani (2.) und Schempp (3.) sogar aus.

1. Die Grzelczyk-Rechtsprechung

Ausgangspunkt der Grzelczyk-Rechtsprechung ist der Rückgriff auf Art. 18 Abs. 1 EG für die Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereichs des Art. 12 Abs. 1 EG. In Grzelczyk stellte der EuGH erstmals fest, dass neben den Grund-freiheiten auch solche Situationen in den sachlichen Anwendungsbereich einbe-zogen werden, „die zur Ausübung der durch Artikel 8a EG-Vertrag [Art. 18 EG] verliehenen Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten, gehören.“63 Auf Grundlage dieser Konstruktion war es einem fran-zösischen Studenten im Ausgangsrechtsstreit möglich, die Nichtgewährung von Sozialhilfe durch den belgischen Staat an Art. 12 Abs. 1 EG messen und letztlich für unvereinbar erklären zu lassen. In gleicher Weise entschied der EuGH in der Rechtssache Bidar, in der es um englische Studienstipendien ging, deren Vergabe an EG-ausländische Studierende de facto ausgeschlossen war64. Der Anwen-dungsbereich des Art. 12 Abs. 1 EG wurde über das unionsbürgerliche Aufent-haltsrecht des französischen Studenten eröffnet und die englische Regelung zum Teil als unvereinbar mit dem Diskriminierungsverbot angesehen. Zwar wurden in den beiden genannten Rechtssachen zusätzlich zu Art. 18 Abs. 1 EG die Aufent- 62 Hierzu bereits Borchardt (Fn. 25), S. 2058; vgl. auch Staeglich (Fn. 25), S. 504. 63 EuGH (Grzelczyk), Rn. 30 ff. (Fn. 1). 64 EuGH (Bidar), Rn. 28 ff. (Fn. 23). Zu den Auswirkungen der neuen Richtlinie 2004/38/EG (Fn. 7) auf den

Bereich der Ausbildungsförderung, Armbrecht, Ausbildungsförderung für Studenten – Gleicher Zugang für Unionsbürger, ZEuS 2005, S. 177 (203 f.).

500 EuR – Heft 4 – 2006 Kubicki, Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft

haltsrichtlinien und das durch den Vertrag von Maastricht eingeführte EG-Ver-tragskapitel über allgemeine und berufliche Bildung (Art. 149 – 150 EG) heran-gezogen.65 Dieser Begründungsaufwand ist jedoch allein dem Umstand geschul-det, dass der EuGH unter Verweis auf die Fortentwicklung des Gemeinschafts-rechts die Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung bzgl. sozialer Leistungen für Studierende begründen musste66. Die alleinige Bedeutung des Art. 18 Abs. 1 EG für die Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereichs des Art. 12 Abs. 1 EG unterstreicht schließlich die Rechts-sache Garcia Avello, in der es um Fragen der Namensführung ging67. Zwar falle, so der EuGH, diese Materie beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nicht in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, „doch müssen diese bei der Aus-übung dieser Zuständigkeit gleichwohl das Gemeinschaftsrecht beachten […], insbesondere die […] jedem Unionsbürger zuerkannte Freiheit, sich im Hoheits-gebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten […].“68 Im Ausgangs-rechtsstreit begehrte ein spanischer Vater für seine in Belgien lebenden belgisch-spanischen Kinder entgegen dem belgischen IPR, das eine Namensgebung nach belgischem Recht vorsah, die Anwendung spanischen Rechts69. Da sich die Kin-der auf das unionsbürgerliche Aufenthaltsrecht berufen konnten (vgl. oben II. 3.), war der sachliche Anwendungsbereich des Art. 12 Abs. 1 EG eröffnet. Im Ergeb-nis gelangte der EuGH aufgrund der namensrechtlichen Gleichstellung der bel-gisch-spanischen Kinder mit Belgiern zu einer gemeinschaftsrechtswidrigen Gleichbehandlung von Ungleichem70. Aus Art. 12 Abs. 1 EG folgte demnach im konkreten Fall ein Gebot zur Namensgebung nach spanischem Recht und damit eine Besserstellung der EG-Ausländer gegenüber Belgiern, denen diese Möglich-keit nach belgischem Recht nicht offen steht. Die Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereichs des Art. 12 Abs. 1 EG erfolgt nach der Grzelczyk-Rechtsprechung demnach allein über Art. 18 Abs. 1 EG. Die Besonderheit dieser Konstruktion liegt darin begründet, dass diese Verbindung unabhängig von der in inhaltlicher Hinsicht betroffenen Materie zur Anwendung gelangt. Ausreichend ist, dass sich nationale Vorschriften auf sich rechtmäßig im Aufnahmestaat aufhaltende ausländische Unionsbürger auswirken. Art. 12 Abs. 1 EG erstreckt sich damit im Grundsatz auf alle Sachbereiche nationaler Zuständig-keiten, mit denen ein Unionsbürger im Rahmen der Ausübung seines Bewegungs-

65 Vgl. EuGH (Grzelczyk), Rn. 34 ff. (Fn. 1); EuGH (Bidar),Rn. 38 ff. (Fn. 23). 66 Vgl. etwa EuGH, Rs. 197/86 (Brown), Slg. 1988, 3205, Rn. 17 ff., wonach Leistungen, die nicht im Zusam-

menhang mit dem Zugang zur Ausbildung stehen, vom Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts ur-sprünglich nicht erfasst wurden. Dazu auch Streinz, in: Streinz (Fn. 31), Art. 12 EGV, Rn. 20.

67 EuGH (Garcia Avello), Rn. 25 (Fn. 11). Zu den hier nicht weiter relevanten Auswirkungen auf das IPR Mörsdorf-Schulte (Fn. 28), S. 315 ff., sowie Frank, Die Entscheidung des EuGH in Sachen Garcia Avello und ihre Auswirkung auf das internationale Namensrecht, Das Standesamt 2005, S. 160 ff.

68 EuGH (Garcia Avello), Rn. 25 (Fn. 11). 69 Danach setzt sich der Name der Kinder aus dem ersten Nachnamen des Vaters und dem ersten der Mutter

zusammen. Eine solche Möglichkeit sah das belgische Recht nicht vor. 70 EuGH (Garcia Avello), Rn. 45 (Fn. 11). Kritisch zu der allein Art. 12 Abs. 1 EG betreffenden Frage des

Prüfungsmaßstabs Frank (Fn. 67), S. 161.

Kubicki, Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft EuR – Heft 4 – 2006 501

und Aufenthaltsrechts in Berührung kommen kann. Damit erkennt der EuGH prinzipiell an, dass auch nicht-erwerbstätigen EG-Ausländern ein Recht auf Voll-integration zusteht, solange sie rechtmäßig die unionsbürgerliche Freizügigkeit in Anspruch nehmen71. Nach der Rechtssache Garcia Avello kann sich darüber hin-aus sogar ein Recht auf Besserstellung ergeben. Mit dieser Erweiterung des sachlichen Anwendungsbereichs des Art. 12 Abs. 1 EG schreibt der EuGH seine im Schrifttum treffend mit dem Begriff der „akzes-sorischen Freiheitssicherung“72 bezeichnete Rechtsprechung fort73. Danach ist der Anwendungsbereich des EG-Vertrags immer dann eröffnet, wenn sich nationales Recht – auch nur mittelbar74 – auf die Wahrnehmung von Grundfreiheiten aus-wirkt75. In Fällen, in denen die Zuständigkeit für die relevante Materie bei den Mitgliedstaaten verblieben ist, kommt den Grundfreiheiten über Art. 12 Abs. 1 EG die Funktion gemeinschaftsrechtlicher „Kompetenzausübungsschranken“76 zu, obwohl der grundfreiheitliche Anwendungsbereich die Ungleichbehandlung selbst nicht erfasst77. Angesichts der Bedeutung des Art. 18 Abs. 1 EG als grund-legendes Unionsbürgerrecht ist der Rückgriff auf diese Bestimmung im Rahmen der Rechtsprechung der „akzessorische Freiheitssicherung“ nur konsequent78. Nunmehr wirkt auch Art. 18 Abs. 1 EG in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 EG als Kompetenzausübungsschranke für die den Mitgliedstaaten verbliebenen Zustän-digkeiten wie etwa den Bereichen der Bildungs- und Sozialpolitik, in denen die Gemeinschaft lediglich auf Förder- (vgl. Art. 149 Abs. 4, Art. 137 EG) oder Ko-ordinierungsmaßnahnahmen (Art. 42 EG) beschränkt ist (vgl. auch Art. 18 Abs. 3 EG)79. Die hierdurch im Vergleich mit der bisherigen Rechtsprechung einherge-hende Ausdehnung der inhaltlichen Reichweite des Art. 12 Abs. 1 EG ist ange-sichts der fehlenden Zweckgebundenheit des unionsbürgerlichen Freizügigkeits-rechts lediglich eine notwendige Folge.

71 So bereits Obwexer (Fn. 33), S. 57; Letzner, Sozialhilfe für Student aus anderem Mitgliedstaat, JuS 2003,

S. 119 (120 ff.); Scheuing (Fn. 4), S. 785, allerdings nur in Bezug auf Art. 18 Abs.1 EG; Niemann (Fn. 3), S. 949. Vorher schon Holoubek, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 12 EGV, Rn. 31; v. Bog-dandy/Bitter (Fn. 1), S. 317. Ablehnend Bode (Fn. 31), S. 557; dies., Anmerkung zu EuGH (Bidar), EuZW 2005, S. 279 (280 f.).

72 V. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Fn. 31), Art. 12 EGV, Rn. 41 ff., 46. 73 Vgl. Obwexer (Fn. 33), S. 57. 74 Einschränkender Bode (Fn. 71), S. 280, wonach Auswirkungen nur dann in den sachlichen Anwendungsbe-

reich fallen, wenn sie einer effektiven Gewährleistung der Grundfreiheiten im Wege stehen. 75 EuGH, verb. Rs. C-92/92 und C-326/92 (Phil Collins), Slg. 1993, I-5145, Rn. 27; EuGH, Rs. C-43/95 (Data

Delecta), Slg. 1996, I-4661, Rn. 15; EuGH, Rs. C-323/95 (Hayes), Slg. 1997, I-1711, Rn. 16 f. 76 Kanitz/Steinberg (Fn. 33), S.1023, m.w.N. 77 Vgl. EuGH (Data Delecta), Rn. 13 (Fn. 75); EuGH (Hayes), Rn. 14 (Fn. 75). 78 Streinz, Anmerkung zu EuGH (Grzelczyk), JuS 2002, S. 387 (389). Vgl. auch Bode (Fn. 71), S. 280; , dies.

(Fn. 31), S. 556, die allerdings im Ergebnis eine einengende Auslegung befürwortet. 79 Zu Kompetenzverteilung vgl. Kanitz/Steinberg (Fn. 33), S. 1029 ff., für den Bereich des Sozialrechts; Bode

(Fn. 71), S. 280, für den Bereich des Bildungsrechts.

502 EuR – Heft 4 – 2006 Kubicki, Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft

Insbesondere im Hinblick auf die damit verbundenen sozialrechtlichen Implikati-onen hat die Grzelczyk-Rechtsprechung im Schrifttum viel Kritik hervorgerufen80, auf die im Folgenden aber nur kurz Bezug genommen wird. Einer der Hauptvor-würfe bezieht sich auf die durch den Rückgriff auf Art. 18 Abs. 1 EG bewirkte Missachtung der „begrenzten Thematik des EG-Vertrags“, welche durch das Merkmal des sachlichen Anwendungsbereichs gesichert werden soll81. Dieses Argument ist jedoch nur dann haltbar, wenn man für die Frage der thematischen Begrenzung des EG-Vertrags maßgeblich auf die Bereiche abgestellt, aus denen sich die Diskriminierung ergibt (etwa Sozial- oder Bildungsrecht) und nicht auf die Situationen, auf die sich die Diskriminierung auswirkt (Art. 18 Abs. 1 EG). Führte man diesen Ansatz konsequent zu Ende, so liefe dies letztlich darauf hin-aus, dass Art. 12 Abs. 1 EG nur dann Anwendung finden könne, wenn die Ge-meinschaft einen entsprechenden Sachverhalt aufgrund eigener Kompetenzen regeln dürfe82. Eine solche Auslegung würde nicht nur die Reichweite des Art. 12 Abs. 1 EG stark einschränken83, sie lässt sich auch nur schwer mit dem Wortlaut dieser Bestimmung vereinbaren, insbesondere im Vergleich mit Art. 5 Abs. 1 EG. Während sich das dort niedergelegte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung auf „Befugnisse“ bezieht und damit vor allem die der Gemeinschaft eingeräumten Rechtssetzungskompetenzen meint, wird die Reichweite des Art. 12 Abs. 1 EG an den (sachlichen) Anwendungsbereich des Vertrags geknüpft und geht folglich über die EG-Rechtssetzungskompetenzen hinaus84. Eine maßgebliche Berück-sichtigung der Kompetenzverteilung bereits im Rahmen des vertraglichen An-wendungsbereichs würde die den Mitgliedstaaten verbliebenen Zuständigkeiten zudem in die Nähe von Bereichsausnahmen rücken, die der Vertrag insoweit – anders als z.B. in Art. 39 Abs. 4 EG oder Art. 45 Abs. 1 EG – nicht vorsieht85. Vor diesem Hintergrund ist es daher konsequent, dass der EuGH bei der Bestim-mung des Anwendungsbereichs nicht auf die jeweilige Kompetenzverteilung, sondern auf Art. 18 Abs. 1 EG verweist und jedenfalls insoweit allein auf die Auswirkungen der Diskriminierung und nicht auf deren Ursprung abstellt86. Von einem Unterlaufen der „thematischen Begrenzung des EG-Vertrags“ kann daher nicht die Rede sein, auch wenn der Anwendungsbereich des Vertrags aufgrund

80 Bode (Fn. 31), S. 556, dies. (Fn. 71), S. 280; Staeglich (Fn. 25), S. 515; Sander (Fn. 48), S. 1016 ff.; ähnlich

Niemann (Fn. 3), S. 949. Mit Schwerpunkt auf methodischer Kritik Hailbronner, Die Unionsbürgerschaft und das Ende rationaler Jurisprudenz durch den EuGH, NJW 2004, S. 2185 (2186).

81 Vgl. die in Fn. 80 genannten Autoren. Differenzierter im Hinblick auf das Zusammenspiel zwischen Kompe-tenzverteilung und Bestimmung des materiellen Gewährleistungsgehalts des Art. 12 Abs. 1 EG, Ka-nitz/Steinberg (Fn. 33), S. 1023 f.

82 So wohl auch Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Fn. 20), Art. 12 EG, Rn. 12. 83 Rossi, Das Diskriminierungsverbot nach Art. 12 EGV, EuR 2000, 197 (204); Kanitz/Steinberg (Fn. 33),

S. 1024. 84 Vgl. hierzu auch Streinz, in: Streinz (Fn. 31), Art. 2 EGV, Rn. 14 ff. (16), der für die Bestimmung des sachli-

chen Anwendungsbereichs allein an die Zielbestimmungen des EG-Vertrags anknüpfen will. 85 So Streinz, Frauen an die Front, DVBl. 2000, S. 585 (588), in Bezug auf die Urteile des EuGH in den Rechts-

sachen Sirdar und Kreil sowie deren Auswirkungen auf den Bereich des Wehrrechts. Dessen zutreffende Überlegungen gelten im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 EG und Art. 18 Abs. 1 EG entsprechend.

86 So schon Rossi (Fn. 83) S. 204. Insgesamt kritisch hierzu Sander (Fn. 48), S. 1019 f.

Kubicki, Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft EuR – Heft 4 – 2006 503

der fehlenden Zweckgebundenheit des Art. 18 Abs. 1 EG nunmehr eine sehr weitgehende Ausdehnung erfahren hat. Schließlich darf an dieser Stelle auch nicht übersehen werden, dass die Mitgliedstaaten auf Grundlage des den Art. 18 Abs. 1 EG begrenzenden Vorbehalts sozialer Absicherung (s.o. II. 5.) sowie im Rahmen der Rechtfertigungsebene des Art. 12 Abs. 1 EG87 weiterhin über einen ausreichenden nationalen Gestaltungsspielraum verfügen, um einem oftmals an die Wand gemalten Sozialdumping oder einem ungezügelten Bildungstourismus entgegenzuwirken.

2. Die Rechtssache Trojani

Eine erste Erweiterung erfuhr die Grzelczyk-Rechtsprechung in der Rechtssache Trojani, in der es erneut um die Nichtgewährung von Sozialhilfe an einen in Bel-gien lebenden Franzosen ging. Die betroffene Person konnte ihr Aufenthaltsrecht zwar nicht auf Art. 18 Abs. 1 EG stützen, besaß aber eine nach nationalem Recht gültige Aufenthaltserlaubnis88. Solange diese bestehe – so der EuGH –, könne sich der Unionsbürger auf das Diskriminierungsverbot berufen89. Im Ergebnis wurde die Nichtgewährung als mit Art. 12 Abs. 1 EG unvereinbar angesehen, die Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereichs bzgl. der Vorschriften über die Sozialhilfe stützte der EuGH jedoch allein auf einen Verweis auf die Rechtssache Grzelczyk90. Dieser Bezugnahme lässt zunächst den Schluss zu, dass Sozialhilfe nunmehr per se in den Anwendungsbereich des Vertrags einbezogen wird. Eine solche Auslegung kann dem Urteil Grzelczyk aber nicht entnommen werden91 und ist auch vor dem Hintergrund der Rechtssache Bidar zweifelhaft. Zwar ist Art. 18 Abs. 1 EG dort einschlägig gewesen, dennoch findet sich eine Bestätigung der Entscheidung Trojani, ohne dass ausdrücklich auf eine Einbeziehung sozialer Leistungen in den Anwendungsbereich des Vertrags rekurriert oder die entspre-chende Randnummer zitiert wird. Der EuGH formuliert vielmehr, „dass sich ein nicht wirtschaftlich aktiver Unionsbürger auf Art. 12 Absatz 1 EG berufen kann, wenn er sich im Aufnahmemitgliedstaat für eine bestimmte Dauer rechtmäßig aufgehalten hat oder eine Aufenthaltserlaubnis besitzt“92. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass es nicht auf die Sozialhilfe, sondern auf den Unionsbürger-

87 Vgl. etwa EuGH (Bidar), Rn. 49 ff. (Fn. 23), wonach für die Inanspruchnahme von Studienstipendien der

Nachweis eines gewissen sozialen Integrationsgrades in Form eines dem Studium vorausgehenden dreijähri-gen Wohnsitzes als zulässig angesehen wurde. Siehe auch – wenn auch nicht in Kombination mit Art. 12 Abs. 1 EG – EuGH (D’Hoop), Rn. 38 (Fn. 11), wonach der tatsächliche Zusammenhang zwischen einer fi-nanziellen Unterstützung beim Eintritt in das Erwerbsleben und dem betroffenen Arbeitsmarkt Ungleichbe-handlungen prinzipiell zu rechtfertigen vermag.

88 EuGH (Trojani), Rn. 36 (Fn. 44). Vgl. hierzu die Anmerkung von Wollenschläger (Fn. 40), S. 310. A.A. wohl Sander (Fn. 48), S. 1015 f., der von einem aus Art. 18 Abs. 1 EG folgenden Aufenthaltsrecht ausgeht.

89 EuGH (Trojani), Rn. 39 ff. (Fn. 44). 90 EuGH (Trojani), Rn. 42 (Fn. 44). 91 So auch Wollenschläger (Fn. 40), S. 311 f. 92 EuGH (Bidar), Rn. 37 (Fn. 23).

504 EuR – Heft 4 – 2006 Kubicki, Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft

status ankommt 93. Dieser allein eröffnet demnach den sachlichen Anwendungs-bereich des Art. 12 Abs. 1 EG, solange nur ein rechtmäßiger Aufenthalt vorliegt – sei es auf Grundlage des Art. 18 Abs. 1 EG oder des nationalen Rechts94. Mit dieser Konstruktion geht der EuGH über seine Rechtsprechung der „akzesso-rischen Freiheitssicherung“ hinaus. Anders als Art. 18 Abs. 1 EG kann der Uni-onsbürgerstatus mangels genuiner Rechtsgewährleistungen den Grundfreiheiten auch dann nicht gleichgestellt werden, wenn der Aufenthalt allein nach nationalen Bestimmungen rechtmäßig ist. Nationales Recht vermag den allein an eine mit-gliedstaatliche Staatsangehörigkeit anknüpfenden Unionsbürgerstatus inhaltlich nicht dergestalt auszufüllen (vgl. Art. 17 Abs. 2 EG), dass darüber eine Anknüp-fung für den vertraglichen Anwendungsbereich begründet werden kann. Im Er-gebnis wird damit für die Eröffnung des Anwendungsbereichs implizit auf die Materie abgestellt, aus der die Diskriminierung folgt. Dadurch überschreitet der EuGH aber die der Gemeinschaft für den Bereich der nicht-erwerbstätigen Perso-nen durch Art. 40, 42 EG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 EG gesetzten Befug-nisse und missachtet so die thematischen Grenzen des EG-Vertrags.

3. Die Rechtssache Schempp

Gegenstand der Rechtssache Schempp waren Unterhaltsleistungen eines Deut-schen an seine in Österreich lebende geschiedene Ehefrau95. Aufgrund der in Österreich nicht vorgesehenen Besteuerung solcher Leistungen konnte der Ehe-mann die Zahlungen in Deutschland nicht als abzugsfähige Sonderabgaben gel-tend machen. Hätte die Ehefrau in Deutschland gelebt, wäre eine Berücksichti-gung dagegen möglich gewesen96. Der im Vorlageverfahren angerufene EuGH prüfte diese Ungleichbehandlung am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 EG und stütze die Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereichs auf Art. 18 Abs. 1 EG, ohne dass der deutsche Ehegatte von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hatte. Dem Einwand des rein internen Sachverhalts begegnete der EuGH mit einem Verweis auf das Freizügigkeitsrecht der in Österreich lebenden Ehefrau. Dieser Umstand wirke sich auf die steuerliche Situation des Ehegatten aus, so dass aus Sicht des EuGH ein Bezug zum Gemeinschaftsrecht bestand97. Ein Ver-stoß gegen Art. 12 Abs. 1 EG scheiterte jedoch an der fehlenden Vergleichbarkeit der steuerrechtlichen Behandlung von Unterhaltszahlungen in Deutschland und Österreich98. Für die hier allein relevante Frage nach der Eröffnung des Anwen-

93 Vgl. Wollenschläger (Fn. 40), S. 312. 94 Eine solche Möglichkeit prinzipiell ablehnend Bode (Fn. 31), S. 557. 95 EuGH, Rs. C-403/03 (Schempp), Slg. 2005, I-6421 Rn. 7ff.. 96 Es gilt das sog. „Korrespondenzprinzip“, wonach solche Leistungen grundsätzlich beim Unterhaltsempfänger

als steuerliche Einkünfte erfasst werden und zwar – anders als bei im Ausland lebenden Ehegatten – unabhän-gig davon, ob die Besteuerung beim Unterhaltsempfänger tatsächlich erfolgt. Vgl. EuGH (Schempp), Rn. 3 ff. (Fn. 95).

97 EuGH (Schempp), Rn. 21 ff. (Fn. 95). 98 EuGH (Schempp), Rn. 34 f. (Fn. 95).

Kubicki, Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft EuR – Heft 4 – 2006 505

dungsbereichs des EG-Vertrags folgt aus dieser Rechtssache aber, dass auch die Rückwirkungen einer Inanspruchnahme des Freizügigkeitsrechts auf eine im Inland verbliebene Person jedenfalls dann ausreichen, um dieser die Berufung auf Art. 12 Abs. 1 EG zu ermöglichen, wenn zwischen den betreffenden Personen ein der nachehelichen Unterhaltspflicht vergleichbares Näheverhältnis besteht. Mit dieser Auslegung stellt der EuGH nicht – wie im Rahmen der Grzelczyk-Rechtsprechung – den Schutz des Art. 18 Abs. 1 EG in Anspruch nehmenden Unionsbürgers vor gemeinschaftswidrigen Ungleichbehandlungen in den Vorder-grund, sondern den Schutz Dritter vor den innerstaatlichen Folgen der Inan-spruchnahme des unionsbürgerlichen Freizügigkeitsrechts durch andere Personen. Der Eröffnung des vertraglichen Anwendungsbereichs über die Auswirkungen auf die unionsbürgerliche Freizügigkeit wird hierdurch jedoch zugleich die Grundlage entzogen. Ähnlich wie in der Rechtssache Trojani bedarf es für die Prüfung der einkommensteuerrechtlichen Vorschriften über die Abzugsfähigkeit geleisteter Unterhaltszahlungen am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 EG daher eines anderen Anknüpfungspunktes, um der thematischen Begrenzung des EG-Vertrags gerecht zu werden. Der inhaltliche Ursprung der (behaupteten) Ungleichbehand-lung kommt hierfür jedoch nicht in Betracht, da die Gemeinschaft für Fragen des Einkommenssteuerrechts keine Zuständigkeit besitzt99. Andere Anknüpfungen sind nicht ersichtlich, so dass der EuGH de facto auch in der Rechtssache Schempp die der Gemeinschaft durch den EG-Vertrag gesetzten inhaltlichen Grenzen überschreitet.

IV. Art. 18 Abs. 1 EG und das unionsbürgerliche Diskriminierungsverbot

Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft richtet sich schließ-lich auch gegen Beeinträchtigungen, die vom Herkunftsstaat des Unionsbürgers ausgehen. In den bisherigen Urteilen wurden Nachteile erfasst, die Unionsbürgern in ihrem Herkunftsstaat aufgrund der Wahrnehmung der Freizügigkeit entstan-den100 – sei es nach ihrer Rückkehr101 oder während des Aufenthalts im Aufnah-mestaat102. Der EuGH hat diese Beeinträchtigungen als mit dem Gemeinschafts-recht unvereinbar angesehen, ohne den EG-vertraglichen Prüfungsmaßstab aus-drücklich offen zu legen. Im Schrifttum finden sich daher unterschiedliche Inter-

99 EuGH (Schempp), Rn. 19 (Fn. 95). 100 Die Inanspruchnahme des Art. 18 Abs. 1 EG begründet einen grenzüberschreitenden Bezug und eröffnet

damit den Anwendungsbereich des Vertrags. Daher handelt es sich nicht um Fälle der sog. Inländerdiskrimi-nierung. Dazu vgl. Epiney, in: Calliess/Ruffert (Fn. 39), Art. 12 EGV, Rn. 24 ff. m.w.N.

101 EuGH (D’Hoop), Rn. 8 ff. (Fn. 11). 102 EuGH, Rs. C-224/02 (Pusa), Slg. 2004, I-5763, Rn. 12; EuGH, verb. Rs. C-502/01 u. C-31/02 (Gaumain-

Cerri), Slg. 2004, I-6483, Rn. 10.

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pretationen dieser Urteile103, die von einer Anwendung des Art. 12 Abs. 1 EG (in Verbindung mit Art. 18 Abs. 1 EG)104 bis hin zu einem allein aus Art. 18 Abs. 1 EG folgenden Diskriminierungs-105 oder sogar Beschränkungsverbot106 reichen. Nach der hier vertretenen und im Folgenden darzustellenden Ansicht handelt es sich dagegen um ein aus dem Unionsbürgerstatus abgeleitetes und von dem Merkmal der Staatsangehörigkeit unabhängiges Diskriminierungsverbot.

1. Die Rechtssachen D’Hoop, Pusa und Gaumain-Cerri

Gegenstand der Rechtssache D’Hoop war ein Überbrückungsgeld, welches in Belgien Schulabgängern anlässlich der Suche nach ihrer ersten Beschäftigung gezahlt wird. Diese Leistung wurde einer Belgierin nach Beendigung ihres belgi-schen Studiums aufgrund ihrer in Frankreich abgeschlossenen höheren Schulbil-dung verweigert. Um Vorschriften über Pfändungsfreigrenzen ging es dagegen in der Rechtssache Pusa. Nach finnischem Recht waren in Finnland zu zahlende Steuern bei der Bestimmung dieser Grenzen zu berücksichtigen, nicht hingegen ausländische Steuern. Betroffen war ein in Spanien lebender Finne, der in Finn-land eine Rente bezog, die dort aufgrund verschiedner Verbindlichkeiten teilweise gepfändet wurde. Seine in Spanien auf die Rente gezahlten Steuern konnten nach finnischem Recht nicht in Abzug gebracht werden, so dass im Ergebnis ein größe-rer Teil seiner Rente verpfändet wurde, als wenn eine Besteuerung in Finnland vorgenommen worden wäre. In der Rechtssache Gaumain-Cerri schließlich ging es um Zahlungen von Rentenversicherungsbeiträgen durch eine deutsche Pflege-versicherung für eine in Belgien lebende deutsche Staatsangehörige, die eine in Deutschland wohnhafte Person gegen Entgelt pflegte. Die Übernahme ihrer Ren-tenversicherungsbeiträge wurde allein mit Hinweis auf den ausländischen Wohn-sitz abgelehnt. Während in D’Hoop und Pusa das französische Abitur bzw. der Aufenthalt des Finnen in Spanien auf Art. 18 Abs. 1 EG gestützt wurden, ließ der EuGH die gemeinschaftsrechtliche Qualifizierung der entgeltlichen Pflege bzw. des Aufenthalts in Belgien zu Wohnzwecken in Gaumain-Cerri offen107.

103 Diese beziehen sich überwiegend auf die Rechtssache D’Hoop, die aufgrund der sozialrechtlichen Implikatio-

nen in eine Reihe mit der Entscheidung Grzelczyk gestellt wird, vgl. etwa die Anmerkung von Bode, EuZW 2002, S. 637; v. Bogdandy/Bitter (Fn. 1), S. 314; Scheuing (Fn. 4), S. 780 ff. Aufgrund zwangsvollstreckungs- bzw. pflegeversicherungsrechtliche Fragen fanden die anderen beiden Urteile dagegen weit weniger Beach-tung. Zur Rechtssache Pusa siehe Anmerkungen von Lohse, IStR 2005, S. 64 f., und Rüfner, GPR 2004, S. 293 ff.

104 So Bode (Fn. 103), S. 638; dies. (Fn. 31), S. 556; Kanitz/Steinberg (Fn. 33), S. 1016 f.; wohl auch v. Bogdan-dy/Bitter (Fn. 1), S. 314.

105 Borchardt (Fn. 25), 2059; vgl. auch v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Fn. 31), Art. 12 EGV, Rn. 35; Scheuing (Fn. 4), S. 784 m.w.N.

106 Scheuing (Fn. 4), S. 780, allerdings nur unter Berücksichtigung der Rechtssache D’Hoop. 107 EuGH (Gaumain-Cerri), Rn. 32 ff. (Fn. 102).

Kubicki, Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft EuR – Heft 4 – 2006 507

2. Diskriminierungsverbot nach Art. 12 Abs. 1 EG?

In allen drei Rechtssachen hat der EuGH eine gemeinschaftswidrige Ungleichbe-handlung festgestellt und in D’Hoop und Pusa zudem auf das Urteil Grzelczyk verwiesen. Daran anknüpfend wird teilweise von einer Anwendung des Art. 12 Abs. 1 EG (in Verbindung mit Art. 18 Abs. 1 EG) ausgegangen108. Gegen ein solches Verständnis sprechen jedoch zwei wesentliche Argumente. Zunächst handelt es sich bei den Ungleichbehandlungen nicht um solche, die zu Lasten von EG-Ausländern erfolgen. Einschlägig sind vielmehr Benachteiligun-gen eigener Staatsangehöriger im Vergleich zu solchen Inländern, die von Art. 18 Abs. 1 EG keinen Gebrauch gemacht haben: Im Falle eines belgischen Abiturs wäre der Belgierin Überbrückungsgeld gezahlt worden; bei inländischer Besteue-rung wären die Verbindlichkeiten des Finnen bei der Pfändung berücksichtigt worden; wäre die deutsche Pflegerin in Deutschland ansässig gewesen, hätte die Versicherung Beiträge entrichtet. Das Kriterium der Staatsangehörigkeit ist in den drei Rechtssachen insoweit nicht einschlägig, entscheidendes Merkmal ist allein der grenzüberschreitende Sachverhalt109. Im Schrifttum wird zwar fast durchweg behauptet, dass Art. 12 Abs. 1 EG auch solche Konstellationen erfasst110. In der Rechtsprechung finden sich hierfür jedoch keine Nachweise, auch wenn an der Eröffnung des Anwendungsbereichs des Vertrags insoweit keine Zweifel beste-hen111. Bisher sind es jedoch ausnahmslos Grundfreiheiten, auf deren Grundlage solche Konstellationen gelöst wurden112. Ausgangspunkt ist dabei regelmäßig nicht die Kategorie der Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit, sondern die des Beschränkungsverbots113. Vor diesem Hintergrund verdeutlicht sich auch die Bedeutung der Formulierun-gen in den Urteilen D’Hoop, Pusa und Gaumain-Cerri, wonach der Unionsbür-gerstatus den Angehörigen der Mitgliedstaaten, „die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, im sachlichen Geltungsbereich des Vertrags unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der ausdrücklich vorgesehenen Aus-nahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen.“114. Ohne auf Art. 12

108 Vgl. Bode (Fn. 103), S. 638; sowie die anderen in Fn. 104 genannten Autoren. 109 So auch Scheuing (Fn. 4), S. 780, der im Ergebnis jedoch von einem Beschränkungsverbot ausgeht. 110 Vgl. bspw. Streinz, in: Streinz (Fn. 31), Art. 12 EGV, Rn. 30; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Fn. 20),

Art. 12 EG, Rn. 14¸ Rossi, EuR 2000, S. 197 (201); Holoubek, in: Schwarze (Fn. 71), Art. 12 EGV, Rn. 33. 111 Siehe etwa EuGH, C- 18/95 (Terhoeve), Slg. 1999, I-345, Rn. 25 ff., für die Arbeitnehmerfreizügigkeit. 112 Vgl. vor allem die Nachweise bei Rossi (Fn. 83), S. 201 und Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Fn. 20),

Art. 12 EG, Rn. 14, die sich auf Urteile zu den Personenfreiheiten und zur Dienstleistungsfreiheit beziehen. Siehe auch Ehlers, in: Ehlers (Fn. 6), § 7, Rn. 21, der Benachteiligungen von Inländern zumeist generell als vom Diskriminierungsverbot nach der Staatsangehörigkeit erfasst ansieht.

113 Sie etwa EuGH (Terhoeve), Rn. 25 ff. (Fn. 111). Dazu insg. Roloff, Das Beschränkungsverbot des Art. 39 EG und seine Auswirkungen auf das nationale Arbeitsrecht, 2003, S. 64 ff.; EuGH, C-19/92 (Kraus), Slg. 1993, I-1663, Rn. 16, bzgl. Art. 43 EG. Gelegentlich zieht der EuGH jedoch eine Parallele zur vergleichbaren Situati-on eines EG-Ausländers und prüft den Sachverhalt sodann ausschließlich aus dieser Perspektive, so etwa in EuGH, Rs. C-107/94 (Asscher), Slg. 1996, I-3089, Rn. 34 ff.

114 EuGH (Pusa), Rn. 16 (Fn. 102); nahezu wortgleich in EuGH (D’Hoop), Rn. 28 (Fn. 11). Ähnlich EuGH (Gaumain-Cerri), Rn. 34 (Fn. 102).

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Abs. 1 EG an dieser oder an anderen Stellen zu rekurrieren, verbindet der EuGH den Unionsbürgerstatus mit einem Gleichbehandlungsgebot, welches ausdrück-lich nicht an das Kriterium der Staatsangehörigkeit anknüpft. Eine inhaltsgleiche Formulierung findet sich bereits in Grzelczyk115 und auf diese bezieht sich auch einer der Verweise in D’Hoop und Pusa116. Der andere nimmt dagegen die in Grzelczyk auf Grundlage von Art. 18 Abs. 1 EG erfolgte Eröffnung des sachli-chen Anwendungsbereichs in Bezug, nicht aber die Randnummern, in denen Art. 12 Abs. 1 EG herangezogen wird117. Somit lassen sich weder die Bezugnah-men auf Grzelczyk, noch die den Rechtssachen D’Hoop, Pusa und Gaumain-Cerri zugrunde liegenden Ungleichbehandlungen für die Ansicht fruchtbar ma-chen, wonach in den drei genannten Rechtssachen Art. 12 Abs. 1 EG zur Anwen-dung118 gelangt.

3. Art. 18 Abs. 1 EG als Grundlage eines Diskriminierungs- oder Beschränkungsverbots?

Besteht sonach kein Raum für Art. 12 Abs. 1 EG, bleibt zu klären, ob die drei Entscheidungen nicht mit einem aus Art. 18 Abs. 1 EG folgenden Diskriminie-rungs- oder sogar – wie bei den Grundfreiheiten – Beschränkungsverbot erklärt werden können. Gewisse Anhaltspunkte lassen sich den Urteilen D’Hoop und Pusa durchaus entnehmen. So verbindet der EuGH den Anspruch auf gleiche rechtliche Behandlung mit der praktischen Wirksamkeit der unionsbürgerlichen Freizügigkeit119. Einige Formulierungen erinnern dagegen an das grundfreiheitli-chen Beschränkungsverbot bei Maßnahmen des Herkunftslandes120. Im Ergebnis stützen diese Aspekte jedoch eine auf Art. 18 Abs. 1 EG beruhende Interpretation der Urteile nicht. Soweit die Freizügigkeit in Bezug genommen wird, erfolgt dies lediglich im Zusammenhang mit der Eröffnung des sachlichen Anwendungsbe-reichs des Vertrags121, nicht aber als Rechtsgrundlage für ein Diskriminierungs- oder Beschränkungsverbot. In Gaumain-Cerri lässt der EuGH dagegen offen, worauf der Anwendungsbereich gestützt wird – in Betracht kommt sowohl Art. 18 Abs. 1 EG als auch Art. 39 EG – und verdeutlicht damit, dass Benachtei-ligungen von Inländern auch unabhängig von der unionsbürgerlichen Freizügig-keit als gemeinschaftswidrig angesehen werden können. Gegen die Annahme eines in Art. 18 Abs. 1 EG verorteten Beschränkungsverbots spricht zudem, dass

115 EuGH (Grzelczyk), Rn. 31 (Fn. 1). 116 EuGH (Pusa), Rn. 16 (Fn. 102); EuGH (D’Hoop), Rn. 28 (Fn. 11). 117 EuGH (Pusa), Rn. 17 (Fn. 102); EuGH (D’Hoop), Rn. 29 (Fn. 11). 118 So im Ergebnis auch Scheuing (Fn. 4), S. 784, allerdings nur im Hinblick auf die Rechtssache D’Hoop. 119 EuGH (D’Hoop), Rn. 30 f. (Fn. 11); EuGH (Pusa), Rn. 18 f. (Fn. 102). 120 EuGH (D’Hoop), Rn. 31 (Fn. 11); EuGH (Pusa), Rn. 19 (Fn. 102). Vgl. etwa mit den Formulierungen in

EuGH (Terhoeve), Rn. 39 (Fn. 111). Eine ähnliche Wortwahl findet sich im Zusammenhang mit Art. 18 Abs. 1 EG auch in der Rechtssache Elsen aus dem Jahr 2000 – allerdings in Verbindung mit Art. 39 EG, vgl. EuGH, C-135/99 (Elsen), Slg. 2000, I-10409, Rn. 33 ff. (34).

121 EuGH (D’Hoop), Rn. 29 (Fn. 11); EuGH (Pusa), Rn. 17, 22 (Fn. 102).

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die Benachteiligungen ausschließlich am Maßstab einer Ungleichbehandlung gemessen und im Ergebnis jeweils Verstöße gegen die „Garantie gleicher rechtli-cher Behandlung“122 feststellt werden. Schließlich streitet auch der systematische Vergleich mit der die Maßnahmen des Aufnahmestaates erfassenden Grzelczyk-Rechtsprechung gegen die unmittelbare Verortung eines von der Staatsangehörigkeit unabhängigen Diskriminierungsver-bots in Art. 18 Abs. 1 EG. Jene Urteile beruhen auf einer tatbestandlichen Tren-nung aufenthalts- und bewegungsrechtlicher Aspekte des Art. 18 Abs. 1 EG von darüber hinausgehenden und durch Art. 12 Abs. 1 EG erfassten Fragen wie etwa der Gewährung von Sozialhilfe an EG-Ausländer (s.o. II. 1. a); III.1). Es ist nicht ersichtlich, warum der EuGH an dieser Differenzierung in den gegen den Her-kunftsstaat gerichteten Sachverhaltskonstellationen nicht festhalten sollte.

4. Unionsbürgerliches Diskriminierungsverbot

Den Rechtssachen D’Hoop, Pusa und Gauimann-Cerri liegt daher ein allein aus dem Unionsbürgerstatus abgeleitetes Gleichbehandlungsgebot zu Grunde – inso-weit lässt sich von einem unionsbürgerlichen Diskriminierungsverbot sprechen. Maßgebliches Kriterium der verbotenen Ungleichbehandlung ist nicht die Staats-angehörigkeit des Unionsbürgers, sondern der grenzüberschreitende Sachverhalt. Vergleichsgruppen sind Inländer, welche die unionsbürgerliche Freizügigkeit wahrgenommen haben oder wahrnehmen und Inländer, die dies nicht getan ha-ben. Daneben – wenn auch weniger relevant – erscheint auch eine der Rechtspre-chung zur „akzessorischen Freiheitssicherung“ vergleichbare Anknüpfung über die Grundfreiheiten möglich, soweit mittelbare Auswirkungen herkunftsstaatli-cher Maßnahmen in Rede stehen und der grundfreiheitliche Schutzbereich nicht einschlägig ist. Werden in den genannten Fällen Unionsbürger durch den Her-kunftsstaat aufgrund ihrer Grenzüberschreitung benachteiligt, findet das unions-bürgerliche Diskriminierungsverbot Anwendung und der Herkunftsstaat unterliegt einem Rechtsfertigungszwang123. In dogmatischer Hinsicht handelt es sich bei dem unionsbürgerlichen Diskrimi-nierungsverbot um eine spezielle Ausformung des auch im EG-Recht als Grund-recht anerkannten Gleichheitssatzes124. Bis auf das Differenzierungsmerkmal der Staatsangehörigkeit entspricht es in seiner Struktur dem aus Art. 12 Abs. 1 EG folgenden Gleichbehandlungsgebot und dürfte ebenfalls subsidiär zu den Grund-

122 EuGH (D’Hoop), Rn. 33 ff. (Fn. 11); EuGH (Pusa), Rn. 20, 33 (Fn. 102). Weniger deutlich in EuGH (Gau-

main-Cerri), Rn. 34 ff. (Fn. 102). 123 Die Ungleichbehandlung kann mit objektiven Erwägungen gerechtfertigt werden. In EuGH (D’Hoop),

Rn. 35 ff. (Fn. 11), wurde bspw. das Erfordernis eines tatsächlichen Zusammenhangs zwischen Arbeitsmarkt und Überbrückungsgeld geltend gemacht; in EuGH (Pusa), Rn. 21 ff. (Fn. 102), der Schuldner- und Gläubi-gerschutz. In EuGH (Gaumain-Cerri), Rn. 35 (Fn. 102), fällt die Rechtfertigungsprüfung dagegen weniger umfangreich aus.

124 Vgl. etwa EuGH, Rs. 810/79 (Deutsche Freiwillige Versicherung), Slg. 1980, 2474, Rn. 16.

510 EuR – Heft 4 – 2006 Kubicki, Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft

freiheiten sein125. Ebenso wie Art. 12 Abs. 1 EG kann es als (ungeschriebene) „transnationale Integrationsnorm“126 verstanden werden: Während das allgemeine Verbot der Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit auf die Überwindung des Fremdenstatuts durch Einebnung der durch den Aufnahmestaat aufgestellten (personenbezogenen) Binnengrenzen zielt127, verfolgt das unionsbürgerliche Dis-kriminierungsverbot die gleiche Integrationsfunktion aus einer anderen, den Bin-nenmarkt beeinträchtigenden Konstellation heraus. Indem es eine an die Wahr-nehmung des Art. 18 Abs. 1 EG anknüpfende (ungerechtfertigte) Schlechterstel-lung gegenüber im Inland verbleibenden Staatsangehörigen verbietet, gewährleis-tet das unionsbürgerliche Diskriminierungsverbot den Abbau der durch den Her-kunftsstaat aufgestellten Hindernisse des Binnenmarkts. Mit der Einführung eines von der Staatsangehörigkeit unabhängigen und im Uni-onsbürgerstatus verankerten Diskriminierungsverbots wird der subjektivrechtliche Schutz von nicht-erwerbstätigen Unionsbürgern in grenzüberschreitenden Situati-onen vervollständigt. Dieses Anliegen des EuGH ist durchaus begrüßenswert, da sich die Verwirklichung des unionsbürgerlichen Bewegungs- und Aufenthalts-rechts nicht nur in dem Schutz gegen den Aufnahmestaat erschöpft, sondern be-reits im Herkunftsland relevant werden kann, wenn dort Nachteile an die Wahr-nehmung der Freizügigkeit geknüpft werden. Insoweit besteht eine Parallele zu den Grundfreiheiten, die ebenfalls gegen Maßnahmen des Herkunftsstaates schüt-zen128. Anders als bei den Grundfreiheiten erreicht der EuGH diesen Schutzum-fang für nicht-erwerbstätige Unionsbürger jedoch nicht im Wege der Auslegung bestehender Bestimmungen, sondern auf Grundlage einer richterrechtlichen Pri-märrechtsrechtsfortbildung. Problematisch ist dabei weniger die Frage nach dem sachlichen Anwendungsbereich des EG-Vertrags – dieser wird wie bei der Grzelczyk-Rechtsprechung konsequent über eine Anknüpfung an die Auswirkun-gen auf Art. 18 Abs. 1 EG oder die Grundfreiheiten eröffnet. Kritikwürdig ist vielmehr das Fehlen einer dieser Erweiterung des subjektiven Schutzumfangs angemessenen Begründung von Seiten des EuGH.

IV. Zusammenfassung

Auf Grundlage des Unionsbürgerstatus und der unionsbürgerlichen Freizügigkeit hat der EuGH eine von der Ausübung wirtschaftlicher Tätigkeiten unabhängige subjektivrechtliche Dimension der Unionsbürgerschaft entwickelt. Der damit bezweckte Schutz nicht-erwerbstätiger Unionsbürger wird in drei voneinander zu unterscheidenden Konstellationen verwirklicht.

125 Sofern der jeweilige Schutzbereich einschlägig ist. 126 Kingreen, in: Ehlers (Fn. 6), § 13, Rn. 3. 127 V. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Fn. 31), Art. 12 EGV, Rn. 1. 128 Jüngst etwa EuGH, Rs. C-109/04 (Kranemann), Slg. 2005, I-2421, Rn. 25. Kritisch hierzu die Anmerkung

von Pechstein, JZ 2005, S. 943 f.

Kubicki, Die subjektivrechtliche Komponente der Unionsbürgerschaft EuR – Heft 4 – 2006 511

Als aus dem EG-Vertrag folgendes subjektives Recht sui generis vermittelt Art. 18 Abs. 1 EG ein Bewegungs- und Aufenthaltsrecht, welches je nach Kons-tellation sowohl gegen den Aufnahme- als auch gegen den Herkunftsstaat des Unionsbürgers gerichtet werden kann. In Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 EG er-wachsen EG-ausländischen Unionsbürgern darüber hinaus Ansprüche gegen den jeweiligen Aufnahmestaat auf Gleichstellung mit Inländern oder sogar auf Bes-serstellung. Nach der Grzelczyk-Rechtsprechung eröffnet Art. 18 Abs. 1 EG dabei den Anwendungsbereich des Vertrags und erstreckt die sachliche Reichweite des Art. 12 Abs. 1 EG auf alle Bereiche nationalen Rechts, die sich auf die Wahr-nehmung der unionsbürgerlichen Freizügigkeit auswirken können. Ob die in den Rechtssachen Trojani und Schempp unter Missachtung der thematischen Begren-zung des EG-Vertrags erfolgte Ausdehnung der Grzelczky-Rechtsprechung Be-stand haben wird, bleibt abzuwarten. Die subjektivrechtliche Dimension der Unionsbürgerschaft wird abgerundet durch ein aus dem Unionsbürgerstatus abgeleitetes sog. unionsbürgerliches Diskriminie-rungsverbot. Dieses knüpft ebenfalls an den sachlichen Anwendungsbereichs des Vertrags an, der vor allem durch Art. 18 Abs.1 EG eröffnet wird, richtet sich aber gegen benachteiligende Maßnahmen des Herkunftslandes. Es beruht nicht – wie Art. 12 Abs. 1 EG – auf dem Merkmal der Staatsangehörigkeit, sondern erfasst aus dem Inland hinauswirkende grenzüberschreitende Sachverhalte und gebietet deren Gleichbehandlung mit reinen Inlandskonstellationen.

512 EuR – Heft 4 – 2006

Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG – zwei Arten tertiärer Kommissionsakte und ihre dogmatischen

Fragestellungen

Von Daniel Riedel, Mannheim∗

I. Einleitung

Die Kommission übt die Befugnisse aus, die ihr der Rat zur Durchführung der von ihm erlassenen Vorschriften überträgt – so der wesentliche Inhalt des Art. 211, 4. Sp. EG. Damit erschließt sich der Kommission neben den drei weite-ren in diesem Artikel niedergelegten Haupttätigkeiten ein vierter Aufgabenbe-reich von größter Bedeutung1. Nicht nur quantitativ2, sondern auch qualitativ3 stellt die Durchführungsrechtsetzung der Kommission ein wesentliches Steu-erungsmedium im Gefüge der europäischen und mitgliedstaatlichen Instanzen dar, die mit der Verwaltung des Gemeinschaftsraumes betraut sind4. Die Befugnis zur Durchführung des Gemeinschaftsrechts ist seit der Gründung der EG als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft im Jahre 1957 ein fester Bestandteil der gemeinschaftlichen Rechtsetzungsverfahren. Gleichwohl stellen Aussagen zur systematischen Funktion und dem vertragsprinzipiellen Gehalt des Art. 211, 4. Sp. EG noch immer die Ausnahme dar5. Dies gilt trotz eines gesteigerten wis-senschaftlichen Interesses an den Komitologieausschüssen als der organisatori-

∗ Der Verfasser ist Rechtsreferendar am Landgericht Frankenthal/Pfalz. Er war bis Mitte 2005 Wissenschaftli-

cher Mitarbeiter an der Universität Heidelberg. Sein Dank gilt Kristina Heußner und Wolfgang Schenk für die kritische Durchsicht des Manuskripts.

1 Zu dem in Art. 211 EG niedergelegten Aufgabenquartett vgl. nur die Übersicht bei Lenaerts/van Nuffel, Constitutional law of the European Union, 2. Aufl. 2005, S. 427 ff.

2 Vgl. die empirische Analyse von v. Bogdandy/Bast/Arndt, Handlungsformen im Unionsrecht, ZaöRV 62 (2002), S. 77 ff. (140), die nachweisen, dass die Rolle der Kommission als „bedeutendes Rechtsetzungsorgan“ überwiegend auf der Ausübung vom Rat übertragener Befugnisse beruht.

3 Ihre qualitative Bedeutung zeigt sich schon daran, dass die Kommission in allen wesentlichen Politikberei-chen der Gemeinschaft – vom Agrarsektor über das Lebensmittel- und Veterinärrecht bis zum Umweltrecht und der technischen Produktsicherheit – vom Rat zur Durchführungsrechtsetzung berufen ist (vgl. die detail-lierten Angaben im Bericht der Kommission über die Tätigkeit der Ausschüsse im Jahr 2001 v. 13.12.2002, KOM (2002) 733 endg.).

4 Grundlegend zur Verwaltung des Gemeinschaftsraums als Kooperations- und Gestaltungsaufgabe Schmidt-Aßmann, Einleitende Problemskizze, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem, Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, 1999, S. 9 ff. (12 ff.).

5 Vgl. aber Lenaerts, Regulating the regulatory process, ELRev 18 (1993), S. 23 ff. sowie den Beitrag von Möllers, Durchführung des Gemeinschaftsrechts, EuR 37 (2002), S. 483 ff.; jüngst ders., Tertiäre exekutive Rechtsetzung im Europarecht, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsver-bund, 2005, S. 293 ff.; ferner auch Bradley, Comitology and the law, CMLR 29 (1992), S. 693 ff.

Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG EuR – Heft 4 – 2006 513

schen Komponente der Durchführungsrechtsetzung6. Eine generelle Standortbe-stimmung erscheint aber geboten. Sie ist Bestandteil einer europäischen Prinzi-pienlehre, die es sich zur Aufgabe macht, die normativen Strukturentscheidungen der Gemeinschaftsverträge als Verfassung der EU herauszuarbeiten und so einen Kernbestand rechtsdogmatischer Figuren zu formulieren7. So auf ihren dogmati-schen Gehalt befragt, wird die Durchführungsrechtsetzung verbreitet dem Bereich der – aus den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bekannten8 – exekutiven Normsetzung zugerechnet9. Als ihr Idealbild gilt damit die „rechtssatzförmige Konkretisierung der politischen Entscheidungen des Rates“10. Das wesentliche Anliegen dieses Beitrags ist es, dieses Ideal der abstrakt-generellen Durchfüh-rungsverordnung anhand der entsprechenden Konzepte in Literatur und Recht-sprechung herauszuarbeiten (III.). Anschließend soll ihm aber auch eine gerade in jüngerer Vergangenheit ins Blickfeld getretene Erscheinungsform der Durchfüh-rung entgegengestellt werden: die einzelfallbezogene Durchführungsmaßnahme (IV.). Eine Hauptthese ist es dabei, dass diese zweite Art der Durchführungsrecht-setzung grundsätzlich andere Fragen aufwirft als es die Setzung abstrakt-genereller Akte tut – Fragen, die mit dem herkömmlichen Durchführungskonzept und den darauf basierenden Rechtsregeln bisher nur ungenügend gelöst werden können.

6 Aus der inzwischen fast unübersehbar gewordenen Literatur zur Komitologie sei an dieser Stelle nur auf

folgende Arbeiten verwiesen: Umfassend Joerges/Falke (Hrsg.), Das Ausschusswesen der Europäischen Union, 2000; Andenas/Türk (Hrsg.), Delegated legislation and the role of committees in the EC, 2000; Auf-sätze: Demmke/Haibach, Die Rolle der Komitologieausschüsse bei der Durchführung des Gemeinschafts-rechts und in der Rechtsprechung des EuGH, DÖV 1997, S. 710 ff.; Haibach, Komitologie nach Amsterdam, VerwArch 90 (1999), S. 98 ff.; Hofmann/Töller, Zur Reform der Komitologie, SuS 9 (1998), S. 207 ff.; Joerges/Neyer, From intergouvernmental bargaining to deliberative political processes, ELJ 3 (1997), S. 273 ff.; Lenaerts/Verhoeven, Towards a legal framework for executive rulemaking in the EU?, CMLR 37 (2000), S. 645 ff.; Meng, Die Neuregelung der EG-Verwaltungsausschüsse, ZaöRV 48 (1988), S. 208 ff.; Roller, Komitologie und Demokratieprinzip, KritV 2003, S. 249 ff.; bereichsspezifisch: Töller, Komitologie, 2002 (für das gemeinschaftliche Umweltrecht); Schlacke, Risikoentscheidungen im europäischen Lebensmit-telrecht, 1998. Speziell zum Komitologiebeschluss des Jahres 1999 Mensching, Der neue Komitologie-Beschluss des Rates, EuZW 2000, S. 268 ff.

7 Grundlegend v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre, in: ders., Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 149 ff. (150); in diese Richtung jüngst auch Cromme, Spezifische Bauelemente der europäischen Verfas-sung, EuR 40 (2005), S. 36 ff.

8 Umfassend rechtsvergleichend zu den nationalen Formen exekutiver Rechtsetzung in Europa v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, bes. S. 261 ff.

9 Vgl. etwa Ipsen, Zur Exekutiv-Rechtsetzung in der Europäischen Gemeinschaft, in: FS Lerche, 1993, S. 425 ff.; Lenaerts/Verhoeven (Fn. 6), bes. S. 654; ferner auch Bradley (Fn. 5), S. 699. Aus vornehmlich rechtsvergleichender Perspektive Haibach, Seperation and delegation of legislative powers, in: Andenas/Türk, Delegated legislation and the role of committees in the EC, 2000, S. 53 ff. (56 ff.). Pauschal für eine Parallele zwischen Durchführungsakten, rechtlich unverbindlichen Normsetzungen der Kommission und deutschen Verwaltungsvorschriften T. Groß, Exekutive Vollzugsprogrammierung durch tertiäres Gemeinschaftsrecht?, DÖV 2004, S. 20 ff. (20, 22).

10 Möllers (Fn. 5), S. 510; in diese Richtung auch Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, 2004, S. 38; ferner identifiziert auch Nicolaysen, Europarecht I, 2. Aufl. 2002, S. 302 das Durchführungsrecht der Kommission vornehmlich mit der (stets rechtssatzförmigen) Durchführung von Agrarmarktordnungen und der Anpassung technischer Vorschriften.

514 EuR – Heft 4 – 2006 Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG

II. Durchführung als terminus technicus der Gemeinschaftsverträge

Einführend soll jedoch zunächst der Begriff der Durchführung im Sinne des Art. 211, 4. Sp. EG eingegrenzt und seine wesentlichen vertraglichen Grundzüge dargestellt werden. Mit Durchführung des Gemeinschaftsrechts werden dabei durchaus unterschiedliche Sachverhalte beschrieben. Im Wesentlichen lassen sich zwei Bedeutungen nachweisen. Zum einen wird Durchführung des Gemein-schaftsrechts verbreitet als Oberbegriff für jegliche Formen der nationalen Um-setzung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben – sei es durch die Gesetzgebung oder durch Rechtsakte der einzelstaatlichen Verwaltungen – verwendet11. Dies ist die Perspektive eines in Transformation befindlichen mitgliedstaatlichen Verwal-tungsrechts12. Davon zu trennen ist die originär gemeinschaftsvertragliche Sicht-weise. In diesem zweiten Sinne handelt es sich bei der Durchführung um einen primärrechtlich eingeführten terminus technicus, der eine eigenständige Kategorie von Gemeinschaftsrechtsakten bezeichnet13. Nur dieser zweite Begriff der Durch-führung ist Gegenstand dieses Beitrags14.

1. Durchführungsrechtsetzung und abgeleitete Ermächtigungsstruktur – eine formelle Begriffsbestimmung

Von der vertragsunmittelbaren Rechtsetzung der Gemeinschaftsorgane unter-scheidet sich die Durchführungsrechtsetzung dabei formell schon durch ihre im Sekundärrecht liegende Rechtsgrundlage15. Während das Sekundärrecht auf einer unmittelbaren Ermächtigungsgrundlage in den Gemeinschaftsverträgen beruht und nach den vertraglich vorgesehenen Rechtsetzungsverfahren der Art. 250 ff. EG ergeht, bedarf der Erlass von Durchführungsrecht seinerseits eines sekundär-rechtlichen Basisrechtsaktes, der die Kommission (oder den Rat) erst im konkre-

11 Vgl. etwa Jarass/Beljin, Die Bedeutung von Vorrang und Durchführung des EG-Rechts für die nationale

Rechtsanwendung und Rechtsvollzug, NVwZ 2004, S. 1 ff. (6); Schroeder, Nationale Maßnahmen zur Durch-führung von EG-Recht und das Gebot der einheitlichen Wirkung, AöR 129 (2004), S. 3 ff. (9); Nettesheim, Die mitgliedstaatliche Durchführung von EG-Richtlinien, 1999.

12 Grundlegend zur Einwirkung des Europarechts auf die deutsche Verwaltungsrechtsordnung noch immer Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 1999; v. Danwitz, Verwaltungsrecht-liches System und europäische Integration, 1996 sowie die Vorträge auf den Staatsrechtslehrertagungen des Jahres 1993 („Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht: Wechselseitige Einwirkungen“) und 2003 („Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internati-onalisierung“).

13 Dieser terminus technicus bezieht sich maßgeblich auf die Verwendung des Begriffs der „Durchführung“ in Art. 211, 4. Sp. EG und Art. 202, 3. Sp. EG. Zwar spricht der EG auch in anderen Zusammenhängen von Durchführung, wie etwa für die Europäische Sozialpolitik in Art. 139 Abs. 2 S. 1 EG. Als sektorale Regelun-gen sollen diese Bestimmungen hier jedoch außer Betracht bleiben.

14 Dass der Begriff der Durchführung im Sinne des Art. 211 EG ausschließlich eine Kompetenzverteilungsregel zwischen Kommission und Rat impliziert, nicht jedoch die Durchführung des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten betrifft, hat auch der EuGH unlängst in Rs. C-257/01 (Kommission/Rat), Slg. 2005, I-345, Rn. 66 ausdrücklich festgestellt.

15 Als primäres Abgrenzungskriterium auch von Lenaerts/Verhoeven (Fn. 6), S. 650 f. angesehen.

Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG EuR – Heft 4 – 2006 515

ten Fall zur Rechtsetzung ermächtigt16. Der Kommission steht eine Kompetenz zur Durchführungsrechtsetzung also erst im Anschluss an einen „normativen Zwischenschritt des Rates“17 zu. Durchführungsrechtsetzung ist damit abgeleitete bzw. tertiäre Rechtsetzung18. Diese letzten Begriffe umfassen jedoch einen weite-ren Kreis von Handlungen. So sind auch die Akte vertraglich nicht vorgesehener Einrichtungen der Gemeinschaft und damit vor allem die der Europäischen Agen-turen ein Fall tertiärer Rechtsetzung19. Im Gegensatz dazu erkennt der Vertrag in Art. 211, 4. Sp. EG nur die Kommission und den in der Komplementärvorschrift des Art. 202, 3. Sp. EG genannten Rat als mögliche Durchführungsorgane an. Für die insoweit enger zu verstehende Durchführungsrechtsetzung entfaltet das Pri-märrecht damit eine inhaberbezogene Sperrwirkung20. Es beschränkt den Kreis der Durchführungsrechtakte im Sinne des Art. 211 EG ausdrücklich auf Handlun-gen der Kommission bzw. des Rates.

2. Die Regelzuständigkeit der Kommission

Auch wenn Art. 211, 4. Sp. EG damit für sich genommen bereits die Durchfüh-rungszuständigkeit der Kommission konstituiert, erhält sie ihre charakteristische Gestalt erst in Verbindung mit der bereits angesprochenen Komplementärvor-schrift des Art. 202, 3. Sp. EG. Danach überträgt der Rat der Kommission „in den von ihm angenommenen Rechtsakten die Befugnisse zur Durchführung“ dieser Bestimmungen. Er kann dabei aber „bestimmte Modalitäten für die Ausübung dieser Befugnisse festlegen“ und sich insbesondere auch vorbehalten, die Durch-führungsbefugnisse „in spezifischen Fällen“ selbst auszuüben. Anders als bei Art. 211, 4. Sp. EG handelt es sich bei dieser Vorschrift um eine erst mit Art. 10 der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) im Jahr 1986 in den Vertrag aufge-

16 Insbesondere stellt Art. 211, 4. Sp. EG nach allgemeiner Meinung keine Ermächtigungsgrundlage für eine

rechtsetzende Tätigkeit der Kommission dar. Es handelt sich bei ihr vielmehr (lediglich) um eine allgemeine Aufgabennorm (vgl. nur v. Borries, Die Verwaltungskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, in: FS Everling, Bd. 1, 1995, S. 127 ff. (132); Klepper, Vollzugskompetenzen der Europäischen Gemeinschaft aus abgeleitetem Recht, 2001, S. 46).

17 Möllers (Fn. 5), S. 485. 18 Vgl. Magiera, Die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts im europäischen Integrationsprozess, DÖV 1998,

S. 173 ff. (175); abweichend von v. Bogdandy/Bast/Arndt (Fn. 2), S. 93 auch als „habilitierte Rechtsetzung“ bezeichnet.

19 So etwa die Begriffsverwendung von T. Groß (Fn. 9), passim; für ein solches Begriffsverständnis ferner auch Demmke/Haibach (Fn. 6), S. 713; näher zu dem bisher praktisch bedeutsamsten Fall von tertiärer Rechtset-zung durch Agenturen Riedel, Die Europäische Agentur für Flugsicherheit im System der Gemeinschafts-agenturen, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 103 ff. (107 f.); umfassend nunmehr ders., Die Gemeinschaftszulassung für Luftfahrtgerät, 2006, S. 115 ff.; allge-mein zur gemeinschaftlichen Agenturlandschaft Fischer-Appelt, Agenturen der Europäischen Gemeinschaft, 1999; Chiti, Le agenzie europee, 2002.

20 Es besteht insoweit eine gewisse Parallele zu Art. 249 EG. Aus der Tatsache, dass auch dieser nur die Ge-meinschaftsorgane als Autoren der in ihm genannten Handlungsformen kennt, kann auch aus ihm eine organ-bezogene Sperrwirkung abgeleitet werden (vgl. Bast, Handlungsformen, in: v. Bogdandy, Europäisches Ver-fassungsrecht, 2003, S. 479 ff. (502)).

516 EuR – Heft 4 – 2006 Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG

nommene Bestimmung21. Erklärtes Ziel dieser Neuerung war es, die Rolle der Kommission bei der Durchführungsrechtsetzung gegenüber dem Rat zu stärken22. In den Beratungen zur EEA war dabei in erster Linie ein Entlastungstopos maß-geblich23. So wurde vor der EEA vielfach die Kritik geäußert, dass der Rat ange-sichts der Vielzahl von Entscheidungen nicht in der Lage sei, auf neue Herausfor-derungen angemessen zeitnah zu reagieren24. Art. 10 EEA war daher Bestandteil der Bemühungen, die gemeinschaftlichen Entscheidungsverfahren zu verbes-sern25. Schon der Wortlaut bringt die verstärkte Position der Kommission zum Aus-druck: Indem der Rat die Durchführungsbefugnisse „überträgt“, liegt darin ein generelles Regel-Ausnahmeverhältnis zu Gunsten der Kommission26. Der Rat ist also verpflichtet, die Durchführung der von ihm erlassenen Sekundärrechtsakte an die Kommission zu übertragen. Er darf sie sich nur in „spezifischen Fällen“ selbst vorbehalten. Dies stellt eine prinzipiell justiziable Rechtspflicht dar, die der Ge-richtshof jedoch nicht materiell-rechtlich auffüllt, sondern vornehmlich als eine besondere Begründungspflicht interpretiert27. Wenn nach dem Wortlaut des Ver-trages also zunächst sowohl der Rat als auch die Kommission als Urheber von Durchführungsrechtsakten in Frage kommt, kann doch – trotz in der Praxis nicht unerheblicher Abweichungstoleranzen28 – von der Durchführung als „Heimgut“29 der Kommission gesprochen werden30. Als Rechtsbegriff der Gemeinschaftsver-

21 Vertiefend zu der Entstehungsgeschichte Bruha/Münch, Stärkung der Durchführungsbefugnisse der Kommis-

sion, NJW 1987, S. 542 ff. (543); durchaus kritisch zur Systematik der Regelung Pescatore, Die „Einheitliche Europäische Akte“ – Eine ernste Gefahr für den gemeinsamen Markt, EuR 21 (1986), S. 153 ff. (167).

22 Vgl. etwa Lenaerts/van Nuffel (Fn. 1), S. 612. 23 Vgl. Bruha/Münch (Fn. 21), S. 543. 24 Von Möllers (Fn. 5), S. 490 als Notstandstopos nationaler Provenienz beschrieben. 25 Bruha/Münch (Fn. 21), S. 543; allgemein zu den Bemühungen um eine Verbesserung der Entscheidungsver-

fahren mit der EEA Pescatore (Fn. 21), S. 165 ff. Zeitlich fällt die Parallele zu der neuen Konzeption im Pro-duktsicherheitsrecht ins Auge, die ebenfalls darauf abzielte, die Regelungseffizienz des Gemeinschaftsrechts zu verbessern (aus der umfangreichen Literatur zu diesem Thema sei hier nur hingewiesen auf Röhl, Akkredi-tierung und Zertifizierung im Produktsicherheitsrecht, 2000; Di Fabio, Produktharmonisierung durch Nor-mung und Selbstüberwachung, 1996).

26 Lenaerts/van Nuffel (Fn. 1), S. 611 f.; Demmke/Haibach (Fn. 6), S. 711. 27 Vgl. etwa EuGH, Rs. 16/88 (Kommission/Rat), Slg. 1989, 3457, Rn. 10. Als primäre Begründungspflicht

aufgefasst schon bei Glaeser, Die Einheitliche Europäische Akte, EuR 21 (1986), S. 119 ff. (146). Beach-tenswert ist jedoch das jüngst zu Titel IV des EG (Visa, Asyl und Einwanderung) ergangene Urteil EuGH, Rs. C-257/01 (Kommission/Rat), Slg. 2005, I-345, Rn. 50 ff., in dem die Trennung zwischen einer reinen Be-gründungspflicht und materiellen Erwägungen zum Vorliegen eines spezifischen Ausnahmefalls im Sinne des Art. 202 EG zu verschwimmen scheint.

28 So schlägt nach der empirischen Untersuchung von v. Bogdandy/Bast/Arndt (Fn. 2), S. 141 f. die vertrags-unmittelbare Rechtsetzung der Kommission mit immerhin 9 % ihrer Gesamtrechtsetzungstätigkeit zu Buche. Die Durchführungsrechtsetzung durch den Rat – also die Fälle, in denen sich der Rat eine Ausübung von Durchführungsbefugnissen selbst vorbehält – macht dagegen 19 % seiner Handlungen aus.

29 Triantafyllou, Vom Vertrags- zum Gesetzesvorbehalt, 1996, S. 228. 30 Im Hinblick auf eine daraus ableitbare Gewaltenteilung spricht etwa Möllers (Fn. 5), S. 485 von der Kommis-

sion als „gewollte(r) Regelexekutive“ der Gemeinschaft. Allgemein zum Gedanken einer Gewaltenteilung auf Ebene der Gemeinschaft und insbesondere zur Stellung der Kommission zwischen Gubernative der EG und Agentur ders., Gewaltengliederung, 2005, S. 270 ff.; aus der älteren Literatur noch immer instruktiv Lenaerts, Some reflections on the seperation of powers in the European Community, CMLR 28 (1991), S. 11 ff.

Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG EuR – Heft 4 – 2006 517

träge ist Durchführung damit maßgeblich Durchführungsrechtsetzung der Kom-mission31.

III. Abstrakt-generelle Rechtsakte als Durchführung des Gemeinschaftsrechts

Aufgrund der Gemeinschaftsverträge ist die Durchführungsrechtsetzung also zunächst nur rein formell anhand ihrer abgeleiteten Ermächtigungsstruktur und der regelmäßigen Urheberschaft der Kommission charakterisiert. Eine bestimmte Idealgestalt ist ihr nach dem Vertragstext aber demnach noch nicht immanent. Gleichwohl hat das Konzept der Durchführungsrechtsetzung in der Rechtspre-chung des EuGH und der europarechtlichen Literatur inzwischen eine weiterge-hende Konturierung erfahren. Diese ist – wie einleitend bereits angeführt – maß-geblich mit dem Leitbild der Durchführung als abstrakt-genereller Rechtsetzung verbunden. Dies wird in den wenigen ausdrücklichen Stellungnahmen teils empi-risch32, teils auch normativ begründet33. Das Leitbild einer abstrakt-generellen Durchführungsrechtsetzung steht aber auch den Autoren vor Augen, die sich zu diesem Punkt nicht ausdrücklich äußern34. Dies ist insbesondere auf die verbreitet wahrgenommenen Parallelen von Durchführungsrechtsetzung und nationalem, insbesondere bundesdeutschem, Verfassungsrecht zurückzuführen. So sind mit der Durchführungsrechtsetzung typischerweise Konzepte und Fragestellungen verbunden, die auf nationalstaatlicher Ebene für die Formen exekutiver Rechtset-zung erarbeitet wurden35. Insbesondere dies soll im Folgenden anhand der Recht-sprechung des EuGH und dem in der Literatur vorherrschenden Konzept der Durchführungsrechtsetzung rekonstruiert werden.

1. Durchführung und wesentliche Grundzüge einer Materie – eine materielle Begriffsbestimmung

Über die oben dargestellten formalen Kriterien hinaus lässt sich der Begriff der Durchführung inhaltlich nur schwer erfassen und von den übrigen Rechtsakten

31 Im Ergebnis zeigt sich schon hier eine interessante Parallele zur bundesdeutschen Lehre vom originären

Verordnungsrecht der Exekutive, wonach die „gesetzesunabhängige, spezifizierende und konkretisierende Rechtsetzung (…) zum Funktionsbereich der Exekutive gehört“ (Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1981, S. 394, aus der jüngeren Literatur vgl. Seiler, Der einheitliche Parlamentsvorbehalt, 2000, S. 249).

32 Vgl. Joerges, Die Europäische „Komitologie“: Kafkaeske Bürokratie oder Beispiel „deliberativen Regierens“ im Binnenmarkt, in: Joerges/Falke, Das Ausschusswesen der Europäischen Union, 2000, S. 17 ff. (40).

33 Vgl. Möllers (Fn. 5), S. 503 ff. 34 Vgl. schon die Hinweise in Fn. 9. 35 Der idealtypisch abstrakt-generelle Charakter der Durchführungsrechtsetzung wird dabei gerade auch von den

Autoren vorausgesetzt, die einer Analogie von Durchführungsrechtsetzung und bundesdeutschen Formen exekutiver Normsetzung grundsätzlich kritisch gegenüberstehen. Dies zeigt sich daran, dass sie ihrerseits das aus dem italienischen und spanischen Recht bekannte Instrument des delegierten Regierungsgesetzes als taug-lichen Vergleichspunkt ansehen (so v. Bogdandy/Bast/Arndt (Fn. 2), S. 141; Bast (Fn. 20), S. 511 f.).

518 EuR – Heft 4 – 2006 Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG

der Gemeinschaftsorgane abgrenzen36. Gleichwohl ist insbesondere in der Recht-sprechung des EuGH eine solche materielle Charakterisierung Dreh- und Angel-punkt der Dogmatik des Durchführungsbegriffs. Der Gerichtshof legt in ständiger Rechtsprechung ein Wesentlichkeitskriterium an37, nach dem sich das Verhältnis von Durchführung und vertragsunmittelbarem Basisrechtsakt bestimmt. Danach hat der Rat im Verhältnis zur Kommission seinen vertraglichen Pflichten Genüge getan, soweit er „die wesentlichen Grundzüge der zu regelnden Materie“38 im Basisrechtsakt selbst festgelegt hat. Schon in diesem Kriterium zeigt die Durch-führungsrechtsetzung eine unmittelbare Verwandtschaft mit nationalen Konzep-ten exekutiver Normsetzung, insbesondere mit dem der bundesdeutschen Rechts-verordnung nach Art. 80 GG39. Eine genauere Betrachtung fördert jedoch auch konzeptuelle Unterschiede zu Tage. So sind für den EuGH nur solche Bestimmungen als wesentlich anzusehen, durch die „die grundsätzlichen Ausrichtungen der Gemeinschaftspolitik umge-setzt werden“40. Primär auf das gemeinschaftliche Agrarrecht bezogen führte der EuGH dazu aus, die Grenzen der Durchführungsbefugnisse der Kommission seien „mehr nach den allgemeinen Hauptzielen der Marktorganisation als nach dem Buchstaben der Ermächtigung zu beurteilen“ und demnach „weit auszulegen“41. Auch wenn sich der EuGH – ohne dass sich diese Rechtsprechungslinie in Folge-entscheidungen durchgesetzt hat42 – in anderen Politiksektoren der Gemeinschaft mitunter restriktiver zeigte43, ist der Bereich der zulässigen Durchführungsrecht-setzung der Kommission damit denkbar weit gefasst44. Dies sei an zwei Beispie-len aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs verdeutlicht: Zum einen erachtete es der EuGH schon in der Rechtssache Köster für zulässig, dass die Kommission tertiärrechtliche Kautionsregelungen für Ausfuhrlizenzen

36 So etwa auch Triantafyllou (Fn. 29), S. 236. 37 Lenaerts/Verhoeven (Fn. 6), S. 651: „substantive test“. 38 EuGH, Rs. 25/70 (Einfuhr- und Vorratsstelle / Köster u.a.), Slg. 1970, 1161, Rn. 6; bis heute gehalten etwa in

EuGH, Rs. 46/86 (Romke/Officier van Justitie), Slg. 1987, 2671, Rn. 16; EuGH, Rs. C-417/93 (Europäisches Parlament/Rat), Slg. 1995, I-1185; EuGH, Rs. C-156/93 (Parlament/Kommission), Slg. 1995, I-2019; EuGH, Rs. C-303/94 (Europäisches Parlament/Rat), Slg. 1996, I-2943, Rn. 23.

39 Zur Wesentlichkeitsrechtsprechung des BVerfG vgl. BVerfGE 33, 125, 158; BVerfGE 83, 130, 142; BVerf-GE 108, 282, 311 f. Aus der Literatur dazu nur Baader, Parlamentsvorbehalt, Wesentlichkeitsgrundsatz, De-legationsbefugnis, JZ 1992, S. 394 ff.; Haltern/Mayer/Möllers, Wesentlichkeitstheorie und Gerichtsbarkeit, Verw. 30 (1997), S. 51 ff. Vgl. jüngst auch die Entscheidung BVerwGE 121, 103, 108 zu den beamtenrechtli-chen Beihilfevorschriften, die bisher überwiegend in der Form von Verwaltungsvorschriften ergangen sind. Dazu speziell Saurer, Verwaltungsvorschriften und Gesetzesvorbehalt, DÖV 2005, S. 587 ff.

40 EuGH, Rs. C-240/90 (Deutschland/Kommission), Slg. 1992, I-5383, Rn. 37. 41 Erstmalig EuGH, Rs. 23/75 (Rey Soda/Cassa Conguaglio), Slg. 1975, 1279, Rn. 10/14; ferner etwa EuGH,

verb. Rs. 133-136/85 (Walter Rau u.a./Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung), Slg. 1987, 2289, Rn. 31.

42 Vgl. Möllers (Fn. 5), S. 488 f. mit weiteren Beispielen. 43 EuGH, Rs. 22/88 (Vreugdenhil/Minister van Landbouw), Slg. 1989, 2049, Rn. 17. 44 Ein deutliches Beispiel aus der Rechtsetzungspraxis ist etwa die Europäische Verpackungsrichtlinie. Nach

Art. 20 Abs. 1 RL (EG) Nr. 94/62, ABl. L 365/10 v. 31.12.1994 ist die Kommission, „treten bei der Anwen-dung dieser Richtlinie (…) Probleme auf“, befugt, „die zu deren Lösung notwendigen technischen Maßnah-men“ festzulegen. Skeptisch ob der relativen Unbestimmtheit der Grenzziehung zwischen Basis- und Durch-führungsrechtsakt daher etwa Schindler, Delegation von Zuständigkeiten in der Europäischen Gemeinschaft, 1972, S. 152; Bruha/Münch (Fn. 21), S. 544.

Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG EuR – Heft 4 – 2006 519

auf eine Ermächtigung stützte, die nach ihrem Wortlaut nur den Erlass von Ein-fuhrlizenzen zum Gegenstand hatte45. Entscheidend komme es danach darauf an, dass der Rat sich die Formulierung der allgemeinen politischen Ziele einer Ge-meinschaftsmaßnahme vorbehält. Die Entscheidung über die einzelnen Verwal-tungsmaßnahmen zur Konkretisierung dieser Ziele könne dagegen der Kommissi-on überlassen werden. Im Prinzip unbeachtlich sind dabei auch grundrechtliche Erwägungen, wie sie aber für die deutsche Rechtsverordnung im Institut des Par-lamentsvorbehalts ihren Niederschlag gefunden haben. Dies zeigt sich deutlich in dem zweiten hier gewählten Beispiel. Mit einer Klage vor dem EuGH begehrte die Bundesrepublik Deutschland die Nichtigerklärung einer Kommissionsverord-nung zur Durchführung einer gemeinsamen Marktordnung im Agrarsektor46. Diese war allein aufgrund eines nicht näher eingeschränkten Durchführungsauf-trags des Rates ergangen und sah eine Sanktionsregelung vor, die Marktteilneh-mer, die zuvor unrechtmäßig gezahlte Beiträge erhalten hatten, auch im Folgejahr von einer Prämiengewährung ausschloss. Die Bundesrepublik stützte ihre Argu-mentation insbesondere darauf, dass es das gemeineuropäische Rechts(staats)prin-zip zwingend vorschreibe, die Einführung von Sanktionsregeln als eine alleinige Befugnis des Gesetzgebers anzusehen47. Der EuGH lehnte dies jedoch unter er-neutem Verweis darauf ab, dass nur solche Bestimmungen als wesentlich anzuse-hen seien, die die grundsätzlichen Ausrichtungen der Gemeinschaftspolitiken betreffen48. Wenn aufgrund ihrer fehlenden Grundrechtsbezüglichkeit eine direkte Gleichset-zung mit der vom BVerfG erarbeiteten Wesentlichkeitsrechtsprechung zu Art. 80 GG auch verfehlt wäre49, bestehen doch strukturelle Parallelen zwischen dieser und dem Wesentlichkeitskriterium des EuGH50. Bestimmend ist in beiden Fällen das Bemühen, einer übermäßigen Verlagerung der grundgesetzlich bzw. primär-rechtlich angelegten regelmäßigen Rechtsetzungskompetenzen vorzubeugen51. Entsprechend wird die EuGH-Rechtsprechung in diesem Punkt auch unter dem Oberbegriff eines Delegationsverbots52 behandelt53. Trotz der bestehenden Unter-

45 Vgl. EuGH, Rs. 25/70 (Köster u.a./Einfuhr- und Vorratsstelle), Slg. 1970, 1161, Rn. 13 ff. 46 EuGH, Rs. C-240/90 (Deutschland/Kommission), Slg. 1992, I-5383. 47 EuGH, Rs. C-240/90 (Deutschland/Kommission), Slg. 1992, I-5383, Rn. 32. 48 EuGH, Rs. C-240/90 (Deutschland/Kommission), Slg. 1992, I-5383, Rn. 37. 49 In diese Richtung aber eine verbreitete Auffassung in der Literatur (vgl. etwa Bleckmann, Europarecht, 6.

Aufl. 1997, Rn. 522; Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, S. 200). 50 Differenzierter daher Kalbheim/Winter, Delegation requirements for rule-making by the Commission, in:

Winter, Sources and categories of European Union law, 1996, S. 583 ff. (588 f., 590); ausdrücklich für eine strukturelle Vergleichbarkeit beider Kriterien auch Demmke/Haibach (Fn. 6), S. 714.

51 Auf Ebene der Gemeinschaft spielt dies besonders im Hinblick auf die Stellung des Europäischen Parlaments im Rechtsetzungsprozess eine Rolle. Während die Entwicklung bei der vertragsunmittelbaren Setzung von Sekundärrecht insbesondere seit dem Vertrag von Maastricht in Richtung einer verstärkten Parlamentsmitwir-kung geht (vgl. etwa Reich, Rechte des Europäischen Parlaments in Gegenwart und Zukunft, 1999), unterfal-len Durchführungsrechtsakte aufgrund ihrer sekundärrechtlichen Ermächtigungsgrundlage gerade nicht den vertraglichen Regeln der Art. 250 ff. EG. Es handelt sich vielmehr um eine autonome Rechtsetzung der Kommission bzw. des Rates.

52 So etwa Haibach (Fn. 9), S. 58 f.

520 EuR – Heft 4 – 2006 Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG

schiede steht der Durchführungsrechtsetzung im Grundsatz also eine ähnliche Fragestellung vor Augen, wie sie auch bei der nationalen exekutiven Rechtset-zung zu finden ist54.

2. Durchführung und vertragsunmittelbare Rechtsetzung – Normenhierarchie oder Verhältnis partieller Hierarchisierung?

Ebenfalls deutlich von nationalstaatlichen Vorbildern exekutiver Normsetzung beeinflusst ist die Diskussion um das Verhältnis von Durchführungs- und Basis-rechtsakten. Schon aus der Natur der Durchführungsrechtsetzung als abgeleitetem Recht folgt eine Aussage über das generelle Verhältnis von Basis- und Durchfüh-rungsrechtsakt und damit zur Normenhierarchie des Gemeinschaftsrechts55. So bleibt trotz eines mitunter weit verstandenen Wesentlichkeitskriteriums die Durchführungsrechtsetzung stets an die Grenzen ihrer sekundärrechtlichen Er-mächtigungsgrundlage gebunden. Der Durchführungsrechtsakt darf nicht gegen den ihm gegenüber vorrangigen Basisrechtsakt verstoßen und Regelungen treffen, die von dessen Ermächtigung nicht mehr gedeckt sind56. Die Kommission kann also ihre Durchführungsbefugnisse nicht dazu nutzen, Regelungen außerhalb der Ratsermächtigung zu treffen57. Dies kommt insbesondere in dem Fall zum Tra-gen, dass der Rat erkennbar von einem abschließenden Charakter der sekundär-rechtlichen Regelung ausgeht58. Die Durchführungsrechtsetzung steht auch nach der Rechtsprechung des EuGH damit in einem klar hierarchischen Verhältnis zu ihrem jeweiligen Basisrechtsakt59. Bei diesem Hierarchieverhältnis handelt es

53 Ob die Durchführungsrechtsetzung dabei mit dem Begriff der Delegation zutreffend bezeichnet ist, kann

allerdings mit Recht bestritten werden (kritisch etwa Möllers (Fn. 5), S. 492 ff.). Zu beachten ist, dass dies nach herkömmlichem Begriffsverständnis die „Begründung einer außerordentlichen Zuständigkeit“ (Barbey, Rechtsübertragung und Delegation, 1962, S. 77) voraussetzt. Im Fall der Durchführungsrechtsetzung begrün-det insbesondere Art. 202, 3. Sp. EG in der Form, die er mit der EEA erhalten hat, jedoch nunmehr eine grundsätzliche Übertragungspflicht und damit gerade eine Regelzuständigkeit der Kommission (vgl. Le-naerts/van Nuffel (Fn. 1), S. 611 f.).

54 Vgl. auch Möllers (Fn. 5), S. 493: „(…) das gemeinverfassungsrechtliche Problem der demokratischen Legi-timation administrativer Normsetzung, die mit dem universellen Normsetzungsanspruch des Parlaments in Widerspruch geraten kann.“

55 Allgemein dazu vgl. Hofmann, Normenhierarchien im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000. 56 EuGH, Rs. 22/88 (Vreugdenhil/Minister van Landbouw en Visserij), Slg. 1989, 2049, Rn. 20; instruktiv in

diesem Zusammenhang auch das Urteil EuGH, Rs. 61/86 (Großbritannien/Kommission), Slg. 1988, 431, Rn. 7 ff., das zur Auslegung einer Durchführungsermächtigung auch primärrechtliche Wertungen und insbe-sondere die Warenverkehrsfreiheit aufgreift.

57 Das Wesentlichkeitskriterium wirkt freilich auch in die entgegengesetzte Richtung. So bestimmt es nicht nur den zulässigen Umfang der Ausübung übertragener Befugnisse. Es wirkt – verbunden mit dem Gebot der Be-stimmtheit von EG-Rechtsakten – vielmehr auch als ein Rechtmäßigkeitskriterium des übertragenden Basis-rechtsaktes. So stellte auch der EuGH in seinem Urteil in der Rs. 291/86 (Central Import/Hauptzollamt Müns-ter), Slg. 1988, 3679, Rn. 13 fest, dass eine Ermächtigung der Kommission zur Durchführungsrechtsetzung nur dann gültig ist, wenn sie in dem Sinne hinreichend bestimmt ist, dass der Rat die Grenzen der der Kom-mission übertragenen Befugnisse deutlich angegeben hat.

58 Vgl. auch EuGH, Rs. 264/86 (Frankreich/Kommission), Slg. 1988, 973, Rn. 21. 59 Dies stand bereits vor den einschlägigen EuGH-Urteilen außer Frage. Vgl. etwa Ipsen, Europäisches Gemein-

schaftsrecht, 1972, S. 440.

Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG EuR – Heft 4 – 2006 521

sich nicht etwa um eine Eigenschaft, die nur die Kommission an die im Basis-rechtsakt niedergelegten Vorgaben des Rates bindet. Die strikte Unterordnung des Durchführungsrechtsakts unter den ermächtigenden Rechtsakt ist der Durchfüh-rung vielmehr an sich immanent. So hält der Gerichtshof nicht nur die Kommissi-on an den im Basisrechtsakt niedergelegten Vorgaben und Grenzen der Durchfüh-rungsbefugnisse fest. Der Rat muss die entsprechenden Bindungen vielmehr auch gegen sich selbst gelten lassen60. In dem Fall, dass er sich die Durchführungsbe-fugnisse selbst vorbehält, kann auch er nicht die Grenzen seiner sekundärrechtli-chen (Selbst-)Ermächtigung im Wege der Durchführungsrechtsetzung überspie-len. Ebenso wie sich ein Durchführungsrechtsakt an den Bestimmungen seines Basis-rechtsakts messen lassen muss, ist es systematisch auch ausgeschlossen, dass ein Durchführungsrechtsakt die Regelungen seines Basisrechtsakts eigenmächtig abändert61. Eine Ausnahme ist jedoch für den nicht seltenen Fall anzuerkennen, dass ein Basisrechtsakt eine solche Änderungsmöglichkeit selbst vorsieht – ein Gestaltungsmittel, auf das der Rat vor allem in Politiksektoren zurückgreift, die eine schnelle Reaktion der Gemeinschaft auf neue technische oder wissenschaftli-che Erkenntnisse erfordern. Dies ist namentlich das Produktsicherheitsrecht oder das Umweltrecht62. Hier findet sich in zahlreichen Ratsverordnungen die Formu-lierung, dass die Kommission befugt sei, Vorgaben der Basisverordnung „an den technischen Fortschritt anzupassen“63. Inwieweit aus der strikten Abhängigkeit tertiärer Rechtsetzung auch eine allge-meine Hierarchie der Rechtsquellen, also eine unbeschränkte Geltung des Satzes lex superior derogat legi inferiori folgt, ist hingegen umstritten. Eine verbreitete Meinung nimmt eine solche generelle Überordnung des Sekundärrechts an64. Hier zeigt sich erneut, dass sich das Konzept der Durchführungsrechtsetzung an natio-nalstaatlich vorgebildeten Fragestellungen der exekutiven Rechtsetzung orientiert, namentlich an der bundesdeutschen hierarchischen Unterordnung von Rechtsver-ordnung unter Gesetz65. Dies wird umso deutlicher, als ein Teil der Literatur mit Recht gegen eine allgemeine Hierarchie von Sekundär- und Tertiärrecht einzu-wenden vermag, dass sie sich allein aus der Praxis des Europarechts nicht zwin-gend ergibt66. Während der allgemeine hierarchische Vorrang des Primärrechts

60 EuGH, Rs. 119/77 (Nippon Seiko K.K. u.a./Rat und Kommission), Slg. 1979, 1303, Rn. 24. 61 Vgl. EuGH, Rs. 38/70 (Tradax/Einfuhr- und Vorratsstelle), Slg. 1971, 145, Rn. 10; EuGH Rs. C-303/94

(Europäisches Parlament/Rat), Slg. 1996, I-2943, Rn. 23. 62 Vgl. Demmke/Haibach (Fn. 6), S. 715. 63 Art. 12 f. RL (EWG) Nr. 70/156, ABl. L 42/1 v. 23.2.1970; Art. 8 Abs. 2 RL (EWG) Nr. 76/768, ABl. L

262/169 v. 27.9.1976; vgl. ferner den besonderen Fall des Art. 6 Abs. 2 VO (EG) Nr. 1592/2002, ABl. L 240/1 v. 7.9.2002, wonach die Kommission befugt ist, die Anforderungen an die Umweltverträglichkeit neu zugelassener Luftfahrtgeräte an die wechselnden Vorgaben der International Civil Aviation Organization, also einer internationalen Organisation, anzupassen.

64 Vgl. etwa Lenaerts/van Nuffel (Fn. 1), S. 704; Magiera (Fn. 18), S. 175. 65 Dazu Ossenbühl, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Aufl. 2002, S. 148 ff. 66 So auch v. Bogdandy/Bast/Arndt (Fn. 2), S. 141.

522 EuR – Heft 4 – 2006 Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG

vor dem Sekundärrecht unbestritten ist67, wird das übrige Gemeinschaftsrecht danach als eine „horizontal gegliederte Rechtsmasse“ mit der Fähigkeit zur wech-selseitigen Derogation unabhängig von Handlungsform und Urheber des Rechts-akts angesehen68. Im Verhältnis von Durchführungsrechtsakt und Basisrechtsakt könne man lediglich ein „Verhältnis partieller Hierarchisierung“69 konstatieren70. Alle weiteren Hierarchisierungsversuche zeugen insoweit von einem nationalen Vorverständnis. Dieses Vorverständnis zeigt sich ferner auch in der dargestellten Möglichkeit, mit der Ermächtigung zur Durchführungsrechtsetzung zugleich die Befugnis zu verbinden, den ermächtigenden Basisrechtsakt an den technischen Fortschritt anzupassen und damit abzuändern. Auch dabei handelt es sich um eine Rechtsetzungstechnik, die aus der exekutiven Normsetzung unter dem GG, na-mentlich aus dem Verordnungsrecht der Bundesregierung nach Art. 80 GG be-kannt ist. Auch dort stellt es keine Besonderheit dar, dass eine gesetzliche Er-mächtigung zugleich dazu berechtigt, das ermächtigende Gesetz positiv umzuge-stalten71.

3. „Delegation with strings attached“ – das gemeinschaftliche Komitologiewesen

Eine herausgehobene Rolle in der Diskussion um die Durchführungsrechtsetzung der Kommission nach Art. 211, 4. Sp. EG hat seit jeher das gemeinschaftliche Komitologiewesen eingenommen. Neben der Absicht, die institutionelle Position der Kommission zu stärken, bildete das Bemühen, diese besondere Form der Aus-schussbeteiligung auf eine sichere vertragliche Grundlage zu stellen72, ein zweites Hauptziel der Neufassung des Art. 202, 3. Sp. EG73 durch die EEA. Wenn der Rat nach dem Wortlaut dieses Artikels nunmehr in der Lage ist, die Durchführungs-rechtsetzung der Kommission „bestimmte(n) Modalitäten“ zu unterwerfen, so erlaubt dies, eine Befugnisübertragung an die Kommission ausdrücklich unter die

67 V. Bogdandy/Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441 ff. (442)

sprechen insoweit von einem „Fundamentaldatum des Europäischen Verfassungsrechts“. 68 Bast (Fn. 20), S. 508 ff.; skeptisch zu einer vertikalen Gliederung unterhalb des Primärrechts auch Hofmann

(Fn. 55), S. 25 f.; v. Bogdandy/Bast/Arndt (Fn. 2), S. 93. 69 Bast (Fn. 20), S. 511. 70 Vgl. auch die Schlussanträge zu dem bereits angeführten Vreugdenhil-Urteil des EuGH, in denen auch GA

van Gerven dafür votierte, den Konflikt zwischen Durchführungsrecht und materiellen Vorgaben widerspre-chender Sekundärrechtsakte über den Weg eines Zielkonflikts zu lösen und insoweit keinen allgemeinen hie-rarchischen Vorrang des vertragsunmittelbaren Sekundärrechts konstatierte (Schlussanträge zu EuGH, Rs. 22/88 (Vreugdenhil/Minister van Landbouw), Slg. 1989, 2049, Rn. 11).

71 Zur gesetzesändernden Rechtsverordnung vgl. etwa Brenner, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 3, 4. Aufl. 2001, Art. 80, Rn. 27 m.w.N.; mit zahlreichen Beispielen ferner Schneider, Ge-setzgebung, 3. Aufl. 2002, S. 364 ff.

72 Vgl. Lenaerts/van Nuffel (Fn. 1), S. 611 f.; Haibach (Fn. 9), S. 60; so ausdrücklich auch EuGH, Rs. 16/88 (Kommission/Rat), Slg. 1989, 3481, Rn. 13; ferner auch Töller (Fn. 6), S. 516: „formelle Konstitutionalisie-rung“ der Komitologie durch die EEA.

73 Auch schon vor der EEA hatte der EuGH die besonders im Agrarrecht gefestigte Komitologiepraxis der Gemeinschaft jedoch bereits als vertragskonform bestätigt (grundlegend für das Verwaltungsverfahren vgl. EuGH, Rs. 25/70 (Köster/Einfuhr- und Vorratsstelle), Slg. 1970, 1161, Rn. 8 ff.).

Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG EuR – Heft 4 – 2006 523

Bedingung der Beteiligung eines Komitologieausschusses zu stellen74. Nach dem zutreffenden Bild von Docksey/Williams ist die Übertragung von Durchführungs-befugnissen auf die Kommission damit stets eine „delegation with strings atta-ched“75. Bei der Ausformulierung der Durchführungsmodalitäten ist der Rat je-doch nicht völlig frei. Art. 202 EG fordert vielmehr, dass eine Bindung der Kommission nur möglich ist, soweit sie den Regeln entspricht, „die der Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Stellungnahme des Europäischen Parla-ments vorher einstimmig festgelegt hat“76. Da es sich bei dem Konzept der Ausschussbeteiligung um eine wesentliche Ei-genart der Durchführungsrechtsetzung handelt, soll auch sie hier – nachdem zu-nächst ihre Funktionsweise dargestellt wird – auf ihre Konsequenzen für die Ge-stalt der Durchführungsrechtsetzung untersucht werden.

a) Aufbau und Funktionsweise des Komitologiewesens

Ursprünglich im Agrarsektor77 beheimatet, fand die Praxis, die Durchführungs-rechtsetzung der Kommission an die Mitwirkung eines Komitologieausschusses zu binden, nach und nach Eingang in nahezu alle Gemeinschaftspolitiken78. Der Aufbau und die Funktionsweise dieser Ausschüsse weisen seit ihrer Entstehung in den 1960er Jahren eine bemerkenswerte Kontinuität auf. Seit jeher setzen sie sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten und einem Kommissionsvertreter zusammen, der zwar stets den Vorsitz des Ausschusses innehat, selbst jedoch über kein Stimmrecht verfügt. Die Stimmengewichtung in den jeweiligen Ausschüssen entspricht derjenigen des Rates nach Art. 205 EG79. Entsprechend werden die Komitologiegremien der Gemeinschaft auch verbreitet als „kleine Ministerräte“80 bezeichnet. Je nach Art und Arbeitsbelastung treten die verschiedenen Komitolo-gieausschüsse einmal wöchentlich bis einmal im Monat zusammen81. Die Bedin-gungen für ihre Beteiligung an der Durchführungsrechtsetzung der Kommission –

74 Teilweise auch als Implementationsausschüsse bezeichnet (vgl. Demmke/Haibach (Fn. 6), S. 710). 75 Docksey/Williams, The European Commission and the execution of Community policy, in: Edwards/Spence,

The European Commission, 2. Aufl. 1997, S. 125 ff. (129); vgl. auch Schloh, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Bd. 1, A II, Rn. 237: „Delegation unter einer Bedingung“.

76 Art. 202, 3. Sp., S. 3 EG – Hervorhebungen vom Verfasser. 77 Gerade in den frühen 1960er Jahren betrachtete der Rat die zahlreichen im Agrarsektor notwendigen Detailre-

gelungen als reines „Tagesgeschäft“ (Demmke/Haibach (Fn. 6), S. 710) und daher primär nicht als seine Auf-gabe. Er gab damit den Anstoß für einen breiten Gebrauch des Art. 211, 4. Sp. EG in diesem Politikbereich.

78 Allgemein zur Geschichte der Komitologie von den ersten Ausschüssen im Jahre 1961 bis zum neuen Komi-tologiebeschluss vgl. Haibach, The history of comitology, in: Andenas/Türk, Delegated legislation and the ro-le of committees in the EC, 2000, S. 185 ff.; speziell zu dem langen Streit um das Komitologiewesen zwi-schen Europäischem Parlament und Rat vgl. nur Lenaerts/Verhoeven (Fn. 6), S. 646 ff. m.w.N.

79 Vgl. Art. 4 Abs. 2 S. 2, Art. 5 Abs. 2 S. 2 Beschluss (EG) Nr. 468/99, ABl. L 184/23 v. 17.7.1999. 80 So etwa Blattner, Europäisches Produktzulassungsverfahren, 2003, S. 163; vgl. auch Falke, Comitology:

From small Councils to complex networks, in: Andenas/Türk, Delegated legislation and the role of commit-tees in the EC, 2000, S. 331 ff.

81 Falke, Komitologie – Entwicklung, Rechtsgrundlagen und erste empirische Annäherung, in: Joerges/Falke, Das Ausschusswesen der Europäischen Union, 2000, S. 43 ff. (79). Ein Komitologieausschuss kann dabei durchaus auch mit der Durchführung mehrerer Basisrechtsakte betraut sein (vgl. Demmke/Haibach (Fn. 6), S. 716).

524 EuR – Heft 4 – 2006 Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG

also die „bestimmten Modalitäten“ im Sinne des Art. 202 EG – ergeben sich da-bei aus dem Komitologiebeschluss des Rates aus dem Jahr 199982, der den bis dahin geltenden Beschluss aus dem Jahr 1987 abgelöst hat83. In ihm sind im We-sentlichen drei Verfahrensmodelle der Ausschussbeteiligung vorgesehen84, die Rat und Europäischem Parlament als Europäischem Gesetzgeber bei Erlass eines Basisrechtsaktes zur Auswahl stehen und die sich namentlich im Hinblick auf das jeweilige Kräfteverhältnis zwischen Rat und Kommission unterscheiden: Bei der Durchführung nahezu frei ist die Kommission nach der ersten Verfah-rensvariante des Komitologiebeschlusses, dem Beratungsverfahren85. Soweit ein Basisrechtsakt das Beratungsverfahren vorsieht, ist die Kommission, will sie von den ihr übertragenen Befugnissen Gebrauch machen, verpflichtet, dem beratenden Ausschuss einen entsprechenden Entwurf vorzulegen. Die entsprechende Stel-lungnahme des Ausschusses hat dabei aber keine bindende Wirkung. Lehnt der befasste Ausschuss den Kommissionsvorschlag ab, so ergibt sich für die Kom-mission nur die Verpflichtung, die abweichende Stellungnahme so weit wie mög-lich zu berücksichtigen und den Ausschuss darüber zu informieren. Der Einfluss der Ausschüsse im Beratungsverfahren beschränkt sich damit auf ein bloßes Recht zur Stellungnahme86. Das auch nach dem neuen Komitologiebeschluss als Verwaltungsverfahren be-zeichnete Ausschussmodell beinhaltet dagegen eine verstärkte Bindung der Kommission87. Im Vergleich zur Rechtslage vor 1999 führt der neue Komitolo-giebeschluss unter diesem Rubrum zwei bisher getrennte Verfahrensvarianten zu einem einheitlichen Verwaltungsausschussverfahren zusammen88. Danach ist die

82 Beschluss (EG) Nr. 468/99, ABl. L 184/23 v. 17.7.1999. Zu den wesentlichen hier nicht vertieften Neuerun-

gen dieses Beschlusses gegenüber der alten Rechtslage gehört insbesondere, dass er in seinem Art. 7 Abs. 2 nunmehr ein ausdrückliches Zugangsrecht der Öffentlichkeit zu den Dokumenten der Komitologieausschüsse anerkennt. Der neue Komitologiebeschluss nimmt insoweit die nahezu zeitgleich ergangene Rechtsprechung des EuG, Rs. T-188/97 (Rothmanns / Kommission), Slg. II-1999, 2463, bes. Rn. 62 auf, in der das Gericht die Dokumente der Ausschüsse der Autorenschaft der Kommission zurechnete und sie so den für diese geltenden Transparenzregeln unterstellte. Des Weiteren sieht der neue Komitologiebeschluss einen Ausbau der Informa-tionsrechte des Europäischen Parlaments vor und stärkt damit dessen Kontrollfunktion (dazu insbes. Men-sching (Fn. 6), S. 271; vgl. auch den jüngsten Änderungsvorschlag der Kommission vom 11.12.2002, der na-mentlich darauf abzielt, die Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments im Anwendungsbereich des Mit-entscheidungsverfahrens nach Art. 251 EG nochmals zu stärken (KOM (2002) 719 endg.)).

83 Beschluss (EWG) Nr. 373/87, ABl. L 197/33 v. 18.7.1987. Im Überblick zu den Verfahren des alten Komito-logiebeschlusses Falke (Fn. 81), S. 52 ff.

84 Neben den im Folgenden dargestellten drei Hauptverfahren kennt der Komitologiebeschluss noch ein weite-res, das sog. Verfahren bei Schutzmaßnahmen (vgl. Art. 6 Beschluss (EG) Nr. 468/99, ABl. L 184/23 v. 17.7.1999). Aufgrund seiner eher geringen praktischen Bedeutung soll an dieser Stelle jedoch auf eine nähere Charakterisierung verzichtet werden. Dazu näher Lenaerts/Verhoeven (Fn. 6), S. 678 f.

85 Vgl. Art. 3 Beschluss (EG) Nr. 468/99, ABl. L 184/23 v. 17.7.1999. 86 Zu den möglichen indirekten politischen Wirkungen der Ausschussbeteiligung im Beratungsverfahren vgl.

aber Bradley (Fn. 5), S. 705. 87 Art. 4 Beschluss (EG) Nr. 468/99, ABl. L 184/23 v. 17.7.1999. 88 Vgl. die Varianten IIa und IIb des Beschlusses (EWG) Nr. 373/87, ABl. L 197/33 v. 18.7.1987. Diese beiden

Verfahren unterschieden sich maßgeblich darin, dass die Kommission im ersten Fall nach einem ablehnenden Ausschussvotum den Erlass der von ihr beabsichtigten Maßnahme um maximal einen Monat verschieben konnte. Der Rat war sodann berufen, in dieser relativ kurzen Frist über eine eigene Maßnahme zu entscheiden. Im zweiten Fall musste die Kommission ihre Maßnahme dagegen für einen Zeitraum von maximal drei Mona-ten verschieben. Dem Rat war damit ein größeres Zeitfenster für eigene Maßnahmen eröffnet.

Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG EuR – Heft 4 – 2006 525

Kommission befugt, ungeachtet einer negativen Stellungnahme des beteiligten Ausschusses, die von ihr geplante Maßnahme sofort zu erlassen. Diese bleibt jedoch nur solange in Kraft, wie der Rat sie nicht durch eine eigene abweichende Maßnahme ersetzt. Einer positiven Stellungnahme steht es dabei gleich, wenn der Ausschuss keine Stellungnahme mit qualifizierter Mehrheit abgibt (sog. „graue Zone“89). Zusammenfassend besteht das wesentliche Konzept dieses zweiten Verfahrens darin, dass es in Politikbereichen, die eine schnelle Reaktion auf neue Sachverhalte erfordern, einen Erstzugriff der Kommission ermöglicht und erst sekundär (nach einem ablehnenden Ausschussvotum) eine Kompetenz des Rates eröffnet90. Die dritte Verfahrensmodalität der Ausschussbeteiligung ist das Regelungsverfah-ren91. Anders als im Verwaltungsverfahren verliert die Kommission ihre Durch-führungskompetenz bei diesem bereits unmittelbar mit einer ablehnenden oder verweigerten Stellungnahme des beteiligten Ausschusses. Es liegt sodann allein beim Rat, über den Vorschlag der Kommission zu entscheiden. Dafür bestehen grundsätzlich drei Möglichkeiten: Soweit der Rat innerhalb einer im Basisrechts-akt vorgesehenen Frist keine eigene Maßnahme mit qualifizierter Mehrheit an die Stelle des Kommissionsvorschlags setzt, aktualisiert sich eine Auffangkompetenz der Kommission (sog. filet-Verfahren). Eine qualifizierte Mehrheit, mit der der Rat den Kommissionsvorschlag ablehnt, kann diese Auffangkompetenz jedoch blockieren, auch ohne eine eigene Maßnahme an die Stelle des Kommissionsvor-schlags zu setzen (sog. contre filet-Verfahren). Filet- und contre filet-Verfahren stellten dabei ursprünglich zwei eigenständige Verfahrensvarianten der Aus-schussbeteiligung dar92. Mit dem neuen Komitologiebeschluss wurden sie jedoch nunmehr, ebenso wie im Fall des Verwaltungsausschussverfahrens, zu einer ein-heitlichen Prozedur zusammengefasst93. Gegenüber den anderen Verfahrensmo-dalitäten realisiert sich im Regelungsausschussverfahren eine ungleich größere Bindung der Kommission, die jedoch auch hier nicht mit einer völligen Abhän-gigkeit vom Rat gleichgesetzt werden kann94. So genügte es angesichts der Stim-

89 Schmitt v. Sydow, in: v.d. Groeben/Schwarze, EUV&EGV, Bd. 4, 6. Aufl. 2003, Art. 211 EG, Rn. 90. 90 Falke, in: Joerges/Falke (Fn. 81), S. 59. 91 Art. 5 Beschluss (EG) Nr. 468/99, ABl. L 184/23 v. 17.7.1999. 92 Vgl. die Verfahren IIIa als allgemeines und IIIb als besonderes Regelungsausschussverfahren im Beschluss

(EWG) Nr. 373/87, ABl. L 197/33 v. 18.7.1987. 93 Speziell zur alten Rechtslage ausführlich Falke (Fn. 81), S. 60 ff. Im Hinblick auf die Eigenständigkeit der

Kommission bei der Beschlussfassung stellt die einheitliche Neuregelung insoweit einen Mittelweg zwischen den beiden Verfahrensvarianten dar, aus denen sie hervorgegangen ist. Einerseits entfällt mit der Neuregelung das bisherige, nach vom Rat akzeptierter Rechtsauffassung der Kommission aus Art. 250 Abs. 1 EG abgelei-tete Einstimmigkeitserfordernis für den Fall, dass der Rat im filet-Verfahren einen Vorschlag der Kommission ablehnen wollte. Gerade dieses Einstimmigkeitserfordernis führte in politisch besonders heiklen Fragen – wie etwa im Gentechnikrecht – dazu, dass die Kommission von ihr geplante Durchführungsmaßnahmen nahezu immer durchsetzen konnte. Es bedurfte insoweit nur der Zustimmung eines Mitgliedstaates im Rat. Auf der anderen Seite entfällt im Gegenzug aber auch das Recht des Rates, im bisherigen contre-filet Verfahren den Kommissionsvorschlag mit einfacher Mehrheit abzulehnen, zu Gunsten einer qualifizierten Ratsmehrheit (vgl. zu diesem Komplex Mensching (Fn. 6), S. 270).

94 Verkürzend daher Sydow (Fn. 10), S. 80.

526 EuR – Heft 4 – 2006 Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG

mengewichtung im Rat bis zur EU-Osterweiterung, dass die Kommission die Unterstützung zweier „großer“ und zweier „kleiner“ Mitgliedstaaten besaß, um eine ablehnende Stellungnahme des Rates zu verhindern und so ihre Auffang-kompetenz zu aktivieren95. Welche dieser Verfahrensmodalitäten im Einzelfall Anwendung findet, ist im entsprechenden Basisrechtsakt festgelegt. In der Vergangenheit erfolgte diese Wahl vornehmlich nach politischen Opportunitätskriterien96. Insbesondere das Regelungsausschussverfahren wurde als Indiz für die politische Brisanz einer Durchführungsaufgabe angesehen97. Es kann daher nicht verwundern, dass die Wahl der anzuwendenden Verfahrensmodalität stets einen der Hauptstreitpunkte zwischen Kommission und Rat darstellte98. So wurde etwa das besonders strikte contre filet-Verfahren des 1987er Komitologiebeschlusses während dessen Gel-tungsdauer nicht ein einziges Mal von der Kommission vorgeschlagen99. Als Reaktion auf den Vorwurf, dass es bislang an klaren Vorgaben für die Verfah-renswahl fehle, enthält der neue Komitologiebeschluss nunmehr Kriterien, an denen sich in Zukunft die Auswahl des Verfahrens orientieren soll100. Danach soll das Verwaltungsverfahren vornehmlich in den Bereichen der gemeinsamen Agrar- und Fischereipolitik sowie im Rahmen der Programmverwaltung zur An-wendung gelangen. Das Regelungsverfahren ist dagegen Maßnahmen von allge-meiner politischer Tragweite vorbehalten. Als Beispiele nennt der Beschluss hier Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit oder den Fall der Anpassung von Basis-rechtsakten an den technischen Fortschritt. Wurde dieser Regelung in der Ver-gangenheit eher eine geringe Bedeutung prognostiziert101, hat sie in der Recht-sprechung des Gerichtshofs trotz ihres nur empfehlenden Charakters inzwischen jedoch eine deutliche Aufwertung erfahren. In ständiger Rechtsprechung sieht er in ihr eine justiziable Begründungspflicht für den Fall, dass der Rat von den nie-dergelegten Kriterien zur Verfahrenswahl abweichen möchte, deren Nichtbeach-tung mitunter auch zur Nichtigerklärung des betreffenden Basisrechtsakts geführt hat102.

95 Mensching (Fn. 6), S. 270. 96 So weist etwa Schmitt v. Sydow, in: v.d. Groeben/Schwarze (Fn. 89), Art. 211 EG, Rn. 87 darauf hin, dass in

der Aufbruchsstimmung der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts vornehmlich auf die Form der Verwal-tungsausschüsse zurückgegriffen wurde, während sich in der „Eurosklerose“ der 1970er das Regelungsaus-schussverfahren zunehmend durchzusetzen begann.

97 Falke (Fn. 81), S. 69. 98 Dazu näher Falke (Fn. 81), S. 66. 99 Mensching (Fn. 6), S. 269. 100 Art. 2 Beschluss (EG) Nr. 468/99, ABl. L 184/23 v. 17.7.1999. 101 Vgl. Mensching (Fn. 6), S. 270. 102 So etwa in EuGH, Rs. C-378/00 (Kommission/Europäisches Parlament und Rat), Slg. 2003, I-937, Rn. 50 ff.;

im Anschluss daran vgl. auch EuGH, Rs. C-122/04 (Kommission/Europäisches Parlament und Rat), noch nicht in der amtlichen Sammlung.

Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG EuR – Heft 4 – 2006 527

b) Komitologieausschüsse als ebenenverbindende Kooperationsgremien

Auch wenn der scheinbar große Einfluss, den sich der Rat mittels Ausschussbetei-ligung an der Durchführungsrechtsetzung der Kommission vorbehält, ein Leitmo-tiv der verbreiteten Kritik am derzeitigen Komitologiewesen darstellt103, mag sich dieses nur schwer in das tatsächliche Erscheinungsbild der Durchführungsrecht-setzung einfügen. Bereits ein erster Blick in die Praxis zeigt, dass die Fälle einer negativen Stellungnahme des beteiligten Komitologieausschusses in nahezu allen Politikbereichen äußerst selten sind104. So weist der Bericht der Kommission über die Tätigkeit der Ausschüsse für das Jahr 2002 in völliger Konsistenz mit frühe-ren Berichten und Untersuchungen aus, dass im gesamten Berichtsjahr nur in 7 Fällen ein Kommissionsvorschlag zur Befassung des Rates führte. Dies entspricht lediglich 0,25 % der von der Kommission im Regelungs- und Verwaltungsverfah-ren erarbeiteten Durchführungsmaßnahmen105. Wie dieser Befund zu deuten ist, ist umstritten. Von manchen Autoren als Indiz für das reibungslose Funktionieren eines ebenenübergreifenden Diskurses von Fachbeamten begrüßt106, wird die praktisch ausschließlich konsensorientierte Durchführungspraxis von anderen Stimmen dagegen auf eine Selbstzensur der Kommission zurückgeführt107. In diese Richtung deuten auch einige eigene Stellungnahmen der Kommission, wo-nach sie sich angesichts der intensiven Einflussmöglichkeiten des Rates bemühen werde, von vornherein nur solche Rechtsakte vorzuschlagen, bei denen ein Wi-derstand in den Ausschüssen nicht zu erwarten sei108. Entsprechend uneinheitlich ist auch die integrationstheoretische Bewertung des Komitologiewesens. Die Stellungnahmen reichen von der Auffassung, dass die Komitologieausschüsse in erster Linie der bloßen Kontrolle der Kommission durch den Rat dienen109 und damit ein Überwiegen des intergouvernementalen Integrationsmomentes zu konstatieren sei110, bis hin zu umfassenden Kooperati-

103 Aus der älteren Literatur vgl. etwa Bruha/Münch (Fn. 21), S. 544. 104 Ausnahmen stellen jedoch die politisch regelmäßig besonders umstrittenen Gebiete des Umwelt- und

Verbraucherschutzes dar (vgl. Roller (Fn. 6), S. 254). 105 Vgl. den Bericht der Kommission über die Tätigkeit der Ausschüsse im Jahre 2002 v. 8.9.2003 (KOM (2003)

530 endg.), S. 5; vgl. ferner auch die bisherigen Untersuchungen von Roller (Fn. 6), S. 253 f.; Falke (Fn. 81), S. 68 ff.

106 So die Einschätzung von Schmitt v. Sydow, in: v.d. Groeben/Schwarze (Fn. 89), Art. 211 EG, Rn. 98; diffe-renzierter aber im Ergebnis ebenfalls zustimmend Roller (Fn. 6), S. 253 f.

107 Mensching (Fn. 6), S. 269. 108 Vgl. etwa die Erklärungen der Kommission zu Art. 4 des Beschlusses 1999/468/EG des Rates v. 28.6.1999

und zu Art. 4 des Beschlusses 1999/468/EG des Rates v. 28.6.1999. 109 So etwa Triantafyllou (Fn. 29), S. 252; vgl. auch Roller (Fn. 6), S. 250. 110 Vgl. nur Weiler, The Community system: The dual character of supranationalism, YEL 1 (1982), S. 257 ff.

(290).

528 EuR – Heft 4 – 2006 Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG

ons- und Fusionsthesen in der neueren Literatur111. Die Diskussion soll an dieser Stelle nicht vertieft werden. Es ist jedoch festzuhalten, dass ein Verständnis des Ausschusswesens als bloße Kontrolle der Kommission der Komplexität der Vor-gänge in den Komitologiegremien der Gemeinschaft in zunehmendem Maße nicht mehr gerecht werden kann. So wird gerade in der jüngeren Literatur verstärkt auf die Schlüsselstellung der Kommission als agenda setter112 hingewiesen, die ihr trotz formal gegenüber den mitgliedstaatlichen Vertretern unterlegener Stellung einen maßgeblichen Einfluss auf die Arbeit der Ausschüsse ermöglicht113. Als permanent auf supranationaler Ebene tätige Institution habe sie einen deutlichen Informationsvorsprung gegenüber den für die Ausschussabstimmungen abgestell-ten nationalen Beamten114. Zudem könne sie, indem ihre Vertreter in allen Aus-schüssen zwingend den Vorsitz innehaben, das Arbeitsprogramm und die Ab-stimmungen der Ausschüsse auch ohne eigenes Stimmrecht maßgeblich beein-flussen115. Dass das Komitologiewesen nicht allein als eine bloße Kontrolle der Kommission durch den Rat aufgefasst werden kann, zeigt zudem ein Blick auf die allgemeine Funktionslogik der Ausschussbeteiligung. Dabei erweist es sich, dass der Nutzen der Komitologie keineswegs nur einseitig zugunsten des Rates zu Buche schlägt. Auch die Kommission kann ihrerseits aus der institutionalisierten Zusammenar-beit mit den zuständigen Stellen in den Mitgliedstaaten erhebliche Kooperations-gewinne ziehen. So bringen die an der Durchführungsrechtsetzung beteiligten Ausschüsse vielfach eine besondere technische Sachkunde und wissenschaftliche Expertise in den jeweiligen Politiksektor ein, die ansonsten auf Gemeinschafts-ebene nur begrenzt zur Verfügung steht116. Nach wie vor stellen vor allem die mitgliedstaatlichen Verwaltungen in vielen Bereichen den maßgeblichen Voll-

111 Vgl. etwa Wessels, Comitology: Fusion in action, JEPP 5 (1998), S. 209 ff. (216 f.); Bach, Eine leise Revolu-

tion durch Verwaltungsverfahren, Zeitschrift f. Soziologie 21 (1992), S. 16 ff. (24): „expertokratische Fusi-onsbürokratie“. Zentral sind in diesem Zusammenhang die Veröffentlichen der „Bremer Schule“, die mit ih-rem Konzept eines deliberativen Supranationalismus ein neues Erklärungsmodell für die Verhandlungspro-zesse in den gemeinschaftlichen Komitologieausschüssen suchen (vgl. Joerges, Zusammenfassung und Per-spektiven: „Gutes Regieren“ im Binnenmarkt, in: Joerges/Falke, Das Ausschusswesen der Europäischen Uni-on, 2000, S. 349 ff. (bes. 359 ff.); Joerges/Neyer (Fn. 6), S. 273 ff.; Bücker/Joerges/Neyer u.a., Social regula-tion through european committees, in: Pedler/Schäfer, Shaping european law and policy, 1996, S. 39 ff.).

112 Zu diesem Begriff vgl. Pollack, IO 51 (1997), S. 99 ff. (121 ff.); schon früh Weiler (Fn. 110), S. 288 ff.; speziell aus organisationswissenschaftlicher Sicht Simon, Administrative behavior, 4. Aufl. 1997, S. 122 ff.

113 In jüngerer Zeit auch für die ähnlich aufgebauten Verwaltungsräte Europäischer Agenturen herausgearbeitet (vgl. etwa Fischer-Appelt (Fn. 19), S. 236 f.; Weller, Regulierungsagenturen der Europäischen Union, 2002, S. 23).

114 Vgl. Joerges/Neyer (Fn. 6), S. 290; ferner auch, jedoch primär im Hinblick auf die angesprochenen Verwal-tungsräte, vgl. Punkt 5.3 f. des Berichts des Rechnungshofes über den Jahresabschluss und die Haushaltsfüh-rung 1993 des Europäischen Zentrums für die Förderung der Berufsbildung (CEDEFOP-Berlin) v. 10.11.1994 (ABl. C 378/1).

115 Vgl. Falke (Fn. 81), S. 73. 116 So etwa Demmke/Haibach (Fn. 6), S. 715. Diese technokratische Legitimation des gemeinschaftlichen Aus-

schusswesens klingt auch in EuGH, Rs. C-212/91 (Angelopharm/Hansestadt Hamburg), Slg. 1994, I-171, Rn. 31 ff. an, wonach es bei Entscheidungen, die eine besondere Sachkunde voraussetzen, zwingend geboten sein kann, neben einem Regelungsausschuss auch einen beratenden, wissenschaftlichen Ausschuss an der Durchführungsrechtsetzung zu beteiligen.

Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG EuR – Heft 4 – 2006 529

zugsapparat des Gemeinschaftsrechts. Die gemeinschaftseigenen Verwaltungs- und Expertiseressourcen sind – trotz Tendenzen eines verstärkten Ausbaus117 – dagegen prinzipiell begrenzt. Da das Durchführungsrecht insoweit namentlich von den auch an der Entstehung beteiligten nationalen Verwaltungen umgesetzt werden muss, trägt das gemeinschaftliche Komitologiewesen zudem zur späteren Vollzugsfreundlichkeit der gefundenen Lösungen bei, indem etwaige bestehende Widerstände in den Mitgliedstaaten von vornherein erkannt werden können118. Das Komitologiewesen erfüllt so eine wesentliche Übersetzungsaufgabe119 zwi-schen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten. In dieser Funktion ergeben sich wiederum Parallelen zum mitgliedstaatlichen und insbesondere zum bundesdeutschen Verfassungsrecht. So ähnelt die Durchfüh-rungsrechtsetzung der Kommission nach Art. 211, 4. Sp. EG in prägnanter Weise den aus dem Bundesstaat bekannten Formen inneradministrativer Verfahrensho-mogenisierung durch exekutive Normsetzung, namentlich den allgemeinen Ver-waltungsvorschriften der Art. 84 Abs. 2 und 85 Abs. 2 GG120. Ebenso wie das Gros der Durchführungsakte der Kommission richten sich diese nicht primär an die Allgemeinheit der Normunterworfenen, sondern an diejenigen, die mit dem administrativen Vollzug gesetzlicher Vorgaben betraut sind – im Bundesstaat also an die Länder. Sie enthalten zumeist abstrakt-generelle Vorgaben für die Anwen-dung des einschlägigen Gesetzesrechts121. In Analogie zur Durchführungsrecht-setzung der Kommission bezweckt das Instrument der allgemeinen Verwaltungs-vorschrift damit eine unitarisierende Korrektur der föderativen Verwaltungsstruk-tur122. Auch das gemeinschaftliche Komitologiewesen findet – als Beteiligung der zum Vollzug berufenen Ebene an der Konkretisierungsaufgabe – eine funktionel-le Entsprechung in der Beteiligung des Bundesrates am Erlass allgemeiner Ver-waltungsvorschriften nach dem GG123.

4. Zwischenergebnis

Wie in den vorangegangenen Beispielen gezeigt wurde, baut das Konzept der Durchführungsrechtsetzung in wichtigen Grundstrukturen auf der Idealform einer

117 Dies betrifft vor allem die in stetigem Wachstum begriffene Agenturlandschaft der EG. Vgl. dazu bereits die

Nachweise in Fn. 19. Für eine funktionelle Typologie Riedel (Fn. 19), S. 110 ff. 118 Vgl. etwa Mensching (Fn. 6), S. 269; Roller (Fn. 6), S. 251; jüngst auch Winter, Kompetenzverteilung und

Legitimation in der Europäischen Mehrebenenverwaltung, EuR 40 (2005), S. 255 ff. (257). In diesen Zusam-menhang gehört auch das von Schmitt v. Sydow, in: v.d. Groeben/Schwarze (Fn. 89), Art. 211 EG, Rn. 79 ge-prägte Bild eines ablehnenden Ausschussvotums als „Alarmglocke“, die das Vorliegen politischer Probleme anzeigt.

119 Hofmann/Töller (Fn. 6), S. 210. 120 Vgl. Möllers (Fn. 5), S. 504; in diese Richtung auch T. Groß (Fn. 9), S. 22. Umfassend monographisch zur

Verwaltungsvorschrift jüngst Sauerland, Die Verwaltungsvorschrift im System der Rechtsquellen, 2005. 121 Vgl. Schneider (Fn. 71), S. 186; dazu und zu der gängigen Kategorisierung der Verwaltungsvorschriften vgl.

auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 1980, S. 803. 122 Speziell zu diesem Aspekt Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, S. 366. 123 Ausdrücklich so Möllers (Fn. 5), S. 505; Haibach (Fn. 6), S. 106.

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rechtssatzförmigen Konkretisierung von politischen Entscheidungen auf. Diese Konzeption beruht dabei maßgeblich darauf, dass nationalstaatlich bekannte Fra-gestellungen exekutiver Normsetzung in das Konzept der Durchführungsrechtset-zung importiert wurden. Die eingangs gestellte Prämisse konnte insoweit verifi-ziert werden. Dieser Befund ist aber keineswegs nur empirischer Natur. Auch normativ lässt sich folgerichtig die idealtypische Gestalt der Durchführungsrecht-setzung auf ein generelles „Primat der materiellen Programmierung“124 vor ein-zelfallbezogenen Zugriffsrechten auf die mitgliedstaatliche Ebene stützen. Solche Einzelzugriffsrechte finden sich in Art. 211 EG gerade nicht normiert und er-scheinen auch aus dem Blickwinkel der mitgliedstaatlichen Position als weniger schonendes Instrument im Vergleich zu einer Koordination durch materielles Durchführungsrecht125. Durchführung im Sinne des Art. 211, 4. Sp. EG ist dem-nach in erster Linie abstrakt-generelle Rechtsetzung durch die Kommission zur gemeinschaftlichen Steuerung der für den Vollzug zuständigen nationalen Ver-waltungen. In dieser Funktion nimmt auch das Komitologiewesen eine wichtige Koordinations- und Übersetzungsaufgabe im Mehrebenensystem ein, die eine Pa-rallele namentlich in der Beteiligung des Bundesrates am Erlass allgemeiner Verwaltungsvorschriften nach dem deutschen Grundgesetz findet.

IV. Einzelfallmaßnahmen als Durchführung des Gemeinschaftsrechts

So weit verbreitet die Sichtweise von der Durchführungsrechtsetzung als abstrakt-genereller Normsetzung auch ist, kennt das Gemeinschaftsrecht doch auch Fälle konkret-individueller Verwaltungsentscheidungen der Kommission, die auf einer abgeleiteten Ermächtigungsgrundlage beruhen126. Dass es sich dabei nicht nur begrifflich, sondern auch inhaltlich um Durchführungsakte im Sinne des Art. 211, 4. Sp. EG handelt, zeigt sich insbesondere daran, dass diese Entscheidungen stets unter Mitwirkung eines entsprechenden Komitologiegremiums nach den darge-stellten allgemeinen Regeln der Ausschussbeteiligung ergehen. Aber nicht nur die Praxis, auch der Rechtsprechung des EuGH liegt in den wenigen hierzu bisher ergangenen Entscheidungen ein erkennbar weites Durchführungskonzept zugrun-de. Danach umfasst der Begriff der Durchführung im Sinne des Art. 211, 4. Sp. EG „sowohl die Ausarbeitung von Durchführungsvorschriften als auch die An-wendung von Vorschriften auf den Einzelfall durch Erlass individueller Rechtsak-te“127. Ferner heißt es: „Da der Vertrag den Begriff Durchführung verwendet,

124 Möllers (Fn. 5), S. 507. 125 Möllers (Fn. 5), S. 506 f.; wiederholt in ders. (Fn. 5), S. 311 f. 126 Damit unterscheiden sich diese ausdrücklich von anderen administrativen Einzelakten der Kommission, die –

wie etwa für das Kartellrecht in Art. 85 Abs. 2 EG oder für das Beihilfenrecht in Art. 88 Abs. 2 EG – ihre Grundlage bereits im Primärrecht finden.

127 EuGH, Rs. 16/88 (Kommission/Rat), Slg. 1989, 3481, Rn. 11; bezugnehmend auf dieses Urteil nunmehr auch das noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlichte Urteil EuGH, Rs. C-122/04 (Kommission/ Europäisches Parlament und Rat), Rn. 41.

Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG EuR – Heft 4 – 2006 531

ohne ihn durch einen näheren Zusatz einzuschränken, lässt sich dieser Begriff nicht so auslegen, dass er individuelle Rechtsakte ausschließt“128. Unter den Be-griff der Durchführungsrechtsakte können also auch einzelfallbezogene Verwal-tungsmaßnahmen subsumiert werden129. Dass der Gerichtshof damit ein doppeltes Konzept der Durchführungsrechtsetzung als abstrakt-generelle Normsetzung und als Erlass von konkret-individuellen Verwaltungsmaßnahmen ausdrücklich für vertragskonform erklärt hat, ist in der einschlägigen Literatur bisher zwar zur Kenntnis genommen worden130. Weitergehende vertragsdogmatische Konsequen-zen wurden daraus jedoch nicht gezogen131. Daher soll im Folgenden – nachdem zunächst mit den gemeinschaftlichen Produktzulassungen ein Blick auf eine prak-tische Erscheinungsform einzelfallbezogener Durchführungsrechtsakte geworfen wird – anhand einiger Beispiele gezeigt werden, dass sich diese Form der Durch-führungsrechtsetzung in ihren wichtigen Fragestellungen deutlich von dem Ideal-fall des Durchführungsrechtssatzes unterscheidet und damit auch dogmatisch eine eigene Kategorie von Rechtsakten bildet.

1. Europäische Produktzulassungsentscheidungen als Referenz

Dass Durchführungsrechtsetzung nicht stets abstrakt-generellen Charakter besit-zen muss, zeigt sich an vielen Beispielen des Europäischen Verwaltungsrechts132. Ein bis heute im Wachsen begriffener Bereich sind dabei die Kommissionsent-scheidungen in Europäischen Produktzulassungsverfahren133. Das Konzept der Durchführung als Einzelfallmaßnahme soll daher im Folgenden am Beispiel die-

128 EuGH, Rs. 16/88 (Kommission/Rat), Slg. 1989, 3481, Rn. 11. 129 Es ergibt sich insoweit eine Parallele zur Rechtsprechung des EuGH zu Art. 95 EG. So führte er in seinem

Urteil zur Produktsicherheitsrichtlinie aus, unter dem Begriff der „Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften“ des Art. 95 EG seien auch Maßnahmen zu verstehen, die sich auf einzelne Pro-dukte beziehen (EuGH, Rs. C-359/92 (Bundesrepublik/Rat), Slg. 1994, I-3681, Rn. 37).

130 Vgl. etwa Lenaerts/van Nuffel (Fn. 1), S. 612. Auch in den zeitgenössischen Anmerkungen zu diesem EuGH-Urteil hat der Aspekt der Einzelfallbezogenheit von Durchführungsmaßnahmen nur eine untergeordnete Rolle gespielt (vgl. etwa Formann, Case 16/88, CMLR 27 (1990), S. 872 ff. (880)).

131 Kritisch zu diesem weiten Konzept der Rechtsprechung, da im konkreten Fall nicht geboten Möllers (Fn. 5), S. 488, 490.

132 Die Beispiele reichen hier vom gemeinschaftlichen Verkehrsrecht (vgl. etwa die Entscheidungsbefugnisse der Kommission bei der einheitlichen Erteilung von Betriebsgenehmigungen für Luftfahrtunternehmen im Rah-men der VO (EWG) Nr. 2407/92, ABl. L 240/1 v. 24.8.1992; dazu Niejahr, in: Frohnmeyer/Berry, EG-Verkehrsrecht, Nr. 51, Rn. 27 ff.) bis zur Konformitätsentscheidung im Rahmen des agrarrechtlichen Rech-nungsabschlusses (vgl. Art. 7 Abs. 2 und 3 VO (EG) Nr. 1258/99, ABl. L 160/103 v. 26.6.1999; dazu etwa Mögele, in: Dauses (Fn. 75), G, Rn. 252; umfassend nunmehr auch Schöndorf-Haubold, Die Strukturfonds der Europäischen Gemeinschaft, 2005, bes. S. 343 ff.).

133 Vgl. etwa aus der jüngeren Rechtsentwicklung die in VO (EG) Nr. 1592/2002, ABl. L 240/1 v. 7.9.2002 vorgesehene Produktzulassung für Flugzeuge und Flugzeugteile (dazu ausführlich Riedel (Fn. 19)) sowie den jüngsten Vorschlag für eine gemeinschaftliche Chemikalienzulassung in Art. 57 ff. des Vorschlags der Kom-mission für eine Verordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe v. 29.10.2003 (KOM(2003) 644 endg.); dazu speziell v. Holleben/Scheidmann, EuZW 2004, S. 262 ff.

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ses Referenzgebietes herausgearbeitet werden134. Die Europäisierung vormals nationaler Produktzulassungsverfahren ist kein rein sektorales Phänomen. Sowohl im Arzneimittelrecht als auch für die Zulassung von neuartigen Lebensmitteln oder im Recht der Gentechnik bedient sich die Gemeinschaft dieses Instruments. Neben vielen Gemeinsamkeiten bestehen zwischen den einzelnen Verfahren durchaus auch Unterschiede, namentlich im Hinblick auf die staatenübergreifen-den Anerkennungstechniken der Zulassungsentscheidung oder in dem prozessua-len Zusammenspiel von mitgliedstaatlichen Behörden und Gemeinschaftsinstan-zen135. So sieht etwa die Verkehrsgenehmigung für gentechnisch veränderte Organismen nach der Freisetzungsrichtlinie von 2001 die Anmeldung eines beabsichtigten Inverkehrbringens neuer Organismen bei einer nationalen Behörde vor136. An die Erstprüfung durch den betroffenen Mitgliedstaat schließt sich sodann eine Phase übernationaler Konsultation und Koordination an. Kernpunkt dieser Abstim-mungsphase ist die Möglichkeit der einzelnen Mitgliedstaaten oder der Kommis-sion, Einwände gegen das gemeinschaftsweite Inverkehrbringen des veränderten Organismus vorzubringen137. Soweit diese Einwände gegen einen befürwortenden Erstprüfbericht im Folgenden nicht multilateral ausgeräumt werden können, fällt die letztendliche Entscheidung als Durchführungsrechtsakt in einem bei der Kommission angesiedelten „Stichentscheidsverfahren“138 unter Beteiligung eines Regelungsausschusses139. Diese verbindliche Entscheidung über das Inver-kehrbringen ist an den jeweiligen Mitgliedstaat gerichtet, der den Erstprüfungsbe-richt erstellt hat. Die Umsetzung gegenüber dem Antragsteller erfolgt sodann in Form einer transnational wirkenden Zulassungsentscheidung durch dessen zu-

134 Zur Arbeit mit Referenzgebieten grundlegend Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ord-

nungsidee, 2. Aufl. 2004, S. 8 ff.; jüngst auch ders., in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem, Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 387 ff. (403 f.); ferner v. Danwitz (Fn. 12), S. 60 f.; als „Form des Binnenrechtsvergleichs“ beschrieben von Möllers (Fn. 30), S. 11.

135 Anhand dieser Unterschiede umfassend typologisierend Sydow (Fn. 10), S. 126 ff.; das Kriterium der Verfah-rensherrschaft als entscheidend ansehend jüngst auch Winter (Fn. 118), S. 259.

136 Vgl. Art. 13 ff. RL (EG) Nr. 2001/18, ABl. L 106/1 v. 17.4.2001; näher zum Verfahrensablauf Di Fabio, in: Rengeling, EUDUR, Bd. 2, 1.Teilband, 2. Aufl. 2003, § 63, Rn. 122 ff.

137 Vgl. Art. 15 RL (EG) Nr. 2001/18, ABl. L 106/1 v. 17.4.2001. 138 Terminologie nach Schmidt-Aßmann/Ladenburger, in: Rengeling (Fn. 136), Bd. 1, § 18, Rn. 69. 139 Art. 18 Abs. 1 i.V.m. Art. 30 RL (EG) Nr. 2001/18, ABl. L 106/1 v. 17.4.2001.

Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG EuR – Heft 4 – 2006 533

ständige Behörde140. Diesem Modell folgt im Grundsatz auch die im Jahr 2001 umfassend reformierte dezentrale Zulassung für Humanarzneimittel141. Konzeptionell ähnlich aufgebaut ist ferner die Zulassung für neuartige Lebensmit-tel nach der Novel Food-Verordnung von 1997142. Ein entscheidender Unter-schied besteht jedoch darin, dass sie zwei Varianten der Genehmigungserteilung kennt: Neben die im Falle fehlender oder beigelegter Einwände anderer Mitglied-staaten ausgesprochene Genehmigung durch die zuständige nationale Behörde tritt bei der Novel Food-Verordnung das zusätzliche Instrument einer direkten „Gemeinschaftsgenehmigung“143. Soweit aufgrund fortbestehender Einwände ein Stichentscheidsverfahren erforderlich wird, ergeht diese Gemeinschaftsgenehmi-gung durch die Kommission unmittelbar gegenüber dem einzelnen Antragsteller. Auch hierbei handelt es sich um eine Durchführungsentscheidung im Regelungs-ausschussverfahren144. Anders als im Rahmen der Freisetzungsrichtlinie bedarf es im Falle einer solchen Gemeinschaftsgenehmigung jedoch keines weiteren natio-nalen Vollzugsakts gegenüber dem einzelnen Marktbürger. Neben diesen grundsätzlich dezentral aufgebauten Verfahren lassen sich gerade in jüngerer Zeit zunehmend auch zentralisierte Zulassungsprozeduren nachwei-sen145. Dies betrifft neben der 2003 eingeführten Zulassung genetisch veränderter Lebens- und Futtermittel146 namentlich die Gemeinschaftszulassung für bestimm-te hochtechnologische Arzneimittel („zentrale Arzneimittelzulassung“)147. Auch die neuen Zulassungsverfahren für Flugzeuge und Flugzeugteile sowie die ge-plante Chemikalienzulassung gehören in diese Kategorie148. Anders als die zuvor dargestellten Verfahren sind zentralisierte Zulassungsverfahren in einem ungleich stärkeren Maße von der Kommission als zentraler, supranationaler Entschei-

140 Art. 18 Abs. 2 RL (EG) Nr. 2001/18, ABl. L 106/1 v. 17.4.2001. Zur Figur des transnationalen Verwaltungs-

aktes grundlegend Neßler, Europäisches Richtlinienrecht wandelt deutsches Verwaltungsrecht, 1994; aus der jüngeren Literatur vgl. Ruffert, Der transnationale Verwaltungsakt, Verw. 34 (2001), S. 453 ff.; als Kategorie abstrakt-antizipierter Anerkennungspflichten herausgearbeitet von Michaels, Anerkennungspflichten im Wirt-schaftsverwaltungsrecht, 2004, S. 328 f.

141 Vgl. Art. 17 ff. RL (EG) Nr. 2001/83, ABl. L 311/67 v. 28.11.2001. Der wesentliche Unterschied zur Freiset-zungsrichtlinie besteht jedoch darin, dass bereits die nationale Behörde, die mit der Erstprüfung beauftragt ist, unabhängig von dem weiteren supranationalen Abstimmungsverfahren, eine in ihrem Territorium vollgültige Zulassungsentscheidung aussprechen kann. Ferner ist bei dieser Zulassung der letztendlichen Kommissions-entscheidung im Stichentscheidverfahren eine zusätzliche Prüfung des Zulassungsantrags durch die Europäi-sche Arzneimittelagentur vorgeschaltet (zur dezentralen Arzneimittelzulassung näher Collatz, Handbuch der EU-Zulassung, 1998, S. 70 ff.).

142 VO (EG) Nr. 258/97, ABl. L 43/1 v. 14.2.1997; umfassend dazu und insbesondere zum Verfahrensablauf D. Groß, Die Produktzulassung von Novel Food, 2001, S. 280 ff.

143 Wahl/Groß, Die Europäisierung des Genehmigungsrechts am Beispiel der Novel Food-Verordnung, DVBl. 1998, S. 2 ff. (6 f.).

144 Vgl. Art. 7 i.V.m. Art. 13 VO (EG) Nr. 258/97, ABl. L 43/1 v. 14.2.1997. 145 Zentralisierungen als verwaltungspolitische Notwendigkeit ansehend Schmidt-Aßmann (Fn. 134), S. 386. 146 VO (EG) Nr. 1829/2003, ABl. L 268/1 v. 18.10.2003; dazu und speziell zu ihrer Umsetzung ins deutsche

Lebensmittelrecht Schlacke, Der Gesetzentwurf zur Durchführung von EG-Verordnungen zu gentechnisch veränderten Lebens- und Futtermitteln, ZLR 30 (2004), S. 161 ff.

147 Erstmals eingeführt in Art. 5 ff. VO (EWG) Nr. 2309/93, ABl. L 214/1 v. 24.8.1993; inzwischen ersetzt durch Art. 5 ff. VO (EG) Nr. 726/2004, ABl. L 136/1 v. 30.4.2004; umfassend dazu Wagner, Europäisches Zulas-sungssystem für Arzneimittel und Parallelhandel, 2000, S. 194 ff.; Collatz (Fn. 141), S. 42 ff.

148 Vgl. die Hinweise in Fn. 133.

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dungsinstanz geprägt149. Ihr obliegt stets die finale Entscheidung über das Zulas-sungsbegehren, die sie unter Beteiligung des jeweils zuständigen Komitologieaus-schusses gegenüber dem einzelnen Marktteilnehmer trifft150. In einigen Fällen ist der Kommissionsentscheidung die vorherige Befassung einer Europäischen Agentur vorgeschaltet151, deren Stellungnahme jedoch keine inhaltliche Bin-dungswirkung entfaltet152.

2. Einzelfallbezogene Durchführungsakte als eigene dogmatische Kategorie

Wenn sich die dargestellten Zulassungsentscheidungen auch im Hinblick auf ihren jeweiligen Adressaten (Mitgliedstaat oder Marktteilnehmer) unterscheiden, lassen sie sich doch sämtlich als Durchführungsrechtsakte der Kommission quali-fizieren. Dass die dabei relevanten dogmatischen Fragestellungen aber maßgeb-lich von den Fragestellungen abstrakt-genereller Normsetzung abweichen, gilt es im Folgenden anhand einiger Beispiele zu erläutern.

a) Möglichkeit besonderer Durchführungsbedingungen

So unterscheidet sich bereits die Interessenlage einzelfallbezogener Zulassungen deutlich von dem Idealfall rechtssatzförmiger Durchführungsakte der Kommissi-on. Während es sich bei Letzteren vornehmlich um komplexe politische Abwä-gungsentscheidungen handelt, die idealtypisch eine Vielzahl potentiell Betroffe-ner kennen, steht die Kommission in Europäischen Produktzulassungsverfahren stets einem konkreten Antragsteller gegenüber, über dessen Zulassungsgesuch sie abschließend zu entscheiden hat. Entsprechend tritt in den meisten der sekundär-rechtlichen Zulassungsregime das Zeitmoment der Entscheidungsfindung deutlich zu Tage153. Sie enthalten regelmäßig detaillierte Maximalzeiträume für die ein-zelnen Verfahrensphasen, die nicht nur die Kooperationsbeiträge der verschiede-

149 So auch Blattner (Fn. 80), S. 219; Riedel (Fn. 19), S. 178. 150 Vgl. Art. 10 Abs. 2 VO (EG) Nr. 726/2004, ABl. L 136/1 v. 30.4.2004. Besonderheiten gelten allerdings im

Rahmen der neuen Fluggerätezulassung. Bei dieser ist die letztendliche Zulassungsentscheidung erstmals al-lein der EASA als einer Europäischen Agentur ohne Mitwirkung der Kommission übertragen (vgl. Art. 15 Abs. 1 lit. f und g VO (EG) Nr. 1592/2002, ABl. L 240/1 v. 7.9.2002).

151 Vgl. etwa Art. 10 Abs. 1 VO (EG) Nr. 726/2004, ABl. L 136/1 v. 30.4.2004; Art. 7 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1829/2003, ABl. L 268/1 v. 18.10.2003.

152 Diese Agenturbeteiligung als typprägend angesehen etwa von Sydow, „Jeder für sich“ oder „einer für alle“?, in: Bauschke/Becker/Brauser-Jung u.a., Pluralität des Rechts, 2002, S. 10 ff. (23).

153 Als Bestandteil des Rechts auf gute Verwaltung hat der Anspruch des Einzelnen, dass seine Angelegenheit „innerhalb einer angemessenen Frist“ behandelt wird, insbesondere in Art. 41 Abs. 1 auch Eingang in die Eu-ropäische Grundrechtecharta gefunden (vgl. Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, § 37; allgemein zum Recht auf gute Verwaltung Lais, Das Recht auf gute Verwaltung unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, ZEuS 5 (2002), S. 447 ff.; jüngst Goer-lich, Good Gouvernance und Gute Verwaltung, DÖV 2006, S. 313 ff.; vornehmlich aus politikwissenschaftli-cher Sicht König, Gute Gouvernanz als Steuerungs- und Wertkonzept des modernen Verwaltungsstaats, in: FS Böhret, 1998, S. 227 ff.).

Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG EuR – Heft 4 – 2006 535

nen beteiligten Verwaltungsstellen der Mitgliedstaaten betreffen154, sondern auch die Kommission bei der Durchführungsrechtsetzung an besondere Fristen bin-den155. Dies erklärt sich vor allem vor dem Hintergrund, dass die Entscheidungs-findung bei der Kommission in der Praxis häufig bis zu einem Drittel der Ge-samtdauer des Zulassungsverfahrens in Anspruch nahm156. Primärrechtsdogma-tisch lassen sich diese Regeln als ein Unterfall der „bestimmten Modalitäten der Durchführungsrechtsetzung“ im Sinne des Art. 202, 3. Sp. EG begreifen. Auch im Fall zwingend geltender Fristbestimmungen ist die Kommission an bestimmte Vorgaben gebunden, die sie in ihrer nach Art. 211, 4. Sp. EG garantierten Durch-führungszuständigkeit einschränkt. Über die ursprüngliche Regelungsintention hinaus, das Komitologiewesen der Gemeinschaft zu legitimieren, dient Art. 202, 3. Sp. EG im Rahmen der Europäischen Zulassungsverfahren damit also zugleich als Grundlage für besondere Bindungen der Durchführungsrechtsetzung, die der Kommission im jeweiligen Sekundärrechtsakt auferlegt sind. Ein solches Verständnis des Begriffs der „bestimmten Modalitäten“ setzt sich jedoch in Widerspruch zu wesentlichen Prämissen der unter III. 3. beschriebenen Durchführungskonzeption. So müssen die Modalitäten der Durchführung nach S. 4 des Art. 202, 3. Sp. EG ausdrücklich den „Regeln entsprechen, die der Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Stellungnahme des Europäischen Par-laments vorher einstimmig festgelegt hat“. Dies verweist namentlich auf den Ko-mitologiebeschluss und die in ihm niedergelegten Verfahren der Ausschussbetei-ligung157. Die Möglichkeit, über eine Ausschussbeteiligung hinausgehende be-sondere Bedingungen an die Kommission zu stellen, ist in diesem aber gerade nicht angelegt. Nach allgemeiner Meinung besitzt der Komitologiebeschluss vielmehr abschließenden Charakter158. Dieser Inkonsistenz kann auch nicht da-durch begegnet werden, dass man den Komitologiebeschluss nur im Hinblick auf die Verfahren der Ausschussbeteiligung, nicht aber für andere Bindungen der Kommission für abschließend erklärt159. So verstanden kann dann zwar grund-sätzlich der jeweilige Basisrechtsakt selbst besondere Durchführungsregeln wie etwa zwingende Fristen festlegen. Soweit es sich bei ihm aber – wie bei den meis-ten Europäischen Zulassungsverfahren – um eine Norm handelt, die im Mitent-scheidungsverfahren des Art. 251 EG ergangen ist, ist den Vorgaben des Art. 202,

154 So sind insbesondere im Verfahren der dezentralen Arzneimittelzulassung nach der RL (EG) Nr. 2001/83,

ABl. L 311/67 v. 28.11.2001 umfangreiche Fristenregelungen vorgesehen (vgl. für einen Überblick nur Col-latz (Fn. 141), S. 78 ff.).

155 Vgl. etwa Art. 18 Abs. 1 S. 1 RL (EG) Nr. 2001/18, ABl. L 106/1 v. 17.4.2001, wonach die Kommission ihre abschließende Stichentscheidung innerhalb von 120 Tagen zu treffen hat. Detaillierter noch Art. 10 VO (EG) Nr. 726/2004, ABl. L 136/1 v. 30.4.2004, nach dem die Kommission binnen 15 Tagen einen ersten Entschei-dungsentwurf zu erstellen hat und eine abschließende Entscheidung spätestens nach weiteren 15 Tagen getrof-fen werden muss.

156 Vgl. Blattner (Fn. 80), S. 167. 157 Vgl. nur Wichard, in: Calliess/Ruffert, EUV&EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 202 EG, Rn. 12. 158 So etwa Falke (Fn. 81), S. 56; Jaque, in: v.d. Groeben/Schwarze (Fn. 89), Art. 202 EG, Rn. 18. 159 In diese Richtung etwa Schmitt v. Sydow, in: v.d. Groeben/Schwarze (Fn. 89), Art. 211 EG, Rn. 81, der den

Komitologiebeschluss von 1987 in erster Linie als „Numerus clausus von drei Ausschussarten“ begreift.

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3. Sp., S. 4 EG damit aber ebenfalls nicht Genüge getan. Art. 251 EG verlangt weder eine einstimmige Beschlussfassung im Rat, noch beschränkt er die Mitwir-kung des Europäischen Parlaments auf ein bloßes Stellungnahmerecht. Das Pri-märrecht geht also erkennbar davon aus, dass es zur Bindung der Kommission an Durchführungsmodalitäten qualifizierter Rechtsakte bedarf, deren Voraussetzun-gen bisher aber nur vom Komitologiebeschluss erfüllt werden.

b) Durchführungsmaßnahmen und Anhörungsrechte Betroffener

Inkonsistenzen ergeben sich aber nicht nur für die dargestellten besonderen Mo-dalitäten der Durchführung. Dass der derzeitige Komitologiebeschluss vor allem rechtssatzförmige Akte im Blick hat, zeigt sich auch hinsichtlich der Verfahrens-rechte der von der Durchführungsmaßnahme betroffenen Marktbürger. Beispiel-haft soll dies hier anhand des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs, insbesondere in seiner Ausprägung als Anhörungsrecht deutlich gemacht werden160. Als ein allgemeiner Rechtsgrundsatz der Gemeinschaft161 wurde das Anhörungs-recht im Verwaltungsverfahren bereits früh vom EuGH in dessen Urteil in Sachen Transocean Marine Paint entwickelt162. Maßgeblich für die Rechtsentwicklung war ferner auch die sekundärrechtliche Kodifikation einer Betroffenenanhörung im Kartellverfahrensrecht, namentlich in der Verordnung Nr. 17163. Als „Vertei-digungsrecht“164 im Verwaltungsverfahren garantiert es einen Anspruch auf vor-herige Stellungnahme zu den von der Verwaltungsbehörde angeführten Tatsachen und Umständen, der ausgelöst wird, wenn die Interessen des Betroffenen durch die geplante Entscheidung spürbar beeinträchtigt werden können165. Eine Verlet-zung des Rechts auf Anhörung führt dabei zur Nichtigerklärung des jeweiligen Rechtsaktes, wenn das Verfahren zu seinem Erlass ohne die Verletzung zu einem anderen Ergebnis hätte führen können166. Die Effektivität des Anhörungsrechts ist für den Betroffenen zudem durch einen Anspruch auf Berücksichtigung seiner Äußerungen bei der nachfolgenden Entscheidungsfindung abgesichert167. Im Fall Europäischer Produktzulassungsverfahren wäre die Unterrichtung und Anhörung des Antragstellers im Verfahren zwar regelmäßig ein funktionsloser Formalismus, da das Verfahren ohnehin allein auf einem entsprechenden Antrag des betroffenen

160 Im Einzelnen zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen des Verwaltungsverfahrens grundlegend Usher, General

principles of EC law, 1998; Nehl, Europäisches Verwaltungsverfahren und Gemeinschaftsverfassung, 2002. 161 Wie die anderen allgemeinen Rechtsgrundsätze der Gemeinschaft beruht auch das Anhörungsgebot dabei

maßgeblich auf den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten. Umfassend rechtsvergleichend dazu Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2005, S. 1202 ff.

162 EuGH, Rs. 17/74 (Transocean Marine Paint/Kommission), Slg. 1974, 1063, Rn. 15. 163 Art. 19 VO (EWG) Nr. 17/62, ABl. L 13/204 v. 21.2.1965. Inzwischen ersetzt durch Art. 27 VO (EG)

Nr. 1/2003, ABl. L 1/1 v. 4.1.2003. 164 So bezeichnet etwa in EuGH, Rs. 374/87 (Orkem/Kommission), Slg. 1989, 3283, Rn. 32 f. 165 Vgl. Magiera, in: Meyer, Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, Art. 41,

Rn. 12. 166 Vgl. EuGH, Rs. C-301/87 (Frankreich/Kommission), Slg. 1990, I-307, Rn. 31; EuGH, Rs. C-315/99 P (Ismeri

Europa/Rechnungshof), Slg. 2001, I-5281, Rn. 34. 167 EuGH, verb. Rs. 209-215 und 218/78 (Van Landewyk u.a./Kommission), Slg. 1980, 3125, Rn. 66.

Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG EuR – Heft 4 – 2006 537

Marktsubjekts beruht168. Dies gilt jedoch nur, soweit die Kommission oder eine andere zuständige Instanz auf der Grundlage der von ihm bereits im Antrag vor-gebrachten Tatsachen und Umstände entscheiden will. Weicht sie dagegen davon ab und kommt zu einem für den Antragsteller ungünstigen Ergebnis, so lebt die Pflicht, den Betroffenen zu dieser Änderung anzuhören, wieder auf169. Entsprechend finden sich etwa im Rahmen der zentralisierten gemeinschaftlichen Arzneimittelzulassung explizite Regelungen, die eine Anhörung des Antragstel-lers für den Fall vorschreiben, dass die zur Erstprüfung des Zulassungsantrags berufene Europäische Arzneimittelagentur zu einem vom Zulassungsantrag nega-tiv abweichenden Ergebnis kommt170. In diesem Fall kann der Antragsteller mit-tels eines binnen 15 Tagen einzureichenden und binnen weiteren 60 Tagen zu begründenden Rechtsbehelfs, der in der Verordnung als Widerspruch bezeichnet ist, die Agentur zu einer erneuten Überprüfung ihres Zulassungsgutachtens veran-lassen171. Noch weitergehender sind die Anhörungsregeln im Verfahren der de-zentralen Arzneimittelzulassung. Hier besteht neben einer Widerspruchsmöglich-keit gegen das Agenturgutachten172 zudem die Möglichkeit, dass der Antragsteller sich bereits zuvor – in der Phase der multilateralen Abstimmung – mündlich oder schriftlich zu fortbestehenden Einwänden eines Mitgliedstaats173 Gehör ver-schafft174. An solchen Beteiligungsmöglichkeiten des Antragstellers fehlt es hingegen stets in der Phase der letztendlichen Entscheidungsfindung zwischen Kommission und Komitologieausschuss175. Trotz seines praktisch großen Einflusses auf die letzt-endliche Entscheidung ist dieser Verfahrensschritt nach wie vor weitgehend nach dem Modell eines reinen Kommissionsinternums konzipiert176 – eine Feststel-lung, die sich auch für andere Bereiche des Europäischen Verwaltungsrechts ver-allgemeinern lässt. So lehnt der EuGH auch im Kartellverfahrensrecht bis heute eine zwingende Betroffenenanhörung im Rahmen der dort vorgesehenen beraten-

168 Mit Recht weist daher auch Vogt, Die Entscheidung als Handlungsform des Europäischen Gemeinschafts-

rechts, 2005, S. 265 darauf hin, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör ursprünglich nur in Verwaltungsver-fahren mit Sanktionscharakter Geltung beanspruchte (vgl. das Urteil des EuGH, Rs. 85/76 (Hoffmann-La Ro-che/Kommission), Slg. 1976, 461, Rn. 9), sein Anwendungsbereich im Folgenden jedoch schrittweise erwei-tert wurde. Als horizontale Expansion und Konvergenz beschrieben von Nehl (Fn. 160), S. 274 ff.

169 So schon Schwarze (Fn. 161), S. 1285. 170 Vgl. Art. 9 VO (EG) Nr. 726/2004, ABl. L 136/1 v. 30.4.2004. 171 Die Bezeichnung als Widerspruch darf dabei aber gerade nicht zu Analogien mit dem aus dem deutschen

Verwaltungsrecht bekannten Rechtsmittel des Widerspruchs verleiten. Indem durch einen Widerspruch im Sinne der Arzneimittelzulassung nur die Agentur selbst zur Überprüfung ihres Gutachtens veranlasst wird, fehlt diesem der dem deutschen Widerspruch eigene Devolutiveffekt. Kritisch zur Effizienz dieser Wider-spruchsmöglichkeit daher auch Koenig/Müller, 5 Jahre EMEA, PharmR 22 (2000), S. 148 ff. (152).

172 Art. 32 Abs. 4 RL (EG) Nr. 2001/83, ABl. L 311/67 v. 28.11.2001. 173 Vgl. Art. 29 Abs. 3 RL (EG) Nr. 2001/83, ABl. L 311/67 v. 28.11.2001. 174 Diese Regelungen der Verfahren der Arzneimittelzulassung dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass

sich die Situation in anderen Europäischen Produktzulassungsverfahren nach wie vor deutlich defizitärer dar-stellt. Kritisch daher insbesondere zur Novel Food-Verordnung D. Groß (Fn. 142), S. 193 ff.; ferner auch Gärditz, Die Novel Food-Verordnung, ZUR 6 (1998), S. 169 ff. (175 f.).

175 Kritisch zur Arzneimittelzulassung daher auch etwa Collatz, Die neuen europäischen Zulassungsverfahren für Arzneimittel, 1996, S. 120 ff.

176 So auch Blattner (Fn. 80), S. 157.

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den Ausschussbeteiligung mit dem Argument ab, dass es sich bei dieser nur um eine Stellungnahme zu einer vorläufigen Maßnahme handle177. Insgesamt ist der einzelne Antragsteller damit in der Komitologiephase – obwohl sie gerade im politisch kontroversen Feld der Produktsicherheitsentscheidungen maßgeblichen Einfluss auf die letztendliche Entscheidung ausübt – weitgehend rechtlos ge-stellt178. Mit Blick auf die Rolle der Komitologie bei der Gerierung von administ-rativen Entscheidungen, die unmittelbar die Rechte der Betroffenen gestalten, setzt sich dieser Befund jedoch in Widerspruch zu der zunehmend deutlicher werdenden Kompensationsfunktion rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien, insbe-sondere in Bereichen nur eingeschränkt justiziabler Ermessensverwaltungstätig-keit179. Auch in der unzureichenden Ausstattung des Komitologiewesens mit individuellen Anhörungsrechten zeigt sich demnach deutlich, dass dieses in seiner derzeitigen Form maßgeblich auf einen institutionellen Interessenausgleich zwi-schen Rat, Kommission und Mitgliedstaaten ausgelegt ist, die Rechtsposition des Einzelnen bei Erlass „europäischer Verwaltungsakte“ dagegen kaum im Blick hat180.

c) Durchführungsmaßnahmen und Individualrechtsschutz

Dass sich die abstrakt-generelle Durchführungsrechtsetzung in den maßgeblichen Fragestellungen deutlich von konkret-individuellen Durchführungsakten der Kommission unterscheidet, zeigt sich aber auch im Hinblick auf die abschließend zu untersuchende Frage nach dem Maß des für beide Typen erforderlichen Indi-vidualrechtsschutzes. Zwar kennt das Gemeinschaftsrecht – anders als etwa das Grundgesetz in Art. 19 Abs. 4 GG181 – keine geschriebene subjektiv-rechtliche Garantie eines effektiven Rechtsschutzes gegenüber hoheitlichem Handeln. Be-reits zur Mitte der 1980er Jahre sah sich der EuGH jedoch in der Lage, eine ver-gleichbare ungeschriebene Verbürgung aus den gemeinsamen Verfassungstraditi-onen der Mitgliedstaaten182 und den Grundsätzen der Art. 6 Abs. 1 und 13

177 EuGH, verb. Rs. 100-103/80 (Musique Diffusion Francaise/Kommission), Slg. 1983, 1825, Rn. 34 ff. 178 Dies gilt trotz des im neuen Komitologiebeschluss vorgesehenen Rechts des Einzelnen auf Dokumentenzu-

gang (vgl. Art. 7 Abs. 2 Beschluss (EG) Nr. 468/99, ABl. L 184/23 v. 17.7.1999). Dieses gibt als besondere Form der Öffentlichkeitsbeteiligung nur ein allgemeines Informationsrecht, das hinter einem förmlichen Ak-teneinsichts- und Beteiligungsrecht jedoch zurückbleibt (zum Recht auf Dokumentenzugang vgl. nur Rie-mann, Die Transparenz der Europäischen Union, 2004).

179 Grundlegend EuGH, Rs. C-269/90 (HZA München Mitte/TU München), Slg. 1991, I-5469; aus der Literatur dazu etwa Nehl (Fn. 160), S. 289; Gundel, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2003, S. 442 f.; jüngst so auch Vogt (Fn. 168), S. 266; Winter (Fn. 118), S. 268.

180 Vgl. Vogt (Fn. 168), S. 285 f. 181 Ausführlich dazu die Kommentierung von Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Bd. 3, Art. 19

Abs. 4. 182 Umfassend rechtsvergleichend Tonne, Effektiver Rechtsschutz durch staatliche Gerichte als Forderung des

Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1997, S. 47 ff.; T. Groß, Konvergenzen des Verwaltungsrechtsschutzes in der Europäischen Union, Verw. 33 (2000), S. 415 ff. (416 f.); speziell zum französischen Recht Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1996, S. 12 ff.

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EMRK183 auch für das Gemeinschaftsrecht abzuleiten184. Entsprechend bildet das Gebot effektiven Rechtsschutzes auch gegenüber der Gemeinschaft einen „ele-mentaren Grundpfeiler“185 ihres Rechtssystems186. Dem steht aber gerade im Bereich der Durchführungsrechtsetzung regelmäßig ein – namentlich durch die unterschiedlichen deliberativen Beteiligungsprozesse in den Komitologiegremien bedingtes – „komplexes Gebilde von Verantwortlichkeiten, Schutz- und Koopera-tionspflichten“187 gegenüber, das von Außenstehenden oftmals nur schwer nach-vollzogen werden kann188. Der Kontrast mit dem Gebot des effektiven Rechts-schutzes ist insoweit evident. Im Hinblick auf den zu gewährenden Rechtsschutz kommt es nun aber entschei-dend darauf an, welchem der beiden hier gebildeten Typen ein Durchführungs-rechtsakt angehört. Die Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen richten sich also unmittelbar danach, ob es sich um eine abstrakt-generelle Durchführungsver-ordnung oder um eine einzelfallbezogene Maßnahme handelt.

aa) Kein unmittelbarer Rechtsschutz gegen rechtssatzförmige Durchführungsakte

Dem Gesichtspunkt des Individualrechtsschutzes kommt bei abstrakt-generellen Durchführungsakten nur eine untergeordnete Bedeutung zu, da sie ihrer Natur nach regelmäßig nur eine Zwischenstufe im Konkretisierungsprozess der Ge-meinschaftspolitiken zwischen Basisrechtsakt und (mitgliedstaatlichem) Voll-zugsakt darstellen189. Unter dieser Bedingung fällt der abstrakt-generelle Durch-führungsakt damit in zweifacher Hinsicht durch das Raster des gemeinschafts-rechtlichen Individualrechtsschutzes: Zunächst ist das Rechtsschutzsystem der Verträge von vornherein nicht auf einen direkten Individualrechtsschutz gegen rechtssatzförmige Hoheitsakte ausgerichtet190. Dies wird etwa an der Individual-nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EG deutlich, die ausschließlich gegen

183 Dazu Schmidt-Aßmann, Europäische Rechtsschutzgarantien, in: FS Bernhardt, 1995, S. 1283 ff. (1290 ff.);

vgl. auch die Rechtsprechungsnachweise des EGMR bei Tonne (Fn. 182), S. 167 ff. 184 Grundlegend EuGH, Rs. 222/84 (Johnston/Chief of Constable), Slg. 1986, 1651, Rn. 18; aus der nachfolgen-

den Rechtsprechung sei hier nur hingewiesen auf EuGH, Rs. C-213/89 (The Queen ./. Factortame u.a.), Slg. 1990, I-2433, Rn. 21 ff.; EuGH, Rs. C-50/00 (UPA/Rat), Slg. 2002, I-6677, Rn. 44; EuGH, Rs. C-312/00 P (Kommission/Camar und Tico), Slg. 2002, I-11355, Rn. 78.

185 Brenner, Allgemeine Prinzipien des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes in Europa, Verw. 31 (1998), S. 1 ff. (12).

186 Der positivrechtliche Anknüpfungspunkt für dieses Rechtsschutzgebot wird dabei verbreitet in Art. 220 EG verortet (so etwa Wegener, in: Calliess/Ruffert (Fn. 157), Art. 220 EG, Rn. 6; in diese Richtung auch Hof-mann, Rechtsschutz und Haftung im Europäischen Verwaltungsverbund, 2004, S. 188 f.).

187 Bücker/Schlacke, Die Entstehung einer politischen Verwaltung durch EG-Ausschüsse – Rechtstatsachen und Rechtsentwicklungen, in: Joerges/Falke, Das Ausschusswesen der Europäischen Union, 2000, S. 161 ff. (240).

188 Allgemein auf den Mangel an klaren Verantwortungszuweisungen hinweisend auch Schmidt-Aßmann, Wohin steuert die Europäische Verwaltung?, ZHR 168 (2004), S. 125 ff. (130).

189 Möllers (Fn. 5), S. 496. 190 So jüngst ausdrücklich auch Schulte, Individualrechtsschutz gegen Normen im Gemeinschaftsrecht, 2005,

S. 88.

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„Entscheidungen“ statthaft ist. Nach dem Vertragswortlaut besteht eine Abwei-chung nur insoweit, als ausnahmsweise auch Scheinverordnungen mit der Nich-tigkeitsklage angreifbar sind, also Akte, die materiell einer individuellen Ent-scheidung entsprechen, formell jedoch als Verordnung ergangen sind191. Zwar ist der Begriff der Entscheidung im Sinne dieser Bestimmung inzwischen erweiternd ausgelegt worden192. Eine grundsätzliche Abkehr von der Unanfechtbarkeit ab-strakt-genereller Rechtsakte ist darin jedoch nach wie vor nicht zu erblicken193. Im Rahmen des bestehenden Klagesystems bleibt der Einzelne also gegen norma-tives Handeln – und damit auch gegen rechtssatzförmige Durchführungsakte – in erster Linie auf den mittelbaren Rechtsschutz im Wege eines Vorabentschei-dungsersuchens eines nationalen Gerichts verwiesen194. Ein direktes Vorgehen Privater gegen abstrakt-generelle Durchführungsakte scheidet aber regelmäßig auch wegen fehlender individueller und unmittelbarer Betroffenheit des Rechtsschutzsuchenden aus. Anders als im deutschen Recht ist der Zugang zum gemeinschaftlichen Rechtsschutzsystem zwar nicht an die Ver-letzung eines subjektiv-öffentlichen Rechts geknüpft. Im Grundsatz reicht auch die Beeinträchtigung rechtlich relevanter Interessen des Klägers aus195. Um einen auch im Gemeinschaftsrecht erforderlichen Ausschluss von Popularklagen zu gewährleisten, ist eine Nichtigkeitsklage vor dem EuGH jedoch zusätzlich an die unmittelbare und individuelle Betroffenheit des Klägers gebunden196. Beide Kri-terien dürften im Fall eines direkten Vorgehens gegen rechtssatzförmige Durch-führungsakte eine „kaum zu überwindende Barriere“197 darstellen. So fehlt es angesichts des regelmäßig erforderlichen nationalen Vollzugsakts schon an dem ersten Kriterium198. Aber auch die individuelle Betroffenheit dürfte im Regelfall rechtssatzförmiger Durchführungsmaßnahmen kaum zu bejahen sein, liegt sie doch nach ständiger Rechtsprechung des EuGH nur vor, wenn eine Maßnahme den Kläger „wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie einen Adressaten“199.

191 Dazu Schermers/Waelbroeck, Juridical Protection in the European Union, 6. Aufl. 2001, S. 416 f. 192 Grundlegend EuGH, Rs. C-309/89 (Cordoniu/Rat), Slg. 1994, I-1853, Rn. 19. 193 Erweiternd zum Begriff der anfechtbaren Entscheidung Röhl, Die anfechtbare Entscheidung nach Art. 230

Abs. 4 EGV, ZaöRV 60 (2000), S. 331 ff. (349 ff.); deutlich restriktiver dagegen Schulte (Fn. 190), S. 109 f. 194 Vgl. Schwarze, Rechtsschutz Privater gegenüber normativen Rechtsakten im Recht der EWG, in: FS Schlo-

chauer, 1981, S. 927 ff. (938 ff.); Dauses, Gutachten D für den 60. Deutschen Juristentag, 1994, S. 109; Classen (Fn. 182), S. 68 f.; zu der besonderen daraus erwachsenen Problematik der Anfechtung von self-executive-Normen ferner Baumeister, Effektiver Individualrechtsschutz im Gemeinschaftsrecht, EuR 40 (2005), S. 1 ff. (bes. 13 f.).

195 Vgl. Hegels, EG-Eigenverwaltungsrecht und Gemeinschaftsverwaltungsrecht, 2001, S. 108. 196 Art. 230 Abs. 4 EG. 197 Schulte (Fn. 190), S. 25. 198 Zum Unmittelbarkeitskriterium vgl. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes

in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2003, S. 119. 199 Grundlegend EuGH, Rs. 25/62 (Plaumann/Kommission), Slg. 1962, 211 (238). Die individuelle Betroffenheit

aufgrund der Begrenzungswirkung funktional mit der deutschen Schutznormtheorie für vergleichbar erklärend v. Danwitz (Fn. 12), S. 239.

Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG EuR – Heft 4 – 2006 541

bb) Direkte Klagemöglichkeit gegen einzelfallbezogene Durchführungsakte

Im Fall einzelfallbezogener Durchführungsmaßnahmen ergibt sich jedoch ein bereits im Grundsatz deutlich anderes Bild. Soweit die Gemeinschaft – wie etwa bei einer Gemeinschaftsgenehmigung nach der Novel Food-Verordnung oder im Fall zentralisierter Zulassungsentscheidungen – dem einzelnen Marktbürger als Entscheidungsinstanz unmittelbar gegenübertritt, handelt es sich bei diesen Voll-zugsakten um Entscheidungen im Sinne des Art. 230 EG, die ihren Adressaten als Betroffenen unmittelbar zur Anfechtung mittels einer Nichtigkeitsklage vor dem EuGH berechtigen. Gleiches kann ferner auch für die einzelfallbezogenen Durch-führungsrechtsakte gelten, die formell zwar gegenüber einem Mitgliedstaat erge-hen, von diesem aber gegenüber dem Antragsteller umzusetzen sind. Dies ist etwa bei der Verkehrsgenehmigung nach der Freisetzungsrichtlinie der Fall. Schon früh hat der EuGH festgestellt, dass, soweit dem umsetzenden Mitgliedstaat kein eige-ner Ermessensspielraum verbleibt, nicht nur die nationale Umsetzungsentschei-dung, sondern auch die Kommissionsentscheidung selbst unmittelbar angreifbar ist200. Da namentlich im Rahmen der Freisetzungsrichtlinie kein nationales Um-setzungsermessen besteht201, ist eine direkte Nichtigkeitsklage demnach mög-lich202. Nicht nur im Hinblick auf die im vorigen Abschnitt untersuchten Anhörungsrech-te, sondern auch hinsichtlich der Vorgaben des Rechtsschutzsystems der Gemein-schaftsverträge unterscheiden sich rechtssatzförmige und konkret-individuelle Durchführungsmaßnahmen in ihren dogmatischen Fragestellungen also signifi-kant. Während im Fall einzelfallbezogener Durchführungsmaßnahmen das Be-dürfnis nach effizienten und kohärenten direkten Rechtsschutzmöglichkeiten evident ist203, stellt sich dieses Problem im Fall der übrigen Durchführungsrecht-setzung – mangels des fehlenden Junktims zum Einzelfall – dagegen kaum204.

V. Ergebnis und Ausblick

Der Begriff der Durchführung des Gemeinschaftsrechts im Sinne des Art. 211, 4. Sp. EG vereinigt also zwei wesensmäßig unterschiedliche Kategorien von

200 So schon EuGH, verb. Rs. 41-44/70 (International Fruit Company u.a./Kommission), Slg. 1970, 411 ff.,

Rn. 23/29. Vgl. auch die ständige Rechtsprechung des EuGH und des EuG zu den Klagemöglichkeiten im Beihilfenverfahren, das ebenfalls primär als Rechtsverhältnis zwischen Kommission und Mitgliedstaat aus-gestaltet ist (EuGH, Rs. 730/79 (Philip Morris/Kommission), Slg. 1980, 2671, Rn. 5; EuG, Rs. T-459/93 (Siemens/Kommission), Slg. 1995, II-1675; EuG, Rs. T-72/98 (Astilleros Zamacona/Kommission), Slg. 2000, II-1683).

201 Vgl. EuGH, Rs. C-6/99 (Greenpeace/Ministre de l´Agriculture), Slg. 2000, I-1651, Rn. 28 ff.; dazu Kamann/ Tegel, Nationale Handlungsspielräume im Gentechnik-Genehmigungsverfahren, NVwZ 2001, S. 44 ff. (44).

202 So auch Casper, Zur Vergemeinschaftung von Verwaltungsverfahren am Beispiel von Gentechnik- und reformiertem Lebensmittelrecht, DVBl. 2002, S. 1437 ff. (1439); Gundel, in: Ehlers (Fn. 179), S. 442 ff.

203 Vgl. etwa auch die rechtspolitische Forderung von Joerges, in: Joerges/Falke (Fn. 111), S. 381. 204 Vgl. Bradley, Institutional aspects of comitology, in: Joerges/Vos, EU committees, 1999, S. 71 ff. (88): „It is

in principle not possible to challenge directly in legal proceedings any decision of a commitee, whether this is scientific, advisory or comitology in character“.

542 EuR – Heft 4 – 2006 Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG

Rechtsakten unter einem gemeinsamen Rubrum: die in der Praxis wohl vorherr-schende abstrakt-generelle Rechtsetzung und die gerade in Bereichen wie dem Europäischen Produktzulassungsrecht nachweisbare Einzelfallmaßnahme. Anlie-gen dieses Beitrags war es zu verdeutlichen, dass mit diesen beiden Typen der Durchführung zugleich auch wesensmäßig unterschiedliche dogmatische Frage-stellungen verknüpft sind. Nach der herkömmlichen Konzeption beruht die ab-strakt-generelle Durchführungsrechtsetzung maßgeblich auf Figuren, die – wie etwa die Abgrenzung von Durchführung und vertragsunmittelbarer Rechtsetzung anhand des Wesentlichkeitskriteriums – aus dem Umfeld der nationalstaatlichen exekutiven Rechtsetzung entlehnt sind. Dagegen ist die einzelfallbezogene Durchführungsmaßnahme vornehmlich mit Fragen wie der Verwirklichung der rechtsstaatlichen Grundsätze des Verwaltungsverfahrens oder der Gewährleistung eines möglichst effektiven Rechtsschutzes verknüpft – Fragen also, die stets im Zusammenhang mit ihrer spezifischen Wirkweise gegenüber dem Einzelnen ste-hen und die unter den bisherigen Durchführungsregeln nur defizitär gelöst werden können. Aber auch vertragssystematisch passt die Durchführung als Einzelfall-rechtsetzung nicht recht ins Bild – dies ließ sich oben anhand der besonderen Durchführungsmodalitäten zeigen. Im Hinblick auf eine zukünftige Dogmatik der Durchführung als Element einer europäischen Verfassungslehre können daraus zwei unterschiedliche Konsequen-zen gezogen werden. Man mag dafür plädieren, das herkömmliche Konzept einer – auch normativ hergeleiteten – abstrakt-generellen Idealform der Durchführungs-rechtsetzung zu verwerfen. Dies würde jedoch bedeuten, auf wichtige und weiter-führende Erklärungsansätze der oben unter III. dargestellten Art verzichten zu müssen. Als gangbarer erscheint es daher, neben der rechtssatzförmigen Durch-führung des Europarechts, die einzelfallbezogene Durchführungsmaßnahme als eine vornehmlich realtypische205 Ausnahmekategorie aufzufassen – eine Aus-nahmekategorie, die angesichts ihrer quantitativen Bedeutung und ihrer dogmati-schen Spezifika jedoch eines besonderen Augenmerks bedarf. Eine systematische Trennung von Durchführungsverordnung und -maßnahme erscheint auch deswegen vorteilhaft, da mit letzterer – etwa in der dargestellten Anhörungs- und Individualrechtsschutzproblematik – solche Fragestellungen ver-bunden sind, die sich ohnehin präziser mit der Kategorie der Entscheidung als einzelfallbezogener Handlungsform des Gemeinschaftsrechts identifizieren lie-ßen206. Dies hätte zudem eine grundsätzlich positiv zu bewertende Dekonstitutio-

205 Zu der Unterscheidung zwischen verfassungsrechtlichen Idealtypen und Realtypen (bzw. empirischen Typen)

Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. Neudruck 1966, S. 34 ff. 206 Die derzeitige Primärrechtslage ist mit Art. 249 Abs. 4 EG jedoch noch weit von der Möglichkeit einer

solchen einschränkenden Konzeption der Entscheidung als rein einzelfallbezogener Handlungsform entfernt. So kennt die Praxis der Gemeinschaftsorgane neben der administrativen Einzelentscheidung im Sinne eines „Europäischen Verwaltungsakts“ (so etwa die Konzeption von Stelkens, Die Europäische Entscheidung als Handlungsform des direkten Unionsrechtsvollzugs nach dem Vertrag für eine Verfassung für Europa, ZEuS 8 (2005), S. 61 ff. (68 f.)) zugleich auch staatengerichtete Entscheidungen, die in ihrer Wirkweise eher der Handlungsform der Richtlinie angenähert sind (vgl. Mager, Die staatengerichtete Entscheidung als supranati-

Riedel, Die Durchführungsrechtsetzung nach Art. 211, 4. Sp. EG EuR – Heft 4 – 2006 543

nalisierung der einzelfallbezogenen Durchführungsmaßnahme zur Folge, die dann vornehmlich als eine administrative Rechtsform wahrgenommen werden könn-te207. Vor diesem Hintergrund ist es daher begrüßenswert, dass auch der Europäi-sche Verfassungsvertrag208 in seinem Art. I-36 das Instrument der „delegierten europäischen Verordnung“ als eigenständige Rechtsformenkategorie vorsah, dies freilich ohne auf den nach wie vor amorphen Begriff des „Durchführungsrechts-aktes“ als weitere Handlungsmöglichkeit der Gemeinschaftsorgane zu verzich-ten209.

onale Handlungsform, EuR 36 (2001), S. 661 ff. (664 f.)). Umfassend typologisierend und die Entscheidung im Ergebnis als flexibelste aller Handlungsformen ansehend jüngst Vogt (Fn. 168), bes. S. 193 ff.; im Ergeb-nis ebenso wohl auch Stelkens, a.a.O, S. 74.

207 Im Hinblick auf die Entscheidung so auch Stelkens (Fn. 206), S. 95 ff. 208 Vertrag über eine Verfassung für Europa, veröffentlicht in ABl. C 310 v. 16.12.2004 (VVE). 209 Vgl. Art. I-37 Abs. 2 VVE. Zu den daraus entstehenden Abgrenzungsproblemen zwischen delegierter Ver-

ordnung und Durchführungsmaßnahme Hofmann, European Integration online Papers Nr. 5/2003, 14 f.; jüngst umfassend zur Trennung von Gesetzgebungs- und Nicht-Gesetzgebungsakten im VVE auch Liisberg, The EU Constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into apples?, Jean Monnet Working Paper 1/06, der die einschlägigen Bestimmungen im Ergebnis lediglich als ein „basically harmless ornament in the European construction“ (S. 45) ansieht.

544 EuR – Heft 4 – 2006

RECHTSPRECHUNG

Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten im Luftverkehr

1. Der Beschluss 2004/496/EG des Rates vom 17. Mai 2004 über den Abschluss eines Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Vereinigten Staa-ten von Amerika über die Verarbeitung von Fluggastdatensätzen und deren Übermittlung durch die Fluggesellschaften an das Bureau of Customs and Border Protection des United States Department of Homeland Security und die Ent-scheidung 2004/535/EG der Kommission vom 14. Mai 2004 über die Angemes-senheit des Schutzes der personenbezogenen Daten, die in den Passenger Name Records enthalten sind, welche dem United States Bureau of Customs and Border Protection übermittelt werden, werden für nichtig erklärt.

2. Die Wirkungen der Entscheidung 2004/535 werden bis zum 30. September 2006, jedoch nicht über den Zeitpunkt des Außerkrafttretens des genannten Abkom-mens hinaus, aufrechterhalten.

Urteil des Gerichtshofs vom 30.05.2006 (Nichtigkeitsklage), Europäisches Parlament/ Rat der Europäischen Union und Kommission der Europäischen Gemeinschaften, verb. Rs. C-317/04 und C-318/04

Urteil

1. Mit seiner Klageschrift in der Rechtssache C-317/04 beantragt das Europäische Parla-ment die Nichtigerklärung des Beschlusses 2004/496/EG des Rates vom 17. Mai 2004 über den Abschluss eines Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Vereinigten Staaten von Amerika über die Verarbeitung von Fluggastdatensätzen und deren Übermittlung durch die Fluggesellschaften an das Bureau of Customs and Border Protection des United States Department of Homeland Security (ABl. L 183, S. 83, berichtigt im ABl. 2005, L 255, S. 168).

2. Mit seiner Klageschrift in der Rechtssache C-318/04 beantragt das Parlament die Nich-tigerklärung der Entscheidung 2004/535/EG der Kommission vom 14. Mai 2004 über die Angemessenheit des Schutzes der personenbezogenen Daten, die in den Passenger Name Records enthalten sind, welche dem United States Bureau of Customs and Bor-der Protection übermittelt werden (ABl. L 235, S. 11, im Folgenden: Angemessen-heitsentscheidung).

Rechtlicher Rahmen

3. Artikel 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) bestimmt: „1. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz. 2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die

Rechtsprechung EuR – Heft 4 – 2006 545

nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Ge-sundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

4. Artikel 95 Absatz 1 Satz 2 EG lautet: […] 5. Die Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober

1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. L 281, S. 31) in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 1882/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. September 2003 zur Anpassung der Bestimmungen über die Ausschüsse zur Unterstützung der Kom-mission bei der Ausübung von deren Durchführungsbefugnissen, die in Rechtsakten vorgesehen sind, für die das Verfahren des Artikels 251 des EG-Vertrags gilt, an den Beschluss 1999/468/EG des Rates (ABl. L 284, S. 1) (im Folgenden: Richtlinie) wurde auf der Grundlage von Artikel 100a EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 95 EG) erlassen.

6. Ihre elfte Begründungserwägung lautet: […] 7. In der dreizehnten Begründungserwägung der Richtlinie heißt es: […] 8. Die siebenundfünfzigste Begründungserwägung der Richtlinie bestimmt: […] 9. Artikel 2 der Richtlinie sieht vor: […] 10. In Artikel 3 der Richtlinie heißt es: […] 11. Artikel 6 Absatz 1 der Richtlinie bestimmt: […] 12. Artikel 7 der Richtlinie bestimmt: […] 13. Artikel 8 Absatz 5 Unterabsatz 1 der Richtlinie lautet: […] 14. Artikel 12 der Richtlinie bestimmt: […] 15. Artikel 13 Absatz 1 der Richtlinie lautet: […] 16. Artikel 22 der Richtlinie sieht vor: […] 17. Die Artikel 25 und 26 der Richtlinie bilden das Kapitel IV, das die Übermittlung per-

sonenbezogener Daten in Drittländer betrifft. 18. Der mit „Grundsätze“ überschriebene Artikel 25 der Richtlinie lautet:

„(1) Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass die Übermittlung personenbezogener Daten, die Gegenstand einer Verarbeitung sind oder nach der Übermittlung verarbeitet wer-den sollen, in ein Drittland vorbehaltlich der Beachtung der aufgrund der anderen Be-stimmungen dieser Richtlinie erlassenen einzelstaatlichen Vorschriften zulässig ist, wenn dieses Drittland ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet. (2) Die Angemessenheit des Schutzniveaus, das ein Drittland bietet, wird unter Be-rücksichtigung aller Umstände beurteilt, die bei einer Datenübermittlung oder einer Kategorie von Datenübermittlungen eine rolle spielen; insbesondere werden die Art der Daten, die Zweckbestimmung sowie die Dauer der geplanten Verarbeitung, das Herkunfts- und das Endbestimmungsland, die in dem betreffenden Drittland geltenden allgemeinen oder sektoriellen Rechtsnormen sowie die dort geltenden Standesregeln und Sicherheitsmaßnahmen berücksichtigt. (3) Die Mitgliedstaaten und die Kommission unterrichten einander über die Fälle, in denen ihres Erachtens ein Drittland kein angemessenes Schutzniveau im Sinne des Ab-satzes 2 gewährleistet. (4) Stellt die Kommission nach dem Verfahren des Artikels 31 Absatz 2 fest, dass ein Drittland kein angemessenes Schutzniveau im Sinne des Absatzes 2 des vorliegenden

546 EuR – Heft 4 – 2006 Rechtsprechung

Artikels aufweist, so treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, damit keine gleichartige Datenübermittlung in das Drittland erfolgt. (5) Zum geeigneten Zeitpunkt leitet die Kommission Verhandlungen ein, um Abhilfe für die gemäß Absatz 4 festgestellte Lage zu schaffen. (6) Die Kommission kann nach dem Verfahren des Artikels 31 Absatz 2 feststellen, dass ein Drittland aufgrund seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder internatio-naler Verpflichtungen, die es insbesondere infolge der Verhandlungen gemäß Absatz 5 eingegangen ist, hinsichtlich des Schutzes der Privatsphäre sowie der Freiheiten und Grundrechte von Personen ein angemessenes Schutzniveau im Sinne des Absatzes 2 gewährleistet. Die Mitgliedstaaten treffen die aufgrund der Feststellung der Kommission gebotenen Maßnahmen.“

19. Der mit „Ausnahmen“ überschriebene Artikel 26 der Richtlinie bestimmt in Absatz 1: „Abweichend von Artikel 25 sehen die Mitgliedstaaten vorbehaltlich entgegenstehen-der Regelungen für bestimmte Fälle im innerstaatlichen Recht vor, dass eine Übermitt-lung oder eine Kategorie von Übermittlungen personenbezogener Daten in ein Dritt-land, das kein angemessenes Schutzniveau im Sinne des Artikels 25 Absatz 2 gewähr-leistet, vorgenommen werden kann, sofern a) die betroffene Person ohne jeden Zweifel ihre Einwilligung gegeben hat oder b) die Übermittlung für die Erfüllung eines Vertrags zwischen der betroffenen Person und dem für die Verarbeitung Verantwortlichen oder zur Durchführung von vorver-traglichen Maßnahmen auf Antrag der betroffenen Person erforderlich ist oder c) die Übermittlung zum Abschluss oder zur Erfüllung eines Vertrags erforderlich ist, der im Interesse der betroffenen Person vom für die Verarbeitung Verantwortlichen mit einem Dritten geschlossen wurde oder geschlossen werden soll, oder d) die Übermittlung entweder für die Wahrung eines wichtigen öffentlichen Interesses oder zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen vor Gericht erforderlich oder gesetzlich vorgeschrieben ist oder e) die Übermittlung für die Wahrung lebenswichtiger Interessen der betroffenen Per-son erforderlich ist oder f) die Übermittlung aus einem Register erfolgt, das gemäß den Rechts- oder Verwal-tungsvorschriften zur Information der Öffentlichkeit bestimmt ist und entweder der ge-samten Öffentlichkeit oder allen Personen, die ein berechtigtes Interesse nachweisen können, zur Einsichtnahme offen steht, soweit die gesetzlichen Voraussetzungen für die Einsichtnahme im Einzelfall gegeben sind.“

20. Auf der Grundlage der Richtlinie und insbesondere ihres Artikels 25 Absatz 6 erließ die Kommission der Europäischen Gemeinschaften die Angemessenheitsentscheidung.

21. Die elfte Begründungserwägung dieser Entscheidung lautet: […] 22. Nach der fünfzehnten Begründungserwägung dieser Entscheidung werden PNR-Daten

ausschließlich verwendet für Zwecke der Verhütung und Bekämpfung des Terrorismus und damit verknüpfter Straftaten, anderer schwerer, ihrem Wesen nach länderübergrei-fender Straftaten, einschließlich der internationalen organisierten Kriminalität, und der Flucht vor Haftbefehlen bzw. vor Gewahrsamnahme im Zusammenhang mit jenen Straftaten.

Rechtsprechung EuR – Heft 4 – 2006 547

23. Die Artikel 1 bis 4 der Angemessenheitsentscheidung lauten: „Artikel 1 Im Hinblick auf Artikel 25 Absatz 2 der Richtlinie 95/46/EG wird festgestellt, dass das United States Bureau of Customs and Border Protection (CBP) auf der Grundlage der als Anhang angefügten Verpflichtungserklärung einen angemessenen Schutz bietet für PNR-Daten über Flüge in die oder aus den Vereinigten Staaten, die aus der Gemein-schaft übermittelt werden. Artikel 2 Diese Entscheidung betrifft die Angemessenheit des Schutzes, den das CBP im Hin-blick auf die Anforderungen des Artikels 25 Absatz 1 der Richtlinie 95/46/EG gewähr-leistet; andere zur Umsetzung sonstiger Vorschriften der Richtlinie festgelegte Be-stimmungen und Einschränkungen hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Daten in den Mitgliedstaaten bleiben davon unberührt. Artikel 3 und 4 […]

24. In der „Verpflichtungserklärung des Department of Homeland Security, Bureau of Customs and Border Protection (CBP)“, die der Angemessenheitsentscheidung beige-fügt ist, heißt es: „Zur Unterstützung der Absicht der Europäischen Kommission …, die ihr durch Arti-kel 25 Absatz 6 der Richtlinie 95/46/EG … verliehenen Befugnisse auszuüben und ei-ne Entscheidung zu verabschieden, mit der dem [CBP] des Department of Homeland Security ein angemessenes Datenschutzniveau bescheinigt und den Fluggesellschaften damit die Übermittlung von [PNR-Daten] ermöglicht wird, die unter Umständen in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen, sichert das CBP Folgendes zu …“

25. Diese Verpflichtungen umfassen 48 Punkte, die unter folgenden Überschriften zu-sammengefasst sind: „Rechtsgrundlage für den Zugriff auf PNR“, „Nutzung von PNR-Daten durch das CBP“, „Verlangte Daten“, „Behandlung ‚sensibler‘ Daten“, „Verfah-ren für den Zugriff auf PNR-Daten“, „Speicherung von PNR-Daten“, „Sicherheit der Computersysteme des CBP“, „Behandlung und Schutz von PNR-Daten durch das CBP“, „Übermittlung von PNR-Daten an andere Behörden“, „Informations-, Auskunfts- und Widerspruchsrecht der betroffenen Passagiere“, „Einhaltung der Ver-pflichtungen“, „Gegenseitigkeit“, „Überprüfung und Geltungsdauer der Verpflich-tungserklärung“ und „Begründung von Rechten oder Präzedenzfällen“.

26. Zu den genannten Verpflichtungen gehören insbesondere Folgende: […] 27. Anhang „A“ der Verpflichtungserklärung enthält die PNR-Daten, die das CBP von

Fluggesellschaften verlangt. Dazu gehören insbesondere der „PNR-Buchungscode [Record Locator)“, das Datum der Reservierung, der Name, die Anschrift, die Zah-lungsart, die Telefonnummern, das Reisebüro, der Reisestatus des Passagiers („travel status of passenger“), die E-Mail-Adresse, allgemeine Bemerkungen, die Sitzplatz-nummer, die Historie über nicht angetretene Flüge sowie etwaige „APIS-Informa-tionen“.

28. Der Rat erließ den Beschluss 2004/496 insbesondere auf der Grundlage von Artikel 95 EG in Verbindung mit Artikel 300 Absatz 2 Unterabsatz 1 Satz 1 EG.

29. Die drei Begründungserwägungen dieses Beschlusses lauten: „(1) Am 23. Februar 2004 hat der Rat die Kommission ermächtigt, im Namen der Ge-meinschaft ein Abkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika über die Verar-

548 EuR – Heft 4 – 2006 Rechtsprechung

beitung von Fluggastdatensätzen und deren Übermittlung durch die Fluggesellschaften an das Bureau of Customs and Border Protection des United States Department of Homeland Security auszuhandeln. (2) Das Europäische Parlament hat innerhalb der Frist, die der Rat in Anbetracht des dringenden Erfordernisses, der unsicheren Lage der Fluggesellschaften und der Flug-gäste abzuhelfen und die finanziellen Interessen der Betroffenen zu schützen, gemäß Artikel 300 Absatz 3 Unterabsatz 1 festgelegt hat, keine Stellungnahme abgegeben. (3) Dieses Abkommen sollte genehmigt werden …“

30. Artikel 1 des Beschlusses 2004/496 bestimmt: „Das Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Vereinigten Staa-ten von Amerika über die Verarbeitung von Fluggastdatensätzen und deren Übermitt-lung durch die Fluggesellschaften an das Bureau of Customs and Border Protection des United States Department of Homeland Security wird im Namen der Gemeinschaft genehmigt. Der Wortlaut des Abkommens ist diesem Beschluss beigefügt.“

31. Das genannte Abkommen (im Folgenden: Abkommen) lautet: […] 32. Das am 28. Mai 2004 in Washington von einem Vertreter der amtierenden Ratspräsi-

dentschaft und vom Secretary of the United States Department of Homeland Security unterzeichnete Abkommen ist, wie aus der Unterrichtung über den Zeitpunkt seines Inkrafttretens durch den Rat (ABl. 2004, C 158, S. 1) hervorgeht, gemäß seinem Punkt 7 am Tag seiner Unterzeichnung in Kraft getreten.

Vorgeschichte der Rechtsstreitigkeiten

33. Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 erließen die Vereinigten Staaten im November 2001 Rechtsvorschriften, wonach Fluggesellschaften, die Flüge in die oder aus den Vereinigten Staaten oder über deren Gebiet durchführen, den Zollbehör-den der Vereinigten Staaten einen elektronischen Zugriff auf die Daten ihrer automati-schen Reservierungs- und Abfertigungssysteme, die so genannten „Passenger Name Records“ (im Folgenden: PNR-Daten), gewähren müssen. Unter Anerkennung der be-stehenden berechtigten Sicherheitsinteressen teilte die Kommission den Behörden der Vereinigten Staaten bereits im Juni 2002 mit, dass diese Bestimmungen mit den Rechtsvorschriften der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten über den Schutz perso-nenbezogener Daten und mit einigen Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 2299/89 des Rates vom 24. Juli 1989 über einen Verhaltenskodex im Zusammen-hang mit computergesteuerten Buchungssystemen (ABl. L 220, S. 1) in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 323/1999 des Rates vom 8. Februar 1999 (ABl. L 40, S. 1) in Konflikt geraten könnten. Die Behörden der Vereinigten Staaten verschoben das In-krafttreten der neuen Bestimmungen, lehnten es jedoch letztlich ab, die Verhängung von Sanktionen gegen Fluggesellschaften, die sich nicht an die Rechtsvorschriften über den elektronischen Zugriff auf PNR-Daten hielten, über den 5. März 2003 hinaus auszusetzen. Mehrere große Fluggesellschaften der Europäischen Union haben diesen Behörden seitdem den Zugriff auf ihre PNR-Daten gewährt.

34. Die Kommission nahm mit dem Ziel, eine Angemessenheitsentscheidung auf der Grundlage von Artikel 25 Absatz 6 der Richtlinie zu erlassen, Verhandlungen mit den

Rechtsprechung EuR – Heft 4 – 2006 549

Behörden der Vereinigten Staaten auf, die zu schriftlichen Verpflichtungen („under-takings“) des CBP führten.

35. Am 13. Juni 2003 gab die durch Artikel 29 der Richtlinie eingesetzte Gruppe für den Schutz von Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten eine Stellung-nahme ab, in der sie Bedenken hinsichtlich des durch die genannten Verpflichtungen für die vorgesehene Datenverarbeitung gewährleisteten Datenschutzniveaus äußerte. Sie wiederholte diese Bedenken in einer Stellungnahme vom 29. Januar 2004.

36. Am 1. März 2004 befasste die Kommission das Parlament mit dem Entwurf der An-gemessenheitsentscheidung gemäß Artikel 25 Absatz 6 der Richtlinie, dem der Ent-wurf der Verpflichtungen des CBP beigefügt war.

37. Am 17. März 2004 übermittelte die Kommission dem Parlament im Hinblick auf seine Anhörung nach Artikel 300 Absatz 3 Unterabsatz 1 EG einen Vorschlag für einen Be-schluss des Rates über den Abschluss eines Abkommens mit den Vereinigten Staaten. Mit Schreiben vom 25. März 2004 ersuchte der Rat das Parlament unter Bezugnahme auf das Dringlichkeitsverfahren, zu dem Vorschlag bis spätestens 22. April 2004 Stel-lung zu nehmen. In diesem Schreiben betonte der Rat, dass der Kampf gegen den Ter-rorismus, der die vorgeschlagenen Maßnahmen rechtfertige, für die Europäische Union hohe Priorität habe, dass sich die Fluggesellschaften und Fluggäste aktuell in einer un-sicheren Lage befänden, der dringend abzuhelfen sei, und dass es auch wichtig sei, die finanziellen Interessen der Betroffenen zu schützen.

38. Am 31. März 2004 nahm das Parlament gemäß Artikel 8 des Beschlusses 1999/468/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse (ABl. L 184, S. 23) eine Entschließung an, in der eine Reihe rechtlicher Vorbehalte gegen den ihm übermittelten Vorschlag geäußert wurde. In dieser Entschließung vertrat das Parlament insbesondere die Auffassung, dass der Entwurf der Angemessenheitsentscheidung über die Befugnisse der Kommission nach Artikel 25 der Richtlinie hinausgehe. Es rief da-zu auf, ein geeignetes völkerrechtliches Abkommen zu schließen, das in einer Reihe in der Entschließung aufgeführter Punkte die Grundrechte wahre, und ersuchte die Kommission, ihm einen neuen Entscheidungsentwurf zu unterbreiten. Es behielt sich ferner vor, zwecks Prüfung der Rechtmäßigkeit des geplanten völkerrechtlichen Ab-kommens und insbesondere seiner Vereinbarkeit mit dem Schutz des Rechts auf Pri-vatsphäre den Gerichtshof anzurufen.

39. Am 21. April 2004 nahm das Parlament auf Antrag seines Präsidenten eine Empfeh-lung des Ausschusses für Recht und Binnenmarkt an, den Gerichtshof nach Artikel 300 Absatz 6 EG um ein Gutachten über die Vereinbarkeit des geplanten Abkommens mit den Bestimmungen des Vertrages zu ersuchen. Dieses Verfahren wurde am selben Tag eingeleitet.

40. Zugleich beschloss das Parlament, den Bericht über den Vorschlag für einen Beschluss des Rates an den Ausschuss zu überweisen, und lehnte damit in diesem Stadium impli-zit das Ersuchen des Rates vom 25. März 2004 um eine dringliche Prüfung des Vor-schlags ab.

41. Mit Schreiben vom 28. April 2004 forderte der Rat das Parlament unter Berufung auf Artikel 300 Absatz 3 Unterabsatz 1 EG auf, bis 5. Mai 2004 zum Vorschlag für den Beschluss über den Abschluss des Abkommens Stellung zu nehmen. Zur Begründung

550 EuR – Heft 4 – 2006 Rechtsprechung

der Dringlichkeit dieses Ersuchens wiederholte er die in seinem Schreiben vom 25. März 2004 genannten Gründe.

42. Nach Kenntnisnahme von der Tatsache, dass der Vorschlag für den Beschluss des Rates nach wie vor nicht in allen Sprachfassungen vorlag, lehnte das Parlament am 4. Mai 2004 das Ersuchen des Rates vom 28. April um eine dringliche Prüfung dieses Vorschlags ab.

43. Am 14. Mai 2004 erließ die Kommission die Angemessenheitsentscheidung, die Ge-genstand der Rechtssache C-318/04 ist. Am 17. Mai 2004 erließ der Rat den Beschluss 2004/496, der Gegenstand der Rechtssache C-317/04 ist.

44. Mit Schreiben vom 4. Juni 2004 teilte die amtierende Ratspräsidentschaft dem Parla-ment mit, dass der Beschluss 2004/496 dem – für die Union vorrangigen – Kampf ge-gen den Terrorismus, aber auch dem Erfordernis, einer Situation der Rechtsunsicher-heit für die Fluggesellschaften abzuhelfen, sowie deren finanziellen Interessen Rech-nung trage.

45. Mit Schreiben vom 9. Juli 2004 teilte das Parlament dem Gerichtshof mit, dass es seinen unter der Nummer 1/04 in das Register eingetragenen Antrag auf ein Gutachten zurücknehme.

46. In der Rechtssache C-317/04 sind die Kommission und das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland durch Beschlüsse des Präsidenten des Gerichtshofes vom 18. November 2004 und 18. Januar 2005 als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen worden.

47. In der Rechtssache C-318/04 ist das Vereinigte Königreich durch Beschluss des Präsi-denten des Gerichtshofes vom 17. Dezember 2004 als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen worden.

48. Durch Beschlüsse des Gerichtshofes vom 17. März 2005 ist der Europäische Daten-schutzbeauftragte als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Parlaments in die-sen beiden Rechtssachen zugelassen worden.

49. Da die genannten Rechtssachen, wie auch die mündliche Verhandlung bestätigt hat, miteinander in Zusammenhang stehen, sind sie nach Artikel 43 der Verfahrensordnung zu gemeinsamer Entscheidung zu verbinden.

Zur Klage in der Rechtssache C-318/04

50. Das Parlament macht vier Nichtigkeitsgründe geltend, die auf eine Befugnisüber-schreitung, einen Verstoß gegen wesentliche Grundsätze der Richtlinie, eine Verlet-zung von Grundrechten und einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßig-keit gestützt werden.

Zum ersten Teil des ersten Klagegrundes: Verletzung von Artikel 3 Absatz 2 erster Gedankenstrich der Richtlinie

Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

51.-53. […]

Rechtsprechung EuR – Heft 4 – 2006 551

Würdigung durch den Gerichtshof

54. Nach ihrem Artikel 3 Absatz 2 erster Gedankenstrich findet die Richtlinie keine An-wendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten, die für die Ausübung von Tätigkeiten erfolgt, die nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fal-len, beispielsweise Tätigkeiten gemäß den Titeln V und VI des Vertrags über die Europäische Union, und auf keinen Fall auf Verarbeitungen betreffend die öffentliche Sicherheit, die Landesverteidigung, die Sicherheit des Staates und die Tätigkeiten des Staates im strafrechtlichen Bereich.

55. Die Angemessenheitsentscheidung betrifft nur die dem CBP übermittelten PNR-Daten. Nach der sechsten Begründungserwägung dieser Entscheidung sind die Rechtsgrund-lagen für diese Übermittlung ein im November 2001 in den Vereinigten Staaten erlas-senes Gesetz sowie Durchführungsvorschriften, die das CBP aufgrund dieses Gesetzes erlassen hat. Nach der siebten Begründungserwägung der Entscheidung betreffen die fraglichen Rechtsvorschriften der Vereinigten Staaten die Verbesserung der Sicher-heitslage in diesem Land sowie die Voraussetzungen, unter denen Personen dort ein- und ausreisen dürfen. Nach der achten Begründungserwägung unterstützt die Gemein-schaft die Vereinigten Staaten uneingeschränkt im Kampf gegen den Terrorismus in-nerhalb der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts. In der fünfzehnten Begründungs-erwägung der Entscheidung heißt es, dass die PNR-Daten ausschließlich für Zwecke der Verhütung und Bekämpfung des Terrorismus und damit verknüpfter Straftaten, anderer schwerer, ihrem Wesen nach länderübergreifender Straftaten, einschließlich der internationalen organisierten Kriminalität, und der Flucht vor Haftbefehlen bzw. vor Gewahrsamnahme im Zusammenhang mit jenen Straftaten verwendet werden.

56. Daraus folgt, dass die Übermittlung der PNR-Daten an das CBP eine Verarbeitung darstellt, die die öffentliche Sicherheit und die Tätigkeiten des Staates im strafrechtli-chen Bereich betrifft.

57. Es trifft zwar zu, dass die PNR-Daten von den Fluggesellschaften ursprünglich im Rahmen einer unter das Gemeinschaftsrecht fallenden Tätigkeit erhoben worden sind, nämlich im Rahmen des Verkaufs eines Flugscheins, der zu einer Dienstleistung be-rechtigt; die Datenverarbeitung, die in der Angemessenheitsentscheidung Berücksich-tigung findet, ist jedoch von ganz anderer Art. Denn diese Entscheidung bezieht sich, wie in Randnummer 55 des vorliegenden Urteils ausgeführt, auf eine Datenverarbei-tung, die nicht für die Erbringung einer Dienstleistung erforderlich ist, sondern zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und zu Strafverfolgungszwecken als erforderlich angesehen wird.

58. In Randnummer 43 des von der Kommission in ihrer Klagebeantwortung angeführten Urteils Lindqvist hat der Gerichtshof entschieden, dass die in Artikel 3 Absatz 2 erster Gedankenstrich der Richtlinie beispielhaft aufgeführten Tätigkeiten jedenfalls spezifi-sche Tätigkeiten der Staaten oder der staatlichen Stellen sind und mit den Tätigkeitsbe-reichen von Einzelpersonen nichts zu tun haben. Aus der Tatsache, dass es private Wirtschaftsteilnehmer sind, die die PNR-Daten zu gewerblichen Zwecken erhoben ha-ben und in einen Drittstaat übermitteln, folgt jedoch nicht, dass diese Übermittlung nicht in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fällt. Die Übermittlung findet nämlich in einem von staatlichen Stellen geschaffenen Rahmen statt und dient der öf-fentlichen Sicherheit.

552 EuR – Heft 4 – 2006 Rechtsprechung

59. Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die Angemessenheitsentscheidung eine Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne von Artikel 3 Absatz 2 erster Gedan-kenstrich der Richtlinie betrifft. Diese Entscheidung fällt daher nicht in den Anwen-dungsbereich der Richtlinie.

60. Der erste Teil des ersten Klagegrundes, der auf eine Verletzung von Artikel 3 Absatz 2 erster Gedankenstrich der Richtlinie gestützt wird, ist demnach begründet.

61. Folglich ist die Angemessenheitsentscheidung für nichtig zu erklären, ohne dass die anderen Teile des ersten Klagegrundes und die anderen Klagegründe des Parlaments geprüft zu werden brauchen.

Zur Klage in der Rechtssache C-317/04

62. Das Parlament trägt sechs Nichtigkeitsgründe vor, die darauf gestützt werden, dass mit Artikel 95 EG eine falsche Rechtsgrundlage für den Beschluss 2004/496 gewählt wor-den sei, dass Artikel 300 Absatz 3 Unterabsatz 2 EG und Artikel 8 EMRK verletzt worden seien und dass gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das Begrün-dungserfordernis und den Grundsatz loyaler Zusammenarbeit verstoßen worden sei.

Zum ersten Klagegrund, der dahin geht, dass mit Artikel 95 EG eine falsche Rechtsgrundlage für den Beschluss 2004/496 gewählt worden sei

Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

63.-66. […

Würdigung durch den Gerichtshof

67. Artikel 95 EG in Verbindung mit Artikel 25 der Richtlinie kann die Zuständigkeit der Gemeinschaft für den Abschluss des Abkommens nicht begründen.

68. Das Abkommen betrifft nämlich die gleiche Datenübermittlung wie die Angemessen-heitsentscheidung und damit eine Verarbeitung von Daten, die, wie oben ausgeführt, nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt.

69. Der Beschluss 2004/496 konnte folglich nicht rechtsgültig auf der Grundlage von Artikel 95 EG erlassen werden.

70. Dieser Beschluss ist daher für nichtig zu erklären, ohne dass die anderen Klagegründe des Parlaments geprüft zu werden brauchen.

Zur Beschränkung der Wirkungen des Urteils

71. Das Abkommen kann nach Punkt 7 von jeder Vertragspartei jederzeit gekündigt wer-den, wobei die Kündigung 90 Tage nach dem Tag, an dem sie der anderen Vertrags-partei notifiziert wurde, wirksam wird.

72. Nach den Punkten 1 und 2 des Abkommens bestehen das Zugriffsrecht des CBP auf die PNR-Daten und die Verpflichtung der Fluggesellschaften zu ihrer Verarbeitung nach den Vorgaben des CBP jedoch nur, solange die Angemessenheitsentscheidung gilt. In Punkt 3 des Abkommens erklärt das CBP, den im Anhang dieser Entscheidung beigefügten Verpflichtungen nachzukommen.

Rechtsprechung EuR – Heft 4 – 2006 553

73. Angesichts der Tatsache, dass sich die Gemeinschaft zur Rechtfertigung der Nicht-durchführung des Abkommens, das während eines Zeitraums von 90 Tagen nach sei-ner Kündigung wirksam bleibt, nicht auf ihr eigenes Recht berufen kann, und des en-gen Zusammenhangs zwischen dem Abkommen und der Angemessenheitsentschei-dung erscheint es aus Gründen der Rechtssicherheit und zum Schutz der betroffenen Personen gerechtfertigt, die Wirkungen der Angemessenheitsentscheidung während dieses Zeitraums aufrechtzuerhalten. Außerdem ist die Frist zu berücksichtigen, die für den Erlass der sich aus dem vorliegenden Urteil ergebenden Maßnahmen benötigt wird.

74. Die Wirkungen der Angemessenheitsentscheidung sind daher bis zum 30. September 2006, jedoch nicht über den Zeitpunkt des Außerkrafttretens des Abkommens hinaus, aufrechtzuerhalten.

554 EuR – Heft 4 – 2006

Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, Grundsatz ne bis in idem

1. Der Grundsatz ne bis in idem gilt nicht für Sachverhalte, in denen die Rechtsord-nungen und die Wettbewerbsbehörden von Drittstaaten im Rahmen ihrer eige-nen Zuständigkeiten eine Rolle gespielt haben.

2. Es gibt keinen völkerrechtlichen Grundsatz, der es den Behörden und Gerichten verschiedener Staaten untersagt, eine natürliche oder juristische Person wegen derselben Tat zu verfolgen und zu verurteilen, wegen der bereits in einem ande-ren Staat gegen sie vorgegangen wurde.

3. Es gibt auch keine Bestimmung des Völkerrechts, nach der die Kommission ver-pflichtet wäre, bei der Festsetzung einer Geldbuße die Geldbußen zu berücksich-tigen, die von den Behörden eines Drittstaats im Rahmen ihrer Zuständigkeiten im Bereich des Wettbewerbsrechts verhängt wurden.

(Leitsätze der Redaktion)

Urteil des Gerichtshofs vom 29.06.2006 (Rechtsmittelverfahren), SGL Carbon AG/ Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Rs. C-308/04 P

Urteil

1. Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die SGL Carbon AG (im Folgenden: Rechtsmittel-führerin), das Urteil des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vom 29. April 2004 in den Rechtssachen T-236/01, T-239/01, T-244/01 bis T-246/01, T-251/01 und T-252/01 (Tokai Carbon u. a./Kommission, Slg. 2004, II-1181, im Fol-genden: angefochtenes Urteil) insoweit teilweise aufzuheben, als darin die Klage ge-gen die Artikel 3 und 4 der Entscheidung 2002/271/EG der Kommission vom 18. Juli 2001 in einem Verfahren nach Artikel 81 EG-Vertrag und Artikel 53 EWR-Abkommen – Sache COMP/E-1/36.490 – Graphitelektroden (ABl. 2002, L 100, S. 1, im Folgenden: streitige Entscheidung) abgewiesen wurde.

Rechtlicher Rahmen

Die Verordnung Nr. 17

2. Artikel 15 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchfüh-rungsverordnung zu den Artikeln [81] und [82] des Vertrages (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204), sieht vor: 1. Die Kommission kann gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch

Entscheidung Geldbußen in Höhe von einhundert bis fünftausend Rechnungsein-heiten festsetzen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig:

... b) eine nach Artikel 11 Absatz (3) oder (5) ... verlangte Auskunft unrichtig ... er-

teilen, ...

Rechtsprechung EuR – Heft 4 – 2006 555

2. Die Kommission kann gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen in Höhe von eintausend bis einer Million Rechnungsein-heiten oder über diesen Betrag hinaus bis zu zehn vom Hundert des von dem ein-zelnen an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen im letzten Geschäftsjahr erzielten Umsatzes festsetzen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig: a) gegen Artikel [81] Absatz (1) oder Artikel [82] des Vertrages verstoßen,

... Bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße ist neben der Schwere des Verstoßes auch

die Dauer der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen. ...“

Die Leitlinien

3. Die Mitteilung der Kommission mit dem Titel „Leitlinien für das Verfahren zur Fest-setzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden“ (ABl. 1998, C 9, S. 3, im folgenden: Leitlinien), bestimmt in ihrer Präambel:

„Die in diesen Leitlinien dargelegten Grundsätze sollen dazu beitragen, die Transpa-renz und Objektivität der Entscheidung der Kommission sowohl gegenüber den Unter-nehmen als auch gegenüber dem Gerichtshof zu erhöhen, sowie den Ermessenspiel-raum bekräftigen, der vom Gesetzgeber der Kommission bei der Festsetzung der Geldbußen innerhalb der Obergrenze von 10 % des Gesamtumsatzes der Unternehmen eingeräumt wurde. Dieser Ermessenspielraum muss jedoch nach zusammenhängenden, nicht diskriminierenden Leitlinien ausgefüllt werden, die im Einklang mit den bei der Ahndung der Verstöße gegen die Wettbewerbsregeln verfolgten Zielen stehen.

Das neue Verfahren für die Festsetzung des Betrags der Geldbuße beruht auf folgen-dem Schema, dem die Errechnung eines Grundbetrags zugrunde liegt, wobei Auf-schläge zur Berücksichtigung erschwerender und Abzüge zur Berücksichtigung mil-dernder Umstände berechnet werden können.“

Die Mitteilung über Zusammenarbeit

4. Die Mitteilung der Kommission über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festset-zung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. 1996, C 207, S. 4, im Folgenden: Mittei-lung über Zusammenarbeit) enthält die Voraussetzungen, unter denen Geldbußen für Unternehmen, die während der Untersuchung eines Kartellfalls mit ihr zusammenar-beiten, entweder nicht oder niedriger festgesetzt werden können.

5. In Abschnitt A Nummer 5 dieser Mitteilung heißt es: „Die Zusammenarbeit eines Unternehmens mit der Kommission ist nur einer von

mehreren Gesichtspunkten, denen die Kommission bei der Festsetzung einer Geldbuße Rechnung trägt …“

Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten

6. Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 zu der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten lau-tet:

556 EuR – Heft 4 – 2006 Rechtsprechung

„Recht, wegen derselben Sache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden. Absatz 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist. Von diesem Artikel darf nicht nach Artikel 15 der Konvention abgewichen werden.“

Sachverhalt des Rechtsstreits und streitige Entscheidung

7. Im angefochtenen Urteil hat das Gericht den Sachverhalt der bei ihm erhobenen Klage wie folgt zusammengefasst: […]

Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil

8. Die Rechtsmittelführerin und andere Adressaten der streitigen Entscheidung erhoben vor dem Gericht Klagen auf Nichtigerklärung dieser Entscheidung.

9. Im angefochtenen Urteil erkannte das Gericht u. a. für Recht und entschied: […]

Anträge der Verfahrensbeteiligten vor dem Gerichtshof

10. Die Rechtsmittelführerin beantragt, […] 11. Die Kommission beantragt, […]

Zum Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung

12. Mit Schreiben, das am 24. Februar 2006 beim Gerichtshof eingegangen ist, hat die Rechtsmittelführerin gemäß Artikel 61 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beantragt.

13. Zur Stützung ihres Antrags macht die Rechtsmittelführerin geltend, in den Schlussan-trägen des Generalanwalts im vorliegenden Rechtsmittelverfahren würden der Tatsa-chenvortrag der Verfahrensbeteiligten sowie die Feststellungen des Gerichts nicht durchgehend zutreffend wiedergegeben. Sie enthielten auch Argumente und Annah-men, die weder von den Verfahrensbeteiligten in ihren jeweiligen Schriftsätzen vorge-tragen worden noch Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen seien. Die Schlussanträge könnten daher die Urteilsfindung nicht ausreichend vorbereiten, son-dern bedürften ausnahmsweise der weiteren Stellungnahme vor einer abschließenden Entscheidung des Gerichtshofes.

14. Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Satzung des Gerichtshofes und die Verfahrensordnung nicht die Möglichkeit vorsehen, dass die Verfahrensbeteiligten ei-ne Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts abgeben (vgl. u. a. Be-schluss vom 4. Februar 2000 in der Rechtssache C-17/98, Emesa Sugar, Slg. 2000, I-665, Randnr. 2).

Rechtsprechung EuR – Heft 4 – 2006 557

15. Zur Argumentation der Rechtsmittelführerin ist festzustellen, dass der Gerichtshof nach Artikel 61 seiner Verfahrensordnung die Wiedereröffnung der mündlichen Ver-handlung von Amts wegen, auf Vorschlag des Generalanwalts oder auch auf Antrag der Verfahrensbeteiligten anordnen kann, wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält oder ein zwischen den Verfahrensbeteiligten nicht erörtertes Vorbringen als ent-scheidungserheblich ansieht (vgl. u. a. Urteile vom 13. November 2003 in der Rechts-sache C-209/01, Schilling und Fleck-Schilling, Slg. 2003, I-13389, Randnr. 19, und vom 17. Juni 2004 in der Rechtssache C-30/02, Recheio – Cash & Carry, Slg. 2004, I-6051, Randnr. 12).

16. Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof der Auffassung, dass er über sämtliche Anga-ben verfügt, die er für die Entscheidung über das vorliegende Rechtsmittel benötigt.

17. Es bedarf daher keiner Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung.

Zum Rechtsmittel

18. Die Rechtsmittelführerin stützt ihr Rechtsmittel auf sieben Gründe, und zwar auf die Verkennung der Pflicht zur Anrechnung zuvor verhängter Sanktionen (Grundsatz ne bis in idem), die fehlerhafte Festsetzung des Ausgangsbetrags im Rahmen der Ermitt-lung ihres Bußgelds, die unzutreffende Bestätigung des Bußgeldaufschlags für telefo-nische Hinweise vor der Nachprüfung 1997, die rechtsfehlerhafte Verkennung der in Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 normierten Sanktionsobergrenze von 10 % des weltweiten Konzernumsatzes, die Beschränkung ihrer Verteidigungsrechte auf-grund unzureichender Akteneinsicht, die Rechtswidrigkeit der Nichtberücksichtigung ihrer mangelnden Leistungsfähigkeit sowie die Unrechtmäßigkeit der Zinsfestsetzung.

Erster Rechtsmittelgrund: Verkennung der Pflicht zur Anrechnung der zuvor von den Behörden von Drittstaaten verhängten Sanktionen – Grundsatz ne bis in idem

Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

19.-25. […]

Würdigung durch den Gerichtshof

26. Zunächst ist daran zu erinnern, dass der auch in Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ver-ankerte Grundsatz ne bis in idem einen fundamentalen Grundsatz des Gemeinschafts-rechts darstellt, den der Gemeinschaftsrichter zu beachten hat (vgl. u. a. Urteile vom 5. Mai 1966 in den Rechtssachen 18/65 und 35/65, Gutmann/EAG-Kommission, Slg. 1966, 154, 178, und vom 15. Oktober 2002 in den Rechtssachen C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P und C-254/99 P, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, Slg. 2002, I-8375, Randnr. 59).

27. Im Rahmen der Prüfung, ob der Rechtsmittelgrund eines Verstoßes gegen diesen Grundsatz begründet ist, ist sodann festzustellen, dass – wie das Gericht in Randnum-mer 140 des angefochtenen Urteils zutreffend ausgeführt hat – der Gerichtshof noch nicht über die Frage entschieden hat, ob die Kommission zur Anrechnung einer von den Behörden eines Drittstaats verhängten Sanktion verpflichtet ist, wenn sich die ge-

558 EuR – Heft 4 – 2006 Rechtsprechung

gen ein Unternehmen von ihr selbst und von den betreffenden Behörden erhobenen Vorwürfe auf dieselben Handlungen beziehen, sondern die Identität der von der Kommission und den Behörden eines Drittstaats beanstandeten Handlungen zur Vo-raussetzung für diese Prüfung gemacht hat.

28. Zum Anwendungsbereich des Grundsatzes ne bis in idem in Fällen, in denen die Be-hörden eines Drittstaats aufgrund ihrer Sanktionsbefugnisse im Bereich des im Gebiet dieses Staates geltenden Wettbewerbsrechts tätig geworden sind, ist darauf hinzuwei-sen, dass das streitige Kartell in einem internationalen Kontext steht, der insbesondere dadurch gekennzeichnet ist, dass die Rechtsordnungen von Drittstaaten in deren jewei-ligem Hoheitsgebiet zur Anwendung gekommen sind.

29. Hierzu ist festzustellen, dass die Ausübung der Befugnisse der mit dem Schutz des freien Wettbewerbs betrauten Behörden dieser Staaten im Rahmen ihrer örtlichen Zu-ständigkeit den dort bestehenden Anforderungen genügen muss. Die den Rechtsord-nungen anderer Staaten im Bereich des Wettbewerbs zugrunde liegenden Elemente enthalten nämlich nicht nur spezielle Zwecke und Zielsetzungen, sondern führen auch zum Erlass besonderer materieller Vorschriften sowie zu ganz unterschiedlichen Rechtsfolgen im Bereich des Verwaltungs-, Straf- oder Zivilrechts, wenn die Behörden der genannten Staaten das Vorliegen von Zuwiderhandlungen gegen die anwendbaren Wettbewerbsregeln festgestellt haben.

30. Ganz anders ist die Rechtslage dagegen, wenn auf ein Unternehmen im Bereich des Wettbewerbs ausschließlich das Gemeinschaftsrecht und das Recht eines oder mehre-rer Mitgliedstaaten zur Anwendung kommt, d. h., wenn sich ein Kartell ausschließlich auf den örtlichen Anwendungsbereich der Rechtsordnung der Europäischen Gemein-schaft beschränkt.

31. Daraus folgt, dass die Kommission, wenn sie das rechtswidrige Verhalten eines Unter-nehmens ahndet, auch dann, wenn dieses Verhalten seinen Ursprung in einem Kartell mit internationalem Charakter hat, zum Schutz des freien Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes tätig wird, der nach Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe g EG ein grundlegendes Ziel der Gemeinschaft darstellt. Aufgrund des speziellen Charakters des auf Gemeinschaftsebene geschützten Rechtsguts können die Beurteilungen, die die Kommission aufgrund ihrer einschlägigen Befugnisse vornimmt, erheblich von den Beurteilungen durch die Behörden von Drittstaaten abweichen.

32. Daher hat das Gericht in Randnummer 134 des angefochtenen Urteils zu Recht ent-schieden, dass der Grundsatz ne bis in idem nicht für Sachverhalte gilt, in denen die Rechtsordnungen und die Wettbewerbsbehörden von Drittstaaten im Rahmen ihrer ei-genen Zuständigkeiten eine Rolle gespielt haben.

33. Überdies hat das Gericht ebenfalls zu Recht entschieden, dass es keinen anderen Rechtsgrundsatz gab, der die Kommission hätte verpflichten können, zu berücksichti-gen, dass die Rechtsmittelführerin in Drittstaaten verfolgt und mit Sanktionen belegt wurde.

34. Hierzu ist festzustellen, dass es, wie das Gericht in Randnummer 136 des angefochte-nen Urteils zutreffend ausgeführt hat, keinen völkerrechtlichen Grundsatz gibt, der es den Behörden und Gerichten verschiedener Staaten untersagt, eine natürliche oder ju-ristische Person wegen derselben Tat zu verfolgen und zu verurteilen, wegen der be-reits in einem anderen Staat gegen sie vorgegangen wurde. Es gibt auch keine Be-stimmung des Völkerrechts, nach der die Kommission verpflichtet wäre, bei der Fest-

Rechtsprechung EuR – Heft 4 – 2006 559

setzung einer Geldbuße gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 die Geld-bußen zu berücksichtigen, die von den Behörden eines Drittstaats im Rahmen ihrer Zuständigkeiten im Bereich des Wettbewerbsrechts verhängt wurden.

35. Hinzuzufügen ist, dass sich die Abkommen zwischen den Gemeinschaften und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 23. Dezember 1991 und vom 4. Juni 1998 über die Anwendung der „Positive Comity“-Grundsätze bei der Durchset-zung ihrer Wettbewerbsregeln (ABl. 1995, L 95, S. 47, und ABl. 1998, L 173, S. 28) auf praktische Verfahrensfragen wie den Informationsaustausch und die Zusammenar-beit zwischen den Wettbewerbsbehörden beschränken und nicht die Auferlegung oder Berücksichtigung der von einer der Parteien dieser Abkommen verhängten Sanktionen betreffen.

36. Schließlich ist in Bezug auf die von der Rechtsmittelführerin hilfsweise gerügte Ver-kennung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Billigkeit durch das Gericht darauf hinzuweisen, dass Erwägungen, die auf der Existenz der von den Behörden ei-nes Drittstaats verhängten Geldbußen beruhen, nur im Rahmen des Ermessens berück-sichtigt werden können, über das die Kommission bei der Festsetzung von Geldbußen wegen Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft verfügt. Folglich kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass die Kommission Geldbußen be-rücksichtigt, die zuvor von den Behörden von Drittstaaten verhängt wurden, doch ist sie dazu nicht verpflichtet.

37. Das Abschreckungsziel, das die Kommission bei der Bemessung einer Geldbuße ver-folgen darf, besteht nämlich darin, zu gewährleisten, dass die Unternehmen die im EG-Vertrag für ihre Tätigkeiten innerhalb des Gemeinsamen Marktes festgelegten Wett-bewerbsregeln beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 1970 in der Rechts-sache 41/69, ACF Chemiefarma/Kommission, Slg. 1970, 661, Randnrn. 173 bis 176). Folglich ist die Kommission bei der Beurteilung der Abschreckungswirkung einer we-gen eines Verstoßes gegen diese Regeln zu verhängenden Geldbuße nicht verpflichtet, etwaige Sanktionen zu berücksichtigen, die gegen ein Unternehmen wegen Verstößen gegen die Wettbewerbsregeln von Drittstaaten verhängt wurden.

38. Das Gericht hat daher keinen Rechtsfehler begangen, als es in den Randnummern 144 bis 148 des angefochtenen Urteils entschied, dass die Geldbuße rechtmäßig festgesetzt worden sei.

39. Nach alledem ist der erste Rechtsmittelgrund in vollem Umfang zurückzuweisen.

Zweiter Rechtsmittelgrund: Fehlerhafte Festsetzung des Ausgangsbetrags im Rahmen der Ermittlung des Bußgelds der Rechtsmittelführerin

Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

40. Die Rechtsmittelführerin ist der Ansicht, dass das Gericht bei der Bußgeldberechnung die Zumessungskriterien des Ausgangsbetrags falsch angewandt und dadurch entweder gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen oder einen Ermessensfehler be-gangen habe.

41-45. Die hierzu angestellten Erwägungen des Gerichts seien in dreifacher Hinsicht fehlerhaft. […]

560 EuR – Heft 4 – 2006 Rechtsprechung

Würdigung durch den Gerichtshof

46. Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. u. a. Urteil vom 28. Juni 2005 in den Rechtssa-chen C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02-P und C-213/02 P, Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Slg. 2005, I-5425, Randnrn. 240 bis 243 und die dort genannte Rechtsprechung) verfügt die Kommission über ein weites Ermessen in Bezug auf die Berechnungsmethode der Geldbußen und kann in diesem Rahmen – unter Be-achtung der in Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 genannten Obergrenze des Umsatzes – zahlreiche Gesichtspunkte berücksichtigen.

47. Der Gerichtshof hat außerdem hervorgehoben, dass die in den Leitlinien beschriebene Berechnungsmethode verschiedene Spielräume enthält, die es der Kommission ermög-lichen, ihr Ermessen im Einklang mit den Vorschriften des Artikels 15 der Verordnung Nr. 17 in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof auszuüben (vgl. Urteil Dansk Rørin-dustri u. a./Kommission, Randnr. 267).

48. Der Gerichtshof hat gleichwohl zu prüfen, ob das Gericht die Ermessensausübung durch die Kommission ordnungsgemäß gewürdigt hat.

49. Hierzu ist festzustellen, dass das Gericht eingehend geprüft hat, ob die quantitativen Schwellenwerte, die bei der Einteilung der Unternehmen in drei Kategorien zur Fest-setzung der Ausgangsbeträge der Geldbußen herangezogen wurden, in schlüssiger und objektiver Weise ermittelt worden waren.

50. Wie das Gericht in den Randnummern 217 bis 219 des angefochtenen Urteils erläutert, hat sich die Kommission bei der Einteilung der am Kartell beteiligten Unternehmen in drei Kategorien und der Festlegung der verschiedenen Ausgangsbeträge auf die Um-sätze und Marktanteile gestützt, die von den Kartellmitgliedern durch den Verkauf des fraglichen Erzeugnisses in dem von der streitigen Entscheidung erfassten Zeitraum er-zielt wurden.

51. Das Gericht ist in den Randnummern 224 bis 226 des angefochtenen Urteils zu dem Ergebnis gekommen, dass die Wahl der Ausgangsbeträge, die für die Unternehmen der ersten Kategorie, in die die Rechtsmittelführerin eingestuft wurde, zu einem Betrag von 40 Millionen Euro führte, nicht willkürlich gewesen und nicht über das der Kom-mission insoweit zustehende Ermessen hinausgegangen sei.

52. Die Rechtsmittelführerin wendet sich mit ihrer Argumentation gegen das von der Kommission verwendete und vom Gericht gebilligte Einstufungssystem und vertritt die Ansicht, dass jeder Unterschied zwischen dem Umsatz oder den Marktanteilen der betroffenen Unternehmen für jedes am Kartell beteiligte Unternehmen zu einer eige-nen Kategorie und somit zu einem abweichenden Ausgangsbetrag führen müsse.

53. Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden. 54. Wie aus den oben wiedergegebenen Erwägungen des Gerichts hervorgeht, hat es ge-

prüft, ob die Kommission bei der Anwendung ihrer Methode zur Einstufung der Un-ternehmen sowie der Festlegung der quantitativen Schwellenwerte jeder Kategorie ordnungsgemäß und schlüssig vorgegangen war. Es hat ferner geprüft, ob die Eingrup-pierung der Unternehmen in eine bestimmte Kategorie verglichen mit den anderen Ka-tegorien hinreichend schlüssig und objektiv war.

55. Hinzuzufügen ist, dass die Tatsache, dass andere Kartellmitglieder anhand der für sie geltenden Umstände in andere Kategorien eingestuft wurden, die Stichhaltigkeit der

Rechtsprechung EuR – Heft 4 – 2006 561

Erwägungen des Gerichts in Bezug auf die Einstufung der Rechtsmittelführerin nicht beeinträchtigen kann.

56. Folglich entspricht die von der Kommission vorgenommene und vom Gericht gebillig-te Einstufung in Kategorien auch dem Grundsatz der Gleichbehandlung.

57. Unter diesen Umständen ist das angefochtene Urteil in diesem Punkt frei von Rechts-fehlern.

58. Dem zweiten Rechtsmittelgrund kann daher nicht gefolgt werden.

Dritter Rechtsmittelgrund: Erhöhung des Ausgangsbetrags um 25 %

Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

59.-63. […]

Würdigung durch den Gerichtshof

64. Das Gericht hat in Randnummer 312 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass es als erschwerender Umstand habe gewertet werden dürfen, dass die Rechtsmittelführerin andere Unternehmen vor den bevorstehenden Nachprüfungen der Kommission ge-warnt habe, und dass es sich dabei entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführerin nicht um eine spezielle und eigenständige Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbs-regeln der Gemeinschaft gehandelt habe, sondern um ein Verhalten, das die Schwere der ursprünglichen Zuwiderhandlung erhöht habe. In derselben Randnummer des an-gefochtenen Urteils hat das Gericht zudem festgestellt, dass die Rechtsmittelführerin durch diese an andere Unternehmen gerichteten Warnungen versucht habe, die Exis-tenz des Kartells zu verschleiern und dessen Fortbestand zu sichern, was ihr im Übri-gen auch bis März 1998 gelungen sei.

65. In Randnummer 313 des angefochtenen Urteils hat das Gericht hinzugefügt, die Be-zugnahme der Rechtsmittelführerin auf Artikel 15 Absatz 1 Buchstabe c der Verord-nung Nr. 17 gehe fehl, da diese Bestimmung Behinderungen betreffe, die als eigen-ständige und vom Vorliegen eines Kartells unabhängige Zuwiderhandlungen angese-hen würden, während die im vorliegenden Fall von der Rechtsmittelführerin ausge-sprochenen Warnungen die Fortführung eines Kartells hätten sichern sollen, von dem feststehe, dass es einen eindeutigen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht der Gemein-schaft darstelle.

66. Schließlich hat das Gericht in Randnummer 315 des angefochtenen Urteils darauf hingewiesen, dass diese Warnungen, da sie sich an andere Unternehmen gerichtet hät-ten, über die rein interne Sphäre der Rechtsmittelführerin hinausgegangen seien und auf das Scheitern der gesamten Untersuchung der Kommission abgezielt hätten, um die Weiterführung des Kartells zu gewährleisten.

67. Mit den genannten Erwägungen hat das Gericht eine Reihe von Tatsachenwürdigun-gen des Verhaltens der Rechtsmittelführerin vorgenommen.

68. Insoweit ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung allein das Gericht für die Tatsachenfeststellung zuständig ist, sofern sich nicht aus den Akten ergibt, dass seine Feststellungen tatsächlich falsch sind, und für die Würdigung dieser Tatsachen. Die Würdigung der Tatsachen ist, sofern die dem Gericht vorgelegten Beweismittel nicht verfälscht werden, daher keine Rechtsfrage, die im Rechtsmittelverfahren als

562 EuR – Heft 4 – 2006 Rechtsprechung

solche der Kontrolle des Gerichtshofes unterliegt (vgl. u. a. Urteil vom 29. April 2004 in der Rechtssache C-470/00 P, Parlament/Ripa di Meana u. a., Slg. 2004, I-4167, Randnr. 40 und die dort genannte Rechtsprechung).

69. Zum Argument der Rechtsmittelführerin, mit dem sie einen Verstoß gegen die Grund-sätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung rügt, ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht in den Randnummern 309 und 310 des angefochtenen Urteils ent-schieden hat, dass die Erhöhung der gegen die Rechtsmittelführerin festgesetzten Geldbuße wegen der Warnung anderer Unternehmen nicht unverhältnismäßig oder diskriminierend erscheine. Es hat die Einstufung dieser Warnungen durch die Kom-mission als behinderndes Verhalten der Rechtsmittelführerin zur Verschleierung der Existenz des Kartells und als Umstand, der eine Erhöhung der fraglichen Geldbuße rechtfertige, gebilligt.

70. Diese Erwägungen des Gerichts sind nicht rechtsfehlerhaft. 71. Nach der Rechtsprechung (vgl. u. a. Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission,

Randnrn. 240 bis 242) wird der Ausgangsbetrag der Geldbuße anhand der Zuwider-handlung festgelegt, deren Schwere unter Heranziehung zahlreicher anderer Faktoren zu ermitteln ist, in Bezug auf die die Kommission über ein weites Ermessen verfügt. Die Berücksichtigung erschwerender Umstände bei der Festsetzung der Geldbuße steht im Einklang mit der Aufgabe der Kommission, die Übereinstimmung mit den Wett-bewerbsregeln zu gewährleisten.

72. Der dritte Rechtsmittelgrund ist daher in vollem Umfang zurückzuweisen.

Vierter Rechtsmittelgrund: Nichtberücksichtigung der Obergrenze der Sanktion nach Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17

Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

73. Die Rechtsmittelführerin führt aus, das Gericht habe nicht beachtet, dass die von der Kommission festgesetzte Geldbuße den in Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 vorgesehenen Strafrahmen überschreite. Die dazu angestellten Erwägungen des Ge-richts seien außerdem unzureichend begründet.

74.80. […]

Würdigung durch den Gerichtshof

81. Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. u. a. Urteil vom 7. Juni 1983 in den Rechtssa-chen 100/80 bis 103/80, Musique Diffusion française u. a./Kommission, Slg. 1983, 1825, Randnrn. 117 bis 119, und Urteil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Randnr. 257) bezieht sich die Obergrenze von 10 % in Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 auf den Gesamtumsatz des betroffenen Unternehmens, da nur dieser einen An-haltspunkt für die Größe und den Einfluss eines Unternehmens auf den Markt liefert.

82. Außerdem geht aus der Rechtsprechung hervor (vgl. u. a. die Urteile Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, Randnrn. 592 und 593, und Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Randnr. 278), dass die genannte Obergrenze nur für den Endbetrag der verhängten Geldbuße gilt. Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 verbietet es der Kommission folglich nicht, bei den verschiedenen Berechnungsschritten zu einem

Rechtsprechung EuR – Heft 4 – 2006 563

Zwischenbetrag zu gelangen, der über dieser Grenze liegt, sofern der Endbetrag der Geldbuße sie nicht übersteigt.

83. In der vorliegenden Rechtssache ist festzustellen, dass die von der Kommission ver-hängte Geldbuße nicht über die genannte Obergrenze hinausging, wie sich aus Rand-nummer 367 des angefochtenen Urteils ergibt.

84. Zur Argumentation der Rechtsmittelführerin, dass das Gericht den Grundsatz der Gleichbehandlung und seine Begründungspflicht in Bezug auf die Höhe der Geldbuße verletzt habe, genügt der Hinweis, dass die Kommission, wie das Gericht in den Rand-nummern 367 bis 370 des angefochtenen Urteils zutreffend ausgeführt hat, befugt ist, diesen Betrag anhand zahlreicher Elemente und insbesondere unter Berücksichtigung von Schwere und Dauer der begangenen Zuwiderhandlungen sowie der besonderen Merkmale jedes an einem Kartell beteiligten Unternehmens zu ermitteln.

85. Daraus folgt, dass die Kommission bei der Ausübung ihres Ermessens in Bezug auf die Berechnungsmethode der Geldbußen individuelle Beurteilungen zwecks Anwen-dung dieser Methode auf die verschiedenen Unternehmen vorzunehmen hat.

86. Aus allen vorstehenden Erwägungen ergibt sich daher, dass das Gericht zutreffend entschieden hat, dass die bei der Festsetzung der fraglichen Geldbuße zu berücksichti-gende Lage der Rechtsmittelführerin nicht mit der anderer Unternehmen vergleichbar war und dass die Kommission die Methode zur Berechnung der streitigen Geldbuße somit in schlüssiger Weise und ohne Diskriminierung angewandt hatte.

87. Der vierte Rechtsmittelgrund ist deshalb zurückzuweisen.

Fünfter Rechtsmittelgrund: Verletzung der Verteidigungsrechte

Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

88. Die Rechtsmittelführerin trägt vor, das Gericht habe rechtsfehlerhaft entschieden, dass die Kommission in hinreichendem Maß Akteneinsicht gewährt habe.

89.-93. […]

Würdigung durch den Gerichtshof

94. Die Wahrung der Verteidigungsrechte stellt in allen Verfahren, die zu Sanktionen, namentlich zu Geldbußen oder Zwangsgeldern führen können, einen fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dar, der auch in einem Verwaltungsverfahren be-achtet werden muss (vgl. u. a. Urteil vom 2. Oktober 2003 in der Rechtssache C-194/99 P, Thyssen Stahl/Kommission, Slg. 2003, I-10821, Randnr. 30).

95. Zum Vorbringen der Rechtsmittelführerin in Bezug auf die Akteneinsicht genügt der Hinweis, dass sie keine Rechtsfrage aufwirft, sondern sich auf tatsächliche Feststel-lungen stützt. Das Gericht hat aber in den Randnummern 39 bis 41 des angefochtenen Urteils dargelegt, dass sich der fragliche Antrag auf Akteneinsicht nicht auf eine Liste oder eine nicht vertrauliche Zusammenfassung von Unterlagen bezog. Die vom Ge-richt in den genannten Randnummern des angefochtenen Urteils angestellten Erwä-gungen zur Behandlung einer Reihe von Unterlagen im Verwaltungsverfahren sind auch nicht widersprüchlich.

96. Zum Argument der Rechtsmittelführerin in Bezug auf den Abschlussbericht des Anhö-rungsbeauftragten genügt der Hinweis, dass dieser im fraglichen Zeitraum nicht zu

564 EuR – Heft 4 – 2006 Rechtsprechung

prüfen brauchte, ob die Einstufung interner Unterlagen zutreffend war und ob die Kommission verpflichtet war, Einsicht in ihre internen Unterlagen zu gewähren oder eine Liste oder Zusammenfassung vertraulicher Unterlagen vorzulegen.

97. Nach ständiger Rechtsprechung stellt die unterbliebene Übermittlung eines Schrift-stücks nur dann eine Verletzung der Verteidigungsrechte dar, wenn das betreffende Unternehmen erstens dartun kann, dass sich die Kommission zur Untermauerung ihres Vorwurfs, dass eine Zuwiderhandlung vorliege, auf dieses Schriftstück gestützt hat, und zweitens, dass dieser Vorwurf nur durch Heranziehung des fraglichen Schrift-stücks belegt werden konnte (vgl. u. a. Urteile vom 25. Oktober 1983 in der Rechtssa-che 107/82, AEG/Kommission, Slg. 1983, 3151, Randnrn. 24 bis 30, und vom 9. No-vember 1983 in der Rechtssache 322/81, Michelin/Kommission, Slg. 1983, 3461, Randnrn. 7 bis 9).

98. Der Gerichtshof hat hierzu weiter ausgeführt, dass das betroffene Unternehmen dartun muss, dass das Ergebnis, zu dem die Kommission in der streitigen Entscheidung ge-kommen ist, anders ausgefallen wäre, wenn ein ihm nicht übermitteltes Schriftstück, auf das die Kommission die Feststellung der Zuwiderhandlung gestützt hat, als Be-weismittel ausgeschlossen worden wäre (vgl. Urteil vom 7. Januar 2004 in den Rechts-sachen C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P, Aalborg Portland u. a./Kommission, Slg. 2004, I-123, Randnr. 73).

99. Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass auch die Ausführungen des Gerichts zum Bericht des Anhörungsbeauftragten in den Randnummern 50 bis 54 des angefoch-tenen Urteils keinen Rechtsfehler aufweisen.

100. Der fünfte Rechtsmittelgrund ist daher zurückzuweisen.

Sechster Rechtsmittelgrund: Nichtberücksichtigung der Leistungsfähigkeit der Rechtsmittelführerin

Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

101.-104. […]

Würdigung durch den Gerichtshof

105. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Kommission nicht verpflichtet, bei der Be-messung der Geldbuße die schlechte Finanzlage eines Unternehmens zu berücksich-tigen, da die Anerkennung einer solchen Verpflichtung darauf hinauslaufen würde, den am wenigsten den Marktbedingungen angepassten Unternehmen einen unge-rechtfertigten Wettbewerbsvorteil zu verschaffen (vgl. Urteil vom 8. November 1983 in den Rechtssachen 96/82 bis 102/82, 104/82, 105/82, 108/82 und 110/82, IAZ In-ternational Belgium u. a./Kommission, Slg. 1983, 3369, Randnrn. 54 und 55, und Ur-teil Dansk Rørindustri u. a./Kommission, Randnr. 327).

106. Diese Rechtsprechung wird auch nicht durch Nummer 5 Buchstabe b der Leitlinien in Frage gestellt, wonach die tatsächliche Steuerkraft eines Unternehmens zu berück-sichtigen ist. Letztere ist nämlich nur im „gegebenen sozialen Umfeld“ relevant, d. h. im Licht der Folgen, die die Zahlung der Geldbuße u. a. in Form einer Zunahme der Arbeitslosigkeit oder einer Beeinträchtigung der dem betreffenden Unternehmen vor- und nachgelagerten Wirtschaftssektoren hätte.

Rechtsprechung EuR – Heft 4 – 2006 565

107. Die Rechtsmittelführerin hat keinen Anhaltspunkt für die Existenz eines solchen Umfelds vorgetragen.

108. Zu dem aus der Freiheit wirtschaftlicher Tätigkeiten und dem Eigentumsrecht abge-leiteten Argument der Rechtsmittelführerin genügt der Hinweis, dass diese Grundsät-ze Beschränkungen aufgrund des Allgemeininteresses unterliegen und dass sie im Kontext der Festsetzung einer Geldbuße wegen Verletzung des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft nicht herangezogen werden können.

109. Unter diesen Umständen hat das Gericht zu Recht die Ansicht vertreten, dass die Kommission keinen Rechtsfehler begangen hatte, als sie das auf die schlechte Fi-nanzlage der Rechtsmittelführerin gestützte Vorbringen zurückwies.

110. Der sechste Rechtsmittelgrund ist daher zurückzuweisen.

Siebter Rechtsmittelgrund: Festsetzung von Verzugszinsen

Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

111.-112. […]

Würdigung durch den Gerichtshof

113. Das Gericht hat zur Beantwortung des vorgebrachten Klagegrundes in den Rand-nummern 475 und 478 des angefochtenen Urteils auf die ständige Rechtsprechung verwiesen, wonach die der Kommission durch Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 eingeräumten Befugnisse das Recht umfassen, den Zahlungstermin für Geld-bußen und den Beginn der Laufzeit von Verzugszinsen zu bestimmen sowie deren Satz und die Einzelheiten der Durchführung ihrer Entscheidung festzulegen.

114. Ohne eine solche Befugnis der Kommission könnten die Unternehmen aus verspäte-ten Zahlungen Vorteile ziehen, was die Wirkung der Sanktionen schwächen würde.

115. Das Gericht hat daher zu Recht die Ansicht vertreten, dass die Kommission berech-tigt gewesen sei, eine über dem üblichen durchschnittlichen Marktzins liegende Be-zugsgröße zu wählen, soweit dies erforderlich war, um hinhaltenden Verhaltenswei-sen bei der Zahlung der Geldbuße vorzubeugen.

116. Das Gericht ist schließlich zu dem Ergebnis gekommen, dass die Kommission ihr Ermessen bei der Festlegung des beanstandeten Zinssatzes nicht überschritten habe.

117. Diese Ausführungen des Gerichts sind frei von Rechtsfehlern. 118. Der siebte Rechtsmittelgrund ist daher zurückzuweisen. 119. Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass das Rechtsmittel in vollem Umfang

zurückzuweisen ist.

566 EuR – Heft 4 – 2006

KLEINERE BEITRÄGE, BERICHTE UND DOKUMENTE

Effektiver Rechtsschutz gegen „targeted sanctions“ des UN-Sicherheitsrats?

Von Stefanie Schmahl, Potsdam/Bremen*

I. Inhalt, Rechtsgrundlagen und Wirkungen von „targeted sanctions“

Seit einigen Jahren verhängt der UN-Sicherheitsrat vermehrt Sanktionen gegen Individuen und Personenvereinigungen, von denen er der Ansicht ist, dass sie internationale Terroris-ten oder terroristische Vereinigungen seien. So bestimmen etwa die Resolutionen Nr. 1267 (1999) und Nr. 1333 (2000), dass alle Staaten Gelder und andere Finanzmittel derjenigen Personen einzufrieren und sicherzustellen haben, die als mutmaßliche Terroristen auf einer so genannten „blacklist“ geführt werden. Außerdem werden die Staaten verpflichtet, ge-gen die betroffenen Personen Flug- und Reiseverbote zu verhängen. Die Schwarze Liste wird vom Sanktionsausschuss – einem Nebenorgan gemäß Art. 29 UN-Charta, das sich aus allen Mitgliedern des Sicherheitsrates zusammensetzt1 – aufgrund mitgliedstaatlicher Geheimdienstinformationen erstellt und regelmäßig aktualisiert2. Diese so genannten „targeted“ oder „smart sanctions“ bedeuten einen qualitativen Wech-sel in der Politik der Vereinten Nationen. Während die früher verhängten Handels- und Wirtschaftsembargos sich ausschließlich gegen friedensbedrohende Staaten richteten, erhofft sich die internationale Staatengemeinschaft, mittels zielgerichteter Sanktionen repressive Regime und vor allem Terrorverdächtige unmittelbar unter politischen und ökonomischen Druck zu setzen3. Als rechtliches Fundament dienen hierfür die Vorschrif-ten der Art. 24 Abs. 1 sowie Art. 41 i.V.m. Art. 39 UN-Charta, die dem Sicherheitsrat die Befugnis verleihen, nach der Feststellung einer Gefahrensituation für den Weltfrieden gewaltlose Sanktionen gegen den Verantwortlichen zu verhängen, der nicht notwendiger-weise ein Staat sein muss4. Politisch werden solche Sanktionen als vorzugswürdig angese-hen, da sie die mutmaßlichen Terroristen direkt treffen, ohne zugleich zusätzlichen Scha-

* Die Autorin ist Privatdozentin an der Universität Potsdam und vertritt im Sommersemester 2006 einen Lehr-

stuhl an der Universität Bremen. 1 Der Sanktionsausschuss ist aufgrund Ziff. 6 der Sicherheitsratsresolution Nr. 1267 (1999) ins Leben gerufen

worden. Die Beschlüsse des Ausschusses sind bindend wie die Entscheidungen des Sicherheitsrats selbst, vgl. Andreas Paulus, in: Bruno Simma (Hrsg.), The Charter of the United Nations, 2. Aufl. 2002, Art. 29 Rn. 20.

2 Zur Verfahrensweise im Einzelnen vgl. die Guidelines of the Committee for the Conduct of its Work, ange-nommen am 7. November 2002 und ergänzt am 10. April 2003, sowie Christian Schaller, Die Richtigen tref-fen, Die Vereinten Nationen und die Probleme zielgerichteter Sanktionen, VN 2005, S. 132 (133 ff.). – Die jeweils aktualisierte „blacklist“ des Sanktionsausschusses ist abrufbar unter http://www.un.org/docs/ sc/committees/1267/1267ListEng.htm.

3 Vgl. Peter L. Fitzgerald, Managing „Smart Sanctions“ Against Terrorism Wisely, New England Law Review 36 (2002), S. 957 (961 und 982).

4 Eckart Klein, Sanctions by International Organizations and Economic Communities, AVR 30 (1992), S. 101 (104). Außerdem können Sanktionen des UN-Sicherheitsrats sowohl gegen Mitglieder als auch gegen Nicht-mitglieder verhängt werden, vgl. Sebastian Bohr, Sanctions by the United Nation Security Council and the European Community, EJIL 4 (1993), S. 256 (263).

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente EuR – Heft 4 – 2006 567

den der Zivilbevölkerung zuzufügen, wie dies normalerweise bei Handels- und Wirt-schaftsembargos der Fall ist5. Da es sich bei zielgerichteten Sanktionen um solche nach Art. 41 UN-Charta handelt, haben sie bindenden Charakter. Allerdings sind Organe internationaler Organisationen – sieht man einmal von den gemeinschaftsrechtlichen Besonderheiten ab – prinzipiell nicht dazu ermächtigt, in den Mitgliedstaaten unmittelbar wirksames Recht zu setzen. Die sich aus Art. 25 UN-Charta ergebende Verbindlichkeit von Sicherheitsratsentscheidungen richtet sich nur an die Staaten. Diese sind verpflichtet, ihre Anwendung – in der Regel durch die Schaffung einschlägiger Rechtsgrundlagen – zu gewährleisten. So legt etwa ein verbindlicher Beschluss des Sicherheitsrats, gegen einen Staat ein Wirtschafts- oder Han-delsembargo zu verhängen, den Bürgern der Mitgliedstaaten keine eigene Pflicht auf; sie handeln nicht rechtswidrig, wenn sie gleichwohl Handel betreiben. Eine intern wirkende Rechtsnorm muss für diesen Fall erst vom Staat erlassen werden6. Entsprechendes gilt für Sanktionen, mit denen bestimmten Individuen Reiseverbote auferlegt oder Finanzmittel eingefroren werden. In der Bundesrepublik Deutschland erfolgt die Umsetzung von Si-cherheitsratsbeschlüssen – unabhängig davon, ob sie allgemeine oder individuelle Sankti-onen enthalten – in aller Regel durch eine Änderung der Außenwirtschaftsverordnung i.V.m. §§ 7 und 27 Abs. 1 des Außenwirtschaftsgesetzes. Erlässt der Sicherheitsrat jedoch bindende Resolutionen in einem Bereich, der in die Zu-ständigkeit der Europäischen Gemeinschaft fällt, ist auch eine gemeinschaftsrechtliche Umsetzung in Anwendung des Art. 25 i.V.m. Art. 48 Abs. 2 der UN-Charta völkerrecht-lich zulässig, gegebenenfalls sogar geboten7. Als Kompetenzgrundlagen hierfür dienten über lange Zeit hinweg Art. 133 EG und – subsidiär – Art. 308 EG8. Erst der Maastrichter Vertrag (1993) hat mit Art. 301 und Art. 60 EG9 (damals noch Art. 228a EGV a.F.) i.V.m. Art. 14 und Art. 15 EU eine neue Rechtsgrundlage zur Umsetzung von nichtmilitärischen Sanktionen geschaffen. Erstmalig wurden 1993 wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen gegen Libyen auf dieser Kompetenznorm erlassen10. Seit einigen Jahren bedient sich die Ge-meinschaft auch bei der Umsetzung von „targeted sanctions“ dieser Ermächtigungsgrund-

5 Iain Cameron, UN Targeted Sanctions, Legal Safeguards and the ECHR, Nordic Journal of International Law

72 (2003), S. 159 (172 f.). 6 Eckart Klein, in: Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Aufl. 2004, 4. Abschn., Rn. 151. 7 Die Zulässigkeit der parallelen Umsetzung von Sicherheitsratsresolutionen nach Gemeinschaftsrecht und nach

deutschem Recht ist umstritten. Grundsätzlich ist die EG für wirtschaftliche Embargomaßnahmen ausschließ-lich zuständig, vgl. Henning Schneider, Wirtschaftssanktionen, Die VN, EG und Bundesrepublik als konkur-rierende Normgeber beim Erlass paralleler Wirtschaftssanktionen, 1999, S. 210 f. Die (zusätzliche) Zustän-digkeit der Mitgliedstaaten erscheint jedoch dann notwendig, wenn ein Sanktionsverstoß mit Strafe zu beweh-ren ist, vgl. Gernot Biehler, Individuelle Sanktionen der Vereinten Nationen und Grundrechte, AVR 41 (2003), S. 169 (173).

8 Vgl. Bohr (Fn. 2), S. 266. – Auch heute wird vertreten, dass Art. 133 EG Wirtschaftssanktionen erfasse. Die bloße außenpolitische Motivation entziehe diese nicht dem Anwendungsbereich der gemeinsamen Handelspo-litik. Art. 301 EG stelle lediglich (für Sofortmaßnahmen infolge eines GASP-Beschlusses) eine den Art. 133 EG partiell verdrängende Spezialregelung dar. Vgl. Juliane Kokott, in: Rudolf Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 301 EGV Rn. 52.

9 Sofortmaßnahmen auf dem Gebiet des Kapital- und Zahlungsverkehrs unterfallen dem Anwendungsbereich des Art. 60 EG, der gegenüber Art. 301 EG lex specialis ist. Dies wird deutlich in Art. 60 Abs. 2 EG, der ne-ben der Möglichkeit von Sofortmaßnahmen ausdrücklich einzelstaatliche Maßnahmen der Mitgliedstaaten vorsieht. Durch diese zusätzliche Rechtsfolge unterscheidet er sich von Art. 301 EG. Zutreffend Kokott (Fn. 8), Art. 301 EGV Rn. 51.

10 Vgl. die Verordnung Nr. 3274/1993, ABl. (EG) 1993, L 295, S. 1, mit der die Sicherheitsratsresolutionen Nr. 731 (1992) und Nr. 748 (1992) umgesetzt wurden.

568 EuR – Heft 4 – 2006 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

lagen und erlässt Verordnungen im Sinne des Art. 249 EG, die den EU-Mitgliedstaaten die Pflicht auferlegen, gegen die gelisteten Einzelpersonen im Sinne der entsprechenden Si-cherheitsratsresolutionen vorzugehen. Das zentrale Problem bei den zielgerichteten Sanktionen liegt freilich weniger im Bereich ihrer Umsetzung und ihrer Wirkungen als vielmehr in der Frage, ob das von ihnen betrof-fene Individuum über hinreichende Rechtsschutzmöglichkeiten gegen seine „Listung“ verfügt. Immerhin schränken die Sanktionen nicht nur die Bewegungsfreiheit des Betrof-fenen in empfindlicher Weise ein11, sondern tangieren auch dessen Eigentumsrecht12. Ferner belegen sie das Individuum mit dem sozialen Stigma eines mutmaßlichen Terroris-ten, das gerade für Geschäftsleute schädigend sein kann, sich aber darüber hinaus auch auf die Privatsphäre und das Familienleben des Betroffenen negativ auswirken kann13.

II. Rechtsschutzmöglichkeiten auf der Ebene der Vereinten Nationen

Ausgehend von dem Grundsatz, dass Rechtsschutz gegen hoheitliche Maßnahmen dort garantiert sein sollte, wo in Menschenrechte des Individuums eingegriffen wird, stellt sich zunächst die Frage, ob die Vereinten Nationen als Urheber hinreichende Rechtsschutz-möglichkeiten gegen „targeted sanctions“ bereitstellen. Der Befund ist negativ. Zwar sehen die jüngeren Sicherheitsratsbeschlüsse vor, dass der Sanktionsausschuss seine Listen regelmäßig überprüft und gegebenenfalls – auch auf Antrag eines Mitgliedstaates – abändert. Allerdings wird der materiellrechtlich von den Sanktionen betroffenen Person selbst kein rechtliches Gehör gewährt; im Verfahren vor dem Sanktionsausschuss bleibt sie durch ihren Heimat- oder Aufenthaltsstaat mediati-siert14. Das Verfahren vor dem Ausschuss erfolgt zudem unter Ausschluss der Öffentlich-keit15 und nach dem Konsensprinzip16. Auch existiert weder ein spezifischer gerichtlicher Rechtsschutz gegen die Entscheidung des Sanktionsausschusses vor einem Schiedsgericht noch sind finanzielle Entschädigungsleistungen im Falle einer fehlerhaften Listung vorge-sehen17. Ebensowenig kommt ein Rechtsschutz durch den IGH in Betracht. Abgesehen davon, dass Parteien vor dem IGH nur Staaten, nicht aber Individuen sein können (vgl. Art. 34 Abs. 1 IGH-Statut), darf der Gerichtshof über die Rechtmäßigkeit des Handelns der politischen Organe der UN nicht unmittelbar entscheiden. Die Gründungsstaaten der Vereinten Natio-nen konnten sich nicht darauf einigen, den Gerichtshof mit der Aufgabe einer vollen und

11 Gemäß Art. 12 Abs. 2 IPBPR steht es jedermann frei, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen.

Eine entsprechende Regelung findet sich in Art. 2 Abs. 2 des 4. ZP zur EMRK. 12 Auf internationaler Ebene ist das Eigentumsrecht nicht gewährleistet; Art. 17 AEMR ist rechtlich nicht

verbindlich. Auf regionaler Ebene ist der Schutz des Eigentums in Art. 1 ZP I zur EMRK festgeschrieben. 13 In Betracht kommen Verletzungen von Art. 17 IPBPR und von Art. 8 EMRK. 14 Vgl. die „De-listing procedure“ gemäß Ziff. 7 der Guidelines des Sanktionsausschusses (Fn. 2). Seit der

Sicherheitsratsresolution Nr. 1526 (2004) ist immerhin vorgesehen, dass die Staaten im Rahmen des Mögli-chen die betroffenen Personen und Gruppierungen von ihrer Listung informieren.

15 Ziff. 3 lit. (b) der Guidelines (Fn. 2). 16 Sollte ein Konsens nicht erreicht werden, ist die Beschlusssache dem Sicherheitsrat gemäß Ziff. 7 lit. (e) der

Guidelines (Fn. 2) vorzulegen. 17 Silke Albin, Rechtsschutzlücken bei der Terrorbekämpfung im Völkerrecht, ZRP 2004, S. 71 (72).

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente EuR – Heft 4 – 2006 569

direkten Rechtskontrolle über die auf der Charta beruhenden Sekundärakte zu betrauen18. Im Rahmen des Art. 96 UN-Charta i.V.m. Art. 65 Abs. 1 IGH-Statut können zwar die politischen Organe über jede Rechtsfrage – also auch über die Völkerrechtskompatibilität einer Ratsentschließung – ein Gutachten des IGH anfordern. Die „advisory opinions“ sind aber im Gegensatz zu sonstigen Entscheidungen des Gerichtshofs nicht verbindlich19. Vor diesem Hintergrund wird immer wieder vorgebracht, dass der IGH wenigstens über eine inzidente Kontrollbefugnis über Sicherheitsratsbeschlüsse verfüge20. Die Verfechter dieser Ansicht stützen sich hierbei vor allem auf Art. 24 Abs. 2 S. 1 UN-Charta, wonach der Sicherheitsrat auch bei Erfüllung seiner politischen Funktionen im Einklang mit den in Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 UN-Charta genannten Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zu handeln habe. Auch berufen sie sich darauf, dass die politischen Organe der Vereinten Nationen selbst bei fehlender Rechtsfestlegung an das allgemeine Völkerrecht gebunden seien, insbesondere an das ius cogens (Art. 53 WVK) und den völkerrechtlichen „ordre public“. So zutreffend diese Auffassung auch ist, zur Lösung der vorliegenden Problematik hilft sie nicht entscheidend weiter. Denn selbst wenn der IGH dieser Argu-mentation folgte – was bisher nicht geschehen ist21 – und die Rechtswidrigkeit einer Si-cherheitsratsresolution im Wege der Inzidentkontrolle feststellen würde, wäre für das von einer „targeted sanction“ betroffene Individuum der Sache nach nichts gewonnen. Man wird nämlich nicht annehmen können, dass eine erfolgreiche Inzidentrüge zur grundsätzli-chen Ungültigkeit des inkriminierten Rechtsaktes oder gar zu einem Schadensersatzan-spruch des Betroffenen führt. Dies könnte allenfalls dann anders aussehen, wenn der Hei-matstaat des Betroffenen im Wege des diplomatischen Schutzes nicht die Vereinten Nati-onen, sondern die im Sanktionsausschuss vertretenen Staaten zur gesamten Hand vor dem IGH auf Schadensersatz wegen rechtswidriger „targeted sanctions“ verklagen würde. Voraussetzung für den Erfolg einer solchen Klage wäre dann aber – über die Inzident-kontrolle des Sicherheitsratsbeschlusses hinaus –, dass der IGH die im Sanktionsausschuss handelnden Staaten in die völkerrechtliche Verantwortung für die (fehlende) Beachtung der „Rule of Law“ nehmen würde; eine Hypothese, die angesichts der bisherigen Judikatur des Gerichtshofs eher unwahrscheinlich ist. Da also auf der Ebene der Vereinten Nationen de lege lata keine Rechtsschutzmöglichkei-ten eröffnet sind und die Vereinten Nationen überdies gegen Klagen von Individuen und deren Heimatstaaten vor nationalen Gerichten aufgrund des Übereinkommens über die

18 So der Report of the Special Subcommittee of Committee IV/2 on the Interpretation of the Charter, UNCIO

XIII (1945), S. 831; sowie UNCIO XIV (1946), S. 445. Vgl. hierzu auch Shabtai Rosenne, The Law and Prac-tice of the International Court, 2. Aufl. 1985, S. 45 ff.

19 Andreas Stein, Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und die Rule of Law, 1999, S. 347 f. Ferner steht die Beantwortung der Gutachtenfrage im Ermessen des IGH, auch wenn der Gerichtshof betont, dass er ange-sichts seiner richterlichen Funktion die Erstattung eines Gutachtens nur ablehne, wenn zwingende Gründe dies erforderten, vgl. ICJ Rep. 1975, S. 12 (21) – Western Sahara; ICJ Rep. 1956, S. 76 (86) – Verwaltungs-gericht der OIT.

20 Statt vieler vgl. etwa Frédéric Mégret/Florian Hoffmann, The UN as a Human Rights Violator? Some Reflec-tions on the United Nations Changing Human Rights Responsibilities, HRQ 25 (2003), S. 314 (317 ff.); Au-gust Reinisch, Developing Human Rights and Humanitarian Law Accountability of the Security Council for the Imposition of Economic Sanctions, AJIL 95 (2001), S. 851 (855 ff.), jeweils m.w.N.

21 Vor allem in der Lockerbie-Affäre wurde erwartet, dass der IGH zur inzidenten Kontrolle von Sicherheits-ratsbeschlüssen Stellung nehmen würde, vgl. Stefanie Schmahl, Die „Rule of Law“ in den Vereinten Natio-nen. Überlegungen anhand der Lockerbie-Affäre, RuP 38 (2001), S. 219 (223 ff.) m.w.N. Mit Beschluss vom 10. September 2003 hat der IGH-Präsident den Lockerbie-Fall jedoch von der Liste gestrichen.

570 EuR – Heft 4 – 2006 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Vorrechte und Befreiungen der Vereinten Nationen (1946)22 immun sind, ist der Blick nunmehr auf die entsprechenden mitgliedstaatlichen oder gemeinschaftsrechtlichen Um-setzungsakte von „smart sanctions“ zu richten.

III. Rechtsschutzmöglichkeiten vor deutschen Gerichten

Wie erwähnt werden zielgerichtete Sanktionen des UN-Sicherheitsrats in der Europäi-schen Union nicht mehr von den Mitgliedstaaten, sondern von der Europäischen Gemein-schaft durch Verordnungen auf der Grundlage der Art. 60, Art. 301 und Art. 308 EG i.V.m. Art. 15 EU umgesetzt. Rechtsschutzmöglichkeiten vor deutschen Fachgerichten scheiden daher regelmäßig aus. Schon 1994 hat der BGH eine Klage eines deutschen Unternehmens zurückgewiesen, das Schadensersatz wegen vergeblicher Aufwendungen und entgangenen Gewinns mit der Begründung geltend machte, dass die Bundesrepublik Deutschland das in der EG-Verordnung Nr. 2340/90 verhängte Irak-Embargo durchge-führt hatte23. Für den Eingriff in eigentumsmäßig geschützte Rechte durch derartige unmit-telbar wirksame Sofortmaßnahmen nach Art. 301 EG-Vertrag trägt nach Ansicht des BGH ausschließlich der Verordnungsgeber – also der Rat der Europäischen Union – die Ver-antwortung. Die Mitgliedstaaten hätten nämlich beim Erlass der erforderlichen Durchfüh-rungsmaßnahmen keinerlei Ermessensspielraum. Gleichlautenden Regelungen in den Gesetzen und Verordnungen der Mitgliedstaaten komme bloß deklaratorischer Charakter zu. Auch die EG-Verordnung selbst kann angesichts der Solange II-Rechtsprechung des BVerfG24 nicht mehr am Grundrechtskatalog des Grundgesetzes gemessen werden. Das BVerfG hat seine Gerichtsbarkeit bei der Überprüfung von abgeleitetem Gemeinschafts-recht am Maßstab der deutschen Grundrechte prinzipiell zurückgenommen und den EuGH als gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG anerkannt. Alleiniger Prü-fungsmaßstab für EG-Verordnungen ist also grundsätzlich der gemeinschaftliche Grund-rechtsstandard. Nur wenn die vom BVerfG aufgestellten Erwartungen an den Grund-rechtsschutz durch die EG generell enttäuscht werden, lebt die Kontrollkompetenz des BVerfG über EG-Sekundärrecht wieder auf.

IV. Rechtsschutzmöglichkeiten vor der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit

Fraglich ist deshalb, ob und in welchem Umfang die Gemeinschaftsgerichtsbarkeit effek-tiven Rechtsschutz gegen Verordnungen garantiert, mit denen „targeted sanctions“ des UN-Sicherheitsrats umgesetzt werden. In den Blick genommen werden hier allein die Umsetzungsakte der EG, da die Vereinten Nationen schon wegen der begrenzten Juridik-tionskompetenz gemäß Art. 220 EG-Vertrag vor den Gemeinschaftsgerichten nicht unmit-telbar in die Verantwortung genommen werden können.

22 Vom 23. Februar 1946, BGBl. 1980 II S. 941. 23 BGHZ 125, 27 (30) – Irak-Embargo. 24 BVerfGE 73, 339 (374 f.; 387) – Solange II. Diese Rechtsprechung ist mittlerweile weiterentwickelt und

konkretisiert, vgl. BVerfGE 89, 155 (175 ff.) – Maastricht; 102, 147 (161 ff.) – Bananenmarkt.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente EuR – Heft 4 – 2006 571

1. Amtshaftungsklage gemäß Art. 288 Abs. 2 EG?

Bereits vor acht Jahren sah sich das EuG im Fall Dorsch Consult mit einer Amtshaftungs-klage eines Individuums gemäß Art. 288 Abs. 2 EG konfrontiert25, das wegen eines wäh-rend des Wirtschaftsembargos gegenüber dem Irak erlittenen Sonderopfers Schadensersatz von der Gemeinschaft verlangte. Abgesehen davon, dass das Gericht sich nur hypothetisch mit der Haftung für rechtmäßiges Verhalten der Gemeinschaft auseinandersetzt und im Übrigen Zweifel daran äußert, ob sich in einem rechtmäßigen Embargo nicht ein Risiko realisiere, das dem Außenhandel generell innewohne26, hat das EuG die Verantwortlich-keit der Gemeinschaft für jegliche (rechtmäßige oder rechtswidrige) Sofortmaßnahmen nach Art. 301 EG verneint. Denn der erlittene Sanktionsschaden sei nicht der EG zuzuord-nen, sondern den Vereinten Nationen, die für das Handeln des Sicherheitsrates einzustehen hätten27.

2. Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 Abs. 4 EG?

In dieselbe Richtung weist nunmehr auch das jüngste Urteil des EuG vom 21. September 2005, mit dem das Gericht die Nichtigkeitsklage28 des schwedischen Staatsangehörigen Ahmed Yusuf gegen die „targeted sanctions“-Verordnung Nr. 881/2002, in deren Anhang er als mutmaßlicher Terrorist aufgeführt wird, als unbegründet zurückweist29. Zwar könne die Gemeinschaft – so das Gericht – auf der Grundlage der Art. 60, Art. 301 und Art. 308 EG auch Maßnahmen gegen Individuen verhängen, obgleich der Wortlaut dieser Normen sich auf „Drittstaaten“ beziehe30. Ebenso wie es zulässig sei, dass sich wirtschaftliche Sanktionen speziell gegen die Machthaber eines Drittlands richteten, müssten sie sich auch gegen Einzelpersonen wenden können, die mit diesen Machthabern verbündet seien oder die sogar ganz unabhängig von diesen agierten. Den neuartigen Bedrohungen des Welt-friedens durch den internationalen Terrorismus müssten effektive Abwehrmaßnahmen der Gemeinschaft entgegengesetzt werden31. Am Rande scheint hier die neue Rolle der „Non-State-Actors“ im Völkerrecht auf. Allerdings sei – so das Gericht weiter – die inkriminierte Verordnung nur ergangen, um die „targeted sanctions“-Resolutionen des Sicherheitsrates durch automatische Übernahme aller vom Sanktionsausschuss aufgestellten Listen von Personen und Einrichtungen ohne jede eigene Ermessensentscheidung in die Gemeinschaftsrechtsordnung umzusetzen.

25 Art. 288 Abs. 2 EG ist auch auf Rechtsakte anwendbar, die in dem zweistufigen Verfahren nach Art. 15 EU

und Art. 301 EG ergangen sind, da die Verordnung den GASP-Beschluss umsetzt und nicht bloß „eins zu eins“ nachvollzieht, vgl. Hans-Konrad Ress, Das Handelsembargo, 2000, S. 356 f.

26 EuG, Rs. T-184/95 (Dorsch Consult), Slg. 1998, II-667, Rn. 59 und Rn. 77. Vgl. auch EuGH, Rs. 59/83 (Biovilac), Slg. 1984, 4057, Rn. 28.

27 EuG (Fn. 26), Dorsch Consult, Rn. 73 f. 28 Auch wenn der Gemeinsame Standpunkt nach Art. 15 EU, mit dem der Erlass von Wirtschaftssanktionen der

EG beschlossen wird und der (zwingende) Tatbestandsvoraussetzung für den Erlass einer Verordnung nach Art. 301 EG ist, der gerichtlichen Kontrolle gemäß Art. 46 EU entzogen ist, unterfällt die Sofortmaßnahme der Jurisdiktionskompetenz der Gemeinschaftsgerichte, vgl. Sandra Bartelt/Helge Elisabeth Zeitler, „Intelli-gente Sanktionen“ zur Terrorismusbekämpfung in der EU, EuZW 2003, S. 712 (714).

29 Zum zuvor abgelehnten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß Art. 242 und Art. 243 EG vgl. den Beschluss des Präsidenten des EuG vom 7.5.2002, Rs. T-306/01 R (Aden u.a.), Slg. 2002, II-2387.

30 EuG, Rs. T-306/01 (Yusuf), EuGRZ 2005, S. 592 (600), Rn. 112 ff. 31 EuG, Rs. T-306/01 (Yusuf), EuGRZ 2005, S. 592 (602 ff.), Rn 125 ff., insbes. Rn. 169. Dagegen Bar-

telt/Zeitler (Fn. 28), S. 715.

572 EuR – Heft 4 – 2006 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Solche Umstände schlössen jedes rechtswidrige Verhalten der Gemeinschaftsorgane aus32. Denn aus völkerrechtlicher Sicht seien die Mitgliedstaaten gemäß Art. 25 UN-Charta verpflichtet, die Sicherheitsratsbeschlüsse umzusetzen. Nach Art. 103 UN-Charta habe diese Pflicht Vorrang vor jedweder Verpflichtung aus anderen internationalen Überein-künften. Diesem völkerrechtlichen Prinzip trage Art. 307 Abs. 1 EG auf der gemeinschaft-lichen Ebene Rechnung, wonach die Rechte und Pflichten aus früheren Übereinkünften zwischen den Mitgliedstaaten und Drittländern durch den EG-Vertrag nicht berührt wer-de33. Die Gemeinschaft sei deshalb in der gleichen Weise wie ihre Mitgliedstaaten an die Verpflichtungen aus der UN-Charta gebunden34. Vor dem Hintergrund dieser, im Gemeinschaftsrecht fußenden Bindung der EG an die Resolutionen des Sicherheitsrates35 lehnt das EuG sodann eine umfassende Kontrolle der Rechtmäßigkeit der angefochtenen EG-Verordnung ab. Eine vollumfängliche Überprü-fung der Verordnung anhand der Gemeinschaftsgrundrechte hätte nach Auffassung des EuG nämlich zur Folge, dass auch die Rechtmäßigkeit der Sicherheitsratsbeschlüsse inzi-dent zu prüfen sei36. Dies sei jedoch nur insoweit denkbar, als die Ratsresolutionen gegen völkerrechtliches ius cogens verstießen37. Ein solcher Verstoß liege aber nicht vor. Weder sei der Kläger seines Eigentumsrechts willkürlich beraubt noch seien seine Verteidigungs-rechte unverhältnismäßig beschnitten worden. Die Sicherheitsratsbeschlüsse sähen huma-nitäre Ausnahmebestimmungen für Finanzsanktionen gegen Einzelpersonen vor; zudem könnten sich die Betroffenen über ihre nationalen Behörden an den Sanktionsausschuss wenden, um ihre Streichung von der Liste zu erreichen38. Auch eine Verletzung des An-spruchs auf eine effektive gerichtliche Kontrolle komme nicht in Betracht. Immerhin habe das Gericht sich auf die Nichtigkeitsklage von Herrn Yusuf hin für zuständig erklärt, die Rechtmäßigkeit der Verordnung und mittelbar sogar die Rechtmäßigkeit der fraglichen Resolutionen des Sicherheitsrats anhand der zwingenden Normen des Völkerrechts zu prüfen39. Dass der Kläger über keinen unmittelbaren gerichtlichen Rechtsbehelf gegen seine Listung durch den Sanktionsausschuss verfüge, weil die Vereinten Nationen es nicht für angebracht hielten, ein unabhängiges internationales Gericht zu schaffen, das in recht-licher wie in tatsächlicher Hinsicht über Klagen gegen die Einzelfallentscheidungen des Ausschusses zu befinden habe, könne der Gemeinschaft nicht angelastet werden40. Im Übrigen verstoße eine derartige Rechtsschutzlücke nicht gegen ius cogens. Das Recht auf effektiven Rechtsschutz gelte nicht absolut; es sei vielmehr in Fällen des Notstands dero-gierbar41. Schließlich sei die Möglichkeit, dass sich die betroffene Einzelperson über ihren Heimatstaat an den Sanktionsausschuss wenden könne, ein anderer sachgerechter Weg für einen angemessenen Schutz der Grundrechte42.

32 EuG, Rs. T-306/01 (Yusuf), EuGRZ 2005, S. 592 (609 f.), Rn. 226 ff. 33 Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des EG-Vertrages waren fünf der sechs Unterzeichnerstaaten an die UN-

Charta gebunden. Die Bundesrepublik Deutschland erklärte zum damaligen Zeitpunkt, sich an die Verpflich-tungen der UN-Charta zu halten, vgl. EuG, Rs. T-306/01 (Yusuf), EuGRZ 2005, S. 592 (610), Rn. 237.

34 EuG, Rs. T-306/01 (Yusuf), EuGRZ 2005, S. 592 (610 f.), Rn. 243 ff. Ähnlich bereits Bohr (Fn. 4), S. 268. 35 EuG, Rs. T-306/01 (Yusuf), EuGRZ 2005, S. 592 (611), Rn. 257. 36 EuG, Rs. T-306/01 (Yusuf), EuGRZ 2005, S. 592 (612), Rn. 266 ff. 37 EuG, Rs. T-306/01 (Yusuf), EuGRZ 2005, S. 592 (613), Rn. 277. 38 EuG, Rs. T-306/01 (Yusuf), EuGRZ 2005, S. 592 (615), Rn. 309 ff. 39 EuG, Rs. T-306/01 (Yusuf), EuGRZ 2005, S. 592 (617), Rn. 337. 40 EuG, Rs. T-306/01 (Yusuf), EuGRZ 2005, S. 592 (617), Rn. 340. 41 EuG, Rs. T-306/01 (Yusuf), EuGRZ 2005, S. 592 (617), Rn. 342. 42 EuG, Rs. T-306/01 (Yusuf), EuGRZ 2005, S. 592 (618), Rn. 345.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente EuR – Heft 4 – 2006 573

3. Kritik an der Rechtsprechung des EuG

Das Urteil des EuG im Fall Yusuf überzeugt nicht. So ist schon die Ansicht des Gerichts, das Recht auf Zugang zu den Gerichten habe keinen zwingenden Charakter, in Zweifel zu ziehen43. Der UN-Menschenrechtsausschuss hat nämlich sowohl in seinen „Views“44 als auch in seinem General Comment Nr. 29 (2001) ausdrücklich hervorgehoben, dass die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (im Sinne des Art. 14 IPBPR45) wegen ihrer absoluten Natur zu den notstandsfesten Maßnahmen nach Art. 4 des UN-Menschen-rechtspaktes gehört46. Auch die Berufungskammer des Jugoslawien-Tribunals hat in ihrer Tadić-Entscheidung das Recht auf effektiven Rechtsschutz als „peremptory norm of inter-national law“ angesehen47. Außerdem verlässt das EuG den in Art. 6 Abs. 1 EU niedergelegten rechtsstaatlichen Grundkonsens, wonach Eingriffe der staatlichen Gewalt in Rechte des Bürgers rechtferti-gungsbedürftig sind48. Nach Ansicht des Gerichts muss hier der betroffene Bürger nämlich – überdies vermittelt durch seinen Heimatstaat – den Vereinten Nationen nachweisen, dass der Eingriff zu Unrecht erfolgt sei, und dies, ohne über die Gründe und die Umstände seiner Listung zuvor informiert worden zu sein! Schließlich geht das Gericht fehl, wenn es meint, die Gemeinschaft treffe nur eine „abge-leitete Umsetzungspflicht“ für Sicherheitsratsbeschlüsse, weswegen das Fehlen eines unmittelbaren effektiven Rechtsschutzes allein den Vereinten Nationen anzulasten sei. Es ist zwar nicht bestreitbar, dass vor allem bei den VN die causa für den fehlenden Indivi-dualrechtsschutz zu suchen ist. Es befremdet aber, dass das EuG Beschlüsse des Sicher-heitsrates als für die Europäische Gemeinschaft unmittelbar verbindlich ansieht mit der Folge, dass die darauf basierenden Sofortmaßnahmen nicht mehr am gemeinschaftlichen Grundrechtsstandard (Art. 6 Abs. 2 EU) messbar seien49. Immerhin hat der EuGH in seiner Bosphorus-Entscheidung aus dem Jahre 1996 die auf einer Sicherheitsratsresolution basie-rende Embargo-Verordnung gegen Jugoslawien sehr wohl an den Gemeinschaftsgrund-

43 Ähnlich Erika de Wet/André Nollkaemper, Review of Security Council Decisions by National Courts, GYIL

45 (2002), S. 166 (183). 44 MRA, Auffassungen vom 28.10.1992, González del Río v. Peru, Mitteilung Nr. 263/1987, § 5.2.; vgl. auch

die Auffassungen vom 15.11.2000, Mahuika v. Neuseeland, Mitteilung Nr. 547/1993, § 9.10. 45 Art. 14 IPBPR umfasst auch das Recht auf rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren, vgl. Carsten Stahn,

International Territorial Administration in the former Yugoslavia: Origins, Developments and Challenges a-head, ZaöRV 61 (2001), S. 143 f.

46 Vgl. General Comment No. 29 on States of Emergency (article 4) vom 24. Juli 2001, UN-Doc. HRI/GEN/1/Rev. 6, Ziff. 16. – Zum Verhältnis der notstandsfesten Rechte zu ius cogens vgl. Stefanie Schmahl, Derogation von Menschenrechtsverpflichtungen in Notstandslagen, in: Dieter Fleck (Hrsg.), Rechts-fragen der Terrorismusbekämpfung durch Streitkräfte, 2004, S. 125 (137).

47 ICTY, Appeals Chamber, The Prosecutor v. Tadić, IT-94-1, Urteil vom 2. Oktober 1995, Rn. 42 ff., abge-druckt in: ILM 25 (1996), S. 32 (46 f.). Eine ähnliche Schlußfolgerung findet sich bei ICTR, Trial Chamber, The Prosecutor v. Kanyabashi, ICTR-96-15-T, Entscheidung vom 18. Juni 1997, Rn. 43.

48 So auch Lothar Harings, Die EG als Rechtsgemeinschaft (?) – EuG versagt Individualrechtsschutz, EuZW 2005, S. 705.

49 Vgl. Harings (Fn. 48), S. 705. Ähnlich Kirsten Schmalenbach, Normentheorie vs. Terrorismus: Der Vorrang des UN-Rechts vor EU-Recht, JZ 2006, S. 349 (352 f.).

574 EuR – Heft 4 – 2006 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

rechten gemessen50. Auch passt die EuG-Entscheidung nicht zu der restriktiven Recht-sprechung der Gemeinschaftsgerichte zur Geltung des GATT/WTO-Rechts in der EG. Dort wird nämlich regelmäßig getrennt zwischen völkerrechtlicher Verbindlichkeit nach außen und der innergemeinschaftlichen Geltung51. Auch ansonsten bestehen Bedenken an dem vom EuG hier propagierten „monistischen Modell“ mit Primat des Völkerrechts gegenüber dem Gemeinschaftsrecht. Denn es ist zu berücksichtigen, dass in nicht wenigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union – etwa in Deutschland, aber auch in Frankreich und Großbritannien – Völkerrecht nur unter dem Vorbehalt zur Geltung kommt, dass es mit nationalem Verfassungsrecht in Einklang steht52. Vor dem Hintergrund der in Art. 1 Abs. 3 GG normierten Bindung der staatlichen Gewalt an die Grundrechte und der Rechtsschutzgarantie in Art. 19 Abs. 4 GG erscheint es aus deutscher Sicht verfassungsrechtlich nicht haltbar, Sicherheitsratsresolutionen anzu-wenden, gegen die auf keiner Rechtsebene – weder auf der nationalen noch auf der ge-meinschaftsrechtlichen und auch nicht auf der völkerrechtlichen Ebene – Individualrechts-schutz vorgesehen ist53. Insgesamt kann es jedenfalls nicht angehen, dass die Bundesrepu-blik Deutschland Kompetenzen auf die EG zur Umsetzung von Sicherheitsratsresolutionen überträgt, die Gemeinschaft sich aber von ihrer Verantwortung für die Umsetzung von Ratsentschließungen freizeichnet, indem sie die Hauptverantwortung den Vereinten Nati-onen zuschiebt, die ihrerseits keinen effektiven Individualrechtsschutz bereitstellen.

V. Fazit: Lösungsvorschläge de lege lata und de lege ferenda

Wird die Entscheidung des EuG vom EuGH bestätigt – am 23. November 2005 ist Beru-fung gegen das erstinstanzliche Urteil im Fall Yusuf eingelegt worden54 –, wäre daher wohl in einem die Bundesrepublik Deutschland betreffenden Fall das BVerfG gefragt. Dieses hat sich bekanntlich in der Solange II-Judikatur seine Kontrollbefugnis über abgeleitetes Gemeinschaftsrecht vorbehalten, wenn aus prozessualen oder materiell-rechtlichen Grün-den auf Gemeinschaftsebene der vom Grundgesetz als unabdingbar geforderte Grund-rechtsschutz generell nicht (mehr) gewahrt wird55.

50 EuGH, Rs. C-84/95 (Bosphorus), Slg. 1996, I-3953 (3986 ff.). Hierzu kritisch Iris Canor, „Can Two Walk

Together, Except They Be Agreed?“, The Relationship Between International Law and European Law: The Incorporation of United Nations Sanctions Against Yugoslavia into European Community Law Through the Perspective of the European Court of Justice, CMLRev. 35 (1998), S. 137 (161 f.); Josiane Auvret-Finck, Les procédures de sanction internationale en vigueur dans l’ordre interne de l’Union et la défense des droits de l’homme dans le monde, RTDE 39 (2003), S. 1 (17 f.).

51 Der EuGH hat dies erst jüngst im Urteil van Parys (Rs. C-377/02, EuZW 2005, S. 214) sogar für den Fall bestätigt, dass die EG im Verfahren vor dem Streitbeilegungsgremium der WTO unterlegen ist. Kritik hieran übt Armin Steinbach, Zur Rechtswirkung von WTO-Streitbeilegungsentscheidungen in der Gemeinschafts-rechtsordnung, EuZW 2005, S. 331 ff.

52 Zur deutschen Rechtslage vgl. nur BVerfG, NJW 2004, S. 3407 – Görgülü m.w.N. Der Conseil d’Etat geht seit 1989 vom Vorrang völkerrechtlicher Verträge gegenüber den Gesetzen, nicht aber gegenüber der franzö-sischen Verfassung aus, vgl. Conseil d’Etat, Rec. Lebon 1989, S. 190 – Nicolo. Nach britischem Verfassungs-recht geht jeglicher Parlamentsakt dem Völkerrecht vor, vgl. Ian Brownlie, Principles of Public International Law, 6. Aufl. 2003, S. 41 ff.

53 Ähnlich de Wet/Nollkaemper (Fn. 43), S. 190; Markus Kotzur, Eine Bewährungsprobe für die Europäische Grundrechtsgemeinschaft, EuGRZ 2006, S. 19 (25); Mehrdad Payandeh, Rechtskontrolle des UN-Sicherheitsrates durch staatliche und überstaatliche Gerichte, ZaöRV 66 (2006), S. 41 (61 f.).

54 Das Rechtsmittel wird vor dem EuGH als Rs. C-415/05 P geführt, vgl. ABl. (EU) vom 25.2.2006, Nr. C 48, S. 11.

55 Siehe Fn. 24.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente EuR – Heft 4 – 2006 575

Ein weiterer gangbarer Weg gegen das Rechtsschutzdefizit bei Individualsanktionen ist in einer Individualbeschwerde an den EGMR zu sehen. Denn nach der Waite and Kennedy-Rechtsprechung des EGMR dürfen sich die Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen aus der EMRK nicht dadurch entziehen, dass sie Hoheitsfunktionen auf eine internationale Orga-nisation übertragen, die ihrerseits nicht der Kontrolle des EGMR unterliegt und nicht zumindest einen vergleichbaren Rechtsschutz gewährleistet56. Die Vertragsstaaten bleiben dafür verantwortlich, dass sie ihre Hoheitsgewalt EMRK-konform organisieren (Art. 1 EMRK). Dies gilt auch für die Hoheitsrechtsübertragung auf die EG. Die Mitgliedstaaten bedienen sich der Instrumentarien der Europäischen Gemeinschaft nur im Sinne einer auf völkerrechtlicher Ebene angesiedelten „gemeinsamen mittelbaren Staatsverwaltung“57. Jeder primäre, aber auch jeder sekundäre Gemeinschaftsakt wie die hier fragliche „targe-ted sanctions“-Verordnung muss deshalb nicht nur im Einklang mit den Gemeinschafts-grundrechten, sondern insbesondere im Einklang mit den EMRK-Rechten stehen58. Aus diesem Grund sind die Vertragsstaaten der EMRK verpflichtet, für die Umsetzung von Sanktionsbeschlüssen des Sicherheitsrates einzustehen; jedenfalls müssen sie effektiven Rechtsschutz im Sinne des Art. 6 EMRK gewähren. Dies gilt unabhängig davon, ob im Einzelfall die Mitgliedstaaten eine zielgerichtete Sanktion des Sicherheitsrats umsetzen oder ob – wie hier – die Europäische Gemeinschaft dies unternimmt. Diesem Befund steht auch das Urteil des EGMR im Bosphorus-Fall vom 30. Juni 2005 nicht entgegen. Dort hat der Straßburger Gerichtshof seine Kontrollbefugnis im Verhältnis zum EuGH zwar mit der Begründung zurückgenommen, dass staatliches Handeln in Erfül-lung gemeinschaftsrechtlicher Verpflichtungen so lange gerechtfertigt ist, wie die EG die Grundrechte nicht nur in ihrem materiellen Gehalt, sondern auch prozessual in einer der EMRK gleichwertigen Weise schützt59. Allerdings kann nach Ansicht des EGMR die Vermutung eines vergleichbaren Grundrechtsschutzes widerlegt werden, wenn in einem bestimmten Fall anzunehmen ist, dass der Schutz der Konventionsrechte offensichtlich unzureichend garantiert wird. Dann muss das Interesse an der Zusammenarbeit auf der Gemeinschaftsebene wegen der Rolle der EMRK als „Verfassungsinstrument des europäi-schen ordre public“ im Bereich der Menschenrechte zurückstehen60. Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, um festzuhalten, dass der gänzlich fehlende Individualrechts-schutz gegen „targeted sanctions“ ein solches Absinken unter den EMRK-Mindeststan-dard (Art. 6 EMRK) bedeutet61.

56 EGMR, Nr. 26083/94 (Waite and Kennedy), EuGRZ 1999, S. 207 (212). Vgl. auch EGMR, Nr. 24833/94

(Matthews), EuGRZ 1999, S. 308 (309), sowie EKMR, Entscheidungen vom 9.9.1998, Nr. 39025/97 und Nr. 38817/97 (Lenzing); EGMR, Nr. 42527/98 (Fürst Hans-Adam II), EuGRZ 2001, S. 466, Rn. 48.

57 Sebastian Winkler, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, das Europäische Parlament und der Schutz der Konventionsgrundrechte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, EuGRZ 2001, S. 18 (24 f.).

58 Zu dieser Problematik vgl. aus der Fülle der Literatur nur Hans Christian Krüger/Jörg Polakiewicz, Vor-schläge für ein kohärentes System des Menschenrechtsschutzes in Europa, EuGRZ 2001, S. 92 (96 f. ), sowie Marten Breuer, Offene Fragen im Verhältnis von EGMR und EuGH, EuGRZ 2005, S. 229 ff., jeweils m.w.N.

59 EGMR, Nr. 45036/98 (Bosphorus), NJW 2006, S. 197 (202), Rn. 155. Ähnlich bereits EKMR, DR 64, S. 138 (145 f.) – Melchers & Co.

60 EGMR (Fn. 59), Bosphorus, Rn. 156. 61 Selbst wenn man – ähnlich wie dies der EGMR im Fall Al Adsani (Nr. 35763/97, EuGRZ 2002, S. 403) getan

hat – Art. 6 EMRK mit Rücksicht auf Art. 103 UN-Charta im Lichte der Regeln des Völkerrechts auslegte, würde die Entscheidung wohl nicht anders ausfallen. Das Recht auf effektiven Rechtsschutz gehört auch auf internationaler Ebene zum menschenrechtlichen Mindeststandard (vgl. Fn. 46).

576 EuR – Heft 4 – 2006 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Einmal mehr könnte daher nicht nur dem Bundesverfassungsgericht, sondern auch dem Straßburger Gerichtshof eine maßgebliche Rolle zukommen, um den Kampf gegen den internationalen Terrorismus wieder in rechtsstaatliche und grundrechtswahrende Bahnen zu lenken62. Dabei ist gerade die Funktion des EGMR von besonderer Bedeutung. Denn anders als das BVerfG, das seine Gerichtsbarkeit nach der Solange II-Judikatur erst dann wieder ausübt, wenn die Gemeinschaft einen wirksamen Schutz der Grundrechte generell nicht mehr gewährleistet63, behält sich der EGMR in seiner Bosphorus-Entscheidung ausdrücklich eine Einzelfallkontrolle vor64. Allerdings: So wünschenswert ein solches Vorgehen des Straßburger Gerichtshofs aus menschenrechtlicher Sicht auch wäre, so würde damit doch zugleich einer Fragmentierung der Völkerrechtsordnung65 und vor allem einer Zersplitterung der internationalen Terro-rismusbekämpfung Vorschub geleistet. Der wegen der globalen Bedrohung notwendiger-weise von der Staatengemeinschaft gemeinsam zu führende Kampf gegen den Terrorismus würde seine Effektivität verlieren. Dies aber kann weder im Interesse der Gesamtheit der Staaten noch im verfassungsrechtlichen Interesse der Bundesrepublik Deutschland liegen. Schon der klassische Staatszweck von Frieden und Sicherheit konstituiert die Gewährleis-tung der inneren Sicherheit als fundamentale Staatsaufgabe; auch aus der grundrechtlichen Schutzpflicht folgt, dass der Staat für die Sicherheit seiner Bürger effektiv zu sorgen hat66. Deshalb sollte das bei der Terrorismusbekämpfung immer wieder auftauchende Dilemma zwischen „Freiheit“ einerseits und „Sicherheit“ andererseits vor allem auf derjenigen Ebene gelöst werden, wo die Probleme tatsächlich entstehen. Die bereits mehrmals gefor-derte Verbesserung des Verfahrens vor dem Sanktionsausschuss67 sowie die Schaffung eines speziellen Schiedsgerichts68 zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit von „targeted sanctions“ sind de lege ferenda dringend geboten. Jedenfalls bleiben die Vereinten Natio-nen dazu aufgefordert, ihre grundsätzlich befürwortenswerte „smart sanctions“-Politik in die „Rule of Law“ einzubetten und für einen effektiven Individualrechtsschutz zu sorgen. Anderenfalls bedrohen sie genau das, für dessen Achtung und Schutz sie eintreten wollen: die Menschenrechte.

62 Mit Entscheidung vom 18. Juli 2005 hat das BVerfG das Europäische Haftbefehlsgesetz für nichtig erklärt,

vgl. BVerfG, DVBl. 2005, S. 1119 – Darkazanli. Dazu Joachim Vogel, Europäischer Haftbefehl und deut-sches Verfassungsrecht, JZ 2005, S. 801 ff.

63 BVerfGE 102, 147 (165 f.) – Bananenmarkt. Hierzu Stefanie Schmahl, Anmerkung zum Bananenmarktbe-schluss des BVerfG, WuB VII D. Art. 100 GG 1.00, S. 1189 (1191 f.).

64 Hierzu Laurent Scheeck, The Relationship between the European Courts and Integration through Human Rights, ZaöRV 65 (2005), S. 837 (862 f.); Jürgen Bröhmer, Die Bosphorus-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – Der Schutz der Grund- und Menschenrechte in der EU und das Verhältnis zur EMRK, EuZW 2006, S. 71 (73); Nikolaos Lavranos, Das So-Lange-Prinzip im Verhältnis von EGMR und EuGH, EuR 2006, S. 79 (86).

65 Vgl. Christian Walter, Constitutionalizing (Inter)national Governance – Possibilities for and Limits of the Development of International Constitutional Law, GYIL 44 (2001), S. 170 (197).

66 Christian Calliess, Sicherheit im freiheitlichen Rechtsstaat, ZRP 2002, S. 1 (2 f.), sowie Markus Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 25 ff. und S. 84 ff.

67 Vgl. etwa die rechtspolitischen Vorschläge von Albin (Fn. 17), S. 73; Cameron (Fn. 5), S. 201 f.; sowie Eckart Klein, Improving the Present System: Perspectives and Practical Proposals, Vortrag zum Workshop on Terrorism and Targeted Sanctions im German House, New York, November 2003, abrufbar unter: http://www.uni-potsdam.de/u/ls_klein.

68 Reinisch (Fn. 20), S. 867.

EuR – Heft 4 – 2006 577

Finanzielle Zuwendungen an Religionsgemeinschaften sowie deren Untergliederungen und EG-Beihilferecht

Von Christopher Patt, München*

I. Einleitung

In den letzten Jahren hat der „Sozialmarkt“1 für kommerzielle Anbieter an wirtschaftlicher Bedeutung weiter gewonnen2. Im Krankenhauswesen und in anderen Bereichen ist die Zahl der gewinnorientierten Dienstleistungsunternehmen stark gestiegen3. Es haben sich Marktstrukturen entwickelt bzw. sind im Entstehen begriffen. Die bestehenden Förde-rungsmaßnahmen der öffentlichen Hand gegenüber den etablierten sozialen Dienstleistern werfen im Zuge zunehmender Konkurrenz einige beihilferechtliche Fragen auf, die bereits die Kontrollinstanzen Kommission und EuGH beschäftigten4 und in der Literatur unter dem Begriffspaar deutsches Gemeinnützigkeitsrecht und EG-Beihilferecht behandelt werden5. Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen die speziellen finanziellen Zuwendungen der öffentlichen Hand, die in erster Linie soziale und karitative Einrichtungen und Dienste der Religionsgemeinschaften mit öffentlich-rechtlichem Körperschaftsstatus6 unterstützen.

II. Finanzielle Zuwendungen der öffentlichen Hand

Die beiden großen Kirchen, aber auch kleinere Religionsgemeinschaften, kennen eine Vielzahl an Untergliederungen und selbständig verfassten Einrichtungen (Pfarreien, Ge-meinden, Orden, Kongregationen, Hilfsorganisationen, insbesondere Deutsche Caritas,

* Der Verfasser ist Rechtsanwalt in der Kanzlei Wagensonner Luhmann Breitfeld Helm in München. Der

Beitrag ist ein gekürzter, aktualisierter Auszug einer Magisterarbeit, die der Universität München im WS 2003/2004 zur Erlangung eines Magisters im „Europäischen und Internationalen Wirtschaftsrecht“ vorlag.

1 Begriff von Weber, Die karitative Tätigkeit der Kirchen zwischen Grundgesetz und Gemeinschaftsrecht – Rechtslage und Perspektiven, in: v. Campenhausen, Deutsches Staatskirchenrecht zwischen Grundgesetz und EU-Gemeinschaftsrecht, 2003, S. 96.

2 S. Anheier/Ben-Ner, The Study of the Nonprofit Enterprise, Theories and Approaches, 2003. Vgl. auch die Zahlen des John Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project für die alten Bundesländer aus dem Jahre 1990, abgebildet in Schauhoff (Hrsg.), Handbuch des Gemeinnützigkeitsrechts, 2. Aufl. 2005, Einleitung, S. 3: in den hier relevanten Bereichen (Krankenhäuser, Schulen etc.) gab es bereits 1990 einen solchen Wett-bewerb.

3 Sachße, Die Organisation des Gemeinwohls in der Bürgergesellschaft: Dritter Sektor und Steuerprivileg, in: Anheier/Then (Hrsg.), Zwischen Eigennutz und Gemeinwohl, Gütersloh 2004, S. 80 ff., 83 ff.; Thimmel, Germany, in: Anheier/Kumar, Social Services in Europe – an annotated Bibliography, 2003, S. 130 f. Schau-hoff, Finanzierung der gemeinnützigen Tätigkeiten, in: Schauhoff, (Fn. 2), § 6, Rn. 88.

4 Vgl. bspw. Entscheidung der Kommission 98/353/EG vom 16.09.1997 (GAV Aachen), ABl. EG Nr. L 159 v. 3.6.1998, S. 58; EuGH, Urteil vom 25.10.2001, Ambulanz Glöckner, Rs. C-475/99, Slg. 2001, I-8089; Urteil vom 17.06.1997, Sodemare, Rs. C-70/95, Slg. 1997, I-3395 (beide allerdings zu Art. 81, 82 und 86 EG).

5 Benicke, Die Bedeutung des EG-Rechts für gemeinnützige Einrichtungen, EuZW 1996, 165; Isensee, Ge-meinnützigkeit und Europäisches Gemeinschaftsrecht, in: Jachmann, Gemeinnützigkeit. 27. Jahrestagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e.V., Erfurt, 23. und 24. September 2002, S. 93. Statt vieler zuletzt Meyer, Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse im Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmungs-recht der Mitgliedstaaten und EU-Beihilfekontrolle, EWS 2005, 193; Kube, Die Zukunft des Gemeinnützig-keitsrechts in der europäischen Marktordnung, IStR 2005, 469.

6 Im Laufe der Untersuchung wird die besondere Beziehung zwischen öffentlicher Hand und solchen Religi-onsgemeinschaften immer wieder thematisiert; wenn im Folgenden von „Religionsgemeinschaften“ gespro-chen wird, sind daher nur solche mit öffentlich-rechtlichem Körperschaftsstatus gemeint.

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Diakonisches Werk7 etc.). Ein Großteil dieser Untergliederungen nimmt den religiösen Auftrag wahr und verstärkt durch sein Dasein die Wahrnehmung insbesondere der seel-sorgerischen und karitativen Aufgaben8. Zu Letzteren gehört die Aufrechterhaltung einer Vielzahl von Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege9, die sich insbesondere dadurch auszeichnen, dass sie ihre sozialen Dienstleistungen unentgeltlich bzw. gegen ein nur geringes Entgelt anbieten10. Daneben gibt es erwerbswirtschaftlich tätige, d.h. gewinnorientierte Untergliederungen von Religionsgemeinschaften, wie beispielsweise landwirtschaftliche Unternehmungen von Klöstern, der Betrieb von Bierbrauereien durch Klöster, die Publikation von Zeitun-gen und Zeitschriften, der Betrieb eines Reformkostwerkes wie im Fall der Siebenten-Tags-Adventisten. Die öffentliche Hand fördert diese verschiedenen Tätigkeiten durch Subventionen und subventionsähnliche Zuwendungen (1.), Staatsleistungen (2.) sowie aufgrund der Kosten-tragungspflicht für bestimmte gemeinsame Angelegenheiten (3.)11.

1. Subventionen

Mit dem Mittel finanzieller Förderung verfolgt der Staat das Ziel, auf verschiedene gesell-schaftliche Vorgänge – wirtschaftlicher, sozialer, kultureller oder anderer Art12 – einzu-wirken. Je nach Zielsetzung wird auf Bundesebene in den Subventionsberichten13 zwi-schen Wirtschaftssubventionen14 und „subventionsähnlichen“ Zuwendungen für allgemei-ne Staatsaufgaben15 unterschieden16. Wirtschaftssubventionen und subventionsähnlichen Zuwendungen ist gemein, dass sie zu ihren allgemeinen Strukturelementen17 vermögens-werte Leistungen eines Subventionsgebers an Subventionsempfänger zur Förderung eines im öffentlichen Interesse liegenden Zwecks ohne marktmäßige Gegenleistung rechnen18. Hierzu zählen im weitesten Sinne auch Steuer-, Gebühren- und sonstige Verschonungstat-bestände als Korrelat.

7 Der Deutsche Caritasverband weist 24.989 Einrichtungen und Dienste aus (http://www.caritas.de/2246.html),

das Diakonische Werk zählt über 27.000 Einrichtungen, (http://www.diakonie.de/de/html/diakonie/44.html). 8 BVerfGE 24, 236, 246. Zum ganzen Weber (Fn. 1), S. 82 ff. 9 S. auch Fn. 36. – Zu Begriff und Organisation der freien Wohlfahrtspflege s. von Boetticher, Die frei-

gemeinnützige Wohlfahrtspflege und das europäische Beihilfenrecht, 2003, S. 21 ff. 10 Dies gilt selbstverständlich nur dort, wo die Träger der Einrichtungen in der Preisgestaltung frei sind – im

Gegensatz dazu gelten für die meisten Leistungen der Krankenhäuser beispielsweise bestimmte Pflegesätze. 11 Eine Schätzung der finanziellen Transfers ist nahezu unmöglich, s. Robbers, Förderung der Kirchen durch den

Staat, HdbStKirchR I, 1994, § 31, S. 867 mwN. Den Versuch einer Darstellung der Vermögenssituation der beiden großen Kirchen unternimmt Frerk, Finanzen und Vermögen der Kirchen in Deutschland, 2002.

12 Vgl. BVerfGE 17, 210, 216; 72, 175, 193. 13 Berichte der Bundesregierung über die Entwicklung der Finanzhilfen und Steuervergünstigungen

gem. § 12 StWG. 14 Vgl. zuletzt 20. Subventionsbericht, BT-Drs. 16/1020 v. 22.03.2006, S. 8 f. 15 Der 20. Subventionsbericht (Fn. 14), S. 9, 129, weist als allgemeine Staatsaufgaben exemplarisch die Berei-

che des Gesundheits- und Bildungswesens aus. 16 Diese für das deutsche Subventionsrecht typische Unterscheidung treffen z.B. Haverkate, Rechtsfragen des

Leistungsstaats, 1983, S. 146 und Ipsen, Subventionen, in: HdbStR IV, 1999, § 92, Rn. 20; anders Rodi, Die Subventionsrechtsordnung, 2000, S. 46 mwN.

17 Haverkate, Subventionsrecht, in: Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, Besonderer Teil 1, 1996, Rn. 6 ff. 18 Nach Bleckmann, Subventionsrecht, 1978, S. 12, stellt der Subventionsbegriff insoweit nur einen „reinen

Ordnungsbegriff der Lehre“ dar. Im Rahmen der beihilferechtlichen Prüfung von gemeinwohlbezogenen Sub-ventionen wird das Fehlen einer marktmäßigen Gegenleistung allerdings zu thematisieren sein.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente EuR – Heft 4 – 2006 579

a) Wirtschaftssubventionen

Mit der Wirtschaftssubventionsverwaltung versucht der Staat, durch finanzielle Anreize ein bestimmtes Wirtschaftsverhalten zu stimulieren19. Soweit Unternehmen oder andere Wirtschaftszweige von Religionsgemeinschaften bzw. deren Untergliederungen entspre-chend den Zwecken der Haushaltsvorschriften wie andere privatrechtliche Wirtschaftssub-jekte in den Kreis der Subventionsempfänger fallen, werden sie wie diese gefördert, so z.B. im Bereich der Land- und Forstwirtschaft, unabhängig davon, ob deren Tätigkeit religiös motiviert ist.

b) Gemeinwohlbezogene Subventionen

Den weitaus größeren Teil staatlicher Zuwendungen macht die Subventionierung sozialer Dienstleistungen von Religionsgemeinschaften und deren Untergliederungen aus20. Sie erfolgt unter dem Aspekt, dass die – meist religiös motivierte – soziale Dienstleistung mittelbar staatlichen Zwecken dient und überdies die Entfaltung grundrechtlicher Freihei-ten einschließlich der Religionsfreiheit gewährleistet21. Diese Finanzierung gründet also nicht (wie bei den Staatsleistungen22) in den besonderen Staat-Kirche-Beziehungen, son-dern in der Gemeinwohlaufgabe des Staates im Sozialbereich23. Es kommt hierbei auch nicht darauf an, ob die Religionsgemeinschaften diese Tätigkeiten aus eigenem Antrieb, nämlich religiösen Motiven wie der Nächstenliebe, heraus wahrnehmen. Sie liegen schlicht im Interesse des Staates. In vielen Bereichen (vor allem der Wohlfahrtspflege, der Jugendhilfe u.a.) treten die Religionsgemeinschaften und ihre Untergliederungen neben24 und – im Sinne des klassischen Subsidiaritätsbegriffs25 – vor26 die vom Staat und seinen Gebietskörperschaften eingesetzten gemeinnützigen Einrichtungen und entlasten ihn von seinen Aufgaben27. Die gemeinwohlbezogenen Subventionen werden daher auch als „staats-substituierende“ Leistungen bezeichnet28. In diesem Sinne erhalten die Religionsgemeinschaften bzw. deren privat-rechtliche Träger Subventionen für Kindergärten, Grundschulen29, Gymnasien30, Weiterbildungsstätten,

19 Zum ganzen ausführlich Bleckmann (Fn. 18), S. 21 ff., Schröder, Subventionen als staatliche Handlungsmit-

tel, ZHR 152 (1988), 391, 394 ff.; Caspari, Die Beihilferegeln des EWG-Vertrags und ihre Anwendung, in: Mestmäcker/Möller/Schwarz (Hrsg.), Eine Ordnungspolitik für Europa – Festschrift für Hans von der Groe-ben zu seinem 80. Geburtstag, 1987, S. 69 ff.

20 Einen Überblick gibt von Boetticher (Fn. 9), S. 24 ff., 29 ff. 21 Pirson, Kirchenförderung als staatliche Aufgabe, in: EssGespr 28 (1994), S. 89 f. – Mit dem Begriff Ge-

meinwohl werden alle Zwecke bezeichnet, die auf die Erfüllung einer der Allgemeinheit gestellten, also öf-fentlichen Aufgabe gerichtet sind, vgl. Pohley, in: Pohley/Backert, Kommentar zum Bayer. Stiftungsgesetz, 2002, Art. 1, Erl. 5.1. Im Folgenden soll daher nur noch von gemeinwohlbezogenen Subventionen die Rede sein.

22 Dazu sogleich unter II. 2. 23 Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, HdbStR III, 1996, § 57, Rn. 173. 24 Vgl. § 5 SGB XII, § 4 Abs. 1 SGB VIII. 25 Näher Isensee (Fn. 23), Rn. 165 ff., insbes. 171 ff. 26 Vgl. § 5 Abs. 4 SGB XII, § 4 Abs. 2 SGB VIII. 27 Vgl. §§ 74, 75 Abs. 3 SGB VIII. – Näher von Boetticher (Fn. 9), S. 30 mwN.; Isensee, Die Staatsleistungen an

die Kirchen und Religionsgemeinschaften, HdbStKirchR I, 1994, S. 1060 f. 28 Isensee, Die Finanzquellen der Kirchen im deutschen Staatskirchenrecht, JuS 1980, 97. 29 Zum subjektiv-öffentlichen Recht der jeweiligen Träger auf Subvention für kirchliche Privatschulen bspw.

BVerwGE 23, 347 ff.; 27, 360 ff. – Die Religionsgemeinschaften sind Bildungsträger, vgl. z.B. Art. 133 Abs. 1 S. 3 Bayerische Verfassung.

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Hochschulen31, Krankenhäuser, Jugend-, Alten- und Entwicklungshilfe32 und die Denk-malpflege.

c) Steuer-, Kosten- und Gebührenverschonungen als Verschonungssubventionen33

Die öffentliche Hand gewährt darüber hinaus Steuervergünstigungen, wenn Einrichtungen gemeinnützige oder mildtätige Zwecke verfolgen. Die Begründung liegt wie bei den ge-meinwohlbezogenen Subventionen in der Bedeutung dieser Dienste für das Allgemein-wohl34. Eine Körperschaft verfolgt gemeinnützige Zwecke nach § 52 Abs. 2 AO u.a. im Falle der Förderung von Bildung und Erziehung (z.B. Privatschulen aller Art, jüdische Hochschule), der Jugendhilfe (z.B. Beratungsstellen), der Altenhilfe (z.B. Altenpflege), des öffentlichen Gesundheitswesens (z.B. Krankenhäuser im diagnostischen Bereich35) und des Wohlfahrtswesens36. Insbesondere letztere Einrichtungen erhalten Steuervergüns-tigungen für die Förderung mildtätiger Zwecke im Sinne der § 53 AO (z.B. bei der Tele-fonseelsorge37). Von Bedeutung für die nachfolgende Untersuchung sind weiterhin steuerliche Vergünsti-gungen, die an die Förderung kirchlicher Zwecke anknüpfen. Der Staat anerkennt damit die Kirchen als Fördergemeinschaften von religiösen und sittlichen Grundlagen des Ge-meinwesens38. Eine Körperschaft verfolgt kirchliche Zwecke, wenn ihre Tätigkeit darauf gerichtet ist, eine Religionsgemeinschaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, selbstlos zu fördern, § 54 Abs. 1 AO. Damit sind v.a. Kirchenbauvereine, Priesterseminare oder kirchliche Versorgungskassen gemeint39; von Interesse für die vorliegende Untersu-chung sind insbesondere auch solche Einrichtungen, die zwar aus einer religiösen Motiva-tion heraus betrieben werden, nicht aber nur exklusiv durch Untergliederungen von Reli-

30 Das Land Nordrhein-Westfalen bspw. zahlte den Privatschulen 1993 einen Personalkostenzuschuss iHv

94 Prozent, vgl. Clement, Die politische Praxis staatlicher Kirchenförderung, in: EssGespr 28 (1994), S. 53. 31 Das Land NRW zahlte 1992 26 Mio. DM an die kirchlichen Fachhochschulen, vgl. Clement (Fn. 30), S. 56. 32 Hinter diesen in unterschiedlicher Trägerschaft geführten karitativen Einrichtungen stehen bei den beiden

großen Kirchen meistens der Deutsche Caritasverband oder das Diakonische Werk. Die Zuschüsse des Landes NRW an beide Einrichtungen beliefen sich 1992 auf 1,289 Milliarden DM, vgl. Clement (Fn. 30), S. 52.

33 Es ist streitig, welche Steuerbefreiungen zu den negativen Subventionen und welche zu den negativen Staats-leistungen zu zählen sind, vgl. statt vieler Isensee (Fn. 27), S. 1024 ff.; nach allgemeiner Ansicht zählt jeden-falls die Gerichtskostenfreiheit der Religionsgemeinschaften mit öffentlich-rechtlichem Körperschaftsstatus nicht zu den negativen Staatsleistungen, s. Korioth, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 2003, Art. 138 WRV, Rn. 5 mit Fn. 7; für die vorliegende Untersuchung hat der genannte Streit keine Bedeutung. Steuervergünsti-gungen und sonstige Gebühren- und Kostenbefreiungen für selbständige Untergliederungen von Religions-gemeinschaften sind unstreitig zu den negativen Subventionen zu zählen, vgl. Robbers (Fn. 11), S. 869.

34 Koenig, in Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, 2004, § 51, Rn. 2 mwN.; von Boetticher (Fn. 9), S. 38 mwN.; G. Hammer, Steuer- und Gebührenbefreiung der Kirchen, HdbStKirchR I, 1994, § 36, S. 1066 f.

35 Schauhoff, Gemeinnützigkeit, in: ders., (Fn. 2), § 5, Rn. 65. 36 Hierzu gehören gem. § 68 AO die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege e.V. zu-

sammengeschlossenen Spitzenverbände, zu denen auch der Deutsche Caritasverband, das Diakonische Werk und die Zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland zählen.

37 Nr. 1 zu § 53 AEAO v. 15.7.1998, BStBl. I 1998, S. 603. 38 Näher Isensee (Fn. 5), S. 101 f. 39 Beispiele nach Weides, Die Religionsgemeinschaften im Steuerrecht, in: FS der Rechtswissenschaftlichen

Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 906.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente EuR – Heft 4 – 2006 581

gionsgemeinschaften, so z.B. Schülerheime, Internate, Studentenheime oder öffentliche Bildungseinrichtungen40. Werden gemeinnützige, mildtätige oder kirchliche Zwecke verfolgt, können die entspre-chenden Einrichtungen der Religionsgemeinschaften unter den Voraussetzungen der §§ 51 ff. AO von bestimmten Steuern befreit werden41. Sie erhalten weitere Gebühren- und Kostenbefreiungen, die länderabhängig teilweise speziell auf sie zugeschnitten sind42. Von beihilferechtlicher Relevanz sind schließlich Spenden an gemeinnützige Körperschaften, die von der Steuerbemessungsgrundlage des Spenders abgezogen werden43.

2. Staatsleistungen

Staatsleistungen im Sinne von Art. 138 Abs. 1 WRV (i.V.m. Art. 140 GG) für die Religi-onsgemeinschaften dienen der Erfüllung historisch fundierter Unterhaltspflichten44. Heute vielfach auf neue vertragliche Grundlagen gestellt, sind sie Entschädigung für das infolge der Säkularisation Anfang des 19. Jahrhunderts verlorene kirchliche Eigentum und kom-men daher vornehmlich der Katholischen Kirche zugute. Staatsleistungen rechtfertigen sich also aus einer in der Vergangenheit liegenden Rechtsgrundlage und unterscheiden sich damit von Subventionen, die aus einem künftig zu verwirklichendem öffentlichen Interesse erfolgen45. Zu den positiven Staatsleistungen von Bund, Ländern und Kommunen gehören insbeson-dere Zuwendungen zur Bestreitung von Personal- und Sachausgaben. Daneben gewährt die öffentliche Hand Katasterzuschüsse und trägt die Baulasten staatlicher Verwaltungs-träger für kirchliche Gebäude46. In Korrelation hierzu stehen Steuer- und Gebührenbefrei-ungen als negative Staatsleistungen, soweit sie ihre Rechtfertigung ebenfalls in der Säku-larisation finden.

3. Staatliche Kostentragungspflicht bei gemeinsamen Angelegenheiten

Für bestimmte gemeinsame Angelegenheiten von Staat und Religionsgemeinschaften besteht eine staatliche Kostentragungspflicht. Eine gemeinsame Angelegenheit liegt vor, wenn der Staat eine ihm obliegenden Aufgabe regelmäßig deswegen nicht erfüllen kann,

40 Wenn diese unmittelbar von einer öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaft betrieben und unterhalten

werden, entfällt die Körperschaftsteuerpflicht schon aufgrund der Anwendung des § 4 Abs. 5 KStG; der „Um-weg“ über § 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG, § 54 AO ist nicht nötig, vgl. Weides (Fn. 39), S. 892.

41 Beispielhaft für begünstigende Regelungen im Bereich der direkten Steuern seien § 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG und im Bereich der indirekten Besteuerung § 12 Abs. 2 Nr. 8 UStG, jeweils iVm §§ 51 S. 2 AO, 1 Abs. 1 S. 1 KStG erwähnt; weitere Beispiele bei von Boetticher (Fn. 9), S. 39 f. und bei Eicker, Erfordern die EG-Grundfreiheiten eine Änderung des deutschen Gemeinnützigkeitsrechts?, ZErb 2005, 147, 148 ff.

42 Bspw. sind die freien Wohlfahrtsverbände ebenso wie die Religionsgemeinschaften in Baden-Württemberg, Bremen und Hessen von den Gerichtskosten befreit, näher G. Hammer (Fn. 34), S. 1086 ff., 1089 ff.

43 Z.B. §§ 10b Abs. 1 S. 1 EStG, 9 Abs. 1 Nr. 2 KStG. 44 Zu verfassungsrechtlichen Fragen zuletzt Wolff, ZRP 2003, 12; F. Hammer, ZRP 2003, 298; aus rechtspoliti-

scher Sicht Sailer, ZRP 2001, 80 ff.; Bohl, ZRP 2001, 274; Kriele, ZRP 2001, 275; Post, ZRP 2001, 275. 45 Korioth (Fn. 33), Rn. 6; näher Isensee (Fn. 27), S. 1020. – Die umstrittene rechtliche Verortung von sog.

„Neuvereinbarungen“, d.h. von nach 1919 neu begründeten finanziellen Leistungen, die dennoch aus einer historischen Entschädigungsmotivation heraus begründet werden, spielt für diese Untersuchung keine Rolle; hierzu Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 2000, Art. 138, Rn. 22 mwN einerseits und Isen-see (Fn. 27), S. 1057 ff. andererseits.

46 Einen nicht abschließenden Katalog an Staatsleistungen führt Voll, HdbBayStKirchR, 1985, S. 159 f. auf.

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weil er aus Gründen der religiösen Neutralität zur Zurückhaltung verpflichtet ist und eine alleinige Zuordnung zum staatlichen oder kirchlichen Bereich somit ausfällt. Die öffentli-che Hand „bezahlt“ die Ausführung der gemeinsamen Angelegenheiten durch die Religi-onsgemeinschaften bzw. deren Untergliederungen. Zur staatlichen Kostentragungspflicht aufgrund gemeinsamer Angelegenheit zählt z.B. die Übernahme der Kosten für den Reli-gionsunterricht an öffentlichen Schulen, der in Art. 7 Abs. 3 GG institutionell garantiert ist47.

III. Beihilferechtliche Fragen

Nach Art. 87 Abs. 1 EG sind, soweit im EG-Vertrag nicht etwas anderes bestimmt ist48, „staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem gemeinsamen Markt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen“. Nach Art. 87 Abs. 3 EG kön-nen bestimmte Beihilfen als mit dem gemeinsamen Markt vereinbar angesehen werden. Überdies sind bestimmte Beihilfen ex lege mit dem gemeinsamen Markt vereinbar, Art. 87 Abs. 2 EG.

1. Anwendbarkeit des Beihilferechts

Die Einbettung der Beihilfekontrolle in diesen wirtschaftlichen Kontext wirft die Frage auf, ob von den aufgeführten Zuwendungen neben den Wirtschaftssubventionen auch Förderungsmaßnahmen, die nicht primär wirtschaftliche Ziele verfolgen, der Beihilfekon-trolle unterworfen sind. Mehrere Fragen sind daher vorab zu klären: Inwiefern sind spe-zielle religionsrechtliche Regelungen vom Gemeinschaftsrecht betroffen (a)? Findet das Gemeinschaftsrecht Anwendung auf solche Dienstleistungen und Dienstleister, wie sie eingangs im Zusammenhang mit der Förderung durch die öffentliche Hand angesprochen wurden (b)? Und: Falls das so ist, gilt dies auch für die speziellen Regelungen des Beihil-ferechts (c)?

a) Gemeinschaftsrecht und religionsrechtliche Regelungen

Religionsrechtliche Regelungen der einzelnen Mitgliedstaaten sind grundsätzlich nicht von vorneherein dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts entzogen. Die Ge-meinschaft hat zwar mangels Kompetenzübertragung keine Einzelzuständigkeit für den

47 Näher Jeand’Heur/Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, 2000, Rn. 306 ff. Als Ausbildungsfach an der

Schule ist der Religionsunterricht zwar somit Sache des Staates – insofern trägt er hierfür die Sach- und Per-sonalkosten –, zur Durchführung bedient er sich aber der Mitwirkung der Kirche in Form der Bevollmächti-gung der Religionslehrer und für die Zusammenstellung der Lehrpläne und des Lehrmaterials, vgl. Marré, Kooperation von Staat und Kirche und staatliche Kirchenförderung – vorbildhaft für Europa, in: Bohnert u.a. (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche, Festschrift für Alexander Hollerbach, 2001, S. 879 ff., 881. Zu den gemeinsamen Angelegenheiten gehört u.a. ferner der Betrieb theologischer Fakultäten an staatlichen Uni-versitäten (vgl. BVerwG NJW 1996, 3287), da diese auch der Ausbildung der Religionslehrer und der Geistli-chen der beiden großen Kirchen dienen. – Schließlich wird auch die Kirchensteuer diesem Bereich zugeord-net, vgl. BVerfGE 19, 206, 217; Marré, Das kirchliche Besteuerungsrecht, HdbStKirchR I, 1994, § 37, S. 1110.

48 Vgl. dazu die Sondervorschriften für Landwirtschaft (Art. 36 EG) und Verkehr (Art. 73, 76, 78 EG).

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente EuR – Heft 4 – 2006 583

Bereich des Religionsrechts49. Gemeinschaftsrechtlichen Regelungen kommt jedoch in den Grenzen des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ein Anwendungsvorrang vor den nationalen Re-gelungen zu50, so dass die Religionsgemeinschaften durch diese punktuell betroffen sein können51. Die Union hat jedoch die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten (Art. 6 Abs. 3 EU), wozu auch die mitgliedstaatliche Ausgestaltung der Beziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften gehört52. Hierzu rechnen zweifelsohne grundlegende religionsverfassungsrechtliche Entscheidungen für Religionsfreiheit, Neutralität, Parität u.a.53, zu denen wohl auch die Staatsleistungen gehören54. Die sog. Amsterdamer Erklä-rung konkretisiert, dass die Union den Status, den die Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, achtet und ihn nicht beeinträch-tigt55. Für diese Untersuchung ist demnach weiter relevant, ob einfachgesetzliche Rege-lungen wie die speziellen steuerrechtlichen Vergünstigungen für die Verfolgung kirchli-cher Zwecke zu den Bestandteilen dieses Status zählen56. Gegen einen Schutz einfachge-setzlicher Regelungen vor Einwirkungen des europäischen Rechts spricht das Problem einer Unterscheidungsmöglichkeit innerhalb dieser einfachgesetzlichen Regelungen. Denn nicht alle religionsrechtlichen Regelungen eines Mitgliedstaates können zu diesem beson-deren Status gehören; die Folge wäre eine generelle Bereichsausnahme mit der Gefahr der Beeinträchtigung der Gemeinschaftsziele57. Andererseits darf die Erklärung keine hohle Floskel bleiben. Muckel plädiert daher für eine Gewichtung: je stärker eine religionsrecht-liche Rechtsvorschrift Ausdruck der grundsätzlichen Regelung des Staat-Kirche-Verhältnisses sei, desto eher sei sie vom Beeinträchtigungsverbot der Amsterdamer Erklä-rung umfasst58. Die Einstufung der steuerrechtlichen Privilegierungsvorschriften in ein System der speziellen Förderung von Religionsgemeinschaften als Anerkennung für deren Gemeinwohlaufgaben wäre demnach eine Möglichkeit, die Religionsklausel sinnvoll auszufüllen. Die steuerrechtliche Privilegierung von Unternehmen zur Förderung kirchli-cher Zwecke, Staatsleistungen sowie die Kirchensteuer wären im Ergebnis dem Gemein-schafts- und somit auch Beihilferecht entzogen59.

49 Vgl. Art. 5 EU, Art. 5 Abs. 1 EG. 50 Zum Verhältnis von Verfassungsrecht und Gemeinschaftsrecht BVerfGE 37, 271; 73, 339; 89, 155. 51 Korioth (Fn. 33), Art. 140 GG, Rn. 37. 52 Vgl. Mückl, Religions- und Weltanschauungsfreiheit im Europarecht, 2001, S. 26. Nunmehr umfassend zum

ganzen: ders., Europäisierung des Staatskirchenrechts, 2005. 53 Korioth (Fn. 33), Art. 140 GG, Rn. 40; Muckel, Die Rechtsstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften

nach dem Vertrag über eine Verfassung für Europa, DÖV 2005, 191, 198 f. 54 Staatsleistungen unterliegen den Beihilferegeln letztlich aus teleologischen Gründen nicht mehr, s. bei

III. 1 c) dd). 55 Erklärung Nr. 11 zur Schlussakte des Amsterdamer Vertrages. Diese ist zwar unverbindlich (Korioth (Fn. 33),

Art. 140 GG, Rn. 40). Ihr entsprechen aber Art. I-52 Abs. 1 und 2 VVE mit geringfügigen sprachlichen Ände-rungen (sog. Kirchenklauseln). Nach Ratifizierung der Verfassung wäre die Verbindlichkeit hergestellt.

56 Bejahend Isensee (Fn. 5), S. 127, für „die staatskirchenrechtlich fundierten Bestandteile des Gemeinnützig-keitsrechts“.

57 Muckel (Fn. 53), S. 199. 58 Muckel (Fn. 53), S. 199. 59 So im Ergebnis auch Marré, Die Kirchenfinanzierung in Kirche und Staat der Gegenwart, 4. Aufl., 2006,

S. 77 f. – Anders verhält es sich von vorneherein mit den anderen steuerrechtlichen Vergünstigungsvorschrif-ten zur Verfolgung gemeinnütziger Zwecke und den gemeinwohlbezogenen Subventionen: Hier fördert die öffentliche Hand kirchliche und freie Träger unterschiedslos.

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b) Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts auf nichtwirtschaftliche Dienstleistungen

Es ist unstreitig, dass der Begriff des Handels in Art. 87 Abs. 1 EG den gesamten Wirt-schaftsverkehr und damit auch den Dienstleistungsverkehr umfasst60, der von Art. 49 ff. EG geschützt wird. Dienstleistungen nach Art. 50 EG sind Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden61. Als Dienstleister kommen alle Gesellschaften des bür-gerlichen Rechts und des Handelsrechts einschließlich der Genossenschaften und die sonstigen juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts mit Ausnahme derje-nigen, die keinen Erwerbszweck verfolgen62, in Betracht. Aus diesen beiden sich ergän-zenden Regelungen63 wurde teilweise gefolgert, solche Einrichtungen aus dem Anwen-dungsbereich der Dienstleistungsfreiheit auszuklammern, die in Deutschland soziale Dienstleistungen erbringen64. Art. 48 Abs. 2 EG und Art. 50 EG verfolgen jedoch einen anderen Zweck. Die sozialen Dienstleister sollen nicht auf Märkten in anderen EG-Mitgliedstaaten agieren dürfen, damit die Märkte dort aufgrund der Subventionierung nicht verfälscht werden65. Werden aber kommerzielle Anbieter von sozialen Dienstleistungen aus anderen EG-Mitglied-staaten in Deutschland tätig, entsteht innergemeinschaftlicher Wettbewerb. Wenn solche Anbieter nicht in den Genuss derselben finanziellen Leistungen kommen, ist eine Beein-trächtigung des Wettbewerbs zumindest nicht ausgeschlossen. Für die Beantwortung der Frage der Anwendbarkeit des EG-Rechts auf die Förderung sozialer und karitativer Insti-tutionen ist daher nicht entscheidend, ob sich diese auf die Grundfreiheiten berufen kön-nen, sondern ob mit den Förderungen Behinderungen oder Einschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs verbunden sind. Das Gemeinschaftsrecht muss auf solche inner-gemeinschaftliche Sachverhalte anwendbar sein, in denen die gezielte Förderung bestimm-ter Einrichtungen eine potentielle Beschränkung wirtschaftlicher Grundfreiheiten anderer Einrichtungen nach sich zieht66.

c) Sachlicher Geltungsbereich des Beihilferechts

Des Weiteren ist zu untersuchen, ob auch die konkreten beihilferechtlichen Normen für finanzielle Zuwendungen an Religionsgemeinschaften und deren soziale und karitative

60 H.M.: Entscheidung der Kommission N 258/00 vom 21.12.2000 (Freizeitbad Dorsten), Pressemitteilung

IP/00/1509 v. 21.12.2000; Mederer/Strohschneider, in: von der Groeben/Schwarze, Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Aufl., 2003, Art. 87, Rn. 47; von Wallenberg, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der europäischen Union, Art. 87, Rn. 47.

61 Wobei nicht unbedingt erforderlich ist, dass der Leistungsempfänger das Entgelt bezahlt, vgl. Randelzhofer/ Forsthoff, in: Grabitz/Hilf (Fn. 60), Art. 49/50 EGV, Rn. 36.

62 Vgl. Art. 55 iVm 48 Abs. 2 EG. 63 Zur Deckungsgleichheit der Tatbestandsmerkmale „Verfolgung eines Erwerbszwecks“ und „Erbringung der

Leistung gegen Entgelt“ vgl. Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf (Fn. 60), Art. 48, Rn. 8. 64 Ipsen, Soziale Dienstleistungen und EG-Recht: Auswirkungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf die

mitgliedstaatliche Förderung sozialer Dienstleistungen im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege, 1997, S. 53 ff.

65 Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf (Fn. 60), Art. 48, Rn. 8. 66 So im Ergebnis auch von Boetticher (Fn. 9), S. 46, 56; Benicke, Europarechtliche Einflüsse, in: Schauhoff

(Fn. 2), § 23, Rn. 26; für gemeinnützige Körperschaften Helios, Das deutsche Gemeinnützigkeitsrecht inner-halb der Schranken des Europarechts. EG-Rechtswidrigkeit des § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG, BB 2002, 1895.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente EuR – Heft 4 – 2006 585

Einrichtungen gelten. Dies kann aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet werden67. Vorab erörterungswürdig ist der sachliche Geltungsbereich aus der Überlegung heraus, ob sich die bestehenden gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsregeln von ihrem Sinn und Zweck her auf einen „Markt“ für soziale und karitative Dienstleistungen erstrecken.

aa) Grundsätzliche teleologische Überlegungen

Die Wettbewerbsregeln, zu denen das Beihilferecht zählt, sollen den europäischen Bin-nenmarkt vor Verfälschungen des Wettbewerbs in seinem Inneren schützen (Art. 3 Abs. 1 lit. g EG). Dadurch soll der Aufgabe der Gemeinschaft Rechnung getragen werden, neben einer harmonischen, ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung des Wirtschaftslebens insbesondere ein hohes Beschäftigungsniveau und ein hohes Maß an sozialem Schutz sowie die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität zu fördern (Art. 2 EG). Aus der Formulierung dieser rechtspolitischen Ziele geht hervor, dass die Wettbewerbsregeln in allen unmittelbaren und mittelbaren Konsequenzen zu Verbesserungen nicht nur wirt-schaftlicher, sondern auch nichtwirtschaftlicher Art für den europäischen Binnenraum führen sollen. Gleichwohl setzt der Begriff „Wettbewerb“ die Existenz von „Märkten“ im europäischen Binnenraum voraus und legt eine Beschränkung der Wettbewerbsregeln auf rein wirtschaftliche Lebenssachverhalte nahe68. Die beihilferechtlichen Regelungen sollen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten eine Wettbewerbsgleichheit der sich auf einem in sachlicher, räumlicher und zeitlicher Hinsicht abgrenzbaren Markt betätigenden Akteu-re erreichen. Wie eingangs beschrieben, haben einzelne Bereiche des Sozialmarktes durch den Anstieg kommerzieller Anbieter mittlerweile eine wirtschaftliche und wettbewerbliche Prägung erfahren. Oben ist erörtert worden, dass sich das Gemeinschaftsrecht auch auf entgeltfreie Dienstleistungen erstrecken muss, wenn wettbewerbliche Strukturen vorhanden sind. Wenngleich dies zwar nicht auf allen Feldern der Wohlfahrtspflege der Fall ist, gibt es keinen Grund, einen räumlich, sachlich und zeitlich abgrenzbaren Sozialmarkt von vorne-herein den Wettbewerbsregeln zu entziehen. Der unverfälschte Wettbewerb im Wirt-schaftsverkehr als Schutzobjekt der Beihilferegeln muss grundsätzlich Maßstab für jedwe-de innergemeinschaftliche Betätigung bleiben, die sich in irgendeiner Form auf das Wirt-schaftsleben auswirkt.

bb) Wirkung der Beihilfe und Beihilfebegriff

Sinn und Zweck des Art. 87 Abs. 1 EG lassen bereits erkennen, inwiefern sich das ge-meinschaftsrechtliche Beihilferecht vom deutschen Subventionsrecht unterscheidet. Das deutsche Recht unterteilt Subventionen in Wirtschafts- und „sonstige“ Subventionen ent-sprechend deren Zielsetzung69. Um die Wettbewerbsfreiheit zu gewährleisten, verfolgt das gemeinschaftliche Beihilferecht jedoch eine andere Konzeption: nicht das Ziel einer Sub-

67 So muss die Frage, ob eine finanzielle Zuwendung eine Beihilfe darstellt, im Rahmen der Prüfung der einzel-

nen Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 87 Abs. 1 EG dogmatisch am Beihilfebegriff verortetet werden; ob eine Einrichtung tauglicher Beihilfeempfänger ist, bemisst sich am funktionalen Unternehmensbegriff.

68 Mit „Markt“ ist hier eine ökonomische Größe gemeint, die durch die wechselseitige Beziehung einer Gruppe von anbietenden und nachfragenden (Wirtschafts-) Subjekten definiert wird, vgl. Badura, Wirtschaftsverfas-sung und Wirtschaftsverwaltung, 1971, S. 134.

69 S. oben unter II. 1.

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vention ist entscheidend, sondern, wie der verschiedentlich angesprochene Begriff der Beihilfekontrolle bereits impliziert, allein dessen wettbewerbliche Wirkung auf einen bestimmten Markt70. Konsequenterweise ist der Wortlaut des Art. 87 Abs. 1 EG weit gefasst worden („staatli-che oder aus staatlichen Mitteln“, „Beihilfen gleich welcher Art“) und der Beihilfebegriff weit auszulegen71. Der EuGH hat unter Verzicht auf eine Definition bereits früh klarge-stellt, der Beihilfebegriff umfasse „nicht nur positive Leistungen wie Subventionen selbst, sondern auch Maßnahmen, die in verschiedenen Formen die Belastungen vermindern, die ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat und die somit zwar keine Subventionen im strengen Sinn des Wortes darstellen, diesen aber nach Art und Wirkung gleichstehen“72. Der Beihilfebegriff erfasst damit alle staatlichen Vergünstigungen unabhängig von der Form ihrer Gewährung73.

cc) Beurteilung der finanziellen Zuwendungen im Lichte dieser Überlegungen

Die gemeinschaftsrechtliche Beihilfekontrolle zielt somit auf das Wettbewerbsproblem zwischen Beihilfeempfängern74 und umfasst grundsätzlich alle finanziellen Zuwendungen der öffentlichen Hand. Erörterungsbedürftig bleibt die Beihilfequalität von Subventionen im Zusammenhang mit nationalen Bildungssystemen (i) und von Staatsleistungen (ii).

i) Subventionen im Zusammenhang mit nationalen Bildungssystemen

Der EuGH entschied im Urteil Humbel, dass Schulunterricht nicht als Dienstleistung nach Art. 49 ff. EG zu qualifizieren sei, weil dieser in der Regel entgeltfrei erteilt würde75. Zum einen wolle der Staat durch die Errichtung und Erhaltung eines solchen Systems keine gewinnbringende Tätigkeit aufnehmen, sondern erfülle seine bildungspolitischen Aufga-ben gegenüber den Bürgern. Zum anderen werde dieses System üblicherweise aus dem Staatshaushalt und nicht von den Schülern oder Eltern finanziert. Daraus schloss die Kommission ohne weitere Begründung, dass die Wettbewerbsregeln generell auf Dienst-leistungen im Zusammenhang mit nationalen Bildungssystemen unanwendbar seien76. Der EuGH hatte die Frage der Finanzierung des Schulunterrichtes jedoch nicht aus wett-bewerbsrechtlicher Sicht zu beantworten, sondern in Bezug auf die Dienstleistungsfreiheit. Für die beihilferechtliche Beurteilung wird auszuführen sein, inwieweit die im Urteil behandelten Aspekte der Gewinnerzielung und der Art der Finanzierung eine Rolle spie-len. Hier geht es darum, ob sich die Wettbewerbsregeln nach Sinn und Zweck auf die Finanzierung von Einrichtungen nationaler Bildungssysteme erstrecken. Auch in diesem

70 St. Rspr. seit EuGH, Urteil vom 2.7.1974, Italien/Kommission, Rs. 173/73, Slg. 1974, 709, Rn. 27; zuletzt

Urteil vom 15.7.2004, Spanien/Kommission, Rs. C-501/00, Slg. 2004, I-6717, Rn. 125 (zu Art. 4c, 67 EGKS).

71 Caspari (Fn. 19), S. 78. 72 St. Rspr., zuletzt EuGH, Urteil vom 20.11.2003, GEMO, Rs. C-126/01, Slg. 2003, I-13769, Rn. 28. 73 Oldiges, Die Entwicklung des Subventionsrechts seit 1996, NVwZ 2001, 280, 281. 74 Haverkate (Fn. 17), Rn. 9. 75 EuGH, Urteil vom 27.9.1988, Humbel, Rs. 263/86, Slg. 1988, 5365, Rn. 17 f. 76 KOM(2000) 580 endg., Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa, Mitteilung v. 20.9.2000, Rn. 29, ABl. EG

Nr. C 17 v. 19.1.2001, S. 4.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente EuR – Heft 4 – 2006 587

Bereich gibt es seit einiger Zeit Anzeichen von Wettbewerb77. Es wurde bereits ausge-führt, dass das Gemeinschaftsrecht auf solche innergemeinschaftliche Sachverhalte an-wendbar sein muss, in denen durch gezielte Förderung bestimmter Einrichtungen die Benachteiligung anderer nicht ausgeschlossen werden kann, und diese Förderung eine potentielle Beschränkung wirtschaftlicher Grundfreiheiten nach sich zieht78. Die Förde-rung von Einrichtungen der nationalen Bildungssysteme darf hiervon nicht ohne weiteres von vorne herein ausgenommen werden. Ob eine echte Konkurrenz unter Bildungseinrich-tungen politisch erwünscht ist, ist eine andere Frage.

ii) Staatsleistungen

Problematisch erscheint indes die Erstreckung des Beihilferechts auf Staatsleistungen, da diese weder unmittelbar, noch mittelbar in den Bereich der Wohlfahrtspflege einfließen, sondern in einen rein innerreligionsgemeinschaftlichen Bereich79. Für die beihilferechtli-che Erfassung müssten sich die Religionsgemeinschaften mit der Verwendung der Staats-leistungen aber auf einem räumlich, sachlich und zeitlich abgrenzbaren Markt betätigen80. Bei diesem Markt darf es sich jedoch nicht um einen Binnenmarkt handeln, also einen Markt, auf dem nicht nur der Kreis der Nachfrager beschränkt ist, sondern auch der Kreis der Anbieter. Anders gesagt, müsste die religiöse Leistung an sich durch verschiedene Anbieter zu erbringen sein81. Entscheidend ist der Charakter der „Dienstleistung“, den die Religionsgemeinschaften selbst und unmittelbar anbieten. Im Mittelpunkt steht das „Leben“ des Glaubens im inter-nen und im externen Bereich. Da der Kern der religiösen Überzeugung jeder Religionsge-meinschaft einzigartig ist, ist – wirtschaftlich gesprochen – die aufgrund der Glaubens-überzeugung erbrachte und aufgrund der Glaubensüberzeugung empfangene Leistung nicht substituierbar82. Es handelt sich um eine religiöse Leistung der einzelnen Religions-gemeinschaft gegenüber ihren eigenen Mitgliedern. In einem solchen Binnenmarkt ist typischerweise kein Wettbewerb möglich83. Staatsleistungen sind daher über das oben Gesagte84 hinaus von Sinn und Zweck der Wettbewerbsregeln nicht mehr umfasst. In

77 S. John Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project (Fn. 2). Dass der Schulbildungssektor von äußeren

wettbewerblichen Einflüssen nicht frei ist, zeigt die Zunahme sowohl an Privatschulen als auch an kommer-ziellen „Schuldienstleistern“ auf dem Gebiet der Nachhilfe (z.B. Schülerhilfe GmbH, Tochterfirma der ameri-kanischen Educate Inc.; Studienkreis GmbH); der Weg zu „Privatschulketten“ scheint nicht mehr weit.

78 S. zuvor unter b). 79 S. oben II. 2. 80 S. zuvor unter III. 1. c) aa). 81 Mit Mückl, DÖV 2003, 828, ist allerdings vor einer „Ökonomisierung“ religiöser Grundbegriffe zu warnen. 82 So auch Morlok (Fn. 45), Art. 137 WRV, Rn. 38: Das Sakrament eines Priesters konkurriert nicht mit der

Leistung der gewinnorientierten Scientology Sekte. Ebenfalls Heinig, Die Stellung der Kirchen und Religi-onsgemeinschaften in der europäischen Rechtsordnung, in: Müller-Graff/Schneider (Hrsg.), Kirchen und Re-ligionsgemeinschaften in der Europäischen Union, 2003, S. 125, 150 f.

83 Vgl. BVerwGE 105, 313, 317. – Bei weiterer Prüfung der Tatbestandsmerkmale des Art. 87 Abs. 1 EG wären sowohl das Vorliegen der Unternehmereigenschaft, als auch der Begünstigung zu verneinen, sowie im Falle des Unterhalts von Baulasten wohl eine nach Art. 87 Abs. 3 lit. d EG zulässige Kulturbeihilfe zu bejahen.

84 S. zuvor unter a).

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verfahrensrechtlicher Hinsicht unterliegen zukünftige Staatsleistungen somit nicht der Notifizierungspflicht85.

2. Die Voraussetzungen von Art. 87 Abs. 1 EG

a) Staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen

Die Begünstigung muss aus einer Belastung öffentlicher Haushalte resultieren86. Hierunter fallen neben staatlichen Körperschaften insbesondere Länder und Gemeinden87. Bei den Wirtschafts- und gemeinwohlbezogenen Subventionen und den unmittelbaren Steuerver-günstigungen ist die öffentliche Hand in allen Fällen als Beihilfegeber erkennbar88.

aa) Sonderfall: Kirchensteuern

Aus staatlichen Mitteln rühren die Beihilfen auch dann, wenn sie durch vom Staat errich-tete oder beauftragte öffentliche oder private Einrichtungen gewährt werden, sofern eine staatliche Einflussnahme erfolgt89. Anzusprechen ist in diesem Zusammenhang die Kir-chensteuer. Als echte Steuer im Sinne des § 3 Abs. 1 S. 1 AO wird sie von einem öffent-lich-rechtlichen Gemeinwesen auferlegt. Über die Steuerverbände90 fließt sie indirekt in die Arbeit der Wohlfahrtsverbände ein und könnte daher eine Zuwendung aus staatlichen Mitteln darstellen. Gegen die Annahme, die Kirchensteuer stelle staatliche Mittel dar, spricht zum einen schon, dass die Religionsgemeinschaften weder durch den Staat errichtet noch durch An-erkennung als öffentlich-rechtliche Körperschaft in den Staat eingegliedert wurden91. Zum anderen kann die Kirchensteuer mit einem Mitgliedsbeitrag verglichen werden, der ledig-lich hoheitlich eingefordert wird92. Finanzhilfen aus privater Quelle sind aber keine staatli-chen Mittel93. Kirchensteuern stellen Eigenmittel der Religionsgemeinschaften dar, die für den Staat einen Durchlaufposten bedeuten und somit nicht seiner Kontrolle unterliegen. Hiergegen kann auch nicht eingewendet werden, dass die Erhebung und Verwaltung der

85 Ungeachtet der Möglichkeit der Überprüfung der bestehenden Beihilferegelungen der einzelnen Mitgliedstaa-

ten durch die Kommission (Art. 88 Abs. 1 S. 1 EG) obliegt es den Mitgliedstaaten gem. Art. 88 Abs. 3 S. 1 EG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 S. 1 der Verfahrensverordnung (Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 93 des EG-Vertrags, ABl. EG Nr. L 83 v. 27.3.1999, S. 1), der Kommission ihre Vorhaben zur Gewährung neuer Beihilfen mitzuteilen.

86 Mederer/Triantafyllou, in: von der Groeben/Schwarze (Fn. 60), Art. 87, Rn. 26. 87 St. Rspr. seit EuGH, Urteil vom 14.10.1987, Deutschland/Kommission, Rs. 248/84, Slg. 1987, 4013, Rn. 17;

Koenig/Kühling, Grundfragen des EG-Beihilfenrechts, NJW 2000, 1065, 1067. – An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Religionsgemeinschaften selbst ersichtlich nicht in den Beihilfegeberkreis fallen (vgl. Mederer/Triantafyllou, in: von der Groeben/Schwarze (Fn. 60), Art. 87, Rn. 24). Sie sind nur der Form nach Körperschaften des öffentlichen Rechts und daher nicht in den Staat inkorporiert, h.L. und st. Rspr. seit BVerfGE 19, 129, 133; statt vieler: Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutsch-land, 7. Aufl., 2004, Art. 4, Rn. 24 ff., Art. 137 WRV, Rn. 7 ff.

88 Vgl. § 23 BHO, § 3 Abs. 1 AO. 89 Entscheidung der Kommission 98/353/EG vom 16.09.1997 (GAV Aachen), ABl. EG Nr. L 159 v. 3.6.1998,

S. 58.; statt vieler: Bär-Bouyssière, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 87, Rn. 31 mwN. 90 Das sind katholischerseits die Diözesen, evangelischerseits die Landeskirchen, für das jüdische Bekenntnis

die Landesverbände und Großgemeinden, s. Voll (Fn. 46), S. 79; Marré (Fn. 47), § 37, S. 1117 f. 91 S. Fn. 87. 92 Weber, (Fn. 1), S. 109; Marré (Fn. 47), § 37, S. 1102, 1108. 93 Von Wallenberg, in: Grabitz/Hilf (Fn. 60), Art. 87, Rn. 37.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente EuR – Heft 4 – 2006 589

Kirchensteuer für die öffentliche Hand eine zusätzliche Belastung bedeutet94. Die Religi-onsgemeinschaften zahlen hierfür ein kostendeckendes Entgelt in Höhe von drei bis vier Prozent des Kirchensteueraufkommens95. Schließlich ändert auch die Abzugsfähigkeit der Kirchensteuer als Sonderausgabe nach § 10 Abs. 1 Nr. 4 EStG nichts an ihrer Einordnung als Eigenmittel, weil die Kirchensteuer die finanzielle Leistungsfähigkeit des Kirchenmit-glieds mindert, und die Abzugsfähigkeit insofern nur eine systemimmanente Angleichung der Bemessungsgrundlage darstellt96. Schließlich fehlt es bei der Zuweisung an die Wohl-fahrtsverbände an der Einflussnahme des Staates: Die Kirchensteuer geht zunächst in das Vermögen der jeweiligen Religionsgemeinschaft über. Erst kraft Entscheidungshoheit der Religionsgemeinschaften wird über die weitere Verteilung der Gelder im Rahmen des Haushaltsplanes der Diözesen bzw. der Landesverbände entschieden. Es handelt sich folglich um kirchliche Mittel, die mangels Beihilfegeberqualität der Religionsgemein-schaften keine Beihilfen sein können.

bb) Sonderfall: Steuerbegünstigte Spenden

Erörterungswürdig ist ferner, wie der durch eine Spende erlangte Steuervorteil eines Drit-ten beihilferechtlich zu beurteilen ist. Unter dem Gesichtspunkt, dass die Steuerschuld-verminderung die Belohnung des Staates für die Spende darstellt97, könnte der Differenz-betrag als von der öffentlichen Hand bezahlter Teil der Spende anzusehen sein98. Dann wäre zumindest ein Teil der Spende eine finanzielle Zuweisung aus staatlichen Mitteln, die über die jeweiligen gemeinnützigen Träger in die Arbeit der Wohlfahrtsverbände einflösse99. Fraglich ist zunächst, ob die Spende überhaupt künstlich in vom Spender und von der öffentlichen Hand bezahlte Beträge aufgeteilt werden kann. Richtig ist, dass der Spender im Ergebnis nur einen Teil des finanziellen Opfers zu tragen hat100. Die Spende an die gemeinnützige Einrichtung wird durch die Verminderung des Steueraufkommens beim Staat zumindest auch mittelbar von ihm getragen. Insofern liegt eine Begünstigung aus staatlichen Mitteln vor101. Nach ständiger Rechtsprechung müssen die Vergünstigungen dem Staat zuzurechnen sein102. Der Staat nimmt insoweit auf die Spendemöglichkeit Einfluss, als er festlegt, wel-che Organisationen steuerbegünstigte Spenden erhalten können103. Allerdings entscheidet

94 Vgl. EuGH, Urteil vom 17.3.1993, Sloman Neptun, verb. Rs. C-72/91 und C-73/91, Slg. 1993, I-887, Rn. 21.

– Weber, Die Kirchen und das Europäische Subventionsrecht, ZevKR 50 (2005), 419, 440, verneint mit die-sem Argument das Vorliegen einer Begünstigung.

95 Marré (Fn. 47), § 37, S. 1132. Mit diesem Argument verneinen auch Heinig, Öffentlich-rechtliche Religions-gesellschaften: Studien zur Rechtsstellung der nach Art. 137 Abs. 5 WRV korporierten Religionsgesellschaf-ten in Deutschland und in der Europäischen Union, 2003, S. 463, und de Wall, Neue Entwicklungen im Euro-päischen Staatskirchenrecht, ZevKR 47 (2002), S. 209, die Beihilfequalität der Kirchensteuer.

96 Marré (Fn. 47), § 37, S. 1133 f.; ausführlich F. Hammer, Rechtsfragen der Kirchensteuer, 2002, S. 396 ff. 97 Von Boetticher (Fn. 9), S. 92; Benicke (Fn. 5), S. 169. 98 Müller-Graff, Die Erscheinungsformen der Leistungssubventionstatbestände aus wirtschaftsrechtlicher Sicht,

ZHR 152 (1988), 412 f. 99 Spenden an Religionsgemeinschaften, die über diese in die Arbeit der Wohlfahrtsverbände einfließen, stellen

mangels Beihilfegeberqualität der Religionsgemeinschaften keine Beihilfen dar, s. zuvor unter III. I. a) aa). 100 Benicke (Fn. 66), Rn. 83. 101 Nach a.A. stellt die Abzugsfähigkeit lediglich einen Anreiz dar, vgl. Kube (Fn. 5), S. 475. 102 Zuletzt EuGH, Urteil vom 16.5.2002, Frankreich/Kommission, Rs. C-482/99, Slg. 2002, I-4397, Rn. 24. 103 Benicke (Fn. 66), Rn. 83.

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nicht er, sondern der einzelne Spender, welche gemeinnützige Einrichtung die Spende empfängt104. Der EuGH hat für die Abzugsfähigkeit im Bereich gezielter Wirtschaftsför-derung jedoch entschieden, dass „das Hinzutreten einer autonomen Entscheidung der Investoren […] den Zusammenhang zwischen der Steuervergünstigung und dem den betreffenden Unternehmen gewährten Vorteil nicht entfallen [lässt], da nach wirtschaftli-cher Betrachtungsweise die Änderung der Marktbedingungen, die diesen Vorteil bewirkt, daraus folgt, dass dem Staat Steuereinnahmen entgehen“105. Aus der Einflussnahme des Staates auf den Kreis der empfangsberechtigten Institutionen und der daraus resultieren-den Verteilungsentscheidung zu Lasten des freien Wettbewerbs wird nun gefolgert, die Spendenentscheidung sei dem Staat zuzurechnen106. Dem kann nicht uneingeschränkt zugestimmt werden. Nicht die Spendenentscheidung kann dem Staat zugerechnet werden, sondern allenfalls der finanzielle Teil der Spende, dem auf Seiten des Staates durch den Steuerabzug ein Steuerausfall gegenübersteht. Der EuGH hat lediglich klargestellt, dass die autonome Entscheidung des Spenders im Ergebnis nicht dazu führen kann, dass eine mittelbare Steuervergünstigung gänzlich als nicht „aus staatlichen Mitteln“ erbracht ange-sehen werden kann. Unten wird dann allerdings zu erörtern sein, ob der aus staatlichen Mitteln stammende Teil der Spende die Kriterien der Bestimmtheit erfüllt107.

b) Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige

aa) Begünstigtenkreis: „bestimmte Unternehmen“

i) Unternehmensbegriff

Nach der weiten Auslegung des EuGH umfasst der wettbewerbliche Unternehmensbegriff „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“ 108. Der öffentlich-rechtliche Körperschaftsstatus der Reli-gionsgemeinschaften bzw. einiger Untergliederungen spielt hier daher keine Rolle. Fraglich erscheint indes, ob die in Rede stehenden Einrichtungen der Religionsgemein-schaften eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne des Wettbewerbsrechts ausüben. Nach dem funktional verstandenen Unternehmensbegriff kommt es weder auf den Gesichts-punkt der Gewinnerzielung109, noch auf die Verfolgung eines sozialen Zwecks110, noch auf die Unentgeltlichkeit der Leistungserbringung an111. Im Ergebnis reicht aus, dass der Bei-hilfeempfänger im Wettbewerb mit anderen Unternehmen bestimmte Leistungen oder

104 Daraus folgert Isensee (Fn. 5), S. 116 f., dass Spenden keine Beihilfen seien. Zuzustimmen ist ihm zwar

insoweit, als der mittelbare Vorteil im Wettbewerb um die Einwerbung von Spenden, den der Empfänger er-langt, nicht wirtschaftlicher Natur ist. Dennoch erhält der Empfänger einen finanziellen und damit wirtschaft-lichen Vorteil, der zumindest teilweise mit einer Belastung der öffentlichen Hand korreliert (dazu sogleich).

105 EuGH, Urteil vom 19.9.2000, Kommission/Deutschland, Rs. C-156/98, Slg. 2000, I-6857, Rn. 27. 106 Von Boetticher (Fn. 9), S. 92. 107 Dazu sogleich unter III. 2. b) aa) ii). 108 EuGH, Urteil vom 23.4.1991, Höfner-Elser, Rs. C-41/90, Slg. 1991, I-1979, Rn. 21 (zu Art. 81, 82 EG). 109 H.M.: EuGH, Urteil vom 12.9.2000, Pavlov u.a., verb. Rs. C-180/98 bis C-184/98, Slg. 2000, I-6451, Rn. 117

mwN (zu Art. 81, 82 EG); statt vieler: von Wallenberg, in: Grabitz/Hilf (Fn. 60), Art. 87, Rn. 43. 110 EuGH, Urteil vom 22.1.2002, Cisal/INAIL, Rs. C-218/00, Slg. 2002, I-691, Rn. 37 (zu Art. 81, 82 EG). 111 EuGH, Urteil vom 23.4.1991, Höfner-Elser, Rs. C-41/90, Slg. 1991, I-1979, Rn. 21 (zu Art. 81, 82 EG).

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente EuR – Heft 4 – 2006 591

Güter anbietet112. Dieser Ansatz muss auch bei der Frage der beihilferechtlichen Qualität der Finanzierung des Schulunterrichtes berücksichtigt werden. Anders verhält es sich grundsätzlich nur dann, wenn eine Inanspruchnahme einer Dienstleistung von anderen als dem subventionierten Unternehmen gesetzlich ausgeschlossen ist und damit ein Wettbe-werb gar nicht zustande kommen kann113.

ii) Spezifizitätsgrundsatz

Mit dem sog. Grundsatz der Spezifizität sollen Beihilfen von Maßnahmen allgemeiner Wirtschaftsförderung oder Maßnahmen allgemeiner Infrastrukturpolitik abgegrenzt wer-den114. Unter Letztere fallen hinsichtlich der Abgrenzung zu Wirtschaftssubventionen beispielsweise allgemeine Maßnahmen zur Senkung der Arbeitskosten, die die gesamte Wirtschaft eines Mitgliedstaates begünstigen115. Bezogen auf steuerliche Vergünstigungen für Wirtschaftsunternehmen sind somit Regelungen, zu denen sämtliche Wirtschaftsunter-nehmen unter gleichen objektiven Bedingungen Zugang haben, von den Beihilferegeln ausgenommen116. Die Trennlinie zwischen Beihilfen und allgemeinen Förderungsmaßnahmen ist jedoch insbesondere im Bereich der Verschonungs- und gemeinwohlbezogenen Subventionen nur schwer zu ziehen. Es besteht die Gefahr, dass für die Beurteilung einer Maßnahme als „allgemein“ auf deren Ziele abgestellt wird117; dies verträgt sich indes nicht mit dem funk-tional ausgerichteten gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsschutz118. Soweit bestimmte Steuervergünstigungen auf Zielen sozialer Art oder der Gewerbe- oder Regionalförderung beruhen, sind sie im Rahmen von Art. 87 Abs. 1 EG grundsätzlich als Beihilfen zu behan-deln119. Eine Maßnahme könnte jedoch als allgemein qualifiziert werden, wenn der Mit-gliedstaat nachweist, dass die Maßnahme der inneren Logik des der Maßnahme zugrunde liegenden Systems entspricht120. Allgemein formuliert erhält eine begünstigende Regelung den Charakter einer allgemeinen Maßnahme, wenn sie „durch die Natur oder den inneren

112 H.M.: EuGH, Urteil vom 16.11.1995, FFSA u.a., Rs. C-244/94, Slg. 1995, I-4013, Rn. 17; Entscheidung der

Kommission 98/353/EG vom 16.09.1997 (GAV Aachen), ABl. EG Nr. L 159 v. 3.6.1998, S. 58; Mederer, in: Schröter/Jakob/Mederer (Hrsg.), Kommentar zum Europäischen Wettbewerbsrecht, 2003, Art. 87, Rn. 31.

113 So bei der Pflichtmitgliedschaft in Gesamtversorgungssystemen, vgl. EuGH, Urteil vom 17.2.1993, Poucet und Pistre, verb. Rs. C-159/91 und C-160/91, Slg. 1993, I-637, Rn. 13; hierzu Benicke (Fn. 66), Rn. 37 ff.

114 Mederer, in: von der Groeben/Schwarze (Fn. 60), Art. 87, Rn. 36. 115 Statt vieler: von Wallenberg, in: Grabitz/Hilf (Fn. 60), Art. 87, Rn. 45 mwN. 116 Vgl. Caspari (Fn. 19), S. 79. 117 Von Boetticher (Fn. 9), S. 78. 118 S. oben unter II. 1. c) bb). 119 GA Ruiz-Jarabo Colomer, EuGH, Urteil vom 19.5.1999, Italien/Kommission, Rs. C-6/97, Slg. 1999, I-2981,

Schlussanträge, Rn. 27. 120 GA Ruiz-Jarabo Colomer, EuGH, Urteil vom 19.5.1999, Italien/Kommission, Rs. C-6/97, Slg. 1999, I-2981,

Schlussanträge, Rn. 27.

592 EuR – Heft 4 – 2006 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Aufbau des Systems“ gerechtfertigt ist121 und wenn sie keine Ausnahme darstellt, die nicht systemimmanent ist122.

Verschonungssubventionen für die Verfolgung gemeinnütziger und mildtätiger Zwecke

Für den Bereich der Verschonungssubventionen wird die Bestimmtheitsanforderung teil-weise bereits aufgrund der Überlegung bejaht, dass die Steuerbefreiungen und die Berech-tigung zum Empfang steuerbegünstigter Zuwendungen an die besonderen Voraussetzun-gen der §§ 51 ff. AO anknüpfen123. Gewerblichen Dienstleistern als auch gemeinwohlori-entierten Trägern aus anderen Mitgliedstaaten bliebe aufgrund der Anknüpfung an die unbeschränkte Steuerpflichtigkeit der Zugang zu den Steuervergünstigungen versperrt. Bereits die schlichte Gegenüberstellung von inländischen gewerblichen Dienstleistern und inländischen gemeinnützigen Körperschaften wirft an dieser Stelle jedoch die grundsätzli-che Frage auf, ob die unterschiedliche Besteuerung von gemeinnützigen und gewerblichen Dienstleistern nicht der inneren Logik des Steuersystems entspricht. Zu dessen Beurtei-lung könnte auf die Sachgerechtigkeit und einer darauf aufbauenden Folgerichtigkeit der einzelnen Normen des Systems abgestellt werden124: Der deutsche Gesetzgeber hat mit den Gemeinnützigkeitsregeln die soziale und karitative, nicht aber gewinnorientierte Betä-tigung steuerrechtlich anerkennen wollen, weil Träger dieser Art den Staat von notwendi-gen Aufgaben entlasten125. Überdies können kommerzielle Unternehmen über die freie Preisgestaltung aus eigener Wirtschaftskraft existieren, während bei nichtkommerziellen Einrichtungen vielfach erst die Bezuschussung eine dauerhafte Existenz ermöglicht126. Daher soll die Steuerlast der gemeinnützigen Körperschaft im Vergleich zu einer nicht-gemeinnützigen bei grundsätzlich gleichen Rahmenbedingungen gemindert werden. Sie wird auf andere Steuersubjekte umgelegt. Mithin ist innerhalb der steuerlichen Regeln ein Gemeinnützigkeitssystem erkennbar. Für die Beurteilung der inneren Logik dieses Systems muss aber weiterhin maßgeblich sein, ob sich die Vergünstigungen auch mit der gewählten Steuerart vereinbaren lassen. So ist zwischen Begünstigungsnormen innerhalb der direkten und der indirekten Steuern zu

121 Vgl. EuGH, Urteil vom 2.7.1974, Italien/Kommission, Rs. 173/73, Slg. 1974, 709, Rn. 33/35; zuletzt Urteil

vom 8.11.2001, Adria-Wien Pipeline, Rs. C-143/99, Slg. 2001, I-8365, Rn. 42; s. auch EFTA-Gerichtshof, Urteil vom 21.7.2005, Fesil u.a., verb. Rs. E-5/04, E-6/04 und E-7/04, Rn. 64 ff., 75; vgl. Ziff. 12 der „Mittei-lung der Kommission über die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf Maßnahmen im Be-reich der direkten Unternehmensbesteuerung“, ABl. EG Nr. C 384 v. 10.12.1998, S. 3.

122 GA Darmon, EuGH, Urteil vom 17.3.1993, Sloman Neptun, verb. Rs. C-72/91 und C-73/91, Slg. 1993, I-887, Schlußanträge, Rn. 50, 53, 58, 61; zustimmend Mederer, in: Schröter/Jakob/Mederer (Fn. 112), Art. 87, Rn. 39. Einen ähnlichen Ansatz wählt die Kommission (Fn. 121), Ziff. 16: „systeminterne Differenzierun-gen“. – Die nun folgenden Ausführungen knüpfen an den aus dem Steuerrecht bekannten Gedanken der „Ko-härenz des Steuersystems“ an, hierzu Eicker (Fn. 41), S. 155 f. und ausführlich Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht. „Konvergenz“ des Gemeinschaftsrechts und „Kohärenz“ der di-rekten Steuern in der Rechtsprechung des EuGH, 2002, S. 958 ff.

123 So von Boetticher (Fn. 9), S. 94, ohne weitere Begründung; insbesondere geht er nicht an dieser Stelle, son-dern vorher im Rahmen der Prüfung der Begünstigung einem möglichen Vorliegen von „Systemen“ nach; für die Überprüfung einer Begünstigung kommt es indes nicht auf die Abgrenzung zu allgemeinen Maßnahmen an; wie hier auch Helios, Indirekte Steuern als Gegenstand des EG-Beihilfenrechts, EWS 2005, 210.

124 Vgl. Helios (Fn. 123), S. 210 mwN. 125 S. oben II. 1. c). 126 Auch die „Rückausnahme“ des wirtschaftlichen Zweckbetriebes ändert nichts an der Systemimmanenz, so

auch Isensee (Fn. 5), S. 117 f.; a.A.: von Boetticher (Fn. 9), S. 78.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente EuR – Heft 4 – 2006 593

unterscheiden127: Die teilweise oder gänzliche Verminderung der Körperschaftsteuer ist sachgerecht und folgerichtig, weil den gemeinnützigen Einrichtungen ein erzielter Gewinn belassen werden soll. Befreiungen im Bereich der Umsatzsteuer erscheinen hingegen problematisch, weil zum einen die Umsatzsteuer als Verbrauchssteuer nicht das Unter-nehmen, sondern den Endverbraucher belasten soll, und zum anderen der Umfang der gewünschten Steuerentlastung von Bedingungen abhängig ist, die unter den verschiedenen gemeinnützigen Einrichtungen zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen führen kann128. Die Kohärenz der gemeinnützigen Regeln im Bereich des Steuerrechts ist daher für jeden Einzelfall gesondert zu prüfen. Erörterungsbedürftig bleibt, dass ein gemeinnütziges Unternehmen eines anderen Mit-gliedstaates, das in Deutschland nach § 2 Nr. 1 KStG beschränkt körperschaftsteuerpflich-tig ist und daher mit seinen inländischen Einkünften der Körperschaftsteuer unterliegt, gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG nicht von den Steuerbegünstigungen profitieren kann129. Dies ist bedenklich, weil ausländische gemeinnützige Anbieter ebenso zur Erfüllung staat-licher Aufgaben im sozialen Bereich beitragen, und es insofern nur sachgerecht und folge-richtig erscheint, auch ihnen die steuerlichen Vergünstigungen zukommen zu lassen. Dann müsste das Vorliegen einer allgemeinen Maßnahme bei solchen steuerlichen Vergünsti-gungen verneint werden, von denen nur bestimmte gemeinnützige Dienstleister, nämlich inländische, profitieren. Auf Vorlage des BFH wird der EuGH demnächst darüber ent-scheiden müssen, ob auch ausländische gemeinnützige Körperschaften mit Sitz in der EU die Steuerfreiheit für inländische Einkünfte aufgrund der Gemeinnützigkeit beanspruchen können130. Sollte der EuGH die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des Ausschlusses von ausländischen Körperschaften von solchen Steuervergünstigungen bejahen131, wird der Gesetzgeber gezwungen sein, die Gemeinnützigkeitsregeln entsprechend anzupassen132. Das Vorliegen von systemimmanenten Ausnahmen muss aber in jedem Fall für jede ein-zelne steuerliche Begünstigung überprüft werden133.

Verschonungssubventionen für die Verfolgung kirchlicher Zwecke

Eine vom bisher Gesagten zu trennende Überlegung bezieht sich auf Einrichtungen, die nicht gemeinnützige (oder mildtätige), sondern kirchliche Zwecke verfolgen134. Mögli-cherweise ließe sich die Einordnung dieser Steuerbegünstigung als systemimmanente Ausnahme dadurch begründen, dass solche Einrichtungen Religionsgemeinschaften unter-

127 So auch Isensee (Fn. 5), S. 118. 128 Beispielhaft Helios (Fn. 123), 211 f.: Verlust des Vorsteuerabzuges bei Umsatzsteuerbefreiungen. 129 Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) bleiben selbstverständlich außen vor. Nach Schauhoff, in: ders.

(Fn. 2), § 5, Rn. 16 mit Fn. 51, sehen neuere DBA Steuervergünstigungen für solche Einrichtungen vor, die sowohl in ihrem Sitzstaat steuerbefreit sind, als auch hier steuerbefreit wären, wenn sie hier ansässig wären.

130 BFH, Beschluss vom 14.7.2004, BB 2004, 2338 ff. mit zust. Anm. Helios/Müller, BB 2004, 2332. Nach Ansicht des BFH ist „die unterschiedliche Behandlung gebietsansässiger und gebietsfremder gemeinnütziger Stiftungen infolge des Kohärenzgrundsatzes“ nicht mehr gerechtfertigt, weil die Steuerbefreiung an den Um-stand der beschränkten Steuerpflicht anknüpft (S. 2341). – Die Rechtssache läuft unter Nr. C-386/04.

131 So schon Helios (Fn. 66), S. 1987: Verstoß gegen Art. 43 und 49/50 EG. – A.A.: Vorinstanz FG München, EFG 2003, 481 ff., das die Wirksamkeit der Steueraufsicht und -kontrolle im Inland gefährdet sieht.

132 S. hierzu Kube (Fn. 5), S. 474. – Dass dies politisch möglich ist, zeigt sich an Art. 21 DBA-Frankreich. 133 Der EuGH hat solche Ausnahmen für den Bereich der Wirtschaftssubventionen bereits verneint, vgl. Urteil

vom 19.9.2000, Kommission/Deutschland, Rs. C-156/98, Slg. 2000, I-6857, Rn. 23. 134 Sofern diese Vergünstigungsvorschriften nicht, wie unter III. 1. a) angesprochen, als von den Bestandteilen

des Status der Religionsgemeinschaften nach der Amsterdamer Protokollerklärung erfasst angesehen werden.

594 EuR – Heft 4 – 2006 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

stützen, deren öffentlich-rechtlicher Körperschaftsstatus verfassungsrechtlich normiert ist. Es handelt sich damit nicht mehr nur um ein System von miteinander verbundenen steuer-rechtlichen Normen des Gemeinnützigkeitsrechts, sondern eines, das die Stellung be-stimmter Religionsgemeinschaften auf besondere Weise fördert und im Gegenzug auf die hervorgehobene öffentliche Wirksamkeit religiösen Lebens und dessen Wichtigkeit für die Gesellschaft zurückgreift. Dabei spielt neben dem öffentlich-rechtlichen Körperschaftssta-tus die Bedeutung, die der Staat den Religionsgemeinschaften damit zumisst, eine Rolle: Mit der Verleihung dieses Status sollten sich die Religionsgemeinschaften in einer „idea-len, kulturbedeutsamen und staatsrechtlichen Höhe“ wieder finden, in der die Wertschät-zung der sozialen Kräfte der Religion und ihre Bedeutung für das öffentliche Leben zum Ausdruck kommt135. Sofern das Vorliegen eines solchen Systems bejaht würde, könnten die Steuervergünstigungen für die Verfolgung kirchlicher Zwecke als allgemeine Maß-nahmen zu qualifizieren sein. Gleichwohl knüpfen auch diese Steuervergünstigungen an die unbeschränkte Körperschaftsteuerpflicht an, so dass gegenwärtig nur bestimmte, näm-lich inländische Einrichtungen, privilegiert werden136.

Gemeinwohlbezogene Subventionen

Die Abgrenzung nach dem Spezifizitätsgrundsatz ist vor allem im Bereich der gemein-wohlbezogenen Subventionen nicht einfach zu treffen. Fraglich ist beispielsweise, ob die Förderung von Altenheimen zur Infrastruktur eines Landes zählt oder dergestalt selektiv ist, dass nur solche Einrichtungen in den Genuss der Subventionen kommen, die bestimm-te objektive Anforderungen erfüllen. Bei der Beantwortung dieser Frage muss der Begriff der Infrastruktur zurückhaltend ausgelegt werden137. Wie bei den Verschonungssubventio-nen ist auch hier eine einzelfallweise Klärung erforderlich, ob in sich kohärente Systeme vorliegen138.

Sonderfall: Steuerbegünstigte Spenden

Schließlich ist bezüglich der Problematik steuerbegünstigter Spenden an dieser Stelle zu untersuchen, ob der Teil einer Spende, der auf Seiten des Staates durch die Steuerabzugs-möglichkeit einen Steuerausfall bewirkt und daher als „aus staatlichen Mitteln“ stammend qualifiziert wurde139, dem Bestimmtheitserfordernis genügt. Denn der Staat leistet zwar, bestimmt jedoch nur im Ansatz: Die Entscheidung, welchen gemeinnützigen Einrichtun-gen die Spende zuteil wird, trifft der Spender im steuerrechtlichen Sinne. Der Staat be-stimmt nur, unter welchen Voraussetzungen eine Spende als solche qualifiziert wird, und welche Einrichtung grundsätzlich in den Empfängerkreis fällt140. So hierin eine Bestim-mung im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EG erblickt werden kann, erfüllt dies auch hier die Anforderungen an ein kohärentes Gemeinnützigkeitssystem. Im Ergebnis stellt eine Spen-de keine Beihilfe dar.

135 Abgeordneter Mausbach, Bericht des Verfassungsausschusses, in: Verhandlungen der verfassunggebenden

deutschen Nationalversammlung, Band 336, Anlagen zu den stenographischen Berichten, Ds. Nr. 391. 136 Das zu erwartende Urteil des EuGH (s. oben Fn. 130) hat insoweit auch hier Bedeutung. 137 Caspari (Fn. 19), S. 79; ähnlich Benicke (Fn. 5), S. 170. 138 So z.B., ob nicht auch die Förderung der nationalen Bildungssysteme allgemeine Maßnahmen darstellt. 139 S. zuvor unter III. 2. a) bb). 140 S. Fn. 103.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente EuR – Heft 4 – 2006 595

iii) Zwischenergebnis

Nach alledem handelt es sich immer dann um Unternehmen im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EG, wenn die in Rede stehenden Dienstleister im Wettbewerb mit gewinnorientier-ten Anbietern stehen141. Spenden unterliegen nicht der Beihilfekontrolle. Ob die Finanzie-rung von Einrichtungen nationaler Bildungssysteme, der allgemeinen Wohlfahrtspflege und die Regelungen über Steuervergünstigungen dem Bestimmtheitserfordernis genügen, muss unter Berücksichtigung der Möglichkeit des Vorliegens von kohärenten Systemen für jeden Einzelfall gesondert festgestellt werden. Der in der Literatur bislang vernachläs-sigte Spezifizitätsgrundsatz könnte sich jedoch als Schlüssel zum Tor für die Ausnahme-stellung eines kohärenten nationalen Daseinsvorsorgesystems erweisen.

bb) Begünstigung

Kern der Beihilfe ist die Begünstigung des Beihilfeempfängers142, d.h. ein wie auch immer gearteter geldwerter Vorteil, der ihm gegenüber seinen Mitbewerbern einen Wettbewerbs-vorteil verschafft143. Als Beihilfen gelten in dieser Hinsicht „Maßnahmen gleich welcher Art, die mittelbar oder unmittelbar Unternehmen begünstigen oder die als ein wirtschaftli-cher Vorteil anzusehen sind, den das begünstigte Unternehmen unter normalen Marktbe-dingungen nicht erhalten hätte“144. Wesentliches Merkmal des geldwerten Vorteils ist somit dessen Einseitigkeit, also die fehlende marktübliche Gegenleistung des Beihilfeemp-fängers145. Soweit einzelne Untergliederungen von Religionsgemeinschaften im Rahmen von Wirt-schaftssubventionen unterschiedslos zu anderen Unternehmen gefördert werden, sind diese Zuwendungen in vollem Umfang der Beihilfekontrolle unterworfen. Hier ist regelmäßig ein wirtschaftlicher Vorteil gegeben; die erwerbswirtschaftliche Betätigung solcher Unter-gliederungen unterscheidet sich nicht von derjenigen anderer Unternehmen146. Bei Verschonungs- und gemeinwohlbezogenen Subventionen ist die Feststellung des wirtschaftlichen Vorteils an sich zunächst unproblematisch: Durch Minderung der Steuer-bemessungsgrundlage oder vollständige oder teilweise Ermäßigung des Steuerbetrags147, bzw. durch Gewährung von staatlichen Zuschüssen verringern sich die Belastungen, die die entsprechenden Einrichtungen normalerweise zu tragen hätten. Fraglich ist indes die Einseitigkeit der finanziellen Leistungen, also ob den finanziellen Leistungen der öffentli-chen Hand Gegenleistungen gegenüberstehen. Nach neuerer Rechtsprechung wird die Beihilfequalität von Zuwendungen an Einrichtungen, die die öffentliche Hand gewährt, weil sie die Einrichtung mit einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Inte-resse betraut hat, auf der Tatbestandsebene geprüft.

141 Im Ergebnis auch Weber (Fn. 1), S. 96, Mederer, in: Schröter/Jakob/Mederer (Fn. 112), Art. 87, Rn. 31;

Heinig (Fn. 82), S. 150 f.; Benicke (Fn. 66), Rn. 36; von Wallenberg, in: Grabitz/Hilf (Fn. 60), Art. 87, Rn. 43. 142 Ausführlich zur Begünstigung Rodi (Fn. 16), S. 154 ff. 143 Oldiges (Fn. 73), S. 281; von Wallenberg, in: Grabitz/Hilf (Fn. 60), Art. 87, Rn. 12. 144 St. Rspr., zuletzt EuGH, Urteil vom 24.7.2003, Altmark Trans, Rs. C-280/00, Slg. 2003, I-7747, Rn. 84. 145 So schon Müller-Graff (Fn. 98), S. 412 f.; Mederer/van Ysendyck, in: von der Groeben/Schwarze (Fn. 60),

Art. 87, Rn. 6. 146 Vgl. EuGH, Urteil vom 23.1.1997, St. Martinus/Landwirtschaftskammer Rheinland, Rs. C-463/93, Slg. 1997,

I-255; Urteil vom 23.11.1995, Dominikanerinnen-Kloster Altenhohenau, Rs. C-285/93, Slg. 1995, I-4069. 147 Vgl. Mitteilung der Kommission (Fn. 121), Ziff. 9.

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i) Ausgleichszahlungen

Gewährt die öffentliche Hand eine Zahlung zum Ausgleich von finanziellen Nachteilen, die mit der Erfüllung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse verbunden sind, führt dies eigentlich zu einer Prüfung der besonderen Voraussetzungen von Art. 86 Abs. 2 EG. Der EuGH hat im Urteil Altmark Trans die Prüfung der Tatbe-standsvoraussetzungen dieser Bereichsausnahmevorschrift, die an die Betrauung des be-günstigten Unternehmens mit einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse anknüpft, in die Prüfung des Beihilfemerkmals der Begünstigung herübergezo-gen148, ohne Art. 86 Abs. 2 EG namentlich überhaupt zu erwähnen149. Danach sind Aus-gleichszahlungen an mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraute Unternehmen, die nicht über das hinausgehen, was zur Deckung der sich aus der Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung ergebenden Kosten erforderlich ist, keine Bei-hilfen im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EG150. Die Bedeutung des Urteils liegt in seiner verfah-rensrechtlichen Konsequenz: Staatliche Zahlungen, die die im Urteil Altmark Trans detail-liert beschriebenen vier Anforderungen erfüllen, unterliegen nicht der Notifizie-rungspflicht. Nach früherer Rechtsprechung waren solche Zahlungen Beihilfen und muss-ten daher angemeldet werden151. Auf die wesentliche Kritik am Altmark Trans-Urteil ist hier nicht näher einzugehen152. Entscheidend ist, dass nach derzeitiger EuGH-Rechtsprechung zu Ausgleichszahlungen auf eine Prüfung des Art. 86 Abs. 2 EG vollständig verzichtet wird153. Für die Frage nach der Beihilfequalität von Ausgleichszahlungen an Religionsgemeinschaften und deren Untergliederungen sind dabei die ersten drei Voraussetzungen des Altmark-Trans-Urteils besonders bedeutsam, namentlich die Anforderungen an die Betrauung mit einer Dienst-leistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse und die Voraussetzungen an Höhe und Berechnung der Ausgleichszahlung154. Nach der zu Art. 86 Abs. 2 EG ergangenen Rechtsprechung sind diese Voraussetzungen eng auszulegen155.

Betrauung mit einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse

Der EuGH hat den Begriff der Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse bisher nicht definiert. Die Kommission fasst hierunter marktbezogene Tätigkeiten, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Mitgliedstaaten mit besonderen

148 EuGH, Urteil vom 24.7.2003, Altmark Trans, Rs. C-280/00, Slg. 2003, I-7747, Rn. 87 ff. 149 Wernicke, Die Wirtschaftsverfassung der Gemeinschaft zwischen gemeinwirtschaftlichen Diensten und

Wettbewerb, oder: Wer hat Angst vor Art. 86 II EG?, EuZW 2003, 481, spricht von einer Wiederbelebung der Kriterien des Art. 86 Abs. 2 EG; kritisch Jennert, Finanzierung und Wettbewerb in der Daseinsvorsorge nach Altmark Trans, NVwZ 2004, 426.

150 Der EuGH benennt insgesamt vier Voraussetzungen, s. Urteil vom 24.7.2003, Altmark Trans, Rs. C-280/00, Slg. 2003, I-7747, Rn. 87 ff. Vgl. auch EuGH, Urteil vom 7.2.1985, Altöle, Rs. 240/83, Slg. 1985, 531, Rn. 18, und Urteil vom 22.11.2001, Ferring SA/ACOSS, Rs. C-53/00, Slg. 2001, I-9067, Rn. 23 ff.

151 So zuletzt noch EuG, Urteil vom 10.5.2000, SIC, Rs. T-46/97, Slg. 2000, II-2125. 152 Vgl. statt vieler: von Wallenberg, in: Grabitz/Hilf (Fn. 60), Art. 87, Rn. 21 ff., Jennert (Fn. 149), S. 425 ff.;

Meyer (Fn. 5), S. 198 f.; ausführlich Britz, Finanzielle Direkthilfen für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, ZHR 169 (2005), 370, 381 ff., 386 ff.

153 Die Bereichsausnahmevorschrift bleibt allerdings weiterhin anwendbar, vgl. Bauer, Rechtssicherheit bei der Finanzierung gemeinwirtschaftlicher Leistungen? – Zum Verhältnis zwischen Art. 87 I EG und Art. 86 II EG nach der Altmark-Entscheidung des EuGH, EuZW 2006, 7 ff., 10.

154 Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, wäre auch Art. 86 Abs. 2 EG nicht gegeben. 155 Vgl. EuGH, Urteil vom 23.10.1997, Kommission/Niederlande, Rs. C-157/94, Slg. 1997, I-5699, Rn. 37.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente EuR – Heft 4 – 2006 597

Gemeinwohlverpflichtungen verbunden werden156. Dabei sind mit marktbezogenen Tätig-keiten solche gemeint, die gegen Entgelt oder im Wettbewerb erbracht werden. Den Mit-gliedstaaten steht bei der Frage, welche Leistungen als Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse anzusehen sind, ein weiter Ermessensspielraum zu157. Für die in Rede stehenden gemeinwohlorientierten Einrichtungen und Dienste der Religionsgemein-schaften kommt es daher insbesondere auf den Betrauungsakt an. Die Betrauung kann aus Gesetzen, Verordnungen, Verträgen hervorgehen oder durch Mandat erteilt werden; aus dem Betrauungsakt muss insbesondere die genaue Art und Dauer der Gemeinwohlverpflichtung, das jeweils beauftragte Unternehmen und der geo-graphische Geltungsbereich hervorgehen158. Der Akt selbst könnte bei den geborenen Religionsgemeinschaften spätestens in der entsprechenden Positivierung in Art. 137 Abs. 5 S. 1 WRV (i.V.m. Art. 140 GG), bei den gekorenen Religionsgemeinschaften in der Verleihung der Körperschaftsrechte nach Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV (i.V.m. Art. 140 GG) liegen und sich auf deren Untergliederungen erstrecken. Religionsgemein-schaften bzw. deren Untergliederungen nehmen ihre Aufgaben grundsätzlich aus eigenem – religiösen – Antrieb wahr, ohne dazu vom Staat beauftragt worden zu sein. Nach Sinn und Zweck der Bereichsausnamevorschrift kann es aber nicht darauf ankommen, ob sich der Staat erst im Nachhinein eine Tätigkeit der betreffenden Religionsgemeinschaft zu Eigen macht, die von Anfang an bestand. Eine Aufgabenübertragung durch Betrauung wäre somit denkbar. Aus Gründen der Rechtskontrolle setzt das Begriffsmerkmal der Betrauung jedoch eine klare Definition der Aufgabenübertragung voraus159. Zweifelhaft ist, ob die formell-abstrakte Anerkennung als öffentlich-rechtliche Körperschaft hierfür ausreicht. Der EuGH verlangt zumindest eine konkrete Verpflichtung. Diese könnte z.B. in der Aufnahme einer Einrichtung in den Krankenhausplan nach §§ 6 und 8 KHG gese-hen werden160 oder z.B. in der Normierung in § 4 SGB VIII und § 5 SGB XII. Eine zeitli-che Beschränkung des Betrauungsaktes wird hingegen nicht gefordert161.

Berechnung und Höhe der Ausgleichszahlung

Wichtiger als die Frage der Betrauung ist die der Regelung der Ausgleichszahlung an sich. Die Mitgliedstaaten können selbst entscheiden, „welches System sie zur Finanzierung der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse einsetzen möchten“162. Jedoch sind die Para-

156 S. KOM(2000) 580 endg. (Fn. 76), Anhang II; zuletzt KOM(2003) 270 endg., Grünbuch zu Dienstleistungen

von allgemeinem Interesse vom 21.05.2003, Rn. 16. S. auch die Mitteilung über Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse, KOM(2006) 177 endg. vom 26.4.2006, die unter Punkt 1.1 eine Aufzählung von Sozi-aldienstleistungen enthält.

157 Erwägungsgrund Nr. 7 der „Entscheidung der Kommission vom 28.11.2005 über die Anwendung von Artikel 86 Absatz 2 EG-Vertrag auf staatliche Beihilfen, die bestimmten mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betrauten Unternehmen als Ausgleich gewährt werden“, ABl. EU Nr. L 312 v. 29.11.2005, S. 67; Gemeinschaftsrahmen für staatliche Beihilfen, die als Ausgleich für die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen gewährt werden, ABl. EU Nr. C 297 v. 29.11.2005, S. 4, Rn. 9.

158 Vgl. Art. 4 der Entscheidung der Kommission (Fn. 157); Gemeinschaftsrahmen (Fn. 157), Rn 11 f. 159 EuGH, Urteil vom 24.7.2003, Altmark Trans, Rs. C-280/00, Slg. 2003, I-7747, Rn. 89; bestätigt im Urteil

vom 27.11.2003, Enirisorse SpA, verb. Rs. C-34/01 bis C-38/01, Slg. 2003, I-14243, Rn. 32 ff. 160 Vgl. Heinig (Fn. 82), S. 152. 161 Vgl. Art. 4 der Entscheidung der Kommission (Fn. 157); Gemeinschaftsrahmen (Fn. 157), Rn 12; a.A. noch

Pernice/Wernicke, in: Grabitz/Hilf (Fn. 60), Art. 86, Rn. 41 mwN. 162 Grünbuch (Fn. 156), Rn. 88.

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meter zur Berechnung des Ausgleichs zuvor objektiv und transparent aufzustellen163. Damit meint der EuGH nicht die Höhe der Ausgleichszahlung noch vor der Erfüllung, sondern nimmt Bezug auf die Definition der gemeinwirtschaftlichen Dienstleistungen164. Fraglich ist, ob hierfür bereits Auflistungen in Haushaltsplänen o.ä. ausreichen. Aus Gründen der Transparenz verlangt der EuGH detaillierte Angaben der entsprechenden Tätigkeit zur Berechnung des Ausgleichs165. Bei Steuervergünstigungen ist dies problema-tisch: Eine Rechnungsaufstellung erscheint nahezu undenkbar166. Schließlich „darf der Ausgleich nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die Kosten der Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen unter Berücksichtigung der dabei erzielten Einnahmen und eines angemessenen Gewinns aus der Erfüllung dieser Verpflichtungen ganz oder teilweise zu decken“167.

ii) Gegenleistung für die Entlastung von Aufgaben des Gemeinwohls

Liegen die Voraussetzungen des Altmark-Trans-Urteils nicht vor, ist fraglich, ob die verbleibenden Verschonungssubventionen und gemeinwohlbezogenen Subventionen gegenüber den sozial-karitativen Trägern der Religionsgemeinschaften, die nicht an einen konkreten Leistungsaustausch anknüpfen, dann den Tatbestand der Begünstigung erfüllen. Denn diese Zuwendungen stellen möglicherweise nicht ohne Weiteres wirtschaftliche Vorteile dar. Sie könnten als Entgelt dafür anzusehen sein, dass die öffentliche Hand die sozial-karitative Aufgabe nicht selbst wahrnehmen muss168. Durch die Übernahme dieser unprofitablen Einrichtungen durch kirchliche Träger erspart sie sich den Aufbau der ent-sprechenden „Infrastruktur“. Problematisch hieran ist, dass die Beurteilung von Leistung und Gegenleistung nicht vor dem Hintergrund normaler Marktbedingungen betrachtet werden kann, wie das sonst der Fall wäre169. Es fehlt an der Vergleichbarkeit bzw. daran, dass diese nur schwer bezifferbar ist. Zweifelhaft ist die Entgeltlichkeit der Subvention, weil die sozialen Einrichtungen und Dienste der Religionsgemeinschaften ihre Dienstleis-tungen weder aufgrund der Subventionierung erbringen, sondern aufgrund religiöser Mo-tivation, die sich zu einer Tradition verselbständigt hat, noch subventioniert die öffentliche Hand, weil kirchliche Träger sie von ihren öffentlichen Aufgaben entlasten. Auch die Finalität der Subventionierung, nämlich der Wunsch der öffentlichen Hand, die kirchli-chen Träger mögen sie weiterhin von der Notwendigkeit, sich unprofitabler Agenden anzunehmen, freistellen, ist für das Vorliegen eines wirtschaftlichen Vorteils ebenfalls ohne Bedeutung. Daher ist auf dem Markt der sozial-karitativen Dienstleistungen die entsprechende Subvention nicht als Entgelt für die Tatsache der Leistungserbringung durch den sozial-karitativen Träger, sondern als Bezuschussung desselben in Höhe eines Bruchteils der Leistung zu werten. Eine Begünstigung liegt damit vor.

163 EuGH, Urteil vom 27.11.2003, Enirisorse SpA, verb. Rs. C-34/01 bis C-38/01, Slg. 2003, I-14243, Rn. 35 ff. 164 Von Wallenberg, in: Grabitz/Hilf (Fn. 60), Art. 87, Rn. 29. 165 EuGH, Urteil vom 27.11.2003, Enirisorse SpA, verb. Rs. C-34/01 bis C-38/01, Slg. 2003, I-14243, Rn. 37. 166 Vgl. von Boetticher (Fn. 9), S. 91. 167 EuGH, Urteil vom 24.7.2003, Altmark Trans, Rs. C-280/00, Slg. 2003, I-7747, Rn. 92. Die Kommission

erachtet eine Überkompensierung in Höhe von 10 % unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig, s. Art. 6 Abs. 2 S. 2 der Entscheidung der Kommission (Fn. 157), Gemeinschaftsrahmen (Fn. 157), Rn 17 ff., im Be-reich des sozialen Wohnungsbaus in Höhe von 20 % (Art. 6 Abs. 3 S. 2 der Entscheidung).

168 So Isensee (Fn. 27), S. 97. In diese Richtung deutet auch Vachek, Das Religionsrecht der Europäischen Union im Spannungsfeld zwischen mitgliedstaatlichen Kompetenzreservaten und Art. 9 EMRK, 2000, S. 372.

169 Vgl. Koenig/Kühling (Fn. 87), S. 1066, Oldiges (Fn. 73), S. 281 mwN.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente EuR – Heft 4 – 2006 599

iii) Zwischenergebnis

Nach neuerer Rechtsprechung ist zu prüfen, ob es sich bei den Zuwendungen um einen Ausgleich für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen handelt, mit deren Erfüllung soziale Einrichtungen der Religionsgemeinschaften zuvor betraut werden mussten. Erfolgte keine Betrauung, wurden die Anforderungen an die gemeinwirtschaftliche Verpflichtung nicht definiert oder übersteigt die Ausgleichszahlung die Kosten der Erfüllung, ist nach neuerer Rechtsprechung ein wirtschaftlicher Vorteil und damit eine Begünstigung gegeben.

c) Wettbewerbsverfälschung

Die Prüfung einer Wettbewerbsverfälschung setzt voraus, dass sich dieser Wettbewerb der Vergleichbarkeit halber auf einem abgrenzbaren Markt abspielt170. Eine Wettbewerbsver-fälschung kann zwischen rein erwerbswirtschaftlichen Unternehmen untereinander, aber auch zwischen ihnen und gemeinnützigen Einrichtungen, sowie unter nationalen Beihil-fenempfängern vorliegen171. Ein innergemeinschaftliches Tätigwerden des Begünstigten ist nicht erforderlich172; es reicht aus, wenn in seinem lokalen Tätigkeitsbereich innerge-meinschaftlicher Wettbewerb stattfindet bzw. stattfinden könnte173. Für den Nachweis einer Wettbewerbsverfälschung stellt der EuGH auf die Wettbewerbs-lage ab, „die vor Erlass der strittigen Maßnahme auf dem gemeinsamen Markt bestand“174. Für Wirtschaftssubventionen, die seit Bestehen des gemeinsamen Marktes den gleichen Notifizierungsregeln unterliegen, mag dieser Ansatz unproblematisch sein. Allerdings ist gerade bezüglich des Marktes der gemeinnützigen Dienstleistungen, auf dem in der Ver-gangenheit nicht das Hauptaugenmerk der Kommission lag, davon auszugehen, dass in Deutschland viele Fördermaßnahmen seit Jahrzehnten bestehen und insofern eine Ver-gleichbarkeit „vorher/nachher“ schlechterdings möglich erscheint. Schließlich mag im Einzelfall ein Wettbewerbsverhältnis aufgrund der Beihilfepraxis der Vergangenheit erst gar nicht zustande gekommen sein175. Für beide Fälle ist allerdings der Nachweis der potentiellen Verfälschung („zu verfälschen drohen“) eines tatsächlich bestehenden oder möglicherweise im Entstehen begriffenen Wettbewerbsverhältnisses ausreichend176; der Begriff der „Verfälschung“ ist im Übrigen weit auszulegen, um den Wettbewerb bestmög-lich zu schützen177. Fraglich ist schließlich, ob die Wettbewerbsverfälschung eine bestimmte Intensität errei-chen muss178. Hinzuweisen ist auf die de-minimis-Verordnung179, in der bestimmte

170 Zum Begriff „Markt“ oben unter III. 1. b) aa). – So weisen Kuchinke/Schubert, Beihilfen und Krankenhäuser,

WuW 2002, 712, 716, bspw. auf den weit reichenden Einfluss von Beihilfen auf den Markt der Krankenhaus-leistungen hin, auf dem in sachlicher Hinsicht zwischen unterschiedlichen Erkrankungen und Behandlungen, dem niedergelassenen Ärztebereich, den nachstationären Leistungen etc. differenziert werden muss.

171 Von Wallenberg, in: Grabitz/Hilf (Fn. 60), Art. 87, Rn. 54. 172 Mederer, in: von der Groeben/Schwarze (Fn. 60), Art. 87, Rn. 42. 173 EuGH, Urteil vom 17.6.1999, Belgien/Kommission, Rs. C-75/97, Slg. 1999, I-3671, Rn. 49. 174 EuGH, Urteil vom 2.7.1974, Italien/Kommission, Rs. 173/73, Slg. 1974, 709, Rn. 36/40. 175 Von Wallenberg, in: Grabitz/Hilf (Fn. 60), Art. 87, Rn. 54; Benicke (Fn. 66), Rn. 85. 176 Mederer, in: von der Groeben/Schwarze (Fn. 60), Art. 87, Rn. 42 f. 177 Von Wallenberg, in: Grabitz/Hilf (Fn. 60), Art. 87, Rn. 52. 178 Str., bejahend EuGH, Urteil vom 7.3.2002, Italien/Kommission, Rs. C-310/99, Slg. 2002, I-2289, Rn. 89.

600 EuR – Heft 4 – 2006 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Schwellenwerte normiert sind, unterhalb derer eine Beihilfe nach Art. 87 Abs. 1 EG nicht vorliegt, weil davon ausgegangen wird, dass der Wettbewerb in diesem Bereich kaum verzerrt wird180. Oberhalb dieser Schwellenwerte ist eine Wettbewerbsverfälschung in aller Regel gegeben, weil jede Zuwendung eines finanziellen Vorteils an ein Unternehmen dessen Situation im Wettbewerb verbessert. Dies gilt uneingeschränkt auch für gemein-wohlbezogene Einrichtungen181.

d) Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels

Die Beihilfe muss kausal für die Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitglied-staaten sein182. Liegt eine Wettbewerbsverfälschung vor, spricht eine Vermutung für die Handelsbeeinträchtigung183. Das Kriterium der Zwischenstaatlichkeit ist erfüllt, wenn sich der Handel nicht auf einen regionalen oder lokalen Markt beschränkt, sondern Angebot oder Nachfrage in dem relevanten Markt grenzüberschreitend sind184. Dies ist allerdings selbst in Grenzregionen nicht ohne Weiteres der Fall185 und für jeden Einzelfall gesondert darzutun186. Hervorzuheben ist hier die neuerliche Bekräftigung des EuGH, dass weder der verhältnis-mäßig geringe Umfang einer Beihilfe, noch die verhältnismäßig geringe Größe des be-günstigten Unternehmens von vorneherein die Möglichkeit einer Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten ausschließen187. Der Gerichtshof hat immer wieder betont, dass eine öffentliche Bezuschussung dazu führt, dass der Begünstigte seine Positi-on zumindest behalten, wenn nicht gar ausbauen kann, so dass dadurch die Chancen ande-rer, ausländischer Konkurrenten, sich auf dem regionalen oder lokalen Markt erfolgreich zu betätigen, verringern188.

179 Verordnung (EG) Nr. 69/2001 der Kommission vom 12. Januar 2001 über die Anwendung der Artikel 87 und

88 EG-Vertrag auf „De-minimis“-Beihilfen, ABl. EG Nr. L 10 v. 13.01.2001, S. 30. Hierunter fallen haupt-sächlich Zuschüsse an ein Unternehmen, die eine Gesamtsumme von nicht mehr als 100.000 Euro innerhalb eines Zeitraumes von drei Jahren nicht übersteigen, Art. 2 II VO. Dieser Betrag wird nun nach dem letzten Entwurf einer neuen Verordnung auf 200.000 Euro verdoppelt (ABl. EU Nr. C 137 v. 10.6.2006, S. 4).

180 Mederer/Strohschneider, in: von der Groeben/Schwarze (Fn. 60), Art. 87, Rn. 52. 181 Ebenso von Boetticher (Fn. 9), S. 97; Benicke (Fn. 66), Rn. 84. 182 Mederer/Strohschneider, in: von der Groeben/Schwarze (Fn. 60), Art. 87, Rn. 50. 183 Entscheidung der Kommission 89/254/EWG vom 15.11.1988 (SA Belgian Shell), ABl. EG Nr. L 106 v.

18.4.1989, S. 34. 184 Benicke (Fn. 66), Rn. 86. 185 Entscheidung der Kommission N 258/00 vom 21.12.2000 (Freizeitbad Dorsten), Pressemitteilung IP/00/1509

v. 21.12.2000 (grenzüberschreitender Handel verneint); Entscheidung der Kommission 98/353/EG vom 16.09.1997 (GAV Aachen), ABl. EG Nr. L 159 v. 03.06.1998, S. 62 (grenzüberschreitender Handel bejaht).

186 S. Fn. 4; von Boetticher (Fn. 9), S. 98 f. zu einzelnen Beispielen; Benicke (Fn. 66), Rn. 88 mwN. 187 EuGH, Urteil vom 24.7.2003, Altmark Trans, Rs. C-280/00, Slg. 2003, I-7747, Rn. 78; zuletzt Urteil vom

15.6.2006, Air Liquide Industries, verb. Rs. C-393/04 und C-41/05, Rn. 36; zustimmend von Wallenberg, in: Grabitz/Hilf (Fn. 60), Art. 87, Rn. 50. Für eine Spürbarkeitsüberprüfung Mederer/Strohschneider, in: von der Groeben/Schwarze (Fn. 60), Art. 87, Rn. 49.

188 Zuletzt EuGH, Urteil vom 24.7.2003, Altmark Trans, Rs. C-280/00, Slg. 2003, I-7747, Rn. 78.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente EuR – Heft 4 – 2006 601

3. Vereinbarkeit von Beihilfen nach Art. 87 Abs. 2 und Abs. 3 EG

a) Vereinbare Beihilfen nach Art. 87 Abs. 2 lit. a) EG

Nachdem Art. 87 Abs. 2 lit. b und lit. c EG als Vereinbarkeitsnormen ersichtlich irrelevant sind, könnten einzelne Verschonungs- oder gemeinwohlbezogene Subventionen nach Art. 87 Abs. 2 lit. a EG erlaubt sein. Dazu müssten sie zum einen als Beihilfen sozialer Art an einzelne Verbraucher einzustufen sein, und zum anderen müsste das Diskriminierungs-verbot beachtet werden. Während allgemeine staatliche Sozialmaßnahmen wegen des Spezifizitätsgrundsatzes schon nicht unter Art. 87 Abs. 1 EG fallen189, kommen hier sol-che Subventionen in Betracht, die sich zwar an Unternehmen i.S.d Art. 87 Abs. 1 EG richten, die begünstigende Wirkung in Form von entgeltfreier oder verbilligter Dienstleis-tung jedoch mittelbar beim Dienstleistungsempfänger eintritt190. Auch dürfen nicht die gesamte Bevölkerung oder große Bevölkerungsgruppen von den Maßnahmen betroffen sein („Einzelne“). Die Vereinbarkeit der genannten Subventionen mit dem gemeinsamen Markt scheitert hier jedoch am Diskriminierungsverbot: Bezüglich der Subventionsmaß-nahmen darf nicht nach der Herkunft der Dienstleistungen191 unterschieden werden. Genau das ist aber zumindest bei den Steuervergünstigungen, die nur unbeschränkt steuerpflich-tigen Körperschaften gewährt werden, der Fall192.

b) Vereinbare Beihilfen nach Art. 87 Abs. 3 EG

Nach Art. 87 Abs. 3 EG können Beihilfen, die die dort genannten Ziele und Zwecke ver-folgen, von der Kommission als mit dem gemeinsamen Markt vereinbar eingestuft wer-den. Die Religionsgemeinschaften und ihre Untergliederungen begegnen auch hier keinen Besonderheiten hinsichtlich der Vereinbarkeit von gemeinwohlbezogenen Beihilfen. Art. 87 Abs. 3 lit. b EG normiert die Vereinbarkeit von Beihilfen zur Förderung wichtiger Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse. Zur Auslegung dieses Begriffs ist auf die in Art. 2 EU und Art. 2 EG genannten Ziele abzustellen. Hierzu rechnet auch der soziale Fortschritt und damit auch das soziale und karitative Engagement der Religions-gemeinschaften und ihrer Untergliederungen193. Überdies kann Art. 87 Abs. 3 lit. b EG zur Rechtfertigung zahlreicher Normen des Gemeinnützigkeitsrechts herangezogen werden194. Nach Art. 87 Abs. 3 lit. c EG sind Beihilfen erlaubt, die die Entwicklung gewisser Wirt-schaftszweige fördern. Dazu gehört die Förderung von Projekten, die Behinderten oder schwer vermittelbaren Langzeitarbeitslosen den Weg zurück auf den Arbeitsmarkt erleich-

189 S. oben unter III. 2. b) aa) ii). 190 Von Wallenberg, in: Grabitz/Hilf (Fn. 60), Art. 87, Rn. 104 f. – Im Bereich der Verschonungssubventionen

könnten bspw. Gewerbesteuerbefreiungen angeführt werden, die den „Endverbraucher“ mittelbar entlasten. 191 Zur Gleichsetzung von Waren und Dienstleistungen in diesem Zusammenhang Mederer, in: von der Gro-

eben/Schwarze (Fn. 60), Art. 87, Rn. 128. 192 Vgl. insoweit schon oben III. 2. b) aa) ii). 193 Schwarz, Die karitative Tätigkeit der Kirchen im Spannungsfeld von nationalem Recht und Gemeinschafts-

recht, EuR 2002, 213 mwN. – Nach Benicke (Fn. 5), S. 173, kann unter Verweis auf die von ihm zitierte Sa-che Remploy Ltd. auch die Förderung von Behindertenwerkstätten zu Art. 87 Abs. 3 lit. b EG gezählt werden.

194 Benicke (Fn. 5), S. 172; Helios (Fn. 123), S. 212 mwN.

602 EuR – Heft 4 – 2006 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

tern wollen195. Förderungsmaßnahmen zur Erhaltung des kulturellen Erbes werden von Art. 87 Abs. 3 lit. d EG erfasst. Die Kommission wird im Rahmen ihres Ermessens allerdings auch zu berücksichtigen haben, inwieweit der Wettbewerb durch einseitige mitgliedstaatliche Förderung beein-trächtigt wird. Die verschiedenen Vereinbarkeitstatbestände stellen im Ergebnis aber eine gute Möglichkeit dar, zwischen der Wohlfahrtspflege und anderen sozialen Dienstleistun-gen auf der einen Seite und dem Wettbewerbsschutz auf der anderen Seite eine praktikable Lösung zu finden, um den verschiedenen, aber gleichrangigen Zielen der Gemeinschaft gerecht zu werden196.

IV. Ausblick

In ihrem Weißbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse ließ die Kommission erkennen, dass sie gerade diese Zielsetzungen miteinander in Einklang bringen möchte197. Sie hat nun im Rahmen ihres Aktionsplans zur Reform des EG-Beihilferechts198 als erste Maßnahmen eine auf Art. 86 Abs. 3 EG gestützte Entscheidung an die Mitgliedstaaten sowie einen Gemeinschaftsrahmen verabschiedet199, in denen sie die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 87 Abs. 1 EG bezüglich der Ausgleichszahlungen zu präzisieren und den Spagat zu Art. 86 Abs. 2 EG zu überwinden sucht200. Die Entscheidung gilt u.a. für Aus-gleichszahlungen unter 30 Mio. Euro pro Jahr an Unternehmen mit einem Jahresumsatz von weniger als 100 Mio. Euro (Art. 2 Abs. 1 lit. a) und, unabhängig von der Höhe, für solche an Krankenhäuser und an Unternehmen, die im sozialen Wohnungsbau tätig sind (Art. 2 Abs. 1 lit. b). Sind die Zahlungen unter Beachtung der weiteren Voraussetzungen als mit dem gemeinsamen Markt vereinbar anzusehen, entfällt die Notifizierungspflicht nach Art. 88 Abs. 3 EG (Art. 3 der Entscheidung), weil diese Zahlungen nach Ansicht der Kommission keine oder nur geringe Wettbewerbsverfälschungen nach sich ziehen201. Der Gemeinschaftsrahmen hingegen gilt für solche Ausgleichszahlungen, die nicht von der Entscheidung erfasst werden; hier gilt nach wie vor die Anmeldepflicht. Immerhin kann die Kommission mit diesen Vorschlägen für sich in Anspruch nehmen, den Verwaltungs-aufwand für „kleine“ Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse redu-zieren zu wollen202. Wenn der nationale Gesetzgeber aber nicht abwarten will, bis Kommission und EuGH die den Religionsgemeinschaften und ihren Untergliederungen zukommenden finanziellen

195 Entscheidung der Kommission 98/353/EG vom 16.09.1997 (GAV Aachen), ABl. EG Nr. L 159 v. 3.6.1998,

S. 62; zu Art. 87 Abs. 3 EG ausführlich Benicke (Fn. 5), S. 172 ff. 196 Schwarz (Fn. 193), 214. 197 Weißbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, KOM(2004) 374 endg. vom 12.5.2004, 3.2, 4.4.

Vgl. hierzu die Stellungnahmen des Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 9.2.2005 (ABl. EU Nr. C 221 v. 8.9.2005, S. 17) und des Ausschusses der Regionen vom 23.2.2005 (ABl. EU Nr. C 164 v. 5.7.2005, S. 53).

198 Vgl. Aktionsplan staatliche Beihilfen, KOM(2005) 107 endg. vom 7.6.2005, Rn. 33 f. 199 S. Fn. 157. 200 Weißbuch (Fn. 197), 4.2. 201 Erwägungsgrund 14 der Entscheidung (Fn. 157). 202 Bzgl. solcher Generalausnahmen wird zurecht kritisiert, dass einheitliche Förderhöchstbeträge für beispiels-

weise Projekte der Jugendhilfe und der Abwasserentsorgung der Vielfalt der Dienstleistungen, die solchen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse zugeordnet werden, nicht gerecht werden (Meyer (Fn. 5), S. 197). Krit. auch die Stellungnahme des Europäischen Parlaments (Entschließung v. 14.02.2006, P6 TA(2006)0054), Rn. 28 ff. S. aber auch F.A.Z. vom 9.8.2005, S. 15: „Neuer Spielraum für deutsche Kommunen“.

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente EuR – Heft 4 – 2006 603

Privilegierungen Schritt für Schritt für unvereinbar mit dem europäischen Beihilferecht erklären, sollte er entweder auf nationaler Ebene die Gemeinnützigkeitsregeln anpassen oder sich auf europäischer Ebene für Gruppenfreistellungsverordnungen einsetzen, die der Vielfalt der gemeinwohlorientierten Dienstleistungen Rechnung tragen203. Die laufende Reform des EG-Beihilferechts bietet hierfür eine gute Gelegenheit.

203 Meyer (Fn. 5), S. 197, plädiert für den Wegfall des Durchführungsverbots (Art. 88 Abs. 3 S. 3 EG) und die

Ersetzung des Prüfverfahrens durch ein Widerspruchsverfahren. Diese Kompromisslösung erlaube es der Wettbewerbsbehörde, „unwesentliche Beihilfefälle ungeprüft zu lassen, um die Verwaltungsressourcen auf die wesentlichen Verfahren zu konzentrieren“. Dieser an und für sich pragmatische Lösungsansatz hat m.E. jedoch den Nachteil, dass die Beurteilung des „Für und Wider“ von staatlichen Förderungen im Gemeinwohl-sektor bei der Kommission verbleibt – abgesehen davon, dass der Begriff der „Wesentlichkeit“ einer Beihilfe einer näheren Eingrenzung bedarf.

604 EuR – Heft 4 – 2006

REZENSIONEN

Walter Frenz, Handbuch Europarecht, Band 1, Europäische Grundfreiheiten, Sprin-ger-Verlag 2004; ders., Handbuch Europarecht, Band 2, Europäisches Kartellrecht, Springer-Verlag 2006.

Die anzuzeigenden Bände sind Teil eines Werkes, welches letztlich sechs Bände umfassen soll. Ziel des Verf. ist es, das Europarecht als eine im Wandel begriffene Materie in einem System zu verorten, das einen rechtlichen Rahmen vermittelt und dadurch Richtung auch für aktuelle Ereignisse gibt (Vorwort). Damit ist auch das Dilemma umschrieben, dem sich jedes Handbuch des Europarechts gegenüber sieht. Einerseits entwickelt sich das europäische Recht nach wie vor mit beachtlicher Dynamik. Längst schließt die Entwick-lung, die zunächst vor allem das Wirtschaftsverwaltungsrecht betraf, das Zivil- und Straf-recht mit ein. Andererseits hat sich ein bemerkenswerter Fundus primärrechtlicher Prinzi-pien, ständiger Rechtsprechung, sekundärrechtlicher Vorschriften und dogmatischer Bei-träge der europäischen Rechtswissenschaft herausgebildet, welcher nach einer systemati-schen Zusammenschau verlangt. Deshalb ist das Vorhaben von Walter Frenz, durch zahl-reiche Beiträge zum Europarecht bestens ausgewiesen, uneingeschränkt zu begrüßen. Um es vorweg zu sagen: die ersten beiden Bände lösen das Versprechen ein, das der Verf. in seinem Vorwort gibt. Sie behandeln mit gutem Grund das Wirtschaftsverfassungsrecht der Europäischen Union. Seine rechtlichen Determinanten sind das Fundament, auf dem der Rest des Integrationsprozesses aufbaut. Die jüngsten Turbulenzen um den Vertrag über eine Verfassung für Europa haben diesen Befund erneut untermauert, waren es nicht zuletzt wirtschaftspolitische Gründe, die manchen Bürger in Frankreich und den Nieder-landen davon abgehalten haben, der Verfassung ihre Zustimmung zu geben. Deshalb kann ich dem Ansatz des Verf. durchaus folgen, mit dem materiellen Recht zu beginnen und die institutionelle Seite der EU späteren Bänden vorzubehalten. Freilich setzt dieses Vorgehen einen Leser voraus, der europarechtlich bereits solide informiert ist. In Band 1 werden auf nahezu 1200 Seiten die Grundfreiheiten behandelt. Sie bilden den Rahmen und die Grundlage des europäischen Binnenmarktes. Ihre Entfaltung, vor allem durch die Rechtsprechung des EuGH, hat dem Integrationsprozess entscheidende wirt-schaftliche Impulse gegeben, welche sodann um politische Initiativen ergänzt werden konnten. Der Verf. beginnt mit den „Allgemeinen Grundlagen und Strukturen“ der Grund-freiheiten, angefangen mit der Bedeutung der Grundfreiheiten, ihren Geltungsgehalten (z.B. Gestaltungsauftrag, subjektives Recht, Freiheitsrecht), der Geltungsreichweite und ihren Grundstrukturen, an denen sich auch die Darstellung der einzelnen Grundfreiheiten orientiert. Es schließen sich der Grundsatz des freien Warenverkehrs, die Personenfreizü-gigkeit, die Dienstleistungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit an. Band 2 (ca. 850 Seiten) ist dem europäischen Kartellrecht gewidmet. Auch hier beginnt Frenz zunächst mit einer ausführlichen Einführung in die Grundlagen der Wettbewerbs-ordnung der EU, ihrer Verbindung zu anderen Teilen des Vertrages und ihrer Bedeutung für den Integrationsprozess insgesamt. Es folgt eine eingehende Darstellung der jeweiligen Vorschriften der Art. 81 ff. EGV einschließlich der sekundärrechtlichen Bestimmungen. Sie umfasst in angemessener Gewichtung sowohl die materiell-rechtliche als auch die verfahrensrechtliche Seite des unternehmensbezogenen Wettbewerbsrechts. Im Einzelnen werden das Verhältnis von europäischem und nationalem Kartellrecht, das Kartellverbot,

Rezensionen EuR – Heft 4 – 2006 605

das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung sowie die Fusionskon-trolle behandelt. Ein gesonderter Abschnitt behandelt die schwierigen Fragen des staatli-chen Einflusses auf den Wettbewerb. Einzelheiten können hier freilich nicht referiert werden. Die Ausführungen zeichnen sich durch unbedingte Sachkunde, systematische Stringenz und gute Lesbarkeit aus. Das öffentliche Wirtschaftsrecht, also das Beihilfen- und Vergaberecht, sollen in Band 3 behandelt werden. Insgesamt hat Walter Frenz mit den ersten beiden Bänden seiner Handbuchreihe eine bewundernswerte Leistung vorgelegt. Sie beschränkt sich keineswegs auf das zuverlässige Sammeln und Darstellen der jeweiligen Materien. Vielmehr bezieht der Verf. auch eigen-ständige Positionen, die stets gut begründet und in jedem Fall bedenkenswert sind. Auch wenn man vorsichtig sein sollte mit Vergleichen und Prognosen: „der Frenz“ könnte eines Tages „der Stern“ des Europarechts werden. Man darf deshalb auf die weiteren Bände gespannt sein.

Armin Hatje, Bielefeld

606 EuR – Heft 4 – 2006

BIBLIOGRAPHIE

Zusammengestellt von der Schriftleitung der Zeitschrift Europarecht unter Mitarbeit von Florian Gröblinghoff

Bücher und Zeitschriften

Abkürzungsverzeichnis

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608 EuR – Heft 4 – 2006 Bibliographie

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Europarecht ZFW ........................................ Zeitschrift für Wasserrecht ZLR ......................................... Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht ZLW ........................................ Zeitschrift für Luft- und Weltraumrecht ZNER ...................................... Zeitschrift für neues Energierecht ZRP ......................................... Zeitschrift für Rechtspolitik ZUM ........................................ Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht ZUR ........................................ Zeitschrift für Umweltrecht ZvglRWis ................................ Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft ZWR ........................................ Zeitschrift für Wasserrecht ZWeR ...................................... Zeitschrift für Wettbewerbsrecht

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Koenigs, Kirsten, Die deutsche Rundfunkgebühr und das Europäische Beihilferecht, ZEuS 2006, S.135-176

Kußmaul, Heinz / Hilmer, Karina / Kerth, Joachim, Die Auswirkungen des Gesetzes zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen und der BVerfG-Entscheidung auf die verkehrssteuerliche Behandlung von Glücksspielen und Implikationen für die Zukunft. (Zugleich Anmerkung zu EuGH Rs. C-453/02, Rs. C-462/02), DB 2006, S.1340-1343

Rosenthal, Michael, Europäisches Haftbefehlsgesetz, zweiter Versuch, ZRP 2006, S.105-109

Söhnlein, Bernd, Die Umsetzung der Umgebungs-lärmrichtlinie in deutsches Recht, NUR 2006, S.276-279

Tamm, Marina / Gaedtke, Enrico, Gewinnzusagen nach § 661a BGB: materiell- und prozessrechtliche Probleme im europarechtlichen Kontext, VuR 2006, S.169-177

Wagner, Eckart, Die Übernahme der europäischen 10 %-Regel für Geldbußen bei Kartellverstößen schafft einen verfassungsrechtlich fragwürdigen Fremdkörper im deutschen Recht, EWS 2006, S.251-257

610 EuR – Heft 4 – 2006 Bibliographie

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Internationale Organisationen und ihre Beziehungen zur EG

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Röper, Erich, EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei – beiderseits ergebnisoffen, RuP 2006, S.97-104

Beziehungen zu Drittländern – Beitritt / Osterweiterung – Zollunion

Kayikci, Murat, Harmonisation of candidate countries with the environmental acquis of the European Union: a comparative analysis, SEER 2006, S.33-46

Reiterer, Michael, Die Europäische Union. Partner oder Vorbild für Ostasien?, ÖZP 2006, S.157-172

Sergi, Bruno S. / Qerimi, Qerim R., The European Union and its prospective enlargement to the south-east, SEER 2006, S.15-32

Timmermann, Heinz, Russland und die EU-25 nach der Erweiterung, ÖZP 2006, S.141-156

Wettbewerbspolitik – Staatliche Beihilfen – Öffentliche Unternehmen – Freier Waren- verkehr – Wirtschaftsrecht

Berg, Werner, Die Rechtsprechung des EuGH und des EuG auf dem Gebiet des Kartellrechts im Jahr 2005, EWS 2006, S.193-205

Ehricke, Ulrich Auflagen, Bedingungen und Zusagen in Beihilfeentscheidungen der Europäischen Kommis-sion, EWS 2006, S.241-246

Hellmann, Hans-Joachim / Bruder, Stefan, Kartell-rechtliche Grundsätze der zentralen Vermarktung von Sportveranstaltungen. Die aktuellen Entscheidungen der Kommission zur Bundesliga und FA Premier League, EuZW 2006, S.359-364

Kuhn, Tilman, Preishöhenmissbrauch (excessive pricing) im deutschen und europäischen Kartellrecht. Kartellbehörden auf dem Weg zur Preiskontrolle und -gestaltung?, WuW 2006, S.578-592

Schmidt, Karsten, Kartellrecht im Schiedsverfahren – Neuorientierung durch VO 1/2003 und 7. GWB-Novelle?, BB 2006, S.1397-1405

Thyri, Peter / Jaeger, Thomas, Sportfernsehen und EG-Wettbewerbsrecht, Wbl 2006, S.197-206

Töllner, Wilko, Europäische Fusionskontrolle, WuW 2006, S.613-617

Urlesberger, Franz, Europarecht: Das Neueste auf einen Blick: Binnenmarkt, wbl 2006, S.258-261

Urlesberger, Franz, Europarecht: Das Neueste auf einen Blick: Wettbewerb, wbl 2006, S.261-262

Zumbansen, Peer, Spaces and Places: A Systems Theory Approach to Regulatory Competition in European Company Law, ELJ 2006, S.534

Freizügigkeit – Arbeits- und Sozialrecht

Blanke, Thomas, Europäische Beteiligungsvereinba-rungen und Betriebsverfassung, AG 2006, S.493 – 499

Habersack, Mathias, Schranken der Mitbestimmungs-autonomie in der SE. Dargestellt am Beispiel der Größe und inneren Ordnung des Aufsichtsorgans, AG 2006, S.345-355

Kröll, Thomas, Dienstleistungsrichtlinie, Arbeitsrecht und Entsendebestimmungen, JRP 2006, S.134 – 145

Lafontaine, Christoph / Lott, Swantje / Steinfatt, Gabriele / Völker, Mallory / Weber, Anja, Company Mobility and Employee Rights. A Continental Ap-proach to Reconcile Individual Protection with Corpo-rate Politics while Adressing the Needs of the Com-mon Market, ZÖR 2006, S.263 – 333

Reichold, Hermann, Aktuelle Rechtsprechung des EuGH zum Europäischen Arbeitsrecht, JZ 2006, S.549-556

Soltész, Ulrich / Rolofs, Peter, Rechtsschutz zu Lasten Dritter in Kartellbußgeldverfahren. Beschränkungen der unbeschränkten Nachprüfungsbefugnis der Ge-meinschaftsgerichte, EuZW 2006, S.327-329

Soltész, Ulrich / Seidl, Simone, Regionalflughäfen im Visier der Brüsseler Beihilfenkontrolle – die Ryanair-Praxis der Kommission und die neuen Leitlinien, EWS 2006, S.211-218

Wolf, Roland, EuGH, BAG und nationales Recht: Befristungen, Massenentlassungen und kein Ende, AuA 2006, S.340-342

Bibliographie EuR – Heft 4 – 2006 611

Niederlassungsfreiheit – Freier Dienstleistungs- und Kapitalverkehr – Europäisches Gesell-schaftsrecht

Ferran, Eilis, The Place for Creditor Protection on the Agenda for Modernisation of Company Law in the European Union, ECFR 2006, S.178-221

Ferrarini, Guido, „One Share – One Vote: A Euro-pean Rule?“, ECFR 2006, S.147-177

Kindler, Peter, Sitzverlegung und internationales Insolvenzrecht (Anmerkung zu: EuGH Rs. C-1/04), IPRax 2006, S.114-116

Menjucq, Michel, The European Regime on Take-overs, ECFR 2006, S.222-236

Merkt, Hanno / Binder, Jens-Hinrich, Änderungen im Übernahmerecht nach Umsetzung der EG-Über-nahmerichtlinie: Das deutsche Umsetzungsgesetz und verbleibende Problemfelder, BB 2006, S.1285-1292

Schaller, Hans, Vergabewesen der öffentlichen Hand: Rügeverfahren EU-weiter Auftragsvergaben, VR 2006, S.145-147

Schedl, Michael, Die Untätigkeitsklage von Drittpar-teien in der EG-Fusionskontrolle, EWS 2006, S.257-262

Schmidt, Jessica, Stimmrechtsvertretung und Stimm-rechtsausübung „in absentia“ in Deutschland und Großbritannien. Speziell vor dem Hintergrund der aktuellen Gesellschaftsrechtsreform in Großbritannien sowie der geplanten EU-Aktionärsrechte-Richtlinie, NZG 2006, S.487-91

Schön, Wolfgang, The Mobility of Companies in Europe and the Organizational Freedom of Company Founders, ECFR 2006, S.122-146

Wand, Peter / Tillmann, Tobias, EU-Richtlinienvor-schlag zur Erleichterung der Ausübung von Aktio-närsrechten, AG 2006, S.443-450

Steuern – Währungs- und Finanzpolitik

Albath, Lars / Wunderlich, Nina, Wege aus der Steu-ersackgasse? Neue Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH, EWS 2006, S.205-211

Raab, Stephan, Das Reihengeschäft in der Umsatz-steuer im Lichte des Verfahrens vor dem EuGH – Rs. C-245/04 – (EMAG Handel Eder OHG): ist eine Neuorientierung erforderlich?, RIW 2006, S. 456-459

Thiele, Alexander, Das Europäische Steuerrecht – Eine Herausforderung für den nationalen Gesetzgeber, ZEuS 2006, S.41-69

Umwelt-, Agrar- und Energiepolitik, Gesund-heits- und Verbraucherschutz – Emmissions-handel – Abfall

Bruggmann, Thomas / Meyer, Florian, Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Nochmals: Zum Vorgang des Europarechts bei der Privatisierung der Lebens-mittelüberwachung, LMuR 2006, S.61-63

Bückmann, Walter, Quo vadis, europäischer Boden-schutz? Zum Arbeitsentwurf einer Europäischen Bodenrahmenrichtlinie, UPR 2006, S.210-215

Günther, Wolfram, Die Auswirkungen des EuGH-Urteils C-98/03 zur mangelhaften Umsetzung der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie, EurUP 2006, S.94-100

Holzer, Verena Leila, Probleme und Lösungsansätze bei der Förderung von Strom aus erneuerbaren Ener-gien im europäischen Binnenmarkt, ZfU 2006, S.157-181

Kühling, Jürgen, Die neuen Engpass-Leitlinien der Kommission im grenzüberschreitenden Stromhandel – Freie Fahrt für das Open Market Coupling in Deutsch-land?, RdE 2006, S.173-182

Oschmann, Volker / Ragwitz, Mario / Resch, Gustav, Die Förderung von Strom aus Erneuerbaren Energien in der Europäischen Union – praktische Erfahrungen und rechtliche Perspektiven, ZNER 2006, S.7-12

Scheidler, Alfred, Fortentwicklung des europäischen Luftreinhalterechts. Kommissionsvorschlag einer Richtlinie über die Luftqualität und saubere Luft in Europa, NUR 2006, S.354-359

Schmidt, Holger, Neue Haftungsrisiken für Organmit-glieder im Umweltbereich? Zur Umsetzung der Umwelthaftungsrichtlinie, NvWZ 2006, S.635-640

Schroeder, Werner / Kraus, Markus, Grundprinzipien des neuen Lebensmittelrechts. Das Zusammenspiel von EU-BasisVO und neuem LMSVG, wbl 2006, S.245-252

Sundmacher, Torsten / Jasper, Jörg, Die EU als Motor ordnungspolitischer Reformen im Gesundheits-sektor, ZÖR 2006, S.335 – 367

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612 EuR – Heft 4 – 2006 Bibliographie

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Geiger, Christophe / Hansen, Gerd / Markowski, Kristina, Urheberrecht im deutsch-französischen Dialog – Impulse für eine europäische Rechtsharmo-nisierung, München, GRURint 2006, S.475-496

Hufnagel, Frank-Erich, Ausweitung des Versuchspri-vilegs in Europa und in den USA. Verschiebung der Grenzen zwischen Patentschutz und Versuchsfreiheit bei Arzneimitteln, PharmaR 2006, S.209-215

Lehne, Klaus-Heiner, Patent Initiative für a New European Patent Law, GRUR int 2006, S.363-365

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Haubold, Jens, CMR und europäisches Zivilverfah-rensrecht. Klarstellung zu internationaler Zuständig-keit und Rechtshängigkeit, (Anmerkung zu: EuGH Rs. C-148/03 (Nürnberger Allgemeine Versicherung AG ./. Portbridge Transport International BV), IPRax 2006, S.224-229

Hüßtege, Rainer, Clubmitgliedschaft und Teilzeit-wohnrechte im Anwendungsbereich des Art. 16 Nr.1 EuGVÜ / Art. 22 Nr.1 S.1 EuGVVO (Anmerkung zu: EuGH Rs. C-73/04), IPRax 2006, S.124-126

Jansen, Nils, Traditionsbegründung im europäischen Privatrecht, JZ 2006, S.536-546

Kieninger, Eva-Maria / Sigman, Harry C., The Rome-I Proposed Regulation and the Assignment of Receiv-ables, ELF 2006, S.1-10

Saenger, Ingo / Klockenbrink, Ulrich, Anerkennungs-fragen im internationalen Insolvenzrecht gelöst? Zugleich Anmerkung zu EuGH Rs. C-342/04 (Euro-food/Parmalat), EuZW 2006, S.363-367

Stadler, Astrid, Ordnungsgemäße Zustellung im Wege der remise au parquet und Heilung von Zustellungs-fehlern nach der Europäischen Zustellungsverord-nung, (Anmerkung zu: EuGH, Rs. C-443/03 und - Rs. C-522/03), IPRax 2006, S.116-123

Sujecki, Bartosz, Europäisches Mahnverfahren – Geänderter Verordnungsvorschlag, EuZW 2006, S.330-333

Völkerrecht – Internationales Privatrecht

Frenzen, Martin, Internationale Zuständigkeit beim Aufruf zum Boykott eines Seeschiffes, (Anmerkung zu: EuGH Rs. C-18/02), IPRax 2006, S.127-129

GASP / ESPV / Justiz und Inneres

Massarrat, Mohssen, Der Iran und Europas Versagen, Blätter 2006, S.544-547

Menschenrechte

Selbmann, Frank, Anpassungsbedarf der Regelungen zur Wiederaufnahme des Verfahrens an die Vorgaben der EMRK, ZRP 2006, S.124-126

Telekommunikationsrecht – Transport – Internet

McCreevy, Charlie, IP Policy in Europe: What Next?, 361-363

Rechtsprechung – EuGH, EuG – Vollstreckung – Rechtsschutz – Urteilsanmerkungen

Bischoff, Jan Asmus, Besprechung des Gutachtens 1/03 des EuGH, EuZW 2006, S.295-301

Buschmann, Rudolf, Anmerkung zu EuGH Rs. C-499/04 (Betriebsübergang: Arbeitsvertragliche Ver-weisung auf TV), AuR 2006, S.204-206

Cloer, Adrian / Lavrelashvili, Nino, Anmerkung zu EuGH Rs. C-152/03 (Freizügigkeit: Berücksichtigung negativer Einkünfte Nichtselbständiger aus Vermie-tung und Verpachtung unbeweglichen Vermögens in anderem Mitgliedstaat; negativer Progressionsvorbe-halt; „Ritter-Coulais“), EWS 2006, S.230-232

Cloer, Adrian / Lavrelashvili, Nino, Anmerkung zu EuGH Rs. C-470/04 (Freizügigkeit: Wegzugsbesteue-rung von Gewinnen einer natürlichen Person aus wesentlichen Beteiligungen; Stundung und Nichtdis-kriminierung; N. ./. Inspecteur van de Belastingdienst Oost/kantoor Almelo), EWS 2006, S.270-272

Hess, Burkhard / Laukemann, Björn, Anmerkung zu EuGH Rs. C-1/04 (Internationale Eröffnungszustän-digkeit in Insolvenzverfahren; Susanne Staubitz- Schreiber), JZ 2006, S.671 – 673

Klumpp, Steffen, Der EuGH und die Massenentlas-sung: Zeit für „Junk II“?, NZA 2006, S.703 – 709

Bibliographie EuR – Heft 4 – 2006 613

Kokott, Juliane / Sobotta, Christoph, Die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof und die Folgen ihrer Verletzung, JZ 2006, S.633 – 641

Ohler, Christoph, Anmerkung zu EuGH Rs. C-217/04 (Rechtmäßige Errichtung der Gemeinschaftsagentur ENISA), EuZW 2006, S.372-374

Philipowski, Rüdiger, Verwaltung von Investment-fonds und Auslagerung einzelner Verwaltungsleistun-gen. EuGH: Außenstehende können auch rein admi-nistrative Verwaltungsleistungen umsatzsteuerfrei erbringen, DB 2006, S.1235-1243

Reich, Norbert, Kurzbesprechung der Schlussanträge des Generalanwalts M. Poiares Maduro in den ver-bundenen Rs. C-158, 159/04 (Alfa Vita Vissilopoulos AE u.a. gegen Eliniko Dimosio, Nomarchiaki Aftodi-oikisi Loanninon), EuZW 2006, S.304-305

Reich, Norbert, Kurzbesprechung zu EuGH, Schluss-anträge der Generalanwältin Eleanor Sharpston in der - Rs. C-348/04 (Boehringer Ingelheim KG u. a. gegen Swingward Ltd u. a.), EuZW 2006, S.367-368

Reithmann, Ulrich, Welthandelsrecht und europäische Agrarpolitik. Das Verfahren „EC-Sugar Subsidies“, ZEuS 2006, S.99-133

Schabel, Thomas, Anmerkung zu EuGH Rs. C-226/04 (Vorabentscheidungsersuchen; Nachweis der Zahlung von Steuern und Abgaben; maßgeblicher Zeitpunkt der Beurteilung der Eignung; „La Cascina“), Verga-beR 2006, S.346-348

Seer, Roman, The ECJ on the Verge of a Member State Friendly Judicature?, ECFR 2006, S.237-247

Simitis, Spiros, Übermittlung der Daten von Flugpas-sagieren in die USA: Dispens von Datenschutz? Anmerkung zu EuGH Rs. C-317/04, C-318/04, NJW 2006, S.2011 – 2014

Smeele, Frank, Recognition of foreign limitation proceedings under the European Jurisdiction and Judgments Convention (Anmerkung zu: EuGH Rs. C-39/02), IPRax 2006, S.229-233

Steinberg, Philipp, Anmerkung zu EuGH Rs. C-340/04 (Öffentlicher Auftraggeber als Mehrheitsakti-onär des Auftragnehmers), EuZW 2006, S.378-380

Tonner, Klaus, Der Luftbeförderungsvertrag zwischen europäischer und globaler Regulierung. Anmerkung zu EuGH Rs. C-344/04, NJW 2006, S.1854-1856

Wuermeling, Joachim, Anmerkung zu EuGH Rs. C-176/03 (Umweltschutz; strafrechtliche Sanktionen;

Zuständigkeit der Gemeinschaft; Rechtsgrundlage), BayVBl 2006, S.368-370

II. Monographien

Allgemeines zur Integration – Vertrag von Nizza – Richtlinien

Karpenstein, Ulrich, Praxis des EG-Rechts, Verlag C.H.Beck, München 2006, 175 S.

Kellerhals, Andreas, Wirtschaftsrecht und europäische Integration, Schulthess Verlag, Zürich 2006, 600 S.

Linke, Gerrit, Das Instrument der verstärkten Zusam-menarbeit im Vertrag von Nizza – Möglichkeiten eines Europas der differenzierten Integration, Peter Lang Verlagsgruppe, Bern, Berlin u.a. 2006, 226 S.

Verfassungs- und Verwaltungsrecht – Grund-rechte – Konvent – Unionsbürgerschaft

Calliess, Christian / Ruffert, Matthias, Verfassung der Europäischen Union, Verlag C.H.Beck, München 2006, 560 S.

Heselhaus, Sebastian M. / Nowak, Karsten, Handbuch der Europäischen Grundrechte, Verlag C.H.Beck, München 2006, 1700 S.

Tettinger, Peter J. / Stern, Klaus (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grund-rechte-Charta, Verlag C.H.Beck, München 2006, 800 S.

Rechtsverhältnisse zwischen EG und Mitgliedstaaten – Kompetenzen

Martin, Stefanie, Die Umsetzung der Unternehmens-übergangsrichtlinie (Richtlinie 2001/23/EG – Be-triebsübergangsrichtlinie) in Spanien, Duncker & Humblot, Berlin 2006, 539 S.

Regierungsrat des Kantons Zürich (Hrsg.), Zürich und Europa, Schulthess Verlag, Zürich 2006, 310 S.

Sandmann, Silke, Umsetzung von Europarecht in Italien – Das La Pergola-Gesetz als Lösung eines langjährigen Problems, Peter Lang Verlagsgruppe, Bern, Berlin u.a. 2006, 303 S.

Internationale Organisationen und ihre Beziehungen zur EG

Raue, Julia, Der Europarat als Verfassungsgestalter seiner neuen Mitgliedsstaaten – Vom Beobachter zum Reformer in Osteuropa?, Schulthess Verlag, Zürich 2006, 312 S.

614 EuR – Heft 4 – 2006 Bibliographie

Wettbewerbspolitik – Staatliche Beihilfen – Öffentliche Unternehmen – Freier Waren- verkehr – Wirtschaftsrecht

Schürnbrand, Kathrin, Kollektive Marktbeherrschung in der Europäischen Fusionskontrolle, Peter Lang Verlagsgruppe, Bern, Berlin u.a. 2006, 245 S.

Niederlassungsfreiheit – Freier Dienstleistungs- und Kapitalverkehr – Europäisches Gesellschaftsrecht

Kleeberg, Christian, Kapitalaufbringung bei Grün-dung der Societas Europaea – Vergleich der Vor-schriften zur Kapitalaufbringung und -erhöhung in Europa, Peter Lang Verlagsgruppe, Bern, Berlin u.a. 2006, 180 S.

Steuern – Währungs- und Finanzpolitik

Reich, Markus / König Beat, Europäisches Steuer-recht, Schulthess Verlag, Zürich 2006, 648 S.

Umwelt-, Agrar- und Energiepolitik, Gesundheits- und Verbraucherschutz – Emmissionshandel – Abfall

Allwardt, Cederick, Europäisiertes Energierecht in Deutschland, Duncker & Humblot, Berlin 2006, 419 S.

Urheberrecht – Markenrecht – Patentrecht

Lorenz, Moritz, Die EG-kartellrechtliche Selbstein-schätzung bezüglich Patentlizenzvereinbarungen, Peter Lang Verlagsgruppe, Bern, Berlin u.a. 2006, 242 S.

Schricker, Gerhard / Bastian, Eva-Maria / Knaak, Roland, Gemeinschaftsmarke und Recht der EU-Mitgliedstaaten, Verlag C.H.Beck, München 2006, 750 S.

Europäisches Zivilrecht und Strafrecht

Kress, Viktoria, Internationale Zuständigkeit für elterliche Verantwortung in der Europäischen Union, Peter Lang Verlagsgruppe, Bern, Berlin u.a. 2006, 198 S.

Völkerrecht – Internationales Privatrecht

Junck, Christoph, Die Gerichtsbarkeit des Internatio-nalen Strafgerichtshofs, Peter Lang Verlagsgruppe, Bern, Berlin u.a. 2006, 374 S.

Schäfer, Andreas, Der Begriff der „Bedrohung des Friedens“ in Artikel 39 der Charta der Vereinten Nationen, Peter Lang Verlagsgruppe, Bern, Berlin u.a. 2006, 301 S.

Schollendorf, Kai, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge in der Spruchpraxis des Appellate Body der Welthandelsorganisation (WTO), Duncker & Humblot, Berlin 2006, 450 S.

Menschenrechte

Althoff, Nina, Die Bekämpfung von Diskriminierun-gen aus Gründen der Rasse und der ethnischen Her-kunft in der Europäischen Gemeinschaft ausgehend von Art. 13 EG, Peter Lang Verlagsgruppe, Bern, Berlin u.a. 2006, 342 S.

Tezcan, Türkmen, Der Zypernkonflikt vor dem Euro-päischen Menschenrechtsgerichtshof, Peter Lang Verlagsgruppe, Bern, Berlin u.a. 2006, 283 S.

Telekommunikationsrecht – Transport – Internet

Schmidt, Stephan, Die Rechtmäßigkeit staatlicher Gefahrenabwehrmaßnahmen im Internet unter beson-derer Berücksichtigung des Europäischen Gemein-schaftsrechts, Peter Lang Verlagsgruppe, Bern, Berlin u.a. 2006, 395 S.