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Fatzer Materialsammlung Spielzeit 2012/13

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FatzerMaterialsammlung

Spielzeit 2012/13

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Inhalt

A) Zur Einführung: Der schwarze Stern Seite 3

B) Bertolt Brecht: Die Fatzer-Zeit Seite 5

Mittenzwei, Werner: »Das Leben des Bertolt Brecht«

C) Zum Text: Entstehung und Inhalt Seite 21

Knopf, Jan: »Fatzer« - aus: »Brecht-Handbuch«

Völker, Klaus: »Brecht-Kommentar«

Brecht, Bertolt: »Arbeitsjournal«

D) Zur Form: Theater/Fragment Seite 32

Barck, Karlheinz: »Fragment« - aus: »Ästhetische Grundbegriffe«

Müller, Heiner. »Wir machen Dinge, von denen wir nicht wissen, was sie sind«

Bosse, Claudia: »vorbemerkung zu einer dokumentation«

E) Das Lehrstück Seite 73

Steinweg, Reiner: »Das Lehrstück«

F) Wer ist der Chor? Seite 90

Brecht, Müller, Mickel, Standfest, Bosse, Dupius, Szeiler

G) Aufführungsgeschichte/Deutungen Seite 93

Knopf, Jan: »Fatzer« - aus: »Brecht-Handbuch«

Wyss, Monika: »Brecht in der Kritik«

Müller, Tobi: »Brecht/Müller, mal melodisch«

Bosse, Claudia/theatercombinat: »Dokumentation«

andcompany&Co.: »FatzerBraz«

Müller, Heiner: »Fatzer plusminus Keuner«

Müller, Heiner. »Es gilt, eine neue Dramaturgie zu finden«

Müller, Heiner: »Notate zu Fatzer«

H) Geschichten von Herrn Keuner Seite115

I) Miscellanea Seite121

Marighella, Carlos: »Minihandbuch für Stadtguerilleros«

Müller, Heiner/Kluge. Alexander: »Transkript: Anti-Oper«

Enzensberger, Hans Magnus: »Die Schrecken der Weimarer Republik«

Natan, Alex: »B.B. und der Boxer«

Müller, Heiner: Zwei Gespräche (Frank M. Raddatz, Wolfgang Heise)

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A) Zur Einführung: Der schwarze Stern

»Fatzer« ist ein Mythos des deutschen Theaters, selten gespielt doch oft umraunt, der schwarze

Stern im System »Brecht« – ein unvollendetes Textgebirge aus unzähligen Fragmenten, die auf

immer neuen Flugbahnen um immer wieder dieselben Themen kreisen. Die Logik des Umsturzes,

die Ausgrenzung und Ablösung vom Kollektiv als notwendiges Element der Individuation, das

Verhältnis von revolutionärer Aktion, Gruppe und einzelnem, die Utopie in schweren Zeiten, das

Fressen und die Moral: Darum geht‘s. Aber nicht nur. Denn Brechts Anliegen als Theatermacher

tritt hier noch deutlicher hervor als in seinen anderen, vollendeten Arbeiten: Der politische Aspekt

des Theaters liegt nicht nur in dem, was verhandelt wird, sondern vor allem auch darin, wie es

verhandelt wird. »›Fatzer‹ spielen heißt: den Aufstand proben«, hat der Frankfurter

Theaterwissenschaftler und Fatzer-Experte Nikolaus Müller-Schöll einmal geschrieben. Wie probt

man also den Aufstand?

Brechts Theorie des Lehrstücks, die er um 1930, also erst gegen Ende der Arbeit an den »Fatzer«-

Texten, vor allem zusammen mit Kurt Weill und Elisabeth Hauptmann entwickelte, ging es um

eben das: Theaterspiel als Mittel zur Schulung des einzelnen in seinem Verhältnis zu

Gemeinschaft und Gesellschaft, als Mittel zur Schulung politischen und damit auch:

aufständischen Verhaltens. Schon der Begriff des »Lehrstücks« lädt dabei zu Missverständnissen

ein. Er schmeckt nach Didaktik, nach sozialistischer Zeigefingermoral, nach Agitprop. Dabei hatten

Brecht und seine Teams eigentlich nichts weniger im Sinn als die Verkündung ewiger Wahrheiten

von der Rampe herab. Im Gegenteil: Das Lehrstück sollte gerade der Darstellung von

Widersprüchen und Fehlern dienen, es sollte immer auch gegensätzlich interpretierbar sein und

somit den Spielenden, aber auch den Verfassern und Zuschauern immer wieder erneutes Lernen

ermöglichen. Das Lehrstück ist somit eigentlich ein Lernstück. Doch für wen?

Mit der Frage nach der Zielgruppe schließt sich gleich das zweite grundlegende Missverständnis

des Begriffs an. In einer seiner letzten Notizen aus dem Arbeitsjournal schreibt Brecht, der sich mit

der Theorie des Lehrstücks, übrigens ebenso wie mit dem Fatzer-Fragment, im Laufe seines

Lebens immer wieder auseinandergesetzt hatte: »Diese Bezeichnung gilt nur für Stücke, die für die

Darstellenden lehrhaft sind. Sie benötigen also kein Publikum.« Theater ohne Zuschauer? Liegt

hier etwa die Geburtsstunde der berüchtigten inszenatorischen Egomanie des deutschen

Theatersystems, die das Publikum am liebsten ganz abgeschafft sähe?

Wieder ist eher das Gegenteil der Fall. Niemand wusste besser als Brecht, dass Theater ohne

Zuschauer kein Theater ist – niemand wusste auch besser, dass Theater unterhaltsam und

vergnüglich sein muss, wenn es diese Zuschauer erreichen will. »Das Theater bleibt Theater, auch

wenn es Lehrtheater ist, und soweit es gutes Theater ist, ist es amüsant«, schreibt er 1954 in dem

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Aufsatz »Vergnügungstheater oder Lehrtheater?«. Brechts Projekt als Theatermacher war, die

Gegensatzpaare von »vergnüglich« und »wertvoll«, »politisch« und »künstlerisch«, »Epik« und

»Dramatik«, mithin also die bekannten Dichotomien der bürgerlichen Ästhetik in Richtung einer

neuen, politisch wie künstlerisch revolutionären Kunst zu überwinden. Das Paradox eines

»Theaters ohne Zuschauer«, wie es die Lehrstücktheorie fordert, übertrug dieses Projekt auf den

Gegensatz zwischen Publikum und Spielern. Brechts Konzept eines Lernens durch Handlungen

und Gesten, eines mithin zuerst körperlichen und erst danach kognitiven Lernens, war dabei die

entscheidende Voraussetzung einer solchen Überwindung. Zum Zwecke nicht der Belehrung,

sondern der Selbstbelehrung sollte »durch das Einnehmen bestimmter Haltungen und Gesten

körperlich-szenisch ein Konflikt durchgespielt und diskutiert werden«, schreibt Hans-Thies

Lehmann. Der Zuschauer, der diesen Prozess rein passiv betrachtet, wird dabei nicht ausgesperrt

– es soll und darf ihn weiterhin geben. Er wird aber – und dies ist eher als utopischer Endpunkt zu

verstehen denn als konkrete Maßgabe einer Inszenierung – irgendwann einmal nicht mehr

benötigt.

»Fatzer« ist entstanden, noch bevor Brecht seine Lehrstücktheorie vollständig formuliert hatte, und

die Brecht-Experten streiten noch heute darüber, ob es sich überhaupt um ein Lehrstück handelt.

Unbezweifelbar aber ist, dass der Aufstand gegen das Theater, der sich in der Lehrstücktheorie

ebenso wie in der Dramaturgie des epischen Theaters formiert, in »Fatzer« seine vielleicht

radikalste Form gefunden hat. Nicht zuletzt probte Brecht mit diesem Stück den Aufstand gegen

sich selbst: »so ist das fatzerdokument zunächst hauptsächlich zum lernen des schreibenden

gemacht. wird es späterhin zum lehrgegenstand so wird durch diesen gegenstand von den

schülern etwas völlig anderes gelernt als der schreibende lernte.«

»Fatzer« ist somit auch der Aufstand gegen das Naheliegende, gegen jeglichen Auftrag, gegen

das bestehende Theater mit seinen literarischen und gattungsspezifischen Traditionen. Als ein

solcher Aufstand bleibt »Fatzer« das vielleicht wichtigste, sicher aber das radikalste Stück Brechts:

ein Traum von einem neuen Theater in einer anderen Zeit. Gerade die Tatsache, dass »Fatzer«

ein aus Brechts Sicht unmögliches Theater darstellt, schreibt Nikolaus Müller-Schöll, lässt dieses

Fragment gebliebene Stück aus der Distanz als einen der Texte Brechts erscheinen, die auf ein

immer noch kommendes Theater verweisen, die größte Potentialität bergen – Möglichkeiten der

Realisierung, an die Brecht noch nicht denken konnte.

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B) Bertolt Brecht: Die Fatzer-Zeit

aus: Mittenzwei, Werner: "Das Leben des Bertolt Brecht, oder Der Umgang mit den Welträtseln." FfM: Suhrkamp, 1987 5

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aus: Jan Knopf (Hrsg.): "Brecht-Handbuch in fünf Bänden." Stuttgart: Metzler, 2001–2003

Jan Knopfs "Brecht-Handbuch" ist eine der wohl umfangreichsten Übersichten zu Brechts Werk und ein Standardwerk der Brecht-Forschung. Wer ansonsten gar nichts lesen mag, sollte zumindest diesen Text kennen. Die Abschnitte "Analyse und Deutungen" sowie "Theaterrezeption" finden sich im Kapitel "Aufführungsgeschichte" dieser Materalsammlung.

C) Zum Text: Entstehung und Inhalt

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Eine kurzer Überblick über Entstehung, Inhalt, Werkkontext und Aufführungsgeschichte. Kennzeichnend für diese Bewertung, die aus dem eher konservativen Lager der Literaturwissenschaft stammt, ist die Einschätzung des Fatzer-Fragments als rein biographisch relevanter Text Brechts.

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aus: Völker, Klaus: "Brecht Kommentar", München: Winkler, 1983, S. 118ff.

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Brecht, Bertolt: "Arbeitsjournal", Bd. I 1938-1942. Hg. von Werner Hecht, FfM: Suhrkamp, 1973

Unter Brechts persönlichen Äußerungen über seine Arbeit findet sich nicht allzu viel mit Bezug auf das "Fatzer"-Fragment. Ein Indiz für die Bedeutsamkeit, die dieser Text für seinen Autor wohl dennoch gehabt haben wird, ist die Dauer der Beschäftigung mit ihm. Von 1926/27, den Jahren der ersten Niederschrift von Fatzer-Texten, bis zu 1951, fünf Jahre vor seinem Tod, hat Brecht sich immer wieder mit "Fatzer" beschäftigt.

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aus: Barck, Karlheinz (et al.) (Hrsg.): "Ästhetische Grundbegriffe", Bd. II. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2001

Ein übersichtlicher Abriss der Begriffs- und Ideengeschichte des Fragments in Philosophie, Literatur und Kunst.

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D) Zur Form: Theater/Fragment

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Wir machen Dinge, von denen wir nicht wissen, was sie sind

Heiner Müller im Gespräch mit Teilnehmern des Brecht-Oberseminars im Bereich

Theaterwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin am 13. März 1984. Leitung: Prof. Dr. Ernst

Schumacher

ERNST SCHUMACHER Zur Eröffnung: Brechts Grund-Satz war: Die Welt ist nicht nur

interpretierbar, sie ist auch veränderbar, es kann in sie eingegriffen werden, auch mit den Mitteln

der Kunst. In Deinen Anfängen hast Du diese Überzeugung geteilt. Seit den Siebzigern scheint

sich Dein Welt-, mit ihm Dein Menschenbild, eingeschwärzt zu haben. Man könnte es zugespitzt

als pessimistisch geworden bezeichnen. Das liegt im Trend der »neuen Philosophen«, die sich

nach ’68 vom Marxismus abgewandt haben und einen Neoexistentialismus begründet haben.

Kunst auf dieser Basis zu produzieren – läuft das nicht letztlich auf bloßen Selbstausdruck, sprich

Selbstbefriedigung, bestenfalls die Befriedigung eines elitären Bewußtseins über eine verfahrene

Welt, der nicht zu helfen ist, hinaus?

HEINER MÜLLER Nun, ich bin ja immerhin noch da, es kann ja nochmals werden ...

MARIANNE STREISAND Diese Vorhaltung gegen Müller hat es schon in den späten fünfziger

Jahren gegeben.

MÜLLER Die wird es immer geben.

STREISAND Damals lautete der Vorwurf noch nicht Geschichtspessimismus, sondern »negative

Abbildung der Wirklichkeit«. Aber daß in den siebziger Jahren eine Änderung eingetreten ist, das

glaube ich schon. Und da möchte ich doch fragen: Dieses Weggehen von Brecht ist sicher auch

ein Hingehen, ja wohin? Mich interessiert in diesem Zusammenhang Dein Interesse an den

Dunkelzonen, für die subjektiven Triebkräfte in der Geschichte oder Massenphänomene wie

Faschismus, der ja auch subjektive Komponenten hatte. In Bezug auf das Kunstmachen sodann

Deine Anerkennung von Traum als einer Form der Erkenntnismöglichkeit in Gestalt von Visionen

oder Bildern.

MÜLLER Es gibt in den Svendborger Gesprächen zwischen Brecht und Walter Benjamin einen

Dialog über Stalin. Darin sagt Brecht, das ist zwar nicht eine Diktatur des Proletariats, aber eine

Diktatur über das Proletariat im Interesse des Proletariats. Worauf Benjamin erwidert, das komme

ihm vor, wie das Auftauchen eines gehörnten Fisches aus der Tiefsee. Das sind zwei Haltungen zu

einem Problem. Die von Brecht ist sicher für eine ganze Weile die einzig produktive gewesen. Ich

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glaube, dass sie heute nicht mehr ganz ausreicht. Was den Vorwurf des Pessimismus betrifft: Das

ist doch auch der Vorwurf, ein gutes Gedächtnis zu haben, und Optimismus beruht auf der

Fähigkeit, zu vergessen und zu verdrängen.

SCHUMACHER Das muss nicht unbedingt so sein.

MÜLLER Aber das ist ein wesentlicher Bestandteil von Optimismus.

SCHUMACHER Das hat die Menschheit immer so gehalten.

MÜLLER Sicher, aber was mir jetzt an mir selber so unheimlich ist, wenn ich die Entwicklung von

den frühen Stücken zu den letzten ansehe, das ist, dass mir dasselbe passiert wie Brecht, nämlich

dieser Abflug ins Parabolische, diese Realitätsflucht bei Brecht genauso, bei Schiller genauso, bei

Goethe genauso. Nur weil andere jung gestorben sind, haben sie das nicht mehr geschafft,

Büchner zum Beispiel, der an der Realität gestorben ist. Das muss auch etwas zu tun haben mit

einem Problem der deutschen Geschichte, mit diesen immer neuen Anläufen, die immer wieder

versandet oder jedenfalls ins Stocken geraten sind. Das kann man also nicht abtun mit Begriffen

wie Pessimismus oder Optimismus. Es gibt jetzt eine Situation, wo, poetisch gesagt, uns die

Geschichte mit Sie anredet. Ich möchte mal wieder mit Du angeredet werden. Damals, in der Zeit

der UMSIEDLERIN und des LOHNDRÜCKER, gab es, nicht nur subjektiv für mich, eine Situation,

wo, poetisch gesagt, uns die Geschichte mit Du angeredet hat, auch wenn es viel härter zuging.

Das hängt vielleicht unmittelbar damit zusammen, dass Sachen offen ausgetragen wurden,

vielleicht auch brutal, aber es gab eine wirkliche Bewegung. Im Moment aber ist das aus Gründen,

die nicht Schuld der DDR oder der Sowjetunion sind, viel schwieriger. Und das macht es auch

schwieriger, unmittelbare Gegenwartsdramatik zu schreiben, wenn man nicht moralisiert, wie die

sowjetische Dramatik es tut, da geht es um Verantwortung, das Ethos, die Qualität des Einzelnen,

weil man auf dem Theater über Systemprobleme nicht handeln kann oder will; deshalb sind die

Stücke hier so nützlich, die Stücke von Gelman und wer weiß noch. Das sind sicher gute Stücke,

sie geben Impulse, aber es bleibt immer in den Grenzen der Moralität.

SCHUMACHER Nun, Brecht wollte durch das Theater Impulse vermitteln, die die Menschen

befähigen sollten, sich selbst als Veränderer zu verstehen, nicht bloß als Interpreten. Ist diese

Haltung historisch überholt, ist sie nicht mehr brauchbar?

MÜLLER Die Frage ist doch, wie man Impulse noch an und in die Leute bringt. Da ist die Methode

Brechts inzwischen zu simpel, zu primitiv.

SCHUMACHER Deine Haltung ist inzwischen die, die Leute zu schocken ...

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MÜLLER Nicht nur.

SCHUMACHER Aber es sind Deine Formulierungen.

MÜLLER Formulierungen sind Glücksache ...

SCHUMACHER Nun, ich weiß, dass Du ein Bibelanhänger bist: Ärgernisse müssen sein, aber

wehe dem, durch den Ärgernis kommt. Das hast Du für Dich einkalkuliert ... Aber doch

nachgefragt: Welche Impulse sollen denn mit Deiner Schocktherapie vermittelt werden? Glaubst

Du ernsthaft, dass Kunst schocken kann?

MÜLLER Das wäre ja auch viel zu einfach. Worum es geht, und zwar in jedem Fall, ist,

Gewohnheiten und Verdrängungen zu stören. Es geht gar nicht um Schock, das ist wirklich

modisch, auch wenn ich es gesagt habe, das ist nicht so ernst zu nehmen. Es geht wirklich darum,

Verdrängungen zu stören und die Auslöschung von Gedächtnis zu bekämpfen, die auf der ganzen

Welt stattfindet.

SCHUMACHER Zu welchem Zwecke willst Du dieses Gedächtnis bewahrt wissen? Du bist also

doch »positiv geladen«?

MÜLLER Es ist diese Auslöschung von Gedächtnis, ob sie im nationalen Rahmen oder individuell

erfolgt, im Westen zum Beispiel ganz extrem durch diesen Videomarkt. Da wird Freizeit völlig

besetzt, und es bleibt überhaupt kein Raum für Phantasie, auch nicht für soziale Phantasie. Alle

Energien werden aufgesogen. Da braucht man gar keinen Faschismus mehr, das klappt schon mit

viel Videokassettenkrieg, da braucht man nichts anderes mehr. Und wir hier sind nicht ’raus aus

diesem Wirrwarr, und zwar nicht nur, weil es auch bei uns über das Westfernsehen geschieht,

sondern weil es bei uns auf humanere Weise auch geschieht, dieser Versuch, das Gedächtnis

auszulöschen und Verdrängung zu lehren als Pflichtfach. Diese Störung halte ich für ganz

wesentlich, und das ist eine Variante, ein neuer Ansatz von Aufklärung von einer anderen Flanke

her ...

SCHUMACHER ... sozusagen von der »negativen Dialektik« her. Letztlich geht es also auch Dir

darum, diese Menschheit nicht zugrunde gehen zu lassen.

MÜLLER Ich will nur vorher noch herauskriegen, woran es gelegen haben könnte, das interessiert

mich. Du kennst es ja, 1929 hat Freud die These aufgestellt, daß die Menschheit einfach auf

Grund ihrer psychologischen Struktur eine Waffe entwickeln wird, die die Auslöschung der Gattung

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ermöglicht. Das war offenbar ausrechenbar, und es interessiert mich nun, woran das liegt.

SCHUMACHER Einstein hat schon 1921 ausgerechnet, dass ein Kohleeimer von Atomenergie

genügen wird, die Menschheit auszulöschen. Sie wussten, woran sie arbeiteten.

MÜLLER Das ist natürlich ganz schwer, das ist ein wirkliches Problem für das Schreiben, was

Christa Wolf vielleicht am simpelsten in ihrer Vorlesung formuliert hat: Niemand kann behaupten,

dass das nicht passieren kann, das kann kein vernünftiger Mensch mehr behaupten. Aber wie

kann man von Leuten verlangen, ihre Arbeit zu machen, sie so gut zu machen wie möglich, und

dabei gleichzeitig dieses Bewusstsein zu haben: Es kann passieren, dass es alles nichts nützt.

Das ist die neue Situation. Und Du merkst es in jedem Bereich, und gerade in der Literatur wie in

den anderen Künsten auch, dass das Handwerk immer mehr verkommt. Das hat etwas mit dieser

Situation zu tun, das ist eine schleichende Krankheit. Und dagegen muss man etwas tun. Dagegen

kann man aber nichts tun, wenn man einfach die Augen davor verschließt. Ich glaube, auch wenn

es religiös klingt, an so etwas wie die Schwerkraft einer Gesellschaft. Ich habe das mit großem

Entzücken in der U-Bahn gelesen, dass ich das irgendwann gesagt habe, ich wusste das gar nicht

mehr: Wenn man in die Luft gesprengt werden soll, muss man sich ganz schwer machen. Also

schwer auch mit Kunst, nicht? Kunst gehört zum spezifischen Gewicht einer Gesellschaft und

Kultur. Da darf man sich nichts wegnehmen lassen davon. Das ist keine sehr direkte, das ist eher

(im Sinne von Marx) eine sehr vermittelte Verbindung.

SCHUMACHER Aber warum hast Du die eine Linie in Deinem Schaffen, die näher an dieser

Wirklichkeit dran war, fast völlig aufgegeben?

MÜLLER Weil es der Gesellschaft nichts mehr bringt, unmittelbar an dieser Wirklichkeit zu bleiben.

Nimm doch jetzt das neue Stück »Georgsberg« von Rainer Kerndl. Er wollte ein paar der aktuellen

Probleme dieser Gesellschaft benennen, aber das ging nicht. Es ist lächerlich, aber es ist so. Mich

interessieren diese Probleme gar nicht, sie sind für mich kein Vorwurf für ein Stück.

BERT KOSS Aber mit der Konstruktion eines solchen Problems fängt es ja doch an. Für uns, die

wir doch später Theater machen wollen, bleibt die Frage, wie stellt man sich einem solchen

gesellschaftlichen Problem, dass alles kaputtgehen kann, wenn man sich soviel Optimismus, wie

er offiziell verkündet wird, gar nicht zutrauen kann?

MÜLLER Es gibt so einen schönen Satz von Brecht: »In der ›Roten Fahne‹ stand noch: ›Wir

werden siegen‹, da hatte ich mein Geld schon auf einem Schweizer Konto.« Das äußerte er, als er

für Erwin Strittmatter, der an »Katzgraben« arbeitete, Geld beschaffen wollte, es aber keinen gab,

der das verantworten wollte.

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KOSS Der Optimismus, der aus dieser Haltung spricht, macht mich ja noch unglücklicher.

MÜLLER Man muss doch grundsätzlich davon ausgehen, und jetzt wird es etwas theologisch, was

Schumacher als Bayern ja nicht stört, dass der Einzelne sowieso weiß, dass er sterblich ist. Es gibt

diesen schönen Spruch: Der Mensch ist das einzige Tier, das weiß, dass es sterben wird, und das

macht seine Würde aus, und eben alles so zu tun, so gut zu machen, wie er kann, obwohl er weiß,

dass er stirbt. Und das gilt inzwischen für die ganze Menschheit. Ich sehe darin keinen so

wesentlichen Unterschied. Es geht nur darum, wie man sich darüber verständigt. Das Problem der,

mal ganz doof gesagt, Völkerverständigung oder Kommunikation wird immer dringlicher. Sehr hoch

gegriffen, geht es jetzt letztlich darum, so etwas wie ein Gattungsbewusstsein zu entwickeln. Das

klingt sehr metaphysisch, aber das ist die einzige Chance. In dieser Situation gilt auf ganz andre

Weise dieser Commune-Grundsatz: »Keiner oder alle ...«

SCHUMACHER Das hört sich gut an, ich stimme dem voll zu. Aber wenn ich zum Beispiel an

Deine letzte Inszenierung in der Volksbühne, nämlich von MACBETH, denke, da kommt als

»Botschaft« zum Schluss doch nur das buddhistische Rad der ewigen Wiederkehr des Gleichen

heraus, nämlich dass die Welt ein Schlachthaus sei.

MÜLLER Aber eines wirst Du mir nicht widerlegen können: Die Welt, so wie wir sie bisher aus

Überlieferung und Erfahrung kennen, ist nun mal ein Schlachthaus. Das muss nicht so bleiben.

Aber bisher ist das Gegenteil nicht konkret geworden. So sieht das für mich mal aus.

SCHUMACHER Tut mir leid, aber hier habe ich eine etwas andere Meinung.

BERT BREDEMEYER Brechts Courage bringt mir auch nicht die Erfahrung, auch wird die

mögliche Erkenntnis an die Zuschauer delegiert, und die Courage bringt mir auf alle Fälle aber

weniger als Macbeth. Aber ich wollte ein anderes Problem berühren. In den Siebzigern tritt für Sie

offensichtlich die Dritte Welt mehr in den Vordergrund, und zwar das Prinzip, das Lévy-Strauss im

»Wilden Denken« beschreibt. Wie ist diese Erfahrung über die Bühne herunterzubringen?

MÜLLER Da ist sicher was dran, wobei ich den Lévy-Strauss wahrscheinlich erst viel später

gelesen habe. Zuerst habe ich den Fanon gelesen, wo das unter sehr politischem Aspekt formuliert

ist, und das finde ich nach wie vor wichtig, dass diese Länder in der Dritten Welt nicht einfach

europäische Modelle nachmachen, das geht auf jeden Fall schief. Und da gibt es auch immer

wieder fürchterliche Enttäuschungen. Wir oder auch die Sowjetunion liefern Waffen für die

Befreiung, und dann brauchen sie Geld, und da reicht unseres nicht, so dass jetzt zum Beispiel

Moçambique einen Freundschaftsvertrag mit Südafrika schließt. Das ist natürlich tragisch, aber

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das ist eine reine Notlage.

KOSS Aber auf den AUFTRAG bezogen, der ja letztlich an den Schwarzen, den Neger delegiert

ist, kommt mir dieses »wilde Denken« schon ein bisschen komisch vor. Diese Dritte Welt ist ja

schon in einer starken Form pervertiert, geprägt von dem sich nach dem Geldbeutel Strecken, vom

Nachahmen des Konsumstrebens. Wir haben ja nicht den Einblick, aber ein bisschen hat man

schon immer das Gefühl, dass da ein Pflänzchen heranwächst, das den falschen Saft eingesogen

hat.

MÜLLER Das ist vielleicht doch zu kurz gesehen. Zunächst doch noch der schöne Kommentar von

Brecht aus der »Heiligen Johanna«: »Nicht der Armen Niedrigkeit hast du mir gezeigt, sondern der

Armen Armut.« Das muss schon immer voraus gesagt werden. Dann glaube ich schon, dass das

Schlussmanifest aus einem brasilianischen Roman stimmt: Der christlich-jüdische Zyklus ist zu

Ende, es beginnt der lateinamerikanische Zyklus. Der dauert mindestens so lange.

SCHUMACHER Das klingt nicht sehr überzeugend, denn dieser lateinamerikanische Zyklus beruht

auf der Hispanisierung des südamerikanischen Kontinents, die nicht rückgängig gemacht werden

kann.

MÜLLER Jetzt bist du der Geschichtspessimist. Das wird ungeheuer lange dauern und es wird

keine friedlichen Lösungen dafür geben. Das ist ja ein Problem der Friedensbewegung insgesamt,

dieses Fixiertsein auf die Wahnidee, dass es je Frieden gegeben hat, außer einem solchen wie

jetzt gerade in Europa. Der Frieden ist immer erkauft worden mit Kriegen woanders. Es geht daher

im Moment auch eher darum, Krieg noch zu ermöglichen, einen sinnvollen Krieg. Man kann doch

Menschen in solchen Situationen wie in Lateinamerika und ähnlichen Regionen nicht den Krieg

verbieten.

SCHUMACHER Aber das ist nicht das Kernproblem der Friedensbewegung heute.

MÜLLER Grundfrage und Grundlage der Friedensbewegung heute ist doch das Überleben der

Menschheit. Kann man einen solchen Krieg verhindern, der die Menschheit zu vernichten droht,

den Atomkrieg oder diesen »Krieg der Sterne«, das ist die Grundfrage. Dass solche Kriege, wie Du

sie angesprochen hast, unvermeidlich sind, das glaube ich auch.

LOTHAR SACHS Ich möchte das Problem der Realitätsnähe oder -ferne von Dramatik durch eine

Nachfrage zu Ihren Antike-Bearbeitungen stärker geklärt haben. War oder ist diese Verwendung

der Antike notgedrungen, weil es nach der UMSIEDLERIN" nicht mehr möglich war, die Realität

unmittelbar abzubilden?

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MÜLLER Der Abfolge nach ist das nicht so gewesen. PHILOKTET habe ich vor der

UMSIEDLERIN zu schreiben angefangen. Das Gedicht, das sozusagen den ersten Entwurf

enthielt, ist lange vor irgendeinem Bezug zur DDR-Realität entstanden. Es ergab sich aus der

Schulbildung und daraus, dass ich sehr früh die antiken Werke gelesen habe. Dabei haben mich

bestimmte Stoffe interessiert, u. a. eben Philoktet, und das sicher auch aus autobiographischen

Gründen. Da kann man lange hin- und herrätseln. Es ist nicht einfach so, dass ich, weil das eine,

eben diese realistische Abbildung der Wirklichkeit, nicht geklappt hat, das andere gemacht hätte.

Das stimmt höchstens in dem einen Fall, als die Aufführung des BAUS im Deutschen Theater, die

ja schon festgelegt war, nach dem 11. Plenum untersagt wurde und mir Benno Besson, der die

Regie übernehmen sollte, noch für eine Weile Geld zukommen lassen wollte und mich fragte, ob

ich einen Sinn darin sehen könnte, »Ödipus« zu bearbeiten. Er selbst konnte aus seiner Brecht-

Tradition heraus und auch, weil er den Text nur aus einer von Voltaire kommentierten

französischen Übersetzung kannte, wenig anfangen. Voltaire meinte ja, die Tragödie hätte sich

vermeiden lassen, wenn es in Theben eine Kanalisation gegeben hätte, denn dann hätte es keine

Pest gegeben, so daß es dann auch nicht zu diesem privaten Heckmeck gekommen wäre. Das ist

jetzt etwas vereinfacht wiedergegeben, aber so ungefähr war die Version von Besson. Mir fiel

jedoch rechtzeitig ein, daß es da auch die Übersetzung des »Ödipus« von Sophokles durch

Hölderlin gibt, und ich dachte mir, da kann ich mit wenig Silben für eine Weile gutes Geld

verdienen Und so verlief es dann ja auch. Ich habe einfach die Hölderlinsche Übertragung

abgetippt und da und dort was geändert. Das war eine reine Gelegenheits- und Auftragsarbeit.

Aber damit war ich dann auch schon abgestempelt. Wenn irgendeiner etwas Antikes wollte, wurde

entweder ich oder Hacks angerufen. Plötzlich entsteht da eine Bewährung für etwas. Aber in

keinem Fall war es so, dass diese Aneignung der Antike eine Fluchtbewegung gewesen wäre,

dass ich gemeint hätte, hier sei eine Allegorisierung nötig. So etwas kann ich sowieso nicht, ein

aktuelles Problem antik einkleiden. Wenn ein solcher Eindruck entsteht, so war das nicht kalkuliert,

in jedem Fall nicht kalkuliert als ein Ausweichen vor der Unmöglichkeit, bestimmte Realitäten

abzuhandeln, wie etwa Enzensberger anzunehmen schien, der mich als erster zu PHILOKTET

fragte: »Müller, wo haben Sie die Stiche her?« Ich hatte keine Ahnung, er war viel gebildeter als

ich, er hatte so etwas in der bildenden Kunst gesehen.

WOLFGANG RINDFLEISCH Trifft das auch für die Antike-Bearbeitungen, wie etwa LANDSCHAFT

MIT ARGONAUTEN im VERKOMMENEN UFER, in den sechziger und siebziger Jahren zu, oder

ist da doch ein Unterschied im Kalkül, wenn man zum Beispiel an die Szenenanweisungen in

»Strausberg« denkt?

MÜLLER Also was mein Herangehen an die Antike betrifft: Brecht ist mit den antiken Vorlagen viel

freier umgegangen als ich und auch viel ideologischer. Mein Umgang mit dem antiken Material war

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immer völlig unideologisch. Mich hat mehr die Schönheit des Materials gereizt, ich habe darin dann

herumgegraben, aber nie mit einer Konzeption. Dass in die Arbeit Überlegungen einfließen, ist

eine andere Frage, aber ich habe nie, wie es Brecht zum Beispiel bei der »Antigone« getan hat,

einen Text mit einer klaren Konzeption bearbeitet. Das kann ich nicht, und ich habe nie

ideologische Interessen in diesem Sinn gehabt und pädagogische auch nicht.

SCHUMACHER Ideologische vielleicht schon, aber nicht unmittelbar pädagogische?

MÜLLER Nein, ich meine, mein Impuls war nicht subjektiv, von irgendwelchen Absichten bestimmt.

KOSS Ist dann Ihre Ausführung in »Rotwelsch«, wo Sie sagen, es geht um das Patt in der

russischen Revolution, die Unmöglichkeit einer Revolution in Russland, ein Witz oder was?

MÜLLER Das ist diese Schwierigkeit bei Interviews, ich sage da zu selten nein, dann kommen fast

immer Missverständnisse heraus, weil man sich auf einer ganz anderen Ebene bewegt. Wenn man

als Auskunftei über die eigenen Texte befragt wird, dann entwickelt man immer einen Nebentext,

das ist nicht zu vermeiden.

RINDFLEISCH Nochmals zur Gedächtnisauslöschung. Es ist ja doch so, dass man, wenn man

Gedächtnis bemüht, in gewisser Weise auch Produktivität unterdrückt. Bei der

Gedächtniserhaltung sind ja immer wieder Vorgänge in der Geschichte da, die diese Produktivität

ausgelöscht haben. Gibt es, sagen wir mal, eine mögliche Produktivität, die man auch als eine

optimistische Variante bewerten, sozusagen als Fahne hochhalten kann?

MÜLLER Es gibt einen ganz bösen Satz dazu, von dem ich hoffe, dass er nicht stimmt:

Kapitalismus ist eine ökonomische Kategorie, Sozialismus ist eine ethische. Bis jetzt. Das ist das

Problem der Beantwortung einer solchen Frage.

SCHUMACHER Machen wir einen Sprung von der Neuaneignung der Antike zum Verhältnis zur

Klassik. Als Brecht noch gerade dabei war, Marxist zu werden, verfocht er die Auffassung, die

Klassiker besäßen für die Zeitgenossen nur noch Materialwert. Um sie selbst für hier und heute

lebendig zu halten, müssten sie umgeformt werden. Ist das eine Haltung, die auch gegenüber dem

»Klassiker Brecht« anzuwenden ist, um ihn, falls er wirklich so tot sein sollte, wie verschiedentlich

behauptet wird, wiederzubeleben? Was würdest Du mit Brecht anfangen, wenn Du mit ihm so

umgehen könntest, wie Brecht es schließlich mit den Klassikern doch nicht getan hat?

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MÜLLER Ich habe mal mit dem Dokumentarfilmer Peter Vogt eine Bearbeitung der »Tage der

Commune« gemacht. Das hätte ein Beispiel werden können, scheiterte aber natürlich an den

Erben.

SCHUMACHER Könntest Du das erläutern?

MÜLLER Ich erinnere mich nicht mehr genügend. Ich weiß bloß, dass alles, was an dem Stück

historiographisch ist, durch Dokumente visueller Art, also Fotos, Grafiken, Film ersetzt werden

sollte, und dazu der Versuch, das Melodram der Familie Cabet herauszuschneiden. Das ging, das

wurde eine schlanke Sache, zusammen mit dem Film ging das sehr gut.

SCHUMACHER Bleibt die Frage, wie man mit dem klassischen Erbe darüber hinaus umgeht. Von

Brecht stammt ja der Satz: »Wir können den Shakespeare ändern, wenn wir ihn ändern können.«

Er billigt Shakespeare immerhin zu, mit seinen Stückschlüssen den jeweils letzten Schluss

gefunden zu haben. Vielleicht, sagte Brecht, brauchen wir überhaupt keine Bearbeitung, wenn die

Intelligenz, verbunden mit dem ästhetischen Vermögen, entwickelt genug ist, um das, was zu

sehen und zu hören ist, richtig zu bewerten. Man braucht zum Beispiel im »Coriolan« die dort

gezeigten Klassenverhältnisse auf keinen marxistischen Nenner zu bringen, weil die Zuschauer sie

auch in der Shakespeareschen Darstellung richtig verstehen. Hat sich damit in der Zwischenzeit

der Eingriff, oder sagen wir die verdeutlichende Darstellung der Klassenverhältnisse, wie sie

Brecht bei »Coriolan« vorgenommen hat (oder jedenfalls anstrebte), erübrigt?

MÜLLER Der erste Text, den Brecht doch sehr entscheidend bearbeitet hat, war ja »Leben

Eduards II.« von Marlowe. Er blieb nahe an der überlieferten Geschichte, aber der Text war doch

hauptsächlich ein sprachliches Manövergelände, um eine neue Verssprache zu finden. Das war,

so glaube ich, ungemein wichtig. Auch für mich ist ein solches Verfahren sehr wichtig gewesen.

Das nächste war dann für Brecht die Bearbeitung von »Maß für Maß« von Shakespeare, aus der

schließlich »Die Rundköpfe und die Spitzköpfe« hervorgegangen sind. Brecht hat damit schon um

1931 begonnen. Durch die Situation in Deutschland, also durch das Heraufkommen des

Faschismus, wurde Brecht immer mehr dazu gedrängt, ein Stück mit einem direkten Bezug darauf

zu machen. Es ist eines seiner plattesten Stücke geworden, weil es so unmittelbar auf die aktuelle

politische Situation reagieren wollte und sollte. Aber formal war es andererseits auch wieder ein

richtiger Kramladen an Mitteln und Technik. Viel bescheidener in Umgang mit den alten Texten

wurde er dann nach der Emigration. Im »Coriolan« ist der Eingriff mit ziemlich viel Respekt

gemacht worden, aber er war trotzdem falsch, und was Brecht selbst dazu geschrieben hat, ist

unsäglich.

SCHUMACHER Es sind ja eigentlich nur Bruchstücke.

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MÜLLER Ja, aber zum Beispiel diese Begegnung der Bauern: »Bäckt sie immer noch die kleinen

Fladen?«, also dieses Kunstgewerbevolk, das in den späten Brecht-Stücken so unerträglich ist.

Aber da hat sich Shakespeare gerächt, weil der Ablauf bei Shakespeare viel mehr transportiert als

die Mutter-Sohn-Geschichte. Er transportiert das Soziale mit, aber auf eine viel komplexere Weise.

Ich glaube, daß hier Brechts Rechnung nicht aufgegangen ist, denn eigentlich war ja die

»Coriolan«-Bearbeitung ein Stalin-Stück, angegangen noch vor, intensiviert nach dem Tod Stalins,

in der Zeit vor dem XX. Parteitag der KpdSU. In dieser Zeit war der Eingriff, war die Verengung des

Shakespeare-Materials aus aktuellem Anlass, richtig. Aber diese Bearbeitung dann zehn Jahre

später so zu spielen, wie sie entstanden war unter den Verhältnissen der fünfziger Jahre, war

Kunstgewerbe. Das war der Niedergang des Berliner Ensembles auch vom Bühnenbild her. Zum

ersten Mal gab es ein nichtfunktionales Bühnenbild. Wenn Theater in seiner gesellschaftlichen

Funktion so unsicher wird, dann werden die Bühnenbilder immer wichtiger. Es gibt jetzt eine

Hypertrophie von Bühnenbild, und das konnte man an den Berliner Theatern in den letzten

Jahrzehnten sehr gut verfolgen. Mit »Coriolan« hat es angefangen, dann kam »Der Drache« und

dann alle Tiere aller Länder auf allen Bühnen.

SCHUMACHER Dazu könnte man einiges bemerken, auch zum Bühnenbild der MACBETH-

Inszenierung in der Volksbühne. Um aber in der Problemerörterung über Brecht heute

voranzukommen, die sich dieses Oberseminar gestellt hat, würde ich gerne auf das Problem

dramaturgischer Situations- und Typenschaffung zu sprechen kommen. Ein dramaturgisches

Muster war die Szenenfolge »Furcht und Elend des dritten Reiches« von Brecht. Du hast es

aufgenommen, zum Beispiel in DIE SCHLACHT. Könntest Du Dir eine Anwendung für die

Gestaltung von typischen Situationen der gegenwärtigen sozialistischen Gesellschaft vorstellen?

Franz Xaver Kroetz hat ja nach dem Brechtschen Vorbild seine Szenen »Furcht und Hoffnung der

BRD« geschrieben, ich finde, kein sehr geglücktes Unternehmen, und hier in diesem Oberseminar

werden wir noch Szenen von Bonaventura aus Kolumbien zur Erörterung bringen, in denen die

Probleme Lateinamerikas dargestellt werden.

MÜLLER »Furcht und Elend des dritten Reiches« ist für mich leider ein absolut missglücktes

Produkt. Es gibt nämlich ein illusionäres Bild von Nazideutschland, ein Bild wirklich nach dem

Schema der KPD. Zugrunde lag eine völlig unzureichende Faschismusanalyse, die mit dazu

geführt hat, dass diese Partei vernichtet wurde. Brecht machte das viel zu sehr mit. Er war

angewiesen auf Informationen von anderen und Berichte, und das funktionierte nicht. Ich glaube

nicht, dass diese Dramaturgie hier und heute benutzt werden kann. Es gibt da diesen schönen

Satz von Brecht: Eine Fotografie der Kruppwerke sagt nichts über die Kruppwerke. Und eine

Fotografie der DDR sagt nichts über die DDR. Die Zukunftsstruktur der DDR findet man nur

gleichzeitig mit der Vergangenheitsstruktur, und das ist sehr problemreich, das geht nicht mit einer

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so einschichtigen und simpel montierten Dramaturgie, und das kann auch bei Kroetz nicht

aufgehen.

MATTHIAS THALHEIM In diesem Zusammenhang möchte ich auf das »Fatzer«-Fragment zu

sprechen kommen, weil das für mich heute noch modern ist, so in der Feinstruktur der Sprache, in

ihrer Gebundenheit oder in dem, was man den Fatzer-Vers nennt, weil da noch eine

Sprachanarchie oder -spontaneität möglich ist, die Bedeutung ausschreitet, die diese Sprach-

Batzen von allen Seiten beschaut. Da ist noch ein ganzes Stück Valentin mit drin: »Also, wir gehen

jetzt los, und wenn wir wohin kommen, bleiben wir halt da ...«, und dazu das Exotische, dieses

Austasten der Situationen, das einem angenehme Fluchtfelder zur eigenen Nebenproduktion

verschafft. Nun begegnet einem aber in Ihren letzteren Stücken tendenziell mehr eine sprödere

Prosa, die weniger aus der besagten Rhythmisierung oder Spontaneität wie bei »Fatzer«

herkommt.

MÜLLER Das finde ich aus zwei Gründen interessant. Zum einen: Was die Qualität des »Fatzer«-

Textes bis in die kleinsten Elemente ausmacht, ist das Provinzielle. Und ein Aspekt der

Auslöschung von Gedächtnis ist die Zerstörung der Provinzen. Das ist ungeheuer wichtig, wenn

man über Brecht redet, diese seine Verwurzelung im süddeutschen Sprachraum. Das ist der

einzige wirkliche Kulturraum in Deutschland, den es je gegeben hat. Das ist leider wahr, obwohl

Schumacher Bayer ist. Aber meine Großmutter stammt ja auch aus Rosenheim.

SCHUMACHER Damit kommen wir auf alte Gespräche zurück, bei denen wir zum Schluß immer

wieder festgestellt haben, wir müssen gemeinsame Urgroßväter haben, und das können nur die

alten Römer gewesen sein, womit wir ja dann geadelt waren, und eben die Römer haben diesen

Kulturraum geschaffen.

MÜLLER Zum zweiten nun: Was in meinen letzten Texten mir selber unheimlich ist, und was etwas

zerstört schon im VERKOMMENEN UFER vorkommt, das ist, dass sie immer rhetorischer werden.

Das heißt, es sind nur noch Äußerungen eines »Clowns ohne Massen«, also eines Einzelnen. Und

da kann man sich zwar gut anhängen, als Intellektueller, aber man sollte nicht übersehen, dass

das ein Krisensymptom ist, dieses Abheben in die Rhetorik, was nicht nur bei mir so ist, dass es

immer mehr ein Autorentext wird.

SCHUMACHER Was macht das Theater dann damit, steht es ihnen hilflos gegenüber? Ich war

jedenfalls mehrfach beeindruckt, wie Theater gerade aus solchen fragmentarisierten, scheinbar

oberflächlich kollationierten, jedenfalls sehr mittelbaren, verschlüsselten, verfremdeten Texten zu

ganz Eigenem inspiriert wurde.

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MÜLLER Ohne Zweifel ein echtes Problem. Ich fand ganz einleuchtend, was Robert Wilson zu mir

sagte, nachdem er von mir einige Sachen in Übersetzung gelesen hat. Nach den Informationen,

die er hat, denn er hat ja nichts gesehen, hat man, so sagte er, immer versucht, meine Texte – und

es geht hier nur um meine letzten – dem Publikum mehr oder weniger nahezubringen. Nach seiner

Meinung geht es aber darum, sie vom Publikum zu entfernen und sie in einen Kunstraum zu

stellen, eben den, den das Theater schafft.

SCHUMACHER Aber es gibt da die gegenläufige Behauptung, dass auch Deine Texte für Wilson

nur Anlässe für illustratives Bildertheater waren.

MÜLLER Das ist die Meinung von Herrn Merschmeier.

SCHUMACHER Nicht nur, es gibt diese Meinung auch von anderen, dass in der Bilderflut dieses

Theaters der Text und seine Bedeutung untergehen.

MÜLLER Ich bin nicht ganz dieser Meinung. Es waren ja auch gar keine Texte von mir, ich habe

nur collagiert und schnell gemerkt, das geht gar nicht, ich kann dafür nichts schreiben, insofern

stimmt der Vorwurf. Aber wenn jetzt ein Text von mir da ist, und er macht Bilder dazu, ist das eine

andere Situation. Dann geht es.

SCHUMACHER Vielleicht für die Seminarteilnehmer noch einige Informationen, worum es ging.

MÜLLER Ich wurde von Wilson gefragt, ob ich an dem deutschen Teil eines Riesenprojektes

mitarbeiten würde, an dem er seit drei Jahren arbeitet. Der Ausgangspunkt für dieses Projekt

waren Fotos aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, und das war der erste fotografisch

dokumentierte Krieg überhaupt. Die Fotos haben wirklich eine ungeheure Qualität, eben die

Qualität des ersten Blicks. So grausig ist ein Krieg nie wieder fotografiert worden, weil man es

danach ja schon konnte. Das waren ja damals noch solche Monumentalkameras, die ungeheuer

geschleppt, aufgebaut, wieder abgebaut werden mussten ...

ZWISCHENRUF ... wie eine Haubitze ...

MÜLLER So ähnlich, ja. Das war der Ausgangspunkt für dieses Projekt, das Wilson jetzt »Civil

Wars« nennt, also Bürgerkriege, wobei er sich gegen diese Übersetzung wehrt, weil er auch zivile,

familiäre Konflikte, Geschichten von Familien, berühmten Familien im Zusammenhang mit

bürgerkriegsähnlichen Situationen meint. Da gibt es einen Teil in Japan mit japanischen Familien,

einen Teil in Köln mit deutschem Material, einen in Holland mit holländischen Geschichten, einen in

Frankreich, einen in Rom, einen in Minneapolis, und das Ganze soll dann für die Olympiade 1984

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zusammengestellt werden zu einem 12-Stunden-Spektakel, einer einmaligen Aufführung vor 6 000

Leuten. Das ist der Plan, daran hat er drei Jahre gearbeitet, das heißt, er hat zunächst alles

gezeichnet, denn er versteht sich ja als bildender Künstler, er sagt, er wäre gern ein guter Maler, ist

es aber nicht, deswegen braucht er das Theater. Also, er kann seine Vorstellungen genau

aufzeichnen, aber er kann sie als Maler nicht umsetzen, und deshalb benutzt er das Theater, damit

er seine Bilder sehen kann. Das ist ein ganz legitimer Impuls, aber dafür braucht er Geld, sehr viel

Geld. Fertig ist jetzt eigentlich nur der Kölner und der holländische Teil. Alle anderen existieren nur

als Workshops. Auch für den Transport ist noch kein Geld da. PanAm wollte nicht und die

Lufthansa auch nicht. Das Interessante an Wilson ist für mich, das stammt jetzt nicht von mir,

sondern von Bernard Sobel, den Du ja kennst, ein französischer Regisseur, der mehrere Jahre am

Berliner Ensemble gearbeitet hat, und der sagte zu mir, er habe schon vor fünf Jahren zu Strehler

gesagt, der darauf einen Tobsuchtsanfall kriegte: »Was der Wilson macht, ist episches Theater,

das ist ›Kleines Organon‹.« Und er meint auch etwas damit, und zwar ein Theater (und das ist von

Brecht) mit einem Minimum an dramaturgischer Anstrengung, ein Theater, für das nicht der

Unterschied zwischen Laien und Schauspielern essentiell ist, ein Theater also, das wirklich ein

sozialer Freiraum ist, als Entwurf, als Möglichkeit. Und das Auffälligste an diesen Wilson-

Produktionen ist wirklich, dass Wilson als Regisseur die meisten Schwierigkeiten mit

Schauspielern, besonders mit deutschen – nicht mit japanischen! – hat, mit Laien aber überhaupt

keine.

SCHUMACHER Aber sind denn solche Laien, die für Wilson ein brauchbares Material abgeben,

überhaupt in der Lage, solche hochkomplizierten, hochstrukturierten Texte vorzutragen, wie Du sie

schreibst, oder kommt es schon gar nicht mehr auf den Sinn im einzelnen an?

MÜLLER Das ist für mich wirklich eine Frage, die ich nicht so einfach beantworten kann. Das

einzige Theater, das mich in der letzten Zeit wirklich nicht nur angeregt, sondern erschüttert hat,

waren ein paar Aufführungen von Pina Bausch, ein Theater ohne Text. Das ist ein Theater, in dem

die Tragödie plötzlich wieder da ist. Nicht bei Stein, nicht in der Schaubühne, in keiner noch so

berühmten Aufführung. Bei Bausch, da findet etwas unterhalb von Text statt. Das hat sicher auch

etwas zu tun mit der zunehmenden optischen Inflation, dieser Überschwemmung, und dass immer

weniger Leute Zeit haben, ein Buch in die Hand zu nehmen und einen Text zu lesen, einfach weil

es soviel zu sehen gibt.

SCHUMACHER Aber genau das lässt sich gegen das Theater Wilsons einwenden: dass er

vorrangig ein Bildermacher ist, nur dass er die Bilder in anderer Struktur und Abfolge präsentiert.

MÜLLER Wobei die Bilder ja nicht alle von ihm waren, wir haben sie auch zusammen gemacht.

Zwei Bilder sind leider rausgefallen, weil die Zeit zu knapp und der technische Aufwand zu

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wahnsinnig war. Das waren die besten, und das weiß er auch, das sagt er auch. Da war ein Bild

dabei, in dem nichts passiert, als dass sämtliche Figuren einschließlich Friedrichs des Großen

irgendwelche mechanischen Tätigkeiten ausführen, schalten, tippen oder so etwas, aber

pantomimisch, und ganz blökend dazu ist ein Ton darunter, und dazu habe ich den Fahrstuhl-Text

aus AUFTRAG gesprochen. Das ging, denn der Text ist völlig selbständig und das Bild auch. Ich

bin ganz einfach zu spät hereingekommen, ich konnte nichts mehr dafür schreiben.

SCHUMACHER Damit ist grundsätzlich das Problem des Verhältnisses zwischen dramatischem

Text und Umsetzung im Theater, angemessener »Verkörperung«, angemessener »Demonstration«

berührt.

Brecht selber äußerte, zu seinen Lebzeiten könne er nur »30 %« einer idealen epischen

Spielweise verwirklichen, nämlich verkürzt, mit starken Ellipsen, demonstrativ, mit gestischer

Geprägtheit im Ausdruck, weil weder die Schauspieler zu mehr fähig noch das Publikum mehr

hinzunehmen willig seien. Deine dramatischen Texte sind in einem weitaus stärkeren Maße als

zumindest beim »klassischen« Brecht dialektisch strukturiert, elliptisch, assoziativ-andeutend,

paradoxal zugespitzt. Wieviel Prozent der Brechtschen Verfremdungsmittel sind für sie

angemessen?

MÜLLER Ich glaube zum Beispiel, dass die hier schon mehrfach erwähnte MACBETH-

Inszenierung in der Volksbühne, und soviel ich weiß, hast Du das auch geschrieben, ungeheuer

viel mit Brecht zu tun hatte, freilich mit dem bei uns nicht bekannten Brecht ...

SCHUMACHER ... oder dem nicht realisierten ...

MÜLLER Ich erinnere mich, wie Peter Palitzsch, der bei der »Kreidekreis«-Inszenierung der

Regieassistent von Brecht war, ein bisschen erschrocken war über das, was da rauskam: Alles war

so harmlos und bunt, und er fragte Brecht: »Ist das nun episches Theater?« Und Brecht erwiderte:

»Überhaupt nicht. Episches Theater kann es erst geben, wenn die Perversität aufhört, aus einem

Luxus einen Beruf zu machen«, also den des Schauspielers, diese Spezialisierung. Aber Brecht

war so eingespannt, auch in die Tageskämpfe hier, dass er gar nicht dazukam, seine radikalen

Vorstellungen von Theater zu realisieren.

SCHUMACHER Auch wegen des Publikums nicht.

MÜLLER Ja, auch wegen des Publikums, klar. Und ich merke das jetzt wieder. Wolfgang Heinz

sagt ganz ehrlich und ohne Bosheit: »Das hat ein Verrückter inszeniert.« MACBETH, das ist für ihn

verrückt. Das kann man ihm auch nicht erklären, das versteh ich auch. Und er sagt: »Das werde

ich in hundert Jahren auch nicht verstehen«, was ich einen optimistischen Satz finde. Bloß, da

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kann man sich kaum verständigen, glaube ich. Aber beim Publikum, da hat sich ein bisschen was

geändert. Das Publikum unter dreißig ist jedenfalls ansprechbar für eine solche Art Theater, das

über vierzig sowieso nicht.

SCHUMACHER Wo siehst Du im europäischen Raum, der für die Studenten einigermaßen

überblickbar ist, Theater entstehen und gehandhabt, das Deinen Vorstellungen einigermaßen

entspricht, oder gilt auch für Dich immer noch die Situation von Brecht mit den »30 %«, wenn nicht

gar von »10 %«?

MÜLLER Da sind nur Pina Bausch, die mich wirklich interessiert hat, und einzelne Inszenierungen.

Als Gesamttendenz sind es diese Sachen. Und ich frage mich, wie man das für einen Text

produktiv machen kann. Das ist ein ungelöstes Problem. Es geht wahrscheinlich nur mit Mitteln,

wie sie Brecht beschrieben hat, wo sie einen aber für verrückt erklären, wenn man sie anwendet,

wenn man also mit einem Text so umgeht wie das Kabuki-Theater, ich meine in der Annäherung.

Dann halten mich schon die Schauspieler für einen Irren und wollen erklärt haben, warum, und da

bist Du schon verloren, denn erklären kann man das nicht.

SCHUMACHER Man könnte es noch extremer formulieren, denn der Text ist im Kabuki überhaupt

nur Anlaß für Aktion.

MÜLLER Sprache als Material, Text als Material zu behandeln, die Mißverständnisse darüber,

auch dass meine Texte schwierig sind, entstehen doch daraus, dass die Schauspieler sie für

schwierig halten und Mühe haben, sie zu verstehen, und deswegen, dem Publikum gegenüber

auch noch von der Regie dazu angehalten, die Haltung von Pädagogen oder Erklärern einnehmen.

Wir sind ein bisschen klüger als ihr, ihr seid ein bisschen dümmer, wir erklären euch das jetzt,

damit ihr es versteht. Und schon wird ein Text schwierig.

Ein ganz einfaches Beispiel. Benno Besson wollte in der Volksbühne Brechts »Guten Menschen

von Sezuan« inszenieren, was er dann ja auch getan hat. Er fragte mich: »Sag mal, wie mache ich

das bei der Situation in Berlin, wo Shen Te sagt: ›Wenn in einer Stadt ein Unrecht geschieht ...‹

und so, dann ist es besser, daß sie ›untergeht / Durch ein Feuer, bevor es Nacht wird‹, wie mach

ich das?« Ich sagte: »Das weiß ich auch nicht, das musst Du wissen.« Dann hat er probiert und

sagte zu Karusseit: »Usch, mach mal, wie würdest Du das machen?« Und die Karusseit mit dem

Instinkt der Theaterbestie ging natürlich an die Rampe und brüllte den Satz ins Publikum. Besson

raufte sich die Haare und sagte: »Das ist falsch, ganz falsch. Du musst das ganz anders machen.

Pass auf, Du bleibst hinten und sagst es ganz leise, und Du musst ganz anders betonen.« Und

dann machte er ihr vor, ganz leise: »Wenn in einer Stadt« und so weiter, dann ganz laut »bevor es

Nacht wird.« Das war wirklich die Erfindung des Manierismus. Kein Mensch verstand mehr den

Satz, alle lachten darüber: warum nicht »nachher«? So entsteht der Manierismus in unseren

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Inszenierungen.

SCHUMACHER Im Grunde diskutieren wir damit über den Zentralbegriff der Verfremdung bei

Brecht. Wie weit weg von der Alltagswirklichkeit muss die theatrale Abbildung getrieben werden,

um die Darstellung vom bloßen Imitat abzuheben, und wo erfährt die szenisch-darstellerische

Auffälligmachung ihre Begrenzung, wenn sie noch den Sinn, irgendeine »Botschaft«, wie immer

man das nennen will, mitvermitteln will, wenn sie »rational« kommunikabel bleiben soll. Deine

Texte sind diesbezüglich vielfach sehr hermetisch, sie wirken wie Ausdruck der

Selbstverständigung des Subjekts Heiner Müller, in dem die Widersprüche des 20. Jahrhunderts,

wenn nicht des Menschseins, zusammenschießen und auf die komprimierteste Form gebracht

sind. Hier ist schon im Text eine solche Verdichtung erreicht, dass ein Publikum, wie ich es zum

Beispiel am Freitagabend im Metropol erlebt habe, damit gar nicht kommunizieren kann.

MÜLLER Mit einem Goethe-Text auch nicht, mit Shakespeare auch nicht. Man muss sich, glaube

ich, die Illusion abgewöhnen, dass es in einer Zeit der Massenmedien Volkstheater geben kann.

Das hat Strehler schon vor zehn oder fünfzehn Jahren gesagt. Das ist eine sozialdemokratische

Illusion, Volkstheater im Zeitalter der Massenmedien. Man muss also überlegen, wie man – und

das ist ja auch ein Aspekt der Theatertheorie und -praxis von Brecht– das Theater gegen den Sog

des Fernsehens und des Films absichern, wie man es gegen den zerstörenden Einfluss dieser

Medien abdichten kann.

SCHUMACHER Aber es gibt nun einmal das Bedürfnis nach einem Theater, das dem Publikum

Unterhaltung in der herkömmlichsten Form bietet. In der von mir erwähnten Vorstellung im

Metropol am Freitagabend war diese Unterhaltung auf das denkbar niedrigste Niveau gedrückt,

»Die Tante aus Brasilien«, eine Variante von »Charly‘s Tante«, aus der Sowjetunion importiert,

nachdem sie dort über 500mal gespielt worden ist, mit der schmissigen Rotzmusik der

heruntergekommenen Operette. Aber das Publikum ließ sich das nicht nur um die Ohren hauen,

sondern ging mit, bis nach der Pause ein Chargenschauspieler aus dem 19. Jahrhundert, der die

Rolle eines Butlers spielt, das Publikum fragte: »Seid ihr noch alle da?« Da sprang im ersten Rang

ein junger Mann auf und rief. »Das ist eine künstlerische und politische Instinktlosigkeit erster

Güte, was hier passiert«, was den Mimen an der Rampe so verdatterte, dass er von einer

Inspizientin hinter den Vorhang gezogen werden musste, und der Intendant oder Chefdramaturg

des Metropol am nächsten Morgen die Zeitungen anrief, sie möchten keine Kritik veröffentlichen,

weil es sich nicht um die Premiere, sondern um die Generalprobe gehandelt habe. Das Publikum

hätte sich ohne den Zwischenrufer diese Art von heruntergekommenem Theater durchaus gefallen

lassen. Wie unter diesen Umständen Theater machen, das schon in der textlichen Vorgabe eine

solche Verdichtung erreicht hat, wie sie bei Deinen Texten erreicht ist, und dafür theatrale Formen

der Versinnlichung finden, die sie kommunikabel machen und halten? Als Du noch Marxist und

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Brechtianer warst, hast Du noch die Meinung von Theater als einem Laboratorium sozialer

Phantasie gehabt. In der Konsequenz hieße das heute, einem Theater, das die Bedürfnisse breiter

Massen befriedigt, eine Art experimentellen Theaters, eines avantgardistischen Theaters neuer Art

hinzuzufügen oder gegenüberzustellen.

MÜLLER Das ist doch ganz einfach. In der Antike gab es nur einmal im Jahr Theateraufführungen.

Es gab da noch nicht diesen Repertoirezwang, dem heute der Theaterbetrieb unterliegt. In großen

Theaterzeiten, so auch in den zwanziger Jahren, wurden doch die großen Stücke nicht fünfzigmal

durchgejagt, wie es heute aus Mangel an Stücken und an Beweglichkeit der Apparate geschieht.

Ich bin sicher, für jedes meiner vorhandenen Stücke gibt es in Berlin ein Publikum für zwanzig

Vorstellungen, und mehr muss nicht sein. Der Rest ist eben wirklich dieser Bewegungslosigkeit der

Apparate zu verdanken, der Dramaturgie, dem Ministerium, was immer, das sind doch alles

Bremsen.

SCHUMACHER Im Grunde gibt es für Dich in Berlin vier Theater: das Berliner Ensemble, die

Volksbühne, das Gorki Theater und natürlich das Deutsche Theater. Aber in jedem dieser Theater

vermag nur eine Minderheit der Leute, die dort reingehen, mit Deinem Theater, als Ausdruck eines

neuen zeitgenössischen Theaters verstanden, etwas anzufangen. Könnte dem Problem ab- oder

vorangeholfen werden, indem jedem Theater ein experimenteller Freiraum zugebilligt würde,

jedem Theater eine Experimentierbühne?

MÜLLER Das ist eine ganz pessimistische Einschätzung. In Westberlin ist jetzt etwas

Merkwürdiges passiert. Am Schiller Theater hat ein sehr mittelmäßiger Regisseur Gundling

inszeniert. Die Dramaturgie hatte Irene Böhme; Hilmar Thate und Angelica Domröse waren die

wichtigsten Darsteller. Das Ergebnis war mittelmäßig, aber der Skandal riesig. Während der

Premiere gingen zwei Drittel des Publikums weg, so ist mir erzählt worden.

SCHUMACHER Das stimmt nicht. Ganze acht Leute sind rausgegangen, sah ich selber.

MÜLLER Aber die Presse, die »Bildzeitung« und die ganze Springer-Presse waren entsprechend

dagegen. Friedrich Luft schrieb: »Ich musste drei Schnäpse trinken, um das runterzuwürgen«.

Aber vielleicht gerade deswegen sind die Leute dann reingegangen, die sonst nie ins Schiller

Theater gingen. Man sollte also nicht so schnell aufgeben.

SCHUMACHER Trotzdem die Frage: Hat Brechts Aufsatz von 1939 Ȇber experimentelles

Theater«, mit dem er sein Entrée in Schweden vor Studenten der Stockholmer Universität gemacht

hat, mit seiner Grundaussage, Theater des 20. Jahrhunderts müsse, wenn nicht in Gänze, so doch

partiell einen experimentellen Charakter haben, auch noch Gültigkeit im Sozialismus?

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MÜLLER Das Problem ist doch die Kulturpolitik. Es ist ja nicht so, dass es zu viel Kulturpolitik gibt,

sondern zu wenig, und dass sie rein defensiv eingestellt ist. Es ist doch schon oft über dieses

Projekt eines Theaters für solche Zwecke in Berlin gesprochen worden, was ja durchaus ginge.

Aber es ging nie, weil die bestehenden Theater immer genügend Schwierigkeiten haben. Trotzdem

muss man immer wieder darauf kommen.

SCHUMACHER Wir haben über den Begriff der Verfremdung bei Brecht gesprochen. Kannst Du

mit dem Komplementärbegriff der Historisierung noch etwas anfangen?

MÜLLER Es ist die Frage, was man darunter versteht. Ich würde darunter nicht verstehen die

sogenannte Treue des Details, dieses Stimmige im Umgang mit Geschichte. Es gibt da die

Anekdote, dass Brecht Elisabeth Hauptmann angeregt hat, ein Stück über Karl XII. zu schreiben.

Ihm gefiel an der Geschichte eine Episode: Karl XII. wird eingeschlossen, ich weiß jetzt nicht mehr,

von welcher Armee, und es gibt nichts mehr zu essen, es ist Winter, die Soldaten erfrieren und

verhungern, und als das Schloss dann eingenommen wird, entdecken die Eroberer unter einem

Haufen gefrorener Leichen ganz unten das Gesicht von Karl XII., auch im Eis, und alle hatten sich

um ein Stück Brot gekloppt; darüber wollte Brecht ein Stück. Die Hauptmann fing an, das zu

schreiben, und dann kam sie irgendwann mit der Fabel oder ihrer Dramaturgie nicht weiter. Sie

kam zu einem Punkt, wo sie sagt, jetzt im dritten Akt kann ich nur weiterschreiben, wenn eine

Nachricht von einem Ort zum anderen gelangt, schneller als es mit den Transportmitteln der

damaligen Zeit möglich war. Da sagte Brecht: »Dann lassen Sie doch telefonieren.« Das finde ich

eine realistische Haltung zur Frage der Historisierung. Also wenn das der Aussage dient, dann soll

man telefonieren.

SCHUMACHER Der Begriff der Historisierung impliziert bei der praktischen Anwendung eine

Paradoxie. Ideell gesehen soll das, was gezeigt werden soll, weit weggerückt werden, um den

Schritt der Geschichte, der seitdem getan wurde und damit Veränderungen einschließt, bewusst zu

machen. Praktisch lebt das Theater jedoch vom Gegenwärtigsein, das immer Gegenwärtigmachen

bedingt.

MÜLLER Das Verfahren hat ja eine zusätzliche Tücke. Diese so eng verstandene Historisierung

wird dann eben auch benützt, um zu sagen, so schlimm war es einmal, aber mit uns hat das

überhaupt nichts zu tun. Das hat auch mit dem platten Inhalt zu tun.

THALHEIM Ich möchte nochmals auf die »Fatzer«-Bearbeitung für das Berliner Ensemble

zurückkommen. Wie kam es dazu?

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MÜLLER Es gab in den Sechzigern einen Hospitanten oder Assistenten im Berliner Ensemble,

Guy de Chambure. Das war der einzige Millionär, der je am Berliner Ensemble engagiert war, ein

Rothschilderbe, der leider nach einer Entziehungskur vom Alkohol an einem Herzinfarkt gestorben

ist, in Paris, wohin er zurückgekehrt war. Er war ein sehr intelligenter Mann, einfach eine schöne

Farbe in dieser etwas grauen Mannschaft des Berliner Ensembles. Der besorgte immer Whisky für

alle, na, ich kannte ihn ein bisschen, und wir sprachen einmal darüber, ob man mit diesem

»Fatzer« Material etwas anfangen sollte. Das ging natürlich nur, wenn man es auf eine Darstellung

durch Ekkehard Schall hin anlegte. Das haben wir dann auch gemacht. Da gab es dann ein paar

Sitzungen, aber im wesentlichen ist nicht viel mehr herausgekommen, als was Alexander Stillmark

davon aufgeschrieben hat. Das Vorhaben wurde irgendwie in der Dramaturgie nicht ernst

genommen. Man hielt es nicht für machbar, und gab anderen Projekten, die für wichtiger gehalten

wurden, den Vorzug. Es ist irgendwann eingeschlafen.

BREDEMEYER Aber Sie haben ja den »Fatzer« später dann doch für eine Aufführung in Hamburg,

glaube ich, bearbeitet.

MÜLLER Ja. Zuerst hatte ich ja auch nur das Fragment in den »Versuchen« gelesen, ein Stück

aus dem dritten Teil, die Fleischbeschaffung, die Schlägerei mit den Fleischern. Dann kam dieser

Ansatz einer Bearbeitung im Berliner Ensemble. Schließlich die Aufführung in der Schaubühne, die

schlecht war, weil die versuchten, das als eine Historie, also richtig mit Milieu und so, zu zeigen,

was natürlich schief ging. Daraufhin habe ich mir das ganze Material aus dem Brecht-Archiv geben

lassen. Das waren ungefähr 500 Seiten, was gewaltiger klingt, als es ist, denn manchmal ist auf

einer Seite nur ein halber Satz oder eine Notiz oder eine Zeichnung. Und sehr viele Varianten.

Dann habe ich mich allmählich durchgewühlt, es war ganz schwer, deswegen lüge ich dann immer,

wenn ich versuche, das zu beschreiben, weil es eine so blinde Praxis war. Ich erinnere mich,

Hanns Eisler hatte DIE UMSIEDLERIN gelesen und sagte daraufhin nicht zu mir, sondern zu Hans

Bunge: »Er ist eine große Begabung, aber leider eine dumpfe.« Und da war aus seiner Sicht was

dran. Das ist aber auch meine Sicht, denn meine Überlebensfähigkeit liegt in dieser Dumpfheit,

dass ich wirklich nicht kalkuliert arbeite. Ich kann hinterher viel darüber reden, auch analytisch, und

viel darüber nachdenken, aber es ist so instinktmäßig, mein Arbeiten. Ich habe also einfach diese

Blätter in meinem Zimmer ausgebreitet, und das Zimmer reichte dann nicht, und dann bin ich von

einem Platz zum anderen gegangen. Es musste ja anfangen mit dem ersten Weltkrieg, das war

klar, und dann setzte sich allmählich eine Struktur zusammen. Es gilt ja wirklich der Satz: Wir

machen Dinge, von denen wir nicht wissen, was sie sind. Das erfährt man hinterher, wenn sie

fertig sind. Daran muss man auch festhalten, glaube ich, und auf diesem Recht bestehen, dass

man blind produziert. So entsteht Realismus. Sonst entstehen Plakate oder Allegorien oder was

immer.

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RINDFLEISCH Gab es da nicht Schwierigkeiten mit den Erben?

MÜLLER Überhaupt nicht. Barbara (Schall-Brecht) war sehr begeistert und sagte: »Du kriegst für

die Bearbeitung 1 % der Tantiemen.« Ich habe dann zäh gehandelt, und sie sagte: »Also mehr hat

noch keiner gekriegt. Aber weil Du es bist und weil es mir so gut gefallen hat, kriegst du 1 1/2

Prozent.« Nun war ich sehr stolz auf dieses Verhandlungsergebnis.

SCHUMACHER Wieviel hat denn Palitzsch jetzt für den »Jakob Geherda« ausgehandelt?

MÜLLER Bestimmt nicht mehr als 1 1/2 Prozent. 1 1/2 krieg nur ich.

SCHUMACHER Du stehst ja in einer außerordentlichen Gunst bei ihr, das ist erstaunlich. Sie hat

eben doch nicht vergessen, dass Du von Brecht hergekommen bist.

MÜLLER Na, zwischendurch war ich natürlich auch mal Verräter. Aber das gibt es bei so engen

Beziehungen, das ist unvermeidlich.

SCHUMACHER Irgendwie ist es traurig, dass alle diese Fragmente mit Ausnahme des

»Brotladens« nicht im Berliner Ensemble, sondern außerhalb das Licht der Bühne erblickt haben.

Das letzte Beispiel war die Aufführung des eben erwähnten Fragments »Das wirkliche Leben des

Jakob Geherda« in Köln, das Peter Palitzsch inszeniert hat. Das liegt aber sicher nicht allein an

der Leitung des Berliner Ensembles, sondern auch an der Vorsicht der Brecht-Erben, die das

Brecht-Bild freihalten wollen von diesen unausgereiften, jedenfalls nicht vollendeten Entwürfen

usw., um das Bild des wahren, guten, schönen Klassikers zu erhalten. Dabei zeigte die Aufführung

des »Brotladens«, dass an solchen Fragmenten sich sehr viel demonstrieren lässt, was für die

Lebendighaltung Brechts von Interesse ist. Zum Beispiel kam Agnes Kraus, die die Witwe Queck

spielte, zum ersten Mal aus einer braven Mittelmäßigkeit heraus und war wirklich herausragend.

Aber insgesamt geht es ja heute um die Frage, wie auch der »Klassiker« Brecht lebendig gehalten

werden kann. Vor dieser Frage stehen Sie, meine Damen und Herren, ja bald selbst.

KOSS Ich sehe das aber auch so: Was machen wir mit Heiner Müller?

THALHEIM Da würde ich gerne eine Gretchenfrage stellen. Sie bezieht sich auf die so nebenbei,

vielleicht ironisch gemachte Bemerkung von Professor Schumacher: »... als Du noch Marxist warst

...« Wie steht es damit wirklich?

MÜLLER Ich habe da Schwierigkeiten, genau zu sagen, wer Marxist und wer keiner ist. Ich bin

Schriftsteller und schreibe Stücke. Ich würde nie sagen: Ich bin Marxist, das wäre mir ganz fremd.

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Das würde mir wie eine Pose vorkommen. Marx selbst hätte auch nie gesagt, ich bin Marxist. Da

gibt es ja diesen Spruch: »Gott behüte mich vor den Marxisten.« Um es mal seriös zu behandeln:

Natürlich geht es um eine solche Unterscheidung, das finde ich dann schon richtig. Godard hat das

mal ganz gut formuliert: Es ist unsinnig, politische Filme zu machen, es geht darum, Filme politisch

zu machen. Um diese Unterscheidung geht es eigentlich, dass man das nur auf seine Praxis

beziehen kann. Deswegen kann ich nicht sagen, ich bin Marxist. Ich schreibe vielleicht mit

marxistischem Wissen, das ich habe oder nicht habe, damit schreibe ich meine Texte, aber ich

könnte das nie so sagen.

SCHUMACHER Bringen wir doch das Problem nach christlichem Vorbild einfach auf die

Überzeugung: Anima naturaliter marxistica ...

MÜLLER Da möchte ich mit Brechts Galilei antworten. Als der von Virginia die ethischen

Grundsätze von Montaigne vorgelesen bekommt, sagt er nur immer: »Weiter, weiter.« Aber als sie

vorliest: »Bewundernswert ist das Gute«, sagt er: »Lauter«, und dann wiederholt sie:

»Bewundernswert ist das Gute.« Das finde ich enorm.

(Redaktion: Ernst Schumacher)

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Die Regisseurin Claudia Bosse (* 1969) zählt zu den Gründerinnen der experimentellen Theatergruppe »theatercombinat«. Von Januar 1999 bis Dezember 2000 erarbeitete das Kollektiv das Projekt »massakermykene«, eine zweijährige Forschungsarbeit zu den The-men Chor, Improvisation und Raum im 50.000 qm großen Schlachthof St. Marx, Wien. Zen-trale Textgrundlagen der Arbeit waren die »Orestie« von Aischylos sowie das »Fatzer«-Frag-ment. Bereits im Jahr zuvor hatte Bosse »Fatzer« am Grütli-Theater in Genf inszeniert.Bosses Arbeit an und mit dem Fatzer-Text ist umfangreich im Netz dokumentiert. In der fol-genden Vorbemerkung erläutert sie einige ihrer grundlegenden Gedanken zum Theater in diesem Kontext. Die fehlende Großschreibung (ein Markenzeichen u.a. Brechts) ist aus dem Originaltext übernommen.

vorbemerkung zu einer dokumentationclaudia bossedie wichtigkeit einer aufführung bezieht sich nicht primär aus der arbeit an der vorher bestimmten botschaft für das publikum, sondern aus dem produktionsprozess, d.h. der wichtigkeit für alle teil-nehmenden. nur so kann eine produktion in einen direkten dialog mit dem zuschauer treten – in der individuellen konfrontation im arbeitskollektiv und danach mit dem zuschauer, dem keine be-deutung fertig geschnürt übermittelt wird, sondern der anhand der gezeigten haltungen seine be-deutung finden muß, in dem der raum für eine erfahrung zugestanden wird. die auslassung konfrontiert den zuschauer mit seiner realität, die präsentation bezieht daher ihre gesellschaftliche relevanz.

das grundproblem betrifft das kommunikationsschema eines theaters, das mit seiner "wirkung" kal-kuliert. die suche nach der vorherbestimmung der emotion des zuschauers, mit scheinbar aktiver kompositionsbeteiligung des zuschauers, ist ein produkt von spekulation. in der scheinbaren frei-heit suche nach direkter manipulation. effektkonsum bei polizeilicher wiedererkennung der einzel-effekte. ein völlig autoritärer prozess nach beiden seiten: einerseits unterwerfe ich mich wirkungs-strategien, die aus einem abstrakten schema vom "zuschauer" bezogen sind, andererseits unter-liegt der zuschauer der ideologischen unterweisung des machers. was will er mir mitteilen? was soll ich verstehen? die frage "was nehme ich wahr" kommt nicht auf.

ein harmonisch geschlossenes kunstwerk ist einfacher rezipierbar, beschreibt einen geschlosse-nen kosmos und verhindert das eindringen in die wirklichkeit außerhalb des theaters. eine flucht in andere welten, und keine "sehnsucht nach einem anderen zustand der welt" (jean genet), weil die wirkung bei beendigung der aufführung aufhört.

ausgangspunkt ist die wiederholung des bereits bekannten ausgehend von gewohnten emotionen, keine suche nach dem unbekannten, ungewohnten.

ist die bestätigung oder die infragestellung von wirklichkeit das entscheidende in der kunst?

was ist wahrheit? wer entscheidet darüber?

im theater heute existiert wahrheit nur als konstruiertes schema von wirklichkeit, die es auch nur da als solche gibt, die aber vom zuschauer als wahrheit – und nicht bloß als wiedererkennen von bereits bekanntem – abgelehnt wird.

ist die pathetische erregung eines darstellers oder einer szenischen führung gleichzusetzen mit der erregung des zuschauers? was erzeugt beim zuschauer erregung und lässt ihn aus einem zustand in den nächsten passieren?

wo existiert ein theatraler raum, in dem der zuschauer erfahrungen machen kann und keine bereits gemachten zur konsumtion bekommt?

in einer reihe von arbeiten mit dem theatercombinat wird versucht, diese fragen und das damit ver-bundene theatrale interesse praktisch zu entwickeln und zu präzisieren.

im folgenden soll durch eine auswahl von arbeitsmaterial, überlegungen und kritiken zu der jüngs-ten arbeit, am fatzer-fragment von bertolt brecht (théatre du grütli, genf, märz bis juni 1998), ein anfang gemacht werden, diese arbeitsansätze zu dokumentieren.

Quelle: http://www.theatercombinat.com/projekte/fatzer/fatzer_vorbemerkung.htm (23.3.2012)

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E) Das Lehrstück

aus: Steinweg, Reiner: "Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung." Stuttgart: Metzler, 1972. 13ff.

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aus: Steinweg, Reiner: "Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung." Stuttgart: Metzler, 1972. 87ff.

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F) Wer ist der Chor?

B21

WER IST DER CHOR?

Vor dem Schluss:Aber auch er ist dochEin Mensch wie ihr!

Unbestimmt von AusdruckFrühzeitig verhärtet, vieles

VersuchendÄußerte er viel:

Haltend ihn dochNicht bei dem was er sagte bald

Ändert er´s...Nichts Endgültiges saht ihr und alles

Änderte sich vor es eingingWarum

Nehmt ihr ihn beim Wort?Wen ihr beim Wort nehmt der

Ist´s der euch enttäuscht !

Aber sie brauchen doch auchObdach und Wasser und Fleisch!

Bertolt Brecht, aus »Fatzer«

»Die Schwerkraft der Massen« - der Chor ist ein Gravitationszentrum und dadurch provoziert er Bewegung. Es gibt diese alte Formel: der Chor als Instrument der Dialektik, aber Instrument, nicht Lehrer, der Chor hat überhaupt keinen didaktischen Zug, im Gegensatz zu dem, was im christ-lichen Drama und bei Brecht daraus geworden ist, wo der Chor im Besitz einer Wahrheit ist. Hier ist der Chor nicht im Besitz einer oder der Wahrheit. Er will vielleicht die Wahrheit wissen, aber er weiß sie nicht, er gibt nicht vor, sie zu wissen. Sie wird ihm dann gesagt; der Chor provoziert das durch die Schwerkraft, er fragt die Bewegung nach der Richtung, dadurch, daß er stehen bleibt.

Heiner Müller in Aischylos, Die Perser

Fatzer-Fragment: der Chor ist aus der Gesellschaft verschwunden. Entinnert. Der Fatzer-Text formuliert ein ständiges Ringen gegen die Unmöglichkeit des Chors. Es existiert kein bindendes Verhältnis zwischen den Figuren und dem Chor. Die Chortexte bezeichnen die Differenz. Chor und Individuum scheitern.

Karl Mickel zitiert Brechtnach Paul Dessau: »Aus Gesprächen«, Leipzig 1974

Im Chor vervielfältigen sich die Schreckensmomente. Der Sprechvorgang alleine hat als Wider-stände gegen diese Selbstzersetzung zunächst Statisches: den Text, den Raum. Oder findet in ge-setzten szenischen Ordnungen statt, als Dialog z.B. oder als Bericht, Erzählung, Bezeichnung. D.h., es gibt ein Minimum an Richtungen, an Entfernungen, die gegeben sind, die ich von mir aus überwinden, ansteuern und so, durch Hören z.B., überprüfen, korrigieren kann. Mit Raum und Zeit dazwischen. Im Chor fehlt dieses individuelle Raum-Zeit-Kontrollmoment. Jegliche Differenz,

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falsche Nähe oder falsche Distanz ist hörbar, jede Ängstlichkeit oder allgemeiner, jede Differenz trägt sich im Moment (in Echtzeit) aus: wer beginnt, wer nicht, wer folgt, wer nicht, wer ist stärker, schwächer, wer findet den Text gut, wer nicht, verhält sich dazu oder nicht. Wiederum: Furcht. Vor dem Alleinsein im Chor genauso wie vor dem Zusammensein im Chor. Begreift man den Chor als spezifische Kommunikationsform und nicht als ästhetisches Mittel für irgendwelche Effekte, d.h. verzichtet man auf technische Instrumentarien der Steigerung und der Synchronisation, auf den Dirigenten als Sinnstifter, ist der Chor Brennglas sozialen Verhaltens und seiner Grenzen. Auch das ist eine Konditionsfrage. Auch das geht nur über Training, nicht über Interpretation und Ausdruck.

Christine Standfest/theatercombinatAuszug aus einem Dokumentationsentwurf zur Arbeit an Fatzer, Genf 1998

In der Orestie ist der Chor das Ausgangsmoment. Durch die Präsenz des Chors lassen sich die Protagonistenhaltungen (Agamemnon, Klytaimnestra, Orestes) vorführen; durch die Protagonisten werden die Chorhaltungen befragt. Die Orestie zeichnet das Verschwinden des Chors über den Verlauf der drei Teile. Orest geht aus dem tragischen Diskurs hervor. Die chorische Ordnung ver-liert sich.

Der Chor in der Tragödie ist nicht die Wahrheit der antiken Seele. Es sind Chöre: der Chor der Greise, der Sklavinnen, der Erinyen. Chöre sind Kommunikationsschemata. Sie repräsentieren kei-ne Identität, schon gar nicht die Identität des Publikums. Der Chor ist eine Konstellation, zu der sich der Betrachter in Beziehung setzen muss.

Claudia Bosse/theatercombinat

Fatzer-Fragment. Der Chor ist aus der Gesellschaft verschwunden. Entinnert. Der Fatzer-Text for-muliert ein ständiges Ringen gegen die Unmöglichkeit des Chors. Es existiert kein bindendes Ver-hältnis zwischen den Figuren und dem Chor. Die Chortexte bezeichnen die Differenz. Chor und In-dividuum scheitern.

Claudia Bosse/theatercombinat

Josef Szeiler: ... daß ein Fragment die Präzision im Detail braucht. D.h. je präziser der Chor ist, desto fragmentarischer wird das andere, was ja real so ist. (...) Schlicht und ergreifend die Präzision oder die Genauigkeit oder die Energie oder die Freude, was alles der Chor vermittelt, je mehr man das hat, desto mehr fragmentiert sich das andere.

Rein technisch muß man ja mal fragen, was das heißt, in dem Jahrhundert den Chor wieder zu in-stallieren, nicht als irgendein Beiwerk, sondern als die zentrale Qualität. Diese Versuche von Brecht, letztlich auch irgendwie von Müller, im deutschen Sprachraum wieder auf den Chor zu ge-hen. Als zentralem Punkt der Dramatik. Nicht nur ein Chörchen irgendwo, sondern dass der Chor im Zentrum ist. Und du kannst dieses Verhältnis natürlich nicht mehr so installieren wie in der Anti-ke, das ist Quatsch.

Sylviane Dupuis: Das erste Mal, dass mich das wirklich interessierte, einen Chor zu sehen. Es gab keine Einheit, und gleichzeitig, denn das ist die einfachste, die uninteressanteste Art wenn alle gleichzeitig sprechen, aber es gab eine Einheit, die sich mit den Differenzen konstituiert. Das ist sehr schön, und das ist die einzige Art, den Chor zu arbeiten, was mich die ganze Zeit über an der Arbeit interessiert.

JS:... aus der Präzision des Chores heraus kann man jegliche andere Unpräzision oder Präzision aktivieren, installieren, zerfallen lassen, neu konstruieren, aber das braucht den Moment. Ich per-sönlich glaube, der zentrale Moment von Fatzer ist der Chor. Auch im Schreiben. Und dass das misslungen ist, hat meiner Meinung nach damit zu tun, dass Brecht nicht damit umgehen konnte, dem Verhältnis Chor und Protagonist, mit dem parteiischen Verhältnis von Chor und Protagonist.

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Das hat er in allen Dingen hingekriegt und zwar über den Kompromiss, dass er den Chor negiert oder musikalisiert hat in einer populären Weise.

(aus einem Arbeitsgespräch zu »Fatzer« mit Sylviane Dupuis und Josef Szeiler, Genf 1998Auszug aus einem Dokumentationsentwurf von theatercombinat)

Quelle: http://www.consyder.com/massakermykene (22.12.2012)

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aus: Jan Knopf (Hrsg.): "Brecht-Handbuch in fünf Bänden." Stuttgart: Metzler, 2001–2003

G) Aufführungsgeschichte/ Deutungen

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aus: Wyss, Monika: "Brecht in der Kritik. Rezensionen aller Brecht-Uraufführungen", München: Kindler 1977, S. 440ff.

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Brecht/Müller, mal melodischZum Gastspiel des Teatro Stabile an der Volksbühne Berlin

22. Januar 2012Tobi Müller

Der Fatzer-Stoff ist im deutschsprachigen Theater ein Mythos im eigentlichen Sinn. Ein Mythos, weil unentziffert. Es gibt vier- bis fünfhundert Seiten, aber kein Stück. Nicht von Brecht jedenfalls. Es gibt eine Fassung der alten Schaubühne, noch so ein deutscher Mythos. Und es gibt Heiner Müllers Bearbeitung. Müller, Master of Myth, der Herrscher über die Rückprojektion der deutschen Geschichte in die Unerbittlichkeit der Antike. Über Fatzer wird vor allem geraunt: Brechts Schock der Großstadt, als er nach Berlin kam; die Konsequenz des Umsturzes, seine Logik der immer neuen Ausgrenzung; das Verhältnis von Individuum und Kollektiv, das ist der Kern, der die berühmteren Lehrstücke wie »Die Maßnahme« umtreibt. Ein Mythos bleibt nur so lange Mythos, wie an seiner Interpretation gearbeitet wird und er also unverstanden bleibt. Ich bin nicht sicher, ob das für Heiner Müller zutrifft. Oder auf die Figur Brechts. Sicher aber auf diesen einen Un-Text, das Fatzer-Fragment.

Wer Müllers Fassung liest, hört das ästhetische Familienverhältnis der beiden wichtigsten deutschen Theaterautoren des 20. Jahrhunderts einmal mehr sofort. Der Schrecken des Krieges wird einerseits ein Stück weit gebannt in der Sprache, und doch wieder in ihrer Deutlichkeit abgebildet. Man hört die Drastik dialektisch in der strengen Formalisierung mitzittern. In Pausen, Sprachbildern wie Kirchen, ein Denken und Schreiben, das die Abgeschiedenheit der Emigration – der äußeren bei Brecht, der inneren bei Müller? – vorwegnimmt.

Die Geschichte der Deserteure, die aus dem Ersten Weltkrieg flüchten, die Revolution wollen und sogleich wieder scheitern, ist das Gegenteil des Geplauders. Nun sehen wir aber italienische Schauspieler in der Volksbühne, sie kommen aus Turin, aus dem Teatro Stabile, und zeigen uns »Fatzer Fragment – Getting Lost Faster« mit deutschen Übertiteln. Und es sieht, trotz einiger angedeuteten Tableaux vivants, die man auch von Müllers Inszenierungen oder mehr noch: von jenen Einar Schleefs kannte, es sieht einfach sehr, sehr anders aus. Wo kein Text mehr hilft, wird improvisiert. Für deutschsprachige Ohren oft: wortreich charmiert. Man gibt sich diesem Sound hin, der die Melodie stärker gewichtet als das Deutsche mit seinen harten Rhythmen, zumal wenn sie im Vers gehalten werden wie bei Brecht/Müller. Das Italienische wirbt um den Hörer, um das Deutsche muss man als Hörer selbst werben. Das ist eine ungewöhnliche, im Sinne der Unterbrechung des Bekannten, des vermeintlich Verstandenen auch: eine sinnliche Erfahrung.

Die Revolution als Casting Show mit dem Publikum, die Musik als oft romantisches Elektro-Intermezzo: Der Text, und es ist viel Text, erscheint so nicht als Evangelium, sondern als Projektion. Für Müller war es die RAF. Für die Turiner sind es die kommenden Aufstände unserer Zeit. Dass man zwischen diesen Klängen und Improvisationen auch immer wieder den Text nach dem Buchstaben zu spielen versucht und auf dieser großen, Brecht- wie Müller-gestählten Bühne nur schwerlich durchdringt, ist am Ende vielleicht nebensächlich.

wanderlust blog http://www.wanderlust-blog.de/?p=4531 (27.1.2012)

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theatercombinat | 1998 fatzer-fragment brecht - 4 monate + 18 präsentationen, schweizer erstaufführung, th grütli, genf (ch)

sprache: deutsch

vorbemerkungraumimprovisationkompositionthesenfragenzusammenfassung derarbeitsansätzeprobenprotokollegespräch zu regiegespräch zur position deszuschauerfotos

raum

der raum war wesentlicher bestandteil der theatralen auseinandersetzung, teil dertheatralen komposition. der theaterraum des theatre du grütli wurde skeletiert, dizuschauertribühne abgebaut, die funktionsräume, d.h. die werkstätten, der gang zlagerung von scheinwerfern und die zugänge zu den notausgängen wurden geöffn bar leergeräumt. alle türen und die fenster des theatersaals, die nach teils in das und teils nach außen gehen, wurden ebenfalls aufgemacht. es gab spuren von fatz haus und an der fassade des grütli, große tafeln in der farbe der hocker mit fatzer

die züge sowie der inspizientenraum waren sowohl dem spieler, als auch dem zusczugänglich. das theater wurde in seinen funktionen offengelegt, eine räumliche trvon zuschauer und spieler war nicht mehr vorhanden. der bezug zur aussenwelt w durch sichtbar vorbeigehende füsse von passanten. der theaterraum wurde zum

seiner funktion. die illusion fand nicht mehr statt. lichteffekte ausser durch wechtageslicht durch die fenster waren nicht vorhanden. jeder der räume wurde in seinfunktionslicht benutzt, d.h. es gab unterschiedliche lichtqualitäten bei unterschiedraumgrösse und struktur, wobei alle räume miteinander verbunden waren.

die zentralperspektive war abgeschafft, da es keinen punkt in der raumanlage gab dem aus man alles überblicken konnte. die spieler sahen sich nicht immer, der zusmußte sich entscheiden, wohin er sich bewegte, im bewußtsein stets etwas zu verpdie wahl des blickwinkels und der akustischen auswahl lag beim betrachter; ebens entscheidung, inwieweit er sich räumlich thematisiert oder in kommunikation mit spielern tritt.

den zuschauern war immer alles zugänglich. als angebote gab es einzeln gestellte in der gesamtraumanlage, deren anordnung sich aus den jeweiligen räumen ergab weiteres angebot waren auf den boden geschriebene schriftspuren mit fabelentwü brecht zu fatzer, die die räume verbanden: den zuschauer lesend zu bewegung an

die raumstruktur für die spieler war rigider geordnet.

für jede arbeitsphase gab es eine räumliche grundstruktur:

I

die spieler des fatzerchors durften sich nur ausserhalb des zentralen theaterraumsbewegen, ihn nur durchqueren, aber keine aktionen entwicklen. bei jeder ansage fragmentwechsels, die von mir laut während der aufführungen angesagt wurde, mjeder spieler auf seinen körperlich genau von ihm bestimmten (manchmal von mirkorrigierten) ausgangspunkt zurückkehren und wieder beginnen für das nächste, v nicht im voraus im ablauf gewusste fragment. der spielerin des kommentartexts wwährend der 1. arbeitsphase der zentrale theaterraum zugeordnet, wo sich zu beg gewohnheit, meist die größte anzahl von zuschauern befand. akustisch waren alle verbunden, dialoge fanden z t. über eine distanz von 30 metern statt. um jedoch daktionen der spieler zu sehen, mußten sich die zuschauer zu einzelnen spielernhinbewegen, andere sichten erkunden.

II

in der II. arbeitsphase, bei der die texte weniger entwurfscharakter als theatral szcharakter haben, sammelten sich alle spieler im zentralen raum, um zu einer vorhangesagten reihenfolge mit den textfragmenten zu improvisieren. meine möglichk jederzeit einzuschreiten, zu unterbrechen, zu schneiden, indem ich vor beendigun fragments ein anderes ansagte oder währendessen die reihenfolge veränderte. die stets abhängig von den jeweiligen entwürfen der spieler, den reaktionen der zuschdem rhythmus der kommunikation. d.h. die komposition fand hinsichtlich aller erwbedingungen im augenblick statt, wobei material der improvisationen thematischefixierungen, genauere räumliche fixierungen, textliche fixierungen sein konnte (in regel bestimmten die spieler, wer aufgrund welcher räumlichen konstellation welch sprach, wobei die genaue interpunktion und der fragmentinterne rhythmus eingehwerden mußten. jeder spieler beherrschte den kompletten text in der präzisenrhythmischen struktur.)

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Ein weiterer Auszug aus der Dokumentation der Schweizer Erstaufführung von "Fatzer" am Theater Grütli in Genf, 1998. Weiteres Material (siehe Inhaltsverzeichnis links) befindet sich unter http://www.theatercombinat.com/projekte/fatzer/

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die spielerin der kommentartexte, die sich immer in distanz zu den anderen spiele dennoch in beziehung, verhalten mußte, bewegte sich und sprach die kommentart den gängen, werkstätten, im foyer etc. jedoch durfte sie den zentralen raum nichtbetreten.während der ganzen aufführungszeit gab es einen für alle zugänglichen tisch, an dmaterial auslag und parallel an der übersetzung der arbeitsphasen 4 und 5weitergearbeitet wurde.

III

in der dritten arbeitsphase war für alle spieler der gesamtraum frei (entwickelt au veränderten textqualität diese phase), mit der bedingung, den gesamtraum zu hal immer in kommunikation zu bleiben, räumlich und akkustisch.ein mögliches ende der versuchsreihe z.B. war mit dem fragment a 31, während d spieler die raumkonstruktion verliessen und sich ausserhalb des theaterraums im zum innenraum an den unterschiedlichen fenstern positionierten. die zuschauer w theaterraum zurückgelassen.

der ablauf wurde von abend zu abend variiert, unter verschiedenen inhaltlichengesichtspunkten, wobei die räumliche grundstruktur der jeweiligen arbeitsphase gblieb. die dauer der öffentlichen versuche betrug zwischen 2 und 5 ½ stunden. unerarbeitetes material umfasste ca. 7 stunden, was aus ökonomischen gründen auf auflage des theaters, drei wochen lang jeden abend zu spielen, nicht gezeigt werdkonnte. was der erklärten absicht, die arbeit am fragment auch als solche zu behaund kein logisches ganzes zu konstruieren, nahekommt.

www.theatercombinat.com theatrale produktion und rezeption

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Théâtre du Grütli, Genf 1998 theatercombinat/Claudia Bosse

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FatzerBraz

Noch ist Lulas Nachfolgerin Dilma, ehemals Guerillakämpferin der im Untergrund entstandenen brasilianischen Arbeiterpartei PT, nicht ganz ins Präsidentenamt gewählt, da zeigt die Berliner Performanceguerilla andcompany&Co. auch schon, was übrigblieb von der tropikalischen Revolution. Am Vorabend des zweiten Wahlgangs erlebt Berlin am Beispiel von Brechts Fragment vom „Untergang des Egoisten Johann Fatzer“ (1927), was aus der Welt werden könnte, wenn sie nach allen Regeln des „Antropophagen Manifests“ (1928) von Oswald de Andrade von Brasilien verschlungen würde.Gemeinsam mit vier Mitstreitern aus brasilianischen Aktions- und Theatergruppen erarbeitete die andcompany&Co. in São Paulo aus dem umfangreichen Fatzer-Material die zweisprachige, antropophagische Performance „FatzerBraz“ – als Spaziergänge, Expeditionen, Vertilgungen und Verherrlichungen eines asozialen, anarchischen „Helden ohne Charakter“ (wie es über Macunaima heißt, den emblematischsten Protagonisten der brasilianischen Moderne). Brechts Deserteure aus dem Ersten Weltkrieg treffen auf Marighellas Stadtguerilla, und die RAF auf den Zorn Gottes, Fitzcarraldo&Co.

Die Fragen nach Desertion, revolutionärem Defätismus und Guerillakampf stehen im Zentrum des »Fatzer«-Fragments von Bertolt Brecht. Eine Gruppe Soldaten des Ersten Weltkriegs beschließt, »keinen Krieg mehr zu machen« und versteckt sich in Mülheim an der Ruhr, um auf einen allgemeinen Aufstand zu warten. Bevor es jedoch zu einer Erhebung gegen den Krieg kommt, zerfleischt sich die Gruppe gegeseitig. Die Situation im Untergrund erinnert an das Schicksal der Stadtguerilla, deren »Minihandbuch« Carlos Marighella verfasst hat, ein brasilianischer Abgeordneter und Widerstandskämpfer gegen die Militärdiktatur. Im Milieu der Studentenbewegung wurde dieses »Handbuch« auch in Deutschland folgenreich (Bewegung 2. Juni, RAF).Diese Texte bilden den Ausgangspunkt für »FatzerBraz«, die neueste Inszenierung von andcompany&Co. Das internationale Künstlerkollektiv um Alexander Karschnia, Nicola Nord und Sascha Sulimma inszeniert das Stück in São Paulo gemeinsam mit brasilianischen Künstlern. Diese Zusammenarbeit bietet die Chance einer gegenseitigen Verfremdung: von São Paulo und dem Ruhrgebiet, Erstem Weltkrieg und Stadtguerilla, revolutionärer Bewegung und Reformregierung. Dabei geht es darum, mit Hilfe der stark entwickelten brasilianischen Brecht-Tradition Wege zu einem »anderen«, tropikalischen Brecht zu finden. Der kulturelle und ideologische »Remix«, charakteristisch für die Arbeiten von andcompany&Co., lässt neue Formen der Aneignung und Einverleibung zu, die in Brasilien eine lange Tradition haben. Am Ende wird es darum gehen, Fatzer zu fressen…

http://www.andco.de/index.php?context=project_detail&id=3822

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Ein weiteres Beispiel, nach dem theatercombinat, für die Auseinandersetzung einer experimentell orientierten Theatergruppe mit den "Fatzer"-Texten. Das Frankfurter Kollektiv andcompany&Co. wurde 2003 von Nicola Nord, Alexander Karschnia und Sascha Sulimma gegründet und zählt mittlerweile zu den etablierten Playern des internationalen Festival- und Performance Art-Betriebs.

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Heiner Müller

FATZER ± KEUNER

Ich scheiße

auf die Ordnung der Welt

Ich bin

verloren

Das Ausbleiben der bürgerlichen Revolution in Deutschland ermöglichte zugleich und erzwang die

Weimarer Klassik als Aufhebung der Positionen des Sturm und Drang. Klassik als

Revolutionsersatz. Literatur einer besiegten Klasse, Form als Ausgleich, Kultur als Umgangsform

mit der Macht und Transport von falschem Bewusstsein. Goethes bewußte Entscheidung gegen

die hungernden Weber von Apolda für die Jamben der Iphigenie ist paradigmatisch. Das vielleicht

folgenreichste Unglück in der neueren Geschichte war das Scheitern der proletarischen Revolution

in Deutschland und ihre Abwürgung durch den Faschismus, seine schlimmste Konsequenz die

Isolierung des sozialistischen Experiments in der Sowjetunion auf ein Versuchsfeld mit

unentwickelten Bedingungen. Die Folgen sind bekannt und nicht überwunden. Die Amputation des

deutschen Sozialismus durch die Teilung der Nation gehört nicht zu den schlimmsten. Die DDR

kann damit leben.

Für Brecht bedeuteten die Austreibung aus Deutschland, die Entfernung von den deutschen

Klassenkämpfen und die Unmöglichkeit, seine Arbeit in der Sowjetunion fortzusetzen: die

Emigration in die Klassizität. Die Versuche 1-8 enthalten, was die mögliche unmittelbar politische

Wirkung angeht, den lebendigen Teil seiner Arbeit, den im Sinn von Benjamins

Marxismusverständnis theologischen Glutkern. Hollywood wurde das Weimar der deutschen

antifaschistischen Emigration. Die Notwendigkeit, über Stalin zu schweigen, weil sein Name,

solange Hitler an der Macht war, für die Sowjetunion stand, erzwang die Allgemeinheit der Parabel.

Die von Benjamin referierten Svendborger Gespräche geben darüber Auskunft. Die Situation der

DDR im nationalen und im internationalen Kontext bot in Brechts Lebenszeit keinen Ausweg aus

dem klassischen Dilemma.

Zu den Svendborger Gesprächsthemen von Brecht und Benjamin gehört Kafka. Zwischen den

Zeilen Benjamins steht die Frage, ob nicht Kafkas Parabel geräumiger ist, mehr Realität

aufnehmen kann (und mehr hergibt) als die Parabel Brechts. Und das nicht obwohl, sondern weil

sie Gesten ohne Bezugssystem beschreibt/darstellt, nicht orientiert auf eine Bewegung (Praxis),

auf eine Bedeutung nicht reduzierbar, eher fremd als verfremdend, ohne Moral. Die Steinschläge

der jüngsten Geschichte haben dem Modell der »Strafkolonie« weniger Schaden zugefügt als der

dialektischen Idealkonstruktion der Lehrstücke. Die Blindheit von Kafkas Erfahrung ist der Ausweis

ihrer Authentizität. (Kafkas Blick als Blick in die Sonne. Die Unfähigkeit, der Geschichte ins Weiße

im Auge zu sehen als Grundlage der Politik.) Nur der zunehmende Druck authentischer Erfahrung,

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vorausgesetzt, daß er »die Massen ergreift«, entwickelt die Fähigkeit, der Geschichte ins Weiße im

Auge zu sehen, die das Ende der Politik und der Beginn einer Geschichte des Menschen sein

kann. Der Autor ist klüger als die Allegorie, die Metapher klüger als der Autor.

Gertrude Stein, in einem Text über die elisabethanische Literatur, erklärt ihre Gewalt mit dem

Tempo des Bedeutungswandels in der Sprache: »Es bewegt sich alles so sehr.« Der

Bedeutungswandel ist das Barometer des Erfahrungsdrucks in der Morgenröte des Kapitalismus,

der die Welt als Markt zu entdecken beginnt. Das Tempo des Bedeutungswandels konstituiert das

Primat der Metapher, die als Sichtblende gegen das Bombardement der Bilder dient. »Der Druck

der Erfahrung treibt die Sprache in die Dichtung.« (Eliot) Die Angst vor der Metapher ist die Angst

vor der Eigenbewegung des Materials. Die Angst vor der Tragödie ist die Angst vor der Permanenz

der Revolution.

Ich erinnere mich an eine Bemerkung von Wekwerth bei der Vorbereitung seiner Inszenierung der

»Heiligen Johanna der Schlachthöfe«. Es käme darauf an, was Brecht klargelegt hätte, zu

verdunkeln, damit es neu gesehen werden kann; Hegel: das Bekannte ist nicht erkannt usw. Die

Geschichte der europäischen Linken legt den Gedanken nahe, ob Hegel nicht auch in diesem Fall

vom Kopf auf die Füße gestellt werden muss. Noch in jedem Territorium, das die Aufklärung

besetzt hat, haben sich »unversehens« unbekannte Dunkelzonen aufgetan. Immer neu hat die

Allianz mit dem Rationalismus der linken den Rücken entblößt für die Dolche der Reaktion, die in

diesen Dunkelzonen geschmiedet wurden. Das Erkannte ist nicht bekannt. Brechts Insistieren, in

seinen letzten Gesprächen mit Wekwerth, auf der Naivität als der primären Kategorie seiner

Ästhetik beleuchtet diesen Sachverhalt.

Brechts Anstrengung, Kafka nicht oder wenigstens falsch zu verstehen, ist in Benjamins Notierung

der (Svendborger) Gespräche ablesbar.

Etwa 1948 sendete der NDR ein Programm über zwei Repräsentanten engagierter Literatur, den

Katholiken T. S. Eliot und den Kommunisten Brecht. Als Klammer musste ein Satz von Eliot

herhalten: poetry doesn't matter. Ich erinnere mich an einen Satz aus dem Interview mit Brecht:

das Weitermachen, die Kontinuität, schafft die Zerstörung. Brecht hat das später, in einem Text,

der von der Theatersituation im Nachkriegsdeutschland ausgeht, näher ausgeführt: die Keller sind

noch nicht ausgeräumt, schon werden neue Häuser darauf gebaut usw. Die Parallele zu Thomas

Manns Bemerkung über die deutsche Geschichte, in der keine Epoche zu Ende gelebt worden ist,

weil keine Revolution erfolgreich war, ablesbar am deutschen Stadtbild, ist offensichtlich. Was nicht

bedeutet, dass Brecht den »Faustus« gelesen haben muss. Der Germanist Gerhard Scholz erzählt

von einem Gespräch mit Brecht im gemeinsamen skandinavischen Exil über die Zukunft des

Sozialismus in Deutschland. Brecht polemisierte, zumindest halb ernsthaft, gegen die

Volksfrontkonzeption mit dem »Fatzer«-Traum von der Konstituierung einer kommunistischen

Diktatur (Zelle) z. B. in Ratibor oder sonstwo, um ein Beispiel zu schaffen.

Im gleichen Jahr 1948, in einer Diskussion mit Studenten in Leipzig, formulierte Brecht als die

Zielstellung seiner Arbeit in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands: 20 Jahre

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Ideologiezertrümmerung und sein Bedürfnis nach einem eigenen Theater »zur wissenschaftlichen

Erzeugung von Skandalen«, ausgehend auf die politische Spaltung des Publikums statt auf eine

illusionäre »Vereinigung« im ästhetischen Schein. Mit anderen Worten: seine Hoffnung auf ein

politisches Theater jenseits der Verkaufszwänge des Marktes. Ein Theater, das im Widerspruch

zwischen Erfolg und Wirkung seine Chance hat, statt, wie in der kapitalistischen Gesellschaft, sein

Dilemma. Das war ein Vorgriff, eine Projektion auf eine Zukunft, die auch 23 Jahre nach Brechts

Tod noch nicht Gegenwart ist. Die Skandale fanden nicht, als Initialzündung für die große

Diskussion, im Theater statt, sondern, als Behinderung der Diskussion, auf den Kulturseiten der

Presse. Die neuen Häuser mussten schneller gebaut werden als die Keller ausgeräumt werden

konnten. Der Belagerungszustand, in den die DDR durch den Kalten Krieg versetzt war, der, was

die gesamtdeutsche Situation betrifft, andauert, brauchte und braucht Ideologie. Zwischen dem

Leipziger Statement und dem Satz im späten Vorwort zu den frühen Stücken, der den Verzicht auf

das Ideal der tabula rasa, des reinen Beispiels, formuliert: die Geschichte macht vielleicht einen

reinen Tisch, aber sie scheut den leeren... liegt Brechts DDR-Erfahrung. Ein wesentlicher Teil

dieser Erfahrung ist die Entdeckung der Freundlichkeit als einer politischen Kategorie. Brechts

Theaterarbeit: ein heroischer Versuch, die Keller auszuräumen, ohne die Statik der neuen

Gebäude zu gefährden. (Die Formulierung enthält das Basisproblem der DDR-Kulturpolitik.) In

diesem Kontext sind die Klassikerbearbeitungen kein Ausweichen vor der Forderung des Tages,

sondern Revision des Revisionismus der Klassik, bzw. ihrer Tradierung.

Brechts Schwierigkeit, ein DDR-Material in den Griff zu bekommen, ist an der Geschichte des

»Büsching«-Projekts abzulesen. Der erste Entwurf geht auf ein Historienstück, der Arbeiter

(Garbe) als historische Figur. Mit dem epochalen Unterschied zu Plutarch-Holinshed-Shakespeare,

dass der Held sein eigener Chronist war. (Brecht ließ von Käte Rülicke nach

Tonbandaufzeichnungen von Erzählungen Garbes ein Material herstellen.) Der Unterschied steht

für das Problem: das Petroleum sträubt sich gegen die fünf Akte, der bewusstlose Held ist nicht

dramatisch oder es muss ein andres Drama her. Brecht hatte sein Formenarsenal ausgebildet im

Umgang mit einer anderen Wirklichkeit, ausgehend von der Klassenlage und den Interessen des

europäischen Proletariats vor der Revolution.

Die Revolution in der DDR konnte nur für die Arbeiterklasse gemacht werden, nach Dezimierung

der Avantgarde, Depravierung der Masse, Zerstörungen des zweiten Weltkriegs im Osten

Deutschlands und in der Sowjetunion - nicht von ihr. Der Nachvollzug im Bewusstsein musste ihr

unter den Bedingungen des Kalten Krieges abgefordert werden, in einem besetzten und geteilten

Land, im Trommelfeuer der täglichen Werbung für die Wunder des Kapitalismus im anderen

deutschen Staat, Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs, gesundgeschrumpft in zwei

Weltkriegen. Diese Wirklichkeit ist mit den klassisch marxistischen Kategorien nicht zu greifen: sie

schneiden ins Fleisch.

Mit der Bemerkung, das ganze reiche nur für einen Einakter, er, Brecht, sähe keine Möglichkeit,

seinem Helden die Ausdrucksskala zu verleihen, die er brauche, um ein Stück zu schreiben, wurde

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das »Büsching«-Projekt zunächst aufgegeben. Das erinnert an Plechanows These von der

(positiven) Uninteressantheit des proletarischen im Gegensatz zur negativen Interessantheit des

bürgerlichen Helden, die erste Qualität des Proletariats, seine Quantität usw. ... Brecht nahm das

Projekt wieder auf, diesmal als Lehrstück »mit Chören, im Stil der Maßnahme« nach dem 17. Juni

53, wo er zum ersten Mal wieder »die Klasse« hatte sprechen hören und auftreten sehn, wie

depraviert immer und manipuliert von ihren Feinden. Die Konfrontation als Chance zur Eröffnung

der Großen Diskussion, die die Voraussetzung der Produktion ist. Es blieb Fragment.

Das Netz seiner (Brechts) Dramaturgie war zu weitmaschig für die Mikrostruktur der neuen

Probleme: schon »die Klasse« war eine Fiktion, in Wahrheit ein Konglomerat aus alten und neuen

Elementen, gerade die Bauarbeiter, die den ersten Streik in der damaligen Stalinallee in Berlin

initiierten, zu großen Teilen deklassierter Mittelstand: ehemalige Wehrmachtsoffiziere, Beamte des

faschistischen Staatsapparates, Studienräte usw., dazu gescheiterte Funktionäre der neuen

Bürokratie; der Große Entwurf zugeschüttet vom Sandsturm der Realitäten, nicht

einsehbar/freizulegen mit der einfachen Verfremdung, die auf der Negation der Negation

basiert/beruht. In diesem Zusammenhang mag Brechts Griff nach Gerhart Hauptmann und sein

Scheitern mit der Bearbeitung von »Biberpelz/Roter Hahn« interessant sein: die Gewalt des

Tribalismus und die Schrecken der Provinz.

»Die Tage der Commune«, geschrieben mit bewusster Senkung des »technischen Standards« für

das Repertoire eines sozialistischen Theaters, verhält sich zum realen Sozialismus wie »Don

Carlos« zur bürgerlichen Revolution. Seine Schönheit ist die Schönheit der Oper, sein Pathos das

der Utopie. Brecht selbst sah bis zu seinem Tod offenbar keine Möglichkeit, das Stück ohne

Wirklichkeits(Wirkungs-) Verlust aufzuführen. Der Zeitpunkt der Premiere am Berliner Ensemble,

1961 nach der Schließung der Grenze, war der erste mögliche. Die Anwendung des Modells auf

die gegebenen Verhältnisse, die nur mit der nachfolgenden Aufführung neuer Stücke hätte

geleistet werden können, blieb aus. Als isoliertes Ereignis kam die Inszenierung gleichzeitig zu

spät und zu früh: zu viele Möglichkeiten waren verpasst, zu viele Probleme vertagt worden.

»Turandot«, Brechts letzter Versuch, im Rekurs auf die Parabel mit der alten Scheiße

aufzuräumen, die er neu hochkommen sah, ist ein genuines Fragment. Die gewaltsame

Vollendung im Rekurs auf den Antifaschismus, der, was die Verhältnisse in der DDR anging,

Alibicharakter hat, zerstört die Struktur/das Stück. In andern Verhältnissen, z. B. Militärdiktaturen

der dritten Welt, mag der Riss, der durch das Stück geht, den Durchblick freigeben/ermöglichen,

der die Voraussetzung des Eingriffs ist. Brecht: was den Kunstwerken die Dauer verleiht, sind ihre

Fehler.

Der Name Büsching, wie andre Namen im Garbeprojekt, verweist auf das Fatzermaterial, Brechts

größten Entwurf und einzigen Text, in dem er sich, wie Goethe mit dem Fauststoff, die Freiheit des

Experiments herausnahm, Freiheit vom Zwang zur Vollendung für Eliten der Mit- oder Nachwelt,

zur Verpackung und Auslieferung an ein Publikum, an einen Markt. Ein inkommensurables

Produkt, geschrieben zur Selbstverständigung.

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Der Text ist präideologisch, die Sprache formuliert nicht Denkresultate, sondern skandiert den

Denkprozeß. Er hat die Authentizität des ersten Blicks auf ein Unbekanntes, den Schrecken der

ersten Erscheinung des Neuen. Mit den Topoi des Egoisten, des Massenmenschen, des Neuen

Tiers kommen, unter dem dialektischen Muster der marxistischen Terminologie,

Bewegungsgesetze in Sicht, die in der jüngsten Geschichte dieses Muster perforiert haben. Der

Schreibgestus ist der des Forschers, nicht der des Gelehrten, der Forschungsergebnisse

interpretiert, oder des Lehrers, der sie weitergibt. Brecht gehört am wenigsten in diesem Text zu

den Marxisten, die der letzte Angsttraum von Marx gewesen sind. (Warum soll nicht auch für Marx

gelten, dass die erste Erscheinung des Neuen der Schrecken ist, die erste Gestalt der Hoffnung

die Furcht.) Mit der Einführung der Keunerfigur (Verwandlung Kaumann/Koch in Keuner) beginnt

der Entwurf zur Moralität auszutrocknen. Der Schatten der Lenin‘schen Parteidisziplin, Keuner der

Kleinbürger im Mao-Look, die Rechenmaschine der Revolution. »Fatzer« als Materialschlacht

Brecht gegen Brecht (= Nietzsche gegen Marx, Marx gegen Nietzsche). Brecht überlebt sie, indem

er sich herausschießt. Brecht gegen Brecht mit dem schweren Geschütz des

Marxismus/Leninismus. Hier, auf der Drehscheibe vom Anarchisten zum Funktionär, wird Adornos

höhnische Kritik an den vorindustriellen Zügen in Brechts Werk einsichtig. Hier, aus der

revolutionären Ungeduld gegen unreife Verhältnisse, kommt der Trend zur Substitution des

Proletariats auf, die in den Paternalismus mündet, die Krankheit der kommunistischen Parteien. Es

beginnt, in der Abwehr des anarchisch-natürlichen Matriarchats, der Umbau des rebellischen

Sohns in die Vaterfigur, der Brechts Erfolg ausmacht und seine Wirkung behindert. Der Rückgriff

auf die Volkstümlichkeit durch Wiedereinführung des Kulinarischen (in sein Theater), der das

Spätwerk bestimmt, geriet im Verblödungssog der Medien und angesichts posthumer

Zementierung der Vaterfigur durch sozialistische Kulturpolitik zum Vorgriff. Was ausfiel, war die

Gegenwart, die Weisheit das zweite Exil.

Brecht ein Autor ohne Gegenwart, ein Werk zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ich zögere, das

kritisch zu meinen: die Gegenwart ist die Zeit der Industrienationen: die kommende Geschichte

wird, das ist zu hoffen, von ihnen nicht gemacht; ob sie zu fürchten ist, wird von ihrer Politik

abhängen. Die Kategorien falsch oder richtig greifen am Kunstwerk vorbei. Die Freiheitsstatue

trägt bei Kafka ein Schwert statt der Fackel. Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat.

1979

(In: Heiner Müller Material, Fatzer ± Keuner, Leipzig 1989, S. 30-36)

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Es gilt, eine neue Dramaturgie zu finden

Ein Gespräch mit Wend Kässens und Michael Töteberg über Terrorismus und Nibelungentreue

sowie das »Fatzer«-Fragment

FRAGE Der Klassiker Brecht scheint Allgemeingut geworden zu sein. So liest man es wenigstens

in den bürgerlichen Geburtstagsfeuilletons. Sie bringen, indem Sie den Blick auf das »Fatzer«-

Fragment lenken, eine wenig bekannte, schwer zu goutierende Seite Brechts ans Tageslicht. Was

interessiert Sie, was könnte uns interessieren an der Geschichte vom Untergang des Egoisten

Johann Fatzer?

HEINER MÜLLER Für eine produktive Auseinandersetzung mit Brecht sind meiner Meinung nach

die Texte aus den zwanziger Jahren interessant, die noch in direktem Bezug zu den

Klassenkämpfen in Deutschland entstanden sind. Das »Fatzer«-Fragment ist schon deshalb

bedeutsam, weil Brecht irgendwann gemerkt hat, daß er daraus kein Ganzes machen kann, und

es dann als Experimentierfeld benutzt hat. Er hat daran gearbeitet, ohne auf ein Resultat zu zielen,

ohne darauf zu sehen, daß etwas Verkäufliches daraus wird. Das ermöglichte eine ungeheure

Freiheit im Umgang mit dem Material. Zugleich blieb der Prozeßcharakter gewahrt. Denn die

Fragmentarisierung verhindert das Verschwinden der Produktion im Produkt, die Vermarktung.

FRAGE Sie haben das ganze Material im Ostberliner Brecht-Archiv einsehen können. Der größte

Teil ist in den Jahren zwischen 1927 bis 1932 entstanden. Was hat sich innerhalb dieses

Zeitraums verändert?

MÜLLER Wenn man das Material durchschaut, kann man sehr genau verschiedene Schichten

feststellen. Die ersten Entwürfe stammen aus einer Zeit, in der Brechts Beschäftigung mit dem

Marxismus noch ganz frisch war, noch keine selbstverständliche Voraussetzung. Der Marxismus

hat Brecht Erkenntnisse vermittelt, die er vorher nicht gehabt hat. Aber zugleich hat er Sachen aus

dem Blick verloren, die er vorher genauer gesehen hat. So z. B. das Problem »Massenmensch«,

ein Begriff, der nicht orthodox marxistisch ist, der aber ein zentrales Thema des »Fatzer«-

Fragments ist. »Dieser Geist des Massenmenschen lähmt mich besonders, seine Art ist

mechanisch, einzig durch Bewegung zeigt er sich, jedes Glied auswechselbar, selbst die Person

mittelpunktlos«, heißt es im Chor vom Massenmenschen. Da bekommt Brecht die technologische

Seite des Geschichtsprozesses in den Griff, die von der gegenwärtigen marxistischen Analyse viel

zu wenig wahrgenommen wird. »Die großen Städte«, so lautet die Metapher Brechts für die neuen

Formen menschlicher Existenz. Das war ein soziologisches, meinetwegen soziologistisches

Konzept, das später von der marxistischen Analyse abgelöst wurde. Zugleich ging etwas verloren

an Detailgenauigkeit.

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FRAGE Heißt das, dass der Marxismus nicht mehr in der Lage ist, die wesentlichen

gesellschaftlichen Erscheinungsformen zu erkennen?

MÜLLER Nein. Sobald aber der Marxismus an die Existenz eines Staates gebunden ist, so etwas

wie eine Staatsphilosophie wird (und das ist er faktisch seit 1917), entsteht eine neue Situation für

die marxistische Analyse. Die Lage der Sowjetunion in der kapitalistischen Einkreisung bedingte

gewisse Reduktionen. Das hat sich bis heute nicht geändert; obwohl diese Reduktionen nicht mehr

nötig wären, ist es schwierig, so etwas wieder aufzubrechen. Ich denke, man sollte die

vormarxistischen Philosophen stärker beachten, z. B. die Thesen zur Kriminalität bei Charles

Fourier einmal nachlesen. Sie sind wichtig, fallen bei Marx aber unter den Tisch. Bei Fourier steht,

daß Kriminalität im Kapitalismus immer etwas sei, was mit der Zukunft schwanger geht. Auch in

einem Typ wie Fatzer sind Kräfte wirksam, die sich mit dem Gegebenen nicht abfinden, also

potentiell revolutionär sind.

FRAGE »Das Neue ist das Böse« ist ein zentraler Satz im »Fatzer«. Wer davon ausgeht, kann

keinen positiven Helden mehr auf der Bühne präsentieren.

MÜLLER Brecht hat das einmal so formuliert: Die Gesellschaft könne aus der Vorführung asozialer

Verhaltensmuster den größten Nutzen ziehen. Die Darstellung des Asozialen löst mehr Impulse

aus als irgendeine Beispielgebung. Nicht nur Fatzer hat asoziale Züge, sondern auch der Leninist

Koch. Seine Reaktion auf das asoziale Verhalten Fatzers läßt ihn so radikal werden, daß er den

Boden der Tatsachen verläßt und reine Ideologie fabriziert. Er baut ein ungeheures ideologisches

Gebäude auf, hetzt die Gruppe in einen Amoklauf. Koch hat die Illusion, daß man etwas wirklich

bereinigen kann: indem er die Liquidierung Fatzers fordert und durchsetzt. Was am Ende steht, ist

nicht ein reiner Tisch, sondern ein leerer.

FRAGE Die Selbstzerfleischung der Revolutionäre um Fatzer erinnert an die isolierten,

destruktiven Aktionen der Baader, Meinhof usw. Würden Sie so weit gehen und auch diese

Terroranschläge mit dem Satz »Das Neue ist das Böse« kommentieren? Enthält auch hier die

Kriminalität Elemente einer zukünftigen Gesellschaft? An einer Stelle Ihrer »Fatzer«-Montage

schlagen Sie als Regieanweisung die Projektion von Fotos von Luxemburg, Liebknecht und

Meinhof vor, der Chor spricht in diesem Moment von den »Besten«.

MÜLLER Das ist natürlich etwas provokant und soll es auch sein. Ich finde es ziemlich widerlich,

wenn eine Bevölkerung sich immer alles hat gefallen lassen, immer alles gemacht hat, ohne den

geringsten Skrupel und ohne das geringste moralische Aufstoßen, obwohl ihr Wohlstand auf

Ausbeutung von großen Teilen der Welt beruht. Nun entdeckt diese Bevölkerung plötzlich ihr Ethos

gegenüber Leuten, die aus Verzweiflung in die Kriminalität getrieben werden. Konkret zum

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»Fatzer«-Text: Ich sehe die aktuellen Bezüge gar nicht so sehr im ideologischen Bereich. Das ist

ein sehr deutlicher Stoff, man kann darin das »Faust«-Modell und auch die Nibelungengeschichte

entdecken. Zunächst einmal ist es die Geschichte von vier Leuten, die isoliert von der Masse auf

eine Revolution hoffen. Es ist die Misere der Linken in Deutschland, die seit den Bauernkriegen

isoliert ist. Da, wo politische Bewegung stattfinden sollte, ist ein Vakuum Auf der einen Seite dieses

Vakuums steht die konservative Mehrheit, auf der anderen Seite eine durch die Isolation

radikalisierte Linke. Es gibt keine linke Mitte in Deutschland, überhaupt keine polemische Mitte,

das entspricht dem Nibelungen-Modell.

FRAGE Und der Nibelungen-Treue bei den Revolutionären ...

MÜLLER Was sollen sie anderes machen? Wenn man in diesem Kessel ist, da bleibt gar nichts als

Treue, wenn man so abgeschnitten ist, jegliche Verbindung zur Bevölkerung verloren hat. Daraus

ergibt sich zwangsläufig auch die starke Ideologisierung der Treue. Wie sich Fatzer verhält und wie

sich Baader/Meinhof verhalten: das ist ja mehr ein Produkt von Verzweiflung als von politischem

Kalkül. Sie tun es in der Hoffnung, daß andere nachfolgen. Wenn das nicht stattfindet, bleibt nur

der Weg in den individuellen Terror, ein sehr romantischer Import, der viel schlimmere Folgen hat

als die beabsichtigten. Der Terrorismus – besonders in seiner deutschen Form – ist doch nichts

weiter als eine Verlängerung des bürgerlichen Humanismus. In diesem Sinn – etwas pointiert

formuliert – ist ein Molotowcocktail das letzte bürgerliche Bildungserlebnis.

FRAGE Das »Fatzer«-Fragment wird in Hamburg zusammen mit Kleists »Prinz von Homburg«

gespielt – eine sicher ungewöhnliche Kombination. Worin bestehen die Zusammenhänge?

MÜLLER Man kann den »Prinzen von Homburg« lesen als ein Stück über eine Zähmung, die

Zähmung eines Außenseiters, der angepaßt wird mit diesem groben Scherz der gespielten

Hinrichtung.

FRAGE Aber Fatzer läßt sich nicht anpassen ...

MÜLLER Eben, da gehts tödlich aus. Bei Kleist geht es gut aus – und darum ist es viel tödlicher.

Wenn ich diese beiden Stücke in einen Zusammenhang stelle, dann deshalb, weil ich etwas

herausfinden will. Ich versuche meine Unruhe, mein Aufgestörtsein durch einen Stoff auf das

Publikum zu übertragen. Wenn diese Homburg-/Fatzer-Verbindung Proteste im Zuschauerraum

auslöst, dann wäre schon eine Störung des Geschäftsablaufs erreicht.

FRAGE »Störung des Geschäftsablaufs«, so könnte man auch Ihre Funktion in der DDR nennen.

In den letzten Wochen war wieder einmal im »Neuen Deutschland« zu lesen, der Dramatiker

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Heiner Müller sei kein Marxist. Schränken solche Angriffe Ihre Arbeitsmöglichkeiten ein?

MÜLLER Ganz und gar nicht. Ich bin froh, daß es wieder so heftige Polemiken gibt. Das war im

letzten Jahr nicht so, da hat man alles mit dem Mäntelchen des allgemeinen Konsensus’

zugedeckt. Daß man jetzt wieder etwas schärfer formuliert, das finde ich eher angenehm.

FRAGE In welchem Zusammenhang steht das »Fatzer«-Projekt zu Ihrem eigenen Schaffen?

MÜLLER Seit ich Teile aus dem »Fatzer«-Stück in Brechts »Versuchen« gelesen habe, war mir

klar, daß ich damit das Interessanteste von Brecht entdeckt hatte. Schon vor zehn Jahren habe ich

versucht, ein »Fatzer«-Projekt am Berliner Ensemble zu verwirklichen. Damals sah es nicht so

aus, als wenn man aus diesem Rohmaterial etwas Spielbares zusammenstellen könnte. Was mit

dem Konflikt Fatzer–Koch beschrieben wird, das ist auch ein bißchen Vorgeschichte von

Konfliktkonstellationen in meinen Stücken. An dieser Problematik ist mir jetzt auch einiges über

meine Stücke aus den letzten zwanzig Jahren deutlich geworden. »Fatzer« war für mich wichtig,

um eine Phase abschließen zu können, sie wirklich wegräumen zu können. Jetzt stehe ich vor

dem Nichts und muß etwas Neues finden. Vom LOHNDRÜCKER bis zur HAMLETMASCHINE ist

alles eine Geschichte, ein langsamer Prozeß von Reduktion. Mit meinem letzten Stück

HAMLETMASCHINE hat das ein Ende gefunden. Es besteht keine Substanz für einen Dialog

mehr, weil es keine Geschichte mehr gibt. Ich muß eine andere Möglichkeit finden, die Probleme

der Restaurationsphase darzustellen.

FRAGE Zeit der Restauration – gilt das für beide deutschen Staaten?

MÜLLER Ich rede immer nur von dem Staat, an dem ich primär interessiert bin: die DDR. Und da

befinden wir uns in einer Zeit der Stagnation, wo die Geschichte auf der Stelle tritt, die Geschichte

einen mit »Sie« anredet. Es gilt, eine neue Dramaturgie zu entwickeln oder das Stückeschreiben

aufzugeben. Vor dieser Alternative stehe ich. Da weiß ich selbst nicht weiter.

1978

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KULTUR

17.03.1978 - 07:00 Uhr

Einige Überlegungen zu meiner Brecht-Bearbeitung

Von Heiner Müller

Die Frage, die mich beschäftigt und auf die ich keine schlüssige Antwort habe, ist die

Interessantheit des Fragmentarischen. Es gibt noch ein paar Leute, die perfekte Stücke

schreiben. Die sind langweilig, außer für das Publikum. Es geht um die Frage, was Literatur

überhaupt noch soll. Ich selbst kann keine Geschichten mehr lesen, kann auch keine

Geschichten mehr erzählen und schreiben. Ich glaube auch, daß das jedenfalls für sehr lange

Zeit, vielleicht nur in Europa, vorbei ist, Geschichten zu schreiben. Und das bedeutet fürs

Theater einen Verzicht auf Publikum. Ich glaube nicht an irgendeine besonders eingreifende

Funktion oder Möglichkeit von Theater. Im Moment muß man diese Apparate benutzen, um

das zu machen, was einen interessiert, ohne Rücksicht darauf, was das Publikum interessiert.

Stückeschreiben wird immer mehr eine Sache der Leute, die die Stücke schreiben, das Stücke-

Inszenieren wird immer mehr eine Sache der Leute, die die Stücke inszenierte Das heißt die

Bedürfnisse der Autoren, Regisseure der Schauspieler und des Publikums fallen immer weiter

auseinander. Das ist im Moment die Situation des Theaters.

Keine Dramatik hat sich als so wenig veränderbar erwiesen wie die von Brecht. Man müßte mal

ein Stück aus dem klassischen Brechtkanon bearbeiten, um zu sehen, was da überhaupt zu

machen ist. Ich glaube nicht sehr an die Veränderbarkeit der klassischen Brecht-Stücke.

Während man Shakespeare immer und vielfach verändern kann. Aber wenn gesagt wird, das

Fatzer-Fragment ist ein mit Theaterwimpeln behängtes Sentenzensammelsurium, dann muß ich

sagen: Ich glaube nicht, daß das Sentenzen sind. Es gibt keinen Satz darin, der nicht in dem

Brechtschen Sinn gestisch formuliert ist. Keiner ist ablösbar von der Situation und von der

Figur. Man kann so was nicht zitieren, wie man Schiller zitiert.

Was an ‚Fatzer‘ wichtig ist, das hängt zusammen mit dem Fragment-Charakter. Da geht es gar

nicht um Literatur, da geht es um Geschichte und Politik. Und was wichtig ist, ist der Fragment-

Charakter der deutschen Geschichte, der dazu führt, daß so ein Stück, das ganz unmittelbar mit

deutscher Geschichte zu tun hat, Fragment bleibt. Der Fabelansatz von Brecht: vier Leute

desertieren aus dem Ersten Weltkrieg, weil sie glauben, die Revolution kommt bald, verstecken

sich in der Wohnung des einen, warten auf die Revolution, und die kommt nicht. Und nun sind

sie ausgestiegen aus der Gesellschaft. Da es keine besseren, keine expansiven Möglichkeiten gibt

für ihre angestauten revolutionären Bedürfnisse, radikalisieren sie sich gegeneinander und

Fortsetzung nächste SeiteFortsetzung von Seite 9negieren sich gegenseitig. Das ist eine große Formulierung einer Situation, die sich in der

deutschen Geschichte immer wieder ergeben, immer wiederholt hat. Also die Isolierung der

Linken seit den Bauernkriegen. Das ist ein deutsches Thema. Und da drin steckt ein noch viel

älteres. Es ist wichtig für die Wirksamkeit von Theatertexten, daß möglichst viele alte

Modellsituationen vorkommen: die Nibelungen-Situation, ein Faust-Entwurf, ‚Die Räuber‘,

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Danton. Es gibt von Brecht keinen einzigen anderen Entwurf, kein ausgeführtes Stück, das

diesen Ansatz aufnimmt oder fortsetzt.

Die Rede ist von der Isolierung der Linken. Da es nun aber nur bürgerliches Theater in

Deutschland gibt, denunziert die Theaterform das Stück, und das Stück denunziert die

Theaterform. Das ist der Grund, warum ich mich trotzdem szenisch mit dem Text beschäftigt

habe, um das evident zu machen. Ich fürchte, das gilt auch für einen großen Teil meiner Arbeit.

Für mich ist jetzt eine Phase abgeschlossen, und diese Arbeit mit dem Fatzer-Material gehört zu

diesem Abschluß. Jetzt muß ich einen neuen Ansatz finden. Die historische Substanz ist für

mich jetzt unter dem Gesichtspunkt, unter dem ich sie versucht habe zu notieren – verbraucht.

Jetzt wäre interessant, die Geschichte der Beziehung von zwei oder drei Leuten, und zwar in

ihrer privaten oder sogenannten privaten Beziehung zu beschreiben. Das wäre jetzt interessant.

Ibsen-Renaissance jetzt, und Tschechow sowieso, deuten da auf ein Bedürfnis und die

Möglichkeiten des Eingreifens in eine Mikrostruktur. In die Makrostrukturen kann man nicht

mehr eingreifen mit Literatur. Jetzt geht es in die Mikrostruktur. Dafür hat Brecht nur in

seinem Frühwerk Techniken und Formen angeboten, Instrumentarien angeboten, aber nicht in

den „klassischen“ Stücken. Deshalb sind die jetzt auch so sakrosankt und langweilig.

Es geht darum, daß es nicht mehr erlaubt ist, nicht über sich selbst zu reden, wenn man

schreibt. Der Autor kann nicht mehr von sich absehen. Wenn ich nicht über mich rede, erreiche

ich keinen mehr.

Dabei gibt es einen wesentlichen West-Ost-Unterschied: Ich/DDR kann über mich nicht reden,

ohne über Politik/DDR zu reden. Während es in Westdeutschland ein ganz abgeschirmter

Bereich ist oder sein kann. Der Intimbereich kann in der DDR nie so abgeschirmt sein. Nach

wie vor ein Vorteil.

Mein Problem dabei ist, herauszukommen aus Rollentexten. Der Brecht redet sehr viel über

sich. Aber er ist immer, auch wenn er sagt: „Ich, der Stückeschreiber“, nicht Brecht. Es ist nicht

die Person Brecht, es ist immer auch die Rolle – also immer auch die Figur.

Interessant ist das Problem des Verhältnisses von Fatzer und Koch, vor allem, was Brecht den

„Typus Fatzer“ nennt. In der ersten Arbeitsphase bei Brecht ist dieser Fatzer ziemlich deutlich

eine Identifikationsfigur und der Koch wird erst allmählich zum Korrektiv. Später versucht

Brecht den Fatzer zu verurteilen, historisch abzuschaffen, oder seine Abschaffung zu

empfehlen. Und da hat sich inzwischen, seit der Entstehungszeit dieses Materials, wieder etwas

verschoben: heute muß man, von der DDR aus gesehen, den Typus Koch sehr viel kritischer

sehen – den Funktionär. Damit liefert es, liefert Brecht Kritik an der eigenen Person.

QUELLE: DIE ZEIT, 17.3.1978 Nr. 12

ADRESSE: http://www.zeit.de/1978/12/notate-zu-fatzer/komplettansicht

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H) Geschichten von Herrn Keuner

aus: Brecht, Bertolt; "Geschichten von Herrn Keuner. Zürcher Fassung". FfM: Suhrkamp, 2004

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Auszug aus: Wizisla, Erdmut: "Wie dürfte ich jedem die gleiche Geschichte erzählen?" Nachwort zur Keuner-Ausgabe, FfM: Suhrkamp 2004

[...]

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aus: Steinweg, Reiner: "Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung." Stuttgart: Metzler, 1972. 104ff.

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I) Miscellanea

Carlos Marighella (* 5. Dezember 1911 in Salvador da Bahia; † 4. November 1969 in São Paulo) war ein brasilianischer Revolutionär und Theoretiker der Stadtguerilla.

Das ehemalige Mitglied des Kongresses gründete unter der brasilianischen Militärdiktatur eine Guerillabewegung (Stadtguerilla) und wurde zum bedeutendsten Vertreter der These, die Guerilla müsse vom Land in die Großstädte geführt werden. Marighella wurde am 4. November 1969 in Brasilien in einem Hinterhalt von Militärs erschossen. Zur Zeit seines Todes operierten mindestens sechs verschiedene, bewaffnete revolutionäre Gruppen in Brasilien, so das Comando de Libertação Nacional.

Dieser Text, der sich heute liest wie eine Anleitung zum »James-Bond-Werden«, ist bitter ernst gemeint. Carlos Marighellas »Minimanual of the Urban Guerilla« wurde in der amerikanischen Zeitschrift »Tricontinental« (Nr. 16, Jan./Feb. 1970) in vollem Wortlaut abgedruckt. Eine deutsche Übersetzung unter dem Titel »Minihandbuch des Stadtguerilleros« erschien kurz darauf in »Sozialistische Politik« (Hg: Otto-Suhr-Institut Berlin. 2.Jg., Nr. 6/7 1970, S. 143-166).

Diese Schrift hatte maßgeblichen Einfluss auf westeuropäische Stadtguerillagruppen, darunter auch die Rote Armee Fraktion. Es war eines der ersten derartigen Anleitungsbücher, das Flugzeugentführungen als Aktion der bewaffneten Propaganda aufführte. Von Mai 1970 bis 1996 erschien der Text immer wieder in mindestens fünf unterschiedlichen selbstständigen deutschsprachigen Ausgaben als Untergrundschrift.

Carlos Marighella»Minihandbuch des Stadtguerilleros«

Der StadtguerilleroDer Stadtguerillero muss sich ein Minimum an politischen Kenntnissen aneignen und daher versu-chen, gedruckte oder in Form von Pamphleten abgezogene Arbeiten zu lesen, z.B. »Der Guerilla-Krieg« von Che Guevara. »Die Erinnerungen eines Terroristen«, »Aktionen und Taktiken der Gue-rillas«, »Über strategische Probleme und Prinzipien«, »Einige taktische Prinzipien für die Kamera-den, die Guerillaaktionen durchführen«, »Organisationsfragen«, »O Guerillero« u.a.

Persönliche Eigenschaften des StadtguerillerosDer Stadtguerillero ist durch seinen Mut und seine Entscheidungskraft gekennzeichnet. Er muss ein guter Taktiker sein und gut schießen können. Er muss schlau und umsichtig sein, um damit die Tatsache zu kompensieren, dass er an Waffen, Munition und Ausrüstung nicht stark genug ist. Das BerufsmiIitär und die Polizei, die der Regierung dient, verfügen über moderne Waffen und Fahr-zeuge und können sich frei zu jedem beliebigen Ort bewegen, wobei sie alle Mittel der bestehen-den Staatsmacht zur Verfügung haben. Der Stadtguerillero verfügt nicht über solche Mittel – seine Praxis ist die des Untergrunds. Die moralische Überlegenheit ist die Stütze des Stadtguerillero, mit der er seine wichtigste Pflicht erfüllen kann, nämlich anzugreifen und zu überleben. Dazu muss der Stadtguerillero auf seinen Erfindungsgeist zurückgreifen, jene Fähigkeit, ohne die er nicht in der Lage wäre, seine revolutionäre Rolle auszuüben.

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Die Eigenschaften des Stadtguerilleros sind Initiative, Einfallsreichtum, Flexibilität, Vielseitigkeit und Geistesgegenwart. Vor allem die Fähigkeit zur Initiative muss er in besonderem Masse besit-zen. Es ist nicht möglich, alle Situationen vorauszusehen; trotzdem darf es nicht vorkommen, das der Stadtguerillero nicht weiß, was zu tun ist, nur weil die entsprechende Anweisungen fehlen. Es ist seine Pflicht zu handeln, eine angemessene Lösung für jedes auf tretende Problem zu finden und diesem nicht auszuweichen. Es ist besser, zu handeln und Fehler zu machen als nicht zu han-deln, um Fehler zu vermeiden. Ohne Initiative gibt es keine Stadtguerillera.

Weitere notwendige Fähigkeiten des Stadtguerilleros sind die folgenden: Er muss ein guter Läufer sein, muss Müdigkeit, Hunger, Regen und Hitze ertragen können. Er muss Wache halten und sich verstecken, sich verkleiden und jeder Gefahr ins Auge sehen können. Er muss bei Tag und bei Nacht handeln, darf sich nicht überhasten, muss eine unbegrenzte Geduld haben. Er muss stets die Ruhe bewahren und seine Nerven auch unter ungünstigsten Bedingungen und in ausweglosen Situationen kontrollieren können. Niemals darf er Spuren oder Hinweise hinterlassen. Vor allem darf er sich nicht entmutigen lassen. Nicht selten desertieren oder entfernen sich Kameraden von der Stadtguerilla, wenn sie sich vor nahezu unüberwindbaren Schwierigkeiten gestellt sehen.

Die Aktion der Stadtguerilla ist aber nicht das Geschäft einer Handelsgesellschaft, die Tätigkeit an einem gewöhnlichen Arbeitsplatz oder die Vorführung eines Theaterstücks. Die Stadtguerilla ist - wie auch die Landguerilla eine Verpflichtung, die der Guerillero sich selbst gegenüber auf sich nimmt. Wenn er nicht in der Lage ist, den Schwierigkeiten entgegenzutreten oder nicht aber die notwendige Geduld verfügt, um abwarten zu können, ohne die Nerven zu verlieren, oder zu ver-zweifeln, dann ist es besser für ihn, von dieser Verpflichtung Abstand zu nehmen, fehlen ihm doch die in der Tat elementarsten Fähigkeiten, um ein Stadtguerillero zu werden.

Wie lebt und erhält sich der StadtgueriIIero?Der Stadtguerillero muss es verstehen, inmitten des Volkes zu leben, er muss darauf achten, nicht als Fremder zu erscheinen oder sich vom normalen Leben eines Durchschnittsbürgers zu unter- scheiden. Er darf in seiner Kleidung nicht von der gewöhnlichen anderer Personen abweichen. Ausgefallene Kleidung und die neueste Mode für Männer und Frauen sind oft unangebracht, wenn der Stadtguerillero beauftragt ist, in Arbeiterbezirke oder dorthin zu gehen, wo eine solche Mode nicht üblich ist. Wichtig ist für jeden Stadtguerillero, sich jederzeit bewusst zu sein, das er nur über-leben kann, wenn er entschlossen ist, Polizisten und all jene zu töten, die der Repression als aus-führende Organe dienen, und wenn er entschlossen ist, wirklich entschlossen ist, die großen Kapi-talisten, die Großgrundbesitzer und Imperialisten zu enteignen.

Die Revolution versucht durch die Enteignung der gefährlichsten Feinde des Volkes diese in ihren lebenswichtigen Zentren zu treffen; sie greift daher vornehmlich und in systematischer Form das Banknetz an, d.h. sie versetzt dem Nervensystem des Kapitalismus ihre konzentriertesten Schlä-ge. Dies ist der Grund dafür, das der Stadtguerillero zur bewaffneten Aktion übergeht und sich nur erhalten kann, wenn er seine Aktivität auf die physische Beseitigung der Agenten der Repression konzentriert und sich 24 Stunden am Tag der Enteignung der Enteigner des Volkes widmet.

Die technische Vorbereitung des StadtguerilleroNiemand kann ein Stadtguerillero werden, der nicht seiner technischen Vorbereitung besondere Aufmerksamkeit widmet. Diese technische Vorbereitung reicht vom körperlichen Training bis zur Perfektionierung oder ErIernung von Berufen und Fähigkeiten aller Art, vor allem einer handwerkli-chen Geschicklichkeit.Der StadtguerilIero kann nur dann eine gute physische Widerstandskraft haben, wenn er systema-tisch trainiert. Er kann kein guter Kämpfer sein, wenn er nicht die Kunst des Kämpfens erlernt hat. Er muss mehrere Formen des Kampfes, des Angriffes und der Selbstverteidigung erlernen und üben. Weitere sinnvolle Formen physischen Trainings sind Wanderungen, Zelten, Übungen im Dschungel, Besteigen von Bergen, Rudern, Schwimmen, Tauchen, Training als Froschmann, Fi-schen, Tiefseejagd und alle Arten von Kampfsportarten. Wichtig ist, ein Auto fahren, ein Flugzeug führen und Schiffe steuern zu können, sowohl Motor- als auch Segelschiffe, weiter Kenntnisse der Kraftfahrzeugmechanik und der Elektrotechnik zu besit-zen, um z.B. Radios und Telefone reparieren zu können.

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Von gleicher Wichtigkeit sind elementare Kenntnisse der Topographie sowie die Fähigkeit, sich mit Instrumenten und praktischen Mitteln zu orientieren, Entfernungen abschätzen, Landkarten und Lagepläne herzustellen, eine Skala benutzen, Zeitrechnungen herstellen, mit dem WinkeItranspor-ter, mit Kompass usw. umgehen zu können. Kenntnisse der Chemie, die Mischung von Farben, die Herstellung von Stempeln, das Beherrschen der Schreibtechnik und Schriftfälschung sowie andere Fertigkeiten bilden einen Teil der technischen Vorbereitung des Stadtguerilleros, der gezwungen ist, Dokumente zu fälschen, um in einer Gesellschaft leben zu können, die er zerstören will.Das Leben des Stadtguerilleros ist abhängig von seiner Schießkunst, von seiner Fähigkeit, die vor-handenen Waffen einzusetzen und selbst nicht getroffen zu werden. Wenn wir von Schießen re-den, so meinen wir die Treffsicherheit.Diese muss solange geübt werden, bis das Schießen und das Treffen des Stadtguerillero zu einer Reflexreaktion geworden ist. Um gut und treffsicher zu bleiben, muss er systematisch trainieren und dabei die verschiedensten Methoden anwenden. Jede Gelegenheit zu Schießübungen ist aus-zunutzen, auch auf Rummelplätzen und zu Hause mit dem Luftgewehr.

Logistik der StadtguerillaDie konventionelle Logistik kann durch die FormeI ausgedrückt werden »N K A M«.N (Nahrungsmittel), K (Kraftstoff), A (Ausrüstung), M (Munition). Die Logistik des Stadtguerillero der bei NULL anfängt und zunächst über keine Stütze verfügt, kann mit der Formel »M G W M S« beschrieben werden: M (Motorisierung), G (Geld), W (Waffen), M (Munition) und S (Sprengstoff).Ursprüngliche Vorteile sind:

1. Überraschung des Feindes;2. die bessere Kenntnis des Gebietes, in dem die Aktion durchgeführt wird;3. eine größere Beweglichkeit als die Polizei und die übrigen Kräfte der Repression;4. ein Informationsapparat, der besser ist als der des Feindes;5. eine Entschlossenheit und Geistesgegenwart, die alle unserer Seite Kämpfenden stimuliert

und nicht schwanken lässt, die feindliche Seite entmutigt und paralysiert, damit zur Gegen-wehr unfähig macht.

Der Banküberfall, populärste Art des ÜberfallsBanküberfälle sind zu der populärsten Art von Überfällen geworden. Diese Überfallart wird heute weitestgehend benutzt und dient dem Stadtguerillero als eine Art Vorexamen, in dem die Technik der Revolution erlernt wird.

Die Stadtguerilla, Auswahlschule des GuerillerosDie Intellektuellen stellen die zentrale Säule des Widerstandes gegen die Willkür und gegen die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten dar. Sie geben der Revolution ständig neue Impulse und sie haben ein riesiges Kommunikationspotential und einen großen Einfluss auf das Volk. Der Intellek-tuelle Stadtguerillero oder der Künstler- Stadtguerillero sind die Neueste Bereicherungen des revo-lutionären Krieges.

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Transkript: Anti-Oper

Ein Gespräch zwischen Heiner Müller und Alexander Kluge

[...]

KLUGE Du hast ja einen Dramenentwurf, den du machen willst, und deine Anspielung auf 24

Stunden verstehe ich so, dass von Stalingrad bis Berlin das ein 24-Stunden-Werk wird. Wenn du

aber jetzt die Aufgabe auf dich nehmen müsstest, zur Strafe, du solltest einen Abschied von 1914

machen, Abschied von 1916 und Abschied von der Erfahrung des Ersten Weltkriegs - Fortsetzung,

also "Fatzer", zweiter Teil. Was würdest du machen? "Faust", zweiter Teil, "Fatzer", zweiter Teil

MÜLLER Das ist ein wirkliches Problem, das weiß ich nicht. Weil im Moment sieht es für mich so

aus, dass in diesem »Fatzer«-Text alles auch beschrieben ist, was jetzt passiert, was im Zweiten

Weltkrieg passiert ist. Und was jetzt, 1989, passiert. In dem »Fatzer«-Material gibt es am Anfang

eine Szene im Ersten Weltkrieg. Sie beschreibt die Erfahrung der Materialschlacht, das ist eine

Verzweiflungsreaktion darauf, und der Koch, der später Funktionär wird, schreit ...

KLUGE Der Koch? Oder heißt der Koch?

MÜLLER Koch, er heißt Koch.

KLUGE Er heißt Koch, er ist kein Schauspieler?

MÜLLER Später, in einer anderen Version, heißt er Keuner, und das wird dann eine Lenin-Figur,

das war aber nur geplant von Brecht, nicht geschrieben. Und der schreit in der Schlacht, überall ist

der Feind und es wird geschossen. Und dann kommt dieser enorme Schluss, wo er sagt, wo soll

man da hinfliehen, überall ist der Mensch. Und dann sagt Büsching, der Mensch ist der Feind und

muss aufhören.

KLUGE Was verstehst du unter Materialschlacht?

MÜLLER Verdun, oder die Somme, und einfach diese Erfahrung des Angenageltseins an den

Boden oder in den Graben ...

KLUGE Der Mensch ist angeschmiedet durch Befehl, und die Materialschlacht ist im Grunde die

tote Arbeit gegen die tote Arbeit?

MÜLLER Ja, ja. Und deswegen ist der logische Schluss, der Mensch ist der Feind und muss

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aufhören. Der Mensch, der sich so materialisiert hat, mitten in dieser Maschine. Das finde ich

einen ganz enormen Punkt in dem Text. Die Materialschlacht ist eigentlich der Entwurf von

Auschwitz. Wenn man eine Entsprechung sucht zu dem nationalen Stoff von Shakespeare, die

Rosenkriege gibt’s in Deutschland nicht. Es gibt in Deutschland keinen nationalen Stoff. Deswegen

ist die Schwärmerei von Schiller, auch von Goethe über Friedrich den Großen eine Zeitlang ganz

interessant. Das war die Hoffnung auf einen nationalen Stoff, aber es ging nicht. Schreiben konnte

man es nicht. Das war nicht dramenfähig.

KLUGE Nun gibt es eine Kontinuität. Wenn ich die Kürze der Wiedervereinigung betrachte, also

’70/’71, das reicht bis ’45, und jetzt kommt wieder eine neue Wiedervereinigung auf der einen

Seite, auf der anderen Seite die hohe Kontinuität der beiden Weltkriege. Also was 1914 begann, ist

1918 nicht beendet und geht über die Freicorps und über alle möglichen Dinge ...

MÜLLER Und das ist der Punkt bei »Fatzer«. Schon die Namen. Ich muss vielleicht kurz die

Geschichte erzählen. Sie ist nicht zu Ende geschrieben bei Brecht, aber es gibt eine

Fabelerzählung von Brecht selbst. Soldaten beschließen im Ersten Weltkrieg in Frankreich, den

Krieg zu beenden, also zu desertieren. Der Titel ist »Liquidation des Ersten Weltkriegs durch

Johann Fatzer«. Fatzer ist die führende Figur bei dieser Desertion. Er erklärt den anderen die Lage

und macht eine Zeichnung, wo er beschreibt, dass Feuer und Wasser auf beiden Seiten

gegeneinander stehen, d. h. der, auf den wir schießen, ist unser Bruder, hinter ihm steht unser

Feind, hinter uns steht unser Feind, der auch sein Feind ist. Sein letztes Argument macht die

anderen zögern: Ich rauche jetzt meinen Tabak auf, weil es die eiserne Ration ist, damit ihr hier

nichts mehr habt, denn sonst macht ihr noch weiter, dann ist Schluss. Und dann gehen sie nach

Mülheim, da ist auch die Ortswahl interessant ...

KLUGE Mülheim/Ruhr?

MÜLLER Mülheim/Ruhr. Und sie verstecken sich in der Wohnung eines der vier, der aus Mülheim

stammt, und warten auf die Revolution.

KLUGE Und die kommt nicht.

MÜLLER Und die kommt nicht. Und dann gibt es den Kernsatz, der Krieg hat uns nicht

umgebracht, aber bei ruhiger Luft im stillen Zimmer bringen wir uns selber um.

KLUGE Wenn du das Wort Gaskrieg hörst, was stellst du dir da vor? Du hast ja Gaskrieg selber

nicht kennengelernt?

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MÜLLER Ja, ich habe noch eine Gasmaske getragen, aber es gab keinen Gaskrieg mehr. Und das

ist ja auch interessant, dass das im Zweiten Weltkrieg keine Erfahrung mehr geworden ist. Der

Erste Weltkrieg war eine Erfahrung für alle Beteiligten.

KLUGE Hitler, der wusste, was Gaskrieg ist, hat widerstanden. Das war einer der wenigen Punkte,

an denen dieser Mann irgendeine Hemmung hatte. Und wenn du aber mal das Wort Gaskrieg

hörst, wie stellst du dir das vor?

MÜLLER Ja, der Hauptpunkt ist die absolute Hilflosigkeit, das Zurückgeworfensein auf animalische

Reaktionen. Für mich ist eine Metapher für den Gaskrieg was ganz Dummes. Ich war in

Disneyland bei Los Angeles und bin mit dieser Montblanc-Bahn gefahren, ich weiß nicht, ob du die

kennst. Du fährst also durch einen kleinen Montblanc mit einer ungeheuer schnellen Bahn, und es

ist stockdunkel da drin, und die Kurven sind gewaltig, und plötzlich bist du völlig zurückgeworfen

auf eine ganz kreatürliche Angst, dich festzuhalten in den Kurven, das ist die Erfahrung des

Gaskriegs, die ich kenne.

KLUGE Die Lunge versagt als letztes, du kannst ja nicht willkürlich ertrinken, also du kannst dich

nicht selber ertränken, denn im letzten Moment würde die Lunge, im Gegensatz zu deinem

Verstand oder Herzen, dich wieder hochtreiben.

MÜLLER Der Erstickungstod ist der schrecklichste.

KLUGE Gleichzeitig die dauerhafte Westwindrichtung unseres Planeten.

MÜLLER Ja, ja.

KLUGE So dass man Windstille oder Ostwind auf deutscher Seite brauchte.

MÜLLER Deswegen sind die Armenviertel ja immer im Osten der Städte.

(Quelle. http://muller-kluge.library.cornell.edu/de/video_transcript.php?f=100 – 5.1.2013)

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In diesem kurzen Aufsatz, einem Ausschnitt aus seiner Monographie »Hammerstein oder der Eigensinn« (Frankfurt: Suhrkamp, 2008), gibt der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger (*11. November 1929) einen prägnanten Überblick über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zur Entstehungszeit der »Fatzer«-Fragmente.

Hans Magnus Enzensberger: Die Schrecken der Weimarer Republik

Wir sollten dankbar dafür sein, dass wir nicht dabei gewesen sind.

Die Weimarer Republik war von Anfang an eine Fehlgeburt. Das ist keine besserwisserische Charakteristik aus der Retrospektive. So hat sie bereits Ernst Troeltsch in seinen Spectator-Briefen aus den Jahren 1918-1922 beschrieben, und er war nicht der einzige. Ein Blick in Jo-seph Roths frühe Romane und Reportagen sollten jeden überzeugen, der daran zweifelt. Nicht nur, dass die alten Eliten nicht bereit waren, sich mit der Republik abzufinden. Viele, die aus dem verlorenen Kriege nach Hause kamen, mochten den »Kampf als inneres Erlebnis« nicht aufgeben und sannen auf Revanche. Sie erfanden die »Dolchstoßlegende«, später hieß es dann ein Jahrzehnt lang: »Und ihr habt doch gesiegt.« Justiz und Polizei klammerten sich an ihre wilhelminischen Normen und Gewohnheiten. An den Hochschulen überwogen autoritäre, antiparlamentarische und antisemitische Stimmungen. Mehr als einmal entlud sich die gereizte Atmosphäre in dilettantischen Putsch- und Umsturzplänen.

Auf der Seite der Linken sah es nicht viel besser aus. Auch sie hielt wenig von der Demokra-tie und ihre Kader planten den Aufstand. Die wirtschaftliche Misere trug zur Instabilität der deutschen Gesellschaft bei. Die Kriegsschulden und Reparationszahlungen belasteten den Haushalt der Republik schwer. Die Inflation ruinierte den Mittelstand und das Kleinbürger-tum. Dazu kam die endemische Korruption, die bis in die höchsten Staats- und Parteiämter reichte und unmittelbar politische Folgen hatte. Der Fall des Reichspräsidenten Hindenburg ist notorisch. Die einzige ökonomische Atempause, die an eine Erholung denken ließ, dauer-te ganze vier Jahre, von 1924 bis 1928. Dann machte ihr die Weltwirtschaftskrise ein bruta-les Ende. Der ökonomische Zusammenbruch und die folgende Massenarbeitslosigkeit führ-ten zur Verbitterung der Lohnabhängigen und zu massiven Deklassierungsängsten.

Dazu kamen die außenpolitischen Belastungen, die zeitweise ein unerträgliches Maß annah-men. Der Versailler Vertrag, weit entfernt von dem intelligenten Frieden, den die Briten und die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg ins Auge fassten, rief in der deutschen Gesell-schaft vehemente Ressentiments hervor. Die Ruhrbesetzung, der Separatismus und die ethi-schen Konflikte begünstigen und verschärften die chauvinistischen Stimmungen. Die unmit-telbaren Nachbarn, vor allem die Franzosen und die Polen taten alles, was in ihrer Macht stand, um die Deutschen weiter zu demütigen, und auch die Sowjetunion versuchte, die Re-publik, so gut sie konnte, zu destabilisieren.

Mit einem Wort, das Land befand sich in einem latenten Bürgerkrieg, der nicht nur mit politi-schen Mitteln ausgetragen wurde, sondern immer wieder gewaltsame Formen annahm. Vorm Spartakus-Aufstand bis zu den Aggressionen und Fememorden der Freikorps und der »Schwarzen Reichswehr«, von den mitteldeutschen Märzkämpfen bis zum Aufmarsch der Nationalsozialisten vor der Münchner Feldherrenhalle, von den Hamburger und Wiener Ar-beiterkämpfen bis zum Berliner »Blutmai« wurde die Demokratie von den Militanten beider

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Seiten immer wieder in die Zange genommen.

Unter dem Stichwort Systemzeit findet man heute folgende politisch unverdächtige Definiti-on: »S., die in einem Computer von der internen Uhr bereitgestellte und durch das Betriebs-system an die Software weitergegebene Uhrzeit.« In den zwanziger und dreißiger Jahren las man es anders. >Das System< war ein Kampfbegriff, der in der Weimarer Zeit geprägt wurde (und der 1968 eine sonderbare Renaissance erlebte). Er wurde von rechts und von links, von Goebbels ebenso wie von Thälmann, gegen die Republik ins Feld geführt.

In den Jahren 1932 und 1933 nahm die Spaltung der Gesellschaft, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich, geradezu libanesische Formen an. Milizen – SA, Roter Front-kämpferbund, Stahlhelm, Hammerschaften, Reichsbanner, Schutzbund und Heimwehr – be-kämpften sich auf offener Straße, und die Agonie der Weimarer Republik erreichte ihren kriti-schen Punkt.

Dass die Lüge von den »Goldenen Zwanziger Jahren« von den Nachgeborenen jemals ge-glaubt werden konnte, ist rätselhaft und weder durch Ignoranz zu entschuldigen, noch durch Mangel an historischer Vorstellungskraft zu erklären. Dieser fragile Mythos nährt sich viel eher aus eine Mischung von Neid, Bewunderung und Kitsch: Neid auf die Vitalität und Be-wunderung für die Leistung einer Generation von großen Begabungen, aber auch wohlfeile Nostalgie. Man sieht sich die tausendste Vorstellung der Dreigroschenoper an, staunt über die Preise, die Beckmann, Schwitters und Schad auf den Aktionen erzielen, begeistert sich für die Repliken der Bauhausmöbeln und weidet sich an Filmen wie Cabarét, die ein hysteri-sches, polymorph perverses, »verruchtes« Berlin zeigen. Ein wenig Dekadenz, eine Prise Ri-siko und eine starke Dosis Avantgarde lassen den Bewohnern des Wohlfahrtsstaates ange-nehme Schauer über den Rücken rieseln.

Diese Blüte einer höchst minoritären Kultur lässt den Sumpf vergessen, auf dem sie gedieh. Denn auch die intellektuelle und künstlerische Welt der zwanziger Jahre war durchaus nicht immun gegen die Erregungszustände des Bürgerkriegs. Dichter und Philosophen wie Hei-degger, Carl Schmitt oder Ernst Jünger, aber auch Brecht, Horkheimer und Korsch setzten der Hasenherzigkeit der politischen Klasse das Pathos der Entschlossenheit entgegen – wozu entschlossen, darauf kam es ihnen erst in zweiter Linie an. Auch ihre Mitläufer, die lin-ken wie die rechten, schwelgten in der Attitüde des Unbedingten.

Die Politiker des Mittelmaßes konnten da nicht mithalten. Sie wirkten blass und hilflos. Die Fähigkeit, die Ängste, die Ressentiments, die Begeisterungsfähigkeit und die destruktive Energie der Massen zu mobilisieren, fehlte ihnen ganz und gar. Auch aus diesem Grund haben sie Hitler, der sich darauf wie kein anderer verstand, ausnahmslos unterschätzt. Es blieb der politischen Klasse am Ende kaum mehr übrig, als zwischen Panik und Lähmung zu lavieren.

Das Gefühl der Ohnmacht verführte die meisten zur Flucht ins Extrem. Schutz und Sicherheit glaubten die Leute nur noch in den Organisationen wie der KPD, der NSDAP, dem Reichs-bund oder der SA zu finden. Die Massen schwankten zwischen links und rechts; die Fluktua-tion zwischen beiden Polen nahm epidemische Formen an. Aus Furcht vor der Isolation su-chen die Menschen das Kollektiv, flohen in die Volksgemeinschaft oder in den Sowjetkom-munismus. Paradoxerweise endete diese Flucht für viele die sie antraten, in der totalen Ein-samkeit: im Exil, im KZ, in den Säuberungen, im Gulag oder in der Vertreibung.

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Der Bühnenbildentwurf zur Fatzer-Produktion in Marburg sah zunächst einen stilisierten Box-ring vor. Dieser ist zwar mittlerweile wieder verschwunden bzw. hat sich weiterentwickelt, dennoch sind die Querverbindungen zwischen Brecht, Bühne und Boxsport nicht uninter-essant im Kontext der Fatzer-Themen. Der Boxring ist ein Ort des Kampfes zwischen zwei herausgehobenen Antagonisten, ein mythischer Schauplatz eines Stellvertreterkampfes, vergleichbar etwa der römischen Gladiatorenarena. Insofern der Boxer Stellvertreter einer Masse ist, ist aber jeder Boxkampf auch ein Kampf zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv.

B. B. und der BoxerAls Bert Brecht sich von Samson-Körner inspirieren ließ

Von Alex Natan

Die großen Schriftsteller unserer Zeit, die eine sportliche Begebenheit zum Thema ihrer Kunst ge-wählt haben – Hemingway, Schulberg, Gallico, Jack London oder Greuze –, haben stets das Pro-blem in den krassen, naturalistischen Schattenseiten des Sports gefunden. Sie spürten unter der ölig glänzenden Haut eines geschäftig propagierten Olympioniken die wirkliche Tragödie des Kämpfers, die der Sykophant unter den Sport-Portraitisten durch Lorbeergewedel von sich zu scheuchen weiß. Sport als Thema für einen großen Schriftsteller bedeutet eine Goya-Vision, den Dunst von Blut und Schweiß und Verrat, die großartige Einsamkeit der Niederlage, die Entfesse-lung aller Triebe, wie sie sich beim Boxkampf, beim Sechs-Tage-Rennen oder im Catcherzelt of-fenbaren, wo es um mehr als die Ehre, wo es um die Existenz selbst geht.

Neben Gerhart Hauptmann ist Bertolt Brecht der größte Dramatiker, der in deutscher Sprache in diesem Jahrhundert geschrieben hat. Es sollte deswegen nicht ohne Interesse sein, wie sich Brecht zum Sport als auffälligem Phänomen seiner Zeit gestellt hat, selbst wenn sich die eigene Betätigung auf das Autofahren beschränkt hat. Bert Brecht versuchte erstmalig zu Beginn der zwanziger Jahre, als es in Deutschland zur Mode geworden war, angelsächsische Klischees nach-zuahmen. Damals herrschte eine unechte Vergötterung englischer Lebenseinstellung vor. Bertolt Brecht nannte sich »Bert«, Georg Grosz wurde zu »George«. Walter Mehring gab sich zeitweise als »Walt Merin« aus, während der Dadaist und Pazifist Hellmut Herzfelde sich »John Hartfield« hieß. Sport, der in der angelsächsischen Welt die Realität einer Selbstverständlichkeit besitzt, wur-de der damaligen Generation genauso zu einer mythischen Vorstellung, wie ihr der Negerjazz ein musikalisches Ideal und die Heilsarmee eine esoterische Welterlöserreligion bedeutete. Bereits Wedekind und Bernard Shaw hatten in dem seltsamen Milieu der Heilsarmee und in ihren natura-listischen Hymnen eine ähnliche Anziehungskraft verspürt wie in dem Kraftmeiertum des damali-gen Sports. Es war die gleiche lärmende, trunkene, ungebärdige volkstümliche Mischung, die wohl auf Rimbaud zurückzuführen ist, die auch andere Dichter der zwanziger Jahre, wie etwa Cocteau, Lorca und Mayakowski faszinierte.

Sport, Whisky und »Virginia«

Boxen, Ringkampf, Sechs-Tage-Rennen wurden ihnen allen zu symbolischen Formen des Kampfs ums Dasein, um eine Welt, die seit 1914 aus den Fugen geraten war. Ähnlich dem Sport nahmen auch Whisky und Gin und der fremde »Virginia«-Tabak symbolische Bedeutung für eine Wandlung an, die im Zeichen einer neuen Gesellschaft stehen würde. Lion Feuchtwanger, einer der frühesten Freunde Brechts, drückte dieses neue kraftprotzende Gefühl in »J. L. Wetcheek’s Amerikanischem Liederbuch« aus. Der expressionistische Dramatiker Georg Kaiser ließ seinen betrügerischen Kas-sierer den Abglanz des Lebens in »Von Morgens bis Mitternachts« auf einem Sechs-Tage-Rennen und im Vereinslokal der Heilsarmee erleben. Joachim Ringelnatz mokierte sich über Boxen, Rin-gen und Radfahren in seinen »Turngedichten« ebenso wie über die teutonische Mentalität der Tur-ner. Arnolt Bronnen, auch einer der frühesten Freunde Brechts, schrieb in der Zeitschrift »Die Sze-

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ne« über die zeitgenössische Literatur: »Für mich sind ihre Aspekte grenzenlos. Sie reichen von ei-nem Boxkampf bis zur Jazzband.« Walter Mehring schreibt in einem Sketch aus dem Jahre 1924, den er bezeichnenderweise »Kult des Sports« nannte, über ein Sechs-Tage-Rennen:

»Hart

Am Start

Die Muskeln auf der Lauer

Zweimalhunderttausend

Augen:«

Jedenfalls hatte der sogenannte »Kulturbolschewismus« den Sport früher entdeckt als seine spä-teren nationalistischen Schönfärber.

Es ist die gleiche schweißgetränkte Atmosphäre des Rings, die für Bert Brecht symbolischen Cha-rakter erhält. Im Vorspruch zu seinem Stück »Im Dickicht der Städte« (1921 bis 1924 verfaßt) gibt der Dichter dem Leser den folgenden Rat: »Sie befinden sich im Jahre 1912 in der Stadt Chicago. Sie betrachten den unerklärlichen Ringkampf zweier Menschen und Sie wohnen dem Untergang einer Familie bei, die aus den Savannen in das Dickicht der großen Stadt gekommen ist. Zerbre-chen Sie sich nicht den Kopf über die Motive dieses Kampfes, sondern beteiligen Sie sich an den menschlichen Einsätzen, beurteilen Sie unparteiisch die Kampfform der Gegner und lenken Sie Ihr Interesse auf das Finish.«

»Kunst und Boxsport«

In den Bühnenanweisungen zum Schlussakt des »Elephantenkalbes« heißt es: »Alle ab zum Box-kampf«. Der Kampfsport der Berufssportler interessierte Brecht enorm, so dass dieser Zug in den meisten seiner Stücke zu spüren ist, besonders stark in seiner Kurzgeschichte »Der Kinnhaken«. Brecht beriet 1930 seinen Freund Ferdinand Reyher, der damals sein Stück »Harte Bandagen« veröffentlichte. Es war typischer Zeitgeist, der sich hier bemerkbar machte. Als der Kunsthändler Alfred Flechtheim seine Galeriemitteilungen in den »Querschnitt« umwandelte, nannte er ihn eine »Zeitschrift für Kunst und Boxsport«. In seinem Kreis galt es als »chic«, in der Körperschule von Breitensträter zu boxen oder sich dort den Leib wegmassieren zu lassen. De Fiori schuf damals seinen »Schmeling«, Belling seinen »Neusel« und Renée Sintenis ihren »Nurmi«. Mit seinem Freund, dem damaligen Schwergewichtsmeister Samson-Körner ging Brecht bei Flechtheim aus und ein. Gemeinsam mit diesem Boxer begann Brecht ein neues Werk »Die Menschliche Kampf-maschine« zu schreiben, das indessen nicht vollendet wurde. Als die »Literarische Welt« 1926 ein lyrisches Preisausschreiben veranstaltete, war Brecht einer der Richter. Er entschied sich für ein Gedicht seines Freundes Hannes Küpper, das in einer Radsportzeitschrift erschienen war. Es schilderte die Legende des australischen Sechs-Tage-Fahrers Mac Namara, den man den »Eiser-nen Mac« auf dem Heuboden, des Berliner Sportpalastes nannte. Jede Strophe des Gedichtes schloß bezeichnenderweise mit dem englisch geschriebenen Refrain : »Hé, hé! The Iron Man!«

Bühne und Boxring

Wir wissen heute, daß Brecht seinen Posten als Dramaturg bei Max Reinhardt aufgab, weil ihm die Plüschatmosphäre eines Theaters für den wohlhabenden Mittelstand nichts mehr zu sagen hatte. Carl Zuckmayer hat darüber 1948 in Iherings »Theaterstadt Berlin« berichtet. Damals schwebte Brecht ein »Theater der Raucher und des Schweiß’ « vor. Er wollte von seinem Publikum den Schauspieler wie einen kämpfenden Sportsmann beurteilt sehen. Ihn zog der Boxring mit seinen hölzernen Sitzen und seinen grellen, unbarmherzigen Bogenlampen immer wieder an. Im Jahre 1926 schrieb er dann einen Artikel für den Berliner Börsen-Courier, den er »Mehr guten Sport« (Hinweis, den guten Sportbetrieb aufs Theater anzuwenden) nannte. Diese Gedanken führte er

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dann im gleichen Jahre in seinem Stück »Mann ist Mann« durch. Sein Regisseur, Jakob Geis, hat darüber in einem Aufsatz in »Die Szene« berichtet, wie Brecht danach gestrebt hätte, die neutrale, unbestechliche, glasklare Atmosphäre eines Boxkampfes auf die Bühne zu bringen. Im gleichen Jahren wurde die Bühne auch wirklich zum Boxring, als Melchior Vischer Brechts Einakter »Die Hochzeit« in Frankfurt zur Aufführung brachte. Der Regisseur kommentierte danach: »Sport muss zum Sammelpunkt des Theaters werden, eines neuen Theaters.« Unter dem direkten Einfluss Brechts schrieb Vischer dann ein Stück »Fußballspieler und Indianer«. Die Analogie des Boxrings taucht auch noch in der »Dreigroschenoper« auf, wie dies gleichfalls die Inszenierungen des Sing-spiels »Mahagonny« und des Lehrstücks »Die Maßnahme« erwiesen haben, wo ganze Szenen auf einem Podium stattfinden, das durch Seile vom Rest der Bühne abgeteilt war.

Brecht hat seine grundsätzliche Einstellung zum Sport in einem Beitrag »Die Krise des Sports« niedergelegt, den er 1928 für Willy Meisls Buch »Der Sport am Scheidewege« verfasst hatte. Darin äußert er sein Misstrauen einem Sport gegenüber, der ihm immer mehr zu einer politischen Bemü-hung des deutschen Bürgertums wird, ihn gesellschaftsfähig zu machen. »Das Scheußlichste, was man sich ausdenken kann, ist Sport als Äquivalent.« Hier liegt die Antwort an alle jene, die aus dem Sport eine Lebensideologie machen möchten. Brecht weist es als unwürdig ab, im Sport den Ausgleich für den Geist zu sehen, um dann wörtlich zu schließen: »Ich bin gegen alle Bemühun-gen, den Sport zu einem Kulturgut zu machen, schon darum, weil ich weiß, was diese Gesellschaft mit Kulturgütern alles treibt, und der Sport dazu wirklich zu schade ist. Ich bin für den Sport, weil und solange er riskant (ungesund), unkultiviert (nicht gesellschaftsfähig) und Selbstzweck ist.«

Aus: DIE ZEIT, 22.2.1963 Nr. 08

Quellle: http://www.zeit.de/1963/08/b-b-und-der-boxer/komplettansicht (14.11.2012)

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Ein Gespräch zwischen Wolfgang Heise und Heiner Müller

[...]

HEISE Wie verstehst du »Schrecken«?

MÜLLER Der Augenblick der Wahrheit, wenn im Spiegel das Feindbild auftaucht. Ich habe kürzlich

einen Text von Brecht gelesen, zitiert in einer Beschreibung einer »Fatzer«-Aufführung in Wien:

»Nicht nahe kommen sollten sich die Zuschauer und Schauspieler, sondern entfernen sollten sie

sich voneinander. Jeder sollte sich von sich selber entfernen, sonst fällt der Schrecken weg, der

zum Erkennen nötig ist.« Das ist, glaube ich, ein sehr zentraler Punkt bei Brecht, und viele seiner

Innovationen oder Techniken lassen sich da subsumieren unter diese Kategorie der Entfernung.

Man sieht ja nur aus der Distanz; wenn man mit dem Auge auf dem Gegenstand liegt, sieht man

ihn nicht. Wer bei sich bleibt, lernt nicht. »Man muss das Volk vor sich selbst erschrecken lehren,

um ihm Courage zu machen.«

HEISE Das wäre Distanzlosigkeit und Herstellen von Distanz in einem Akt und durch einen Akt,

Zusammenhang von Zerstörung und Produktivität, da steckt die Dialektik drin, die Marx für die

Scham entwickelt hat.

MÜLLER In diesen Zusammenhang gehört der Begriff Furchtzentrum im »Fatzer«-Material. Jetzt

kann man das wieder in Beziehung setzen zu Aristoteles, aber es ist schon eine Dialektisierung,

glaube ich. Es geht grundsätzlich darum, das Furchtzentrum einer Geschichte zu finden, einer

Situation und der Figuren, und dem Publikum das auch zu vermitteln als Furchtzentrum. Nur wenn

es ein Furchtzentrum ist, kann es ein Kraftzentrum werden. Aber wenn man das Furchtzentrum

verschleiert oder zudeckt, kommt man auch nicht an die Energie heran, die daraus zu beziehen ist.

Überwindung von Furcht durch Konfrontation mit Furcht. Und keine Angst wird man los, die man

verdrängt.

HEISE Da wäre Katharsis vielleicht gegenüber Brechts Kritik zu rehabilitieren: aber nicht in einem

nur psychologischen Sinne der Abfuhr, sondern sehr komplexer Aktivitäten, sich von Furcht zu

befreien. Und mir scheint, dass du den Schrecken extremisierst, ihn jedoch – ich denke dabei an

deine Theaterarbeit, aber auch an die Texte – mit Komischem konterst, verfremdest, damit weniger

die Person, mehr die Zuschauerbeziehung wertmäßig organisierst. Das Komische ließe sich als

besiegter Schrecken, komische Form als Form des besiegten oder besser besiegbaren

Schreckens begreifen. Das hängt freilich jeweils vom Gegenstand ab. Ich möchte noch einmal auf

Galilei zurückkommen. Er ist – in unserem Text – am Ende, auf dem Grund. Das scheint analog

der Endsituation des »Fatzer«-Fragments, die zugleich Produktionskrise und Ausweglosigkeit

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anzeigt. Offensichtlich ist das Fatzer-Problem für Brecht nicht erledigt mit dem Übergang zur

kommunistischen Position, zu den Lehrstücken, zum »Me-ti« etc., es muss auf neuer Ebene immer

wieder angegangen werden ...

MÜLLER Die in »Fatzer« formulierte Endposition ist eigentlich die: Und von heute an und für eine

lange Zeit wird es auf dieser Welt keine Sieger mehr geben, sondern nur noch Besiegte. Das ist

eine Formulierung von 1932. Und das Furchtzentrum, wenn man mal etwas vereinfacht

formulieren will, war die Angst vor dem unauflösbaren Clinch von Revolution und Konterrevolution.

HEISE Das führt auf Gegenwartsprobleme, die wir uns ja nicht ausgesucht haben, ist also

individuell und gesellschaftlich allgemein, auch ein Hintergrundgedanke von »An die

Nachgeborenen«.

MÜLLER Ich lese mal ein in den Sammlungen nicht veröffentlichtes Gedicht dazu vor, das offenbar

keinen Titel hat:

»Und er verglich nicht jene / mit andern / und auch nicht sich mit / einem andern / sondern /

schickte sich an / bedroht / sich rasch zu verwandeln in / unbedrohbaren Staub. / Und alles, was

noch geschah, / vollzog er wie / ausgemachtes, / als erfülle er / einen Vertrag. / Und ausgelöscht /

waren ihm / im Innern die Wünsche. / Jegliche Bewegung / untersagte er sich streng. / Sein

Inneres schrumpfte / ein und verschwand / wie ein leeres Blatt, / entging er allem, / außer der

Beschreibung.«

HEISE Schwer scheint mir hier der Punkt angebbar, wo äußerste, verzweifelte Not nicht in

Schicksalstugend umschlägt.

MÜLLER Ich würde es nicht nur so sehen. Ich glaube, das ist geschrieben ungefähr in der Zeit von

»Fatzer«, auch in der Zeit von dem Gedicht »Fatzer komm«. Und das ist die private Formulierung

dieses »Fatzer komm«. Und was mich interessiert daran, ist der Nullpunkt, den er erreicht hat.

Einfach aus seiner genaueren, pessimistischen Einsicht in den Gang der Dinge. Vor 1933. Er

wusste es besser als die andern. Er wusste, was kommt, besser als die meisten anderen Linken.

Und er hatte auch nicht die Illusion über die kurze Dauer dieser Sache. Und das, meine ich, ist

interessant, weil, von da ab kommt dann die Erfüllung des Vertrags, die Parabelstücke. Also im

Abgeschnittensein von der konkreten Situation in Deutschland, in der Entscheidung für Stalin, nicht

mit Churchill, gegen Hitler.

HEISE Im Gedicht »Fatzer komm« hat Brecht den Nullpunkt objektiv und politisch gefasst.

»Verlass deinen Posten. / Die Siege sind erfochten. Die Niederlagen sind / Erfochten: / Verlass

jetzt deinen Posten.«

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Und die zweite Strophe heißt: »Tauche wieder unter in die Tiefe, Sieger. / Der Jubel dringt dorthin,

wo das Gefecht war. / Sei nicht mehr dort. / Erwarte das Geschrei der Niederlage dort, wo es am

lautesten ist: / In der Tiefe. / Verlass den alten Posten.« Und die letzte Strophe dieses Gedichts

lautet:

»Der Geschlagene entrinnt nicht / Der Weisheit. / Halte dich fest und sinke! Fürchte dich! Sinke

doch! Auf dem Grunde / Erwartet dich die Lehre. / Zu viel Gefragter / Werde teilhaftig des

unschätzbaren / Unterrichts der Masse: / Beziehe den neuen Posten.«

Der Unterricht der Masse ist natürlich nicht nur ein Unterricht durch Kenntnisnahme der Meinungen

von Massen, sondern auch durch ihr wirkliches Verhalten.

MÜLLER Vor allem auch dadurch, daß er selbst Teil der Masse wird. Zu dieser Strophe hat Walter

Benjamin einen Kommentar geschrieben, der mir wichtig erscheint. »Sinke doch ... Im

Hoffnungslosen soll Fatzer Fuß fassen. Fuß, nicht Hoffnung. Trost hat nichts mit Hoffnung zu

schaffen. Und Trost gibt Brecht ihm: Der Mensch kann im Hoffnungslosen leben, wenn er weiß,

wie er dahin gekommen ist. Dann kann er darin leben, weil sein hoffnungsloses Leben dann

wichtig ist. Zugrunde gehen heißt hier immer: auf den Grund der Dinge gelangen.«

HEISE Diese Einsicht Brechts betrifft ihn selbst mit – vielleicht hat er sie auch beiseite geschoben

– im Festhalten einer Überlegenheits- und Wissenshaltung, als die Erfahrung ihm widersprach.

Das Wörtliche ist zugleich metaphorisch und anwendbar: »Der Geschlagene entrinnt nicht / Der

Weisheit / Halte dich fest und sinke!« Das ist keine Selbstaufgabe, sondern ein Selbstsuchen in

der Extremsituation von Ohnmacht und Fragwürdigwerden des als sicher Gewussten und

Behaupteten. Dies »Fatzer«-Gedicht weist schon auf den Weg des »Me-ti« – und mir scheint, er

beleuchtet auch das Bemühen um den »Büsching«-Stoff.

MÜLLER Etwas verbindet »Galilei« und »Fatzer«. »Fatzer« ist eins der persönlichsten Stücke von

Brecht, von der ganzen Textur her, und »Galilei« ist von den ganzen späten Stücken das einzige

persönliche, wo auch direkt Autobiografisches verarbeitet ist. In den letzten Proben, die er gemacht

hat – und das hatte, finde ich, durchaus auch eine tragische Note –, hat er sich immer mit Busch

gestritten, ihm gesagt: Busch, Sie spielen einen Verbrecher, das ist ein Krimineller, ein Mann, der

die Wahrheit weiß und sie nicht sagt. Und Busch sagte immer: Aber Brecht, das haben Sie nicht

geschrieben. Und Brecht bestand immer darauf: Busch, Sie sind ein Krimineller. Und Busch sagte

immer wieder: Brecht, das haben Sie nicht geschrieben.

Die Wunde im Text erscheint auf dem Theater als Narbe. Da liegt ja auch ein Dilemma von

Theater, das Brecht selbst mal formuliert hat: Dramatik ist immer avancierter als das gleichzeitige

Theater. Weil, um Neuerungen im Theater durchzusetzen oder zu präsentieren, muß man einen

riesigen Apparat bewegen, da ist also viel mehr Materialaufwand als beim Schreiben. Und das

andere Dilemma: Theater hängt auch immer oder lebt in der Spannung zwischen Aktualität und

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Material, zwischen der politisch-moralischen Intention mit der Eigenbewegung des Materials. Das

ist eben besonders deutlich bei »Galilei«. Ein Punkt, der überhaupt wichtig ist, wenn man über

Brecht redet: dass die politischen Impulse, die der Motor seiner ästhetischen Innovationen sind,

auch als Bremse funktionieren.

HEISE Das hat Brecht selbst gesagt, 1941 notierte er im Arbeitsjournal: »wann wird die zeit

kommen, wo ein realismus möglich ist, wie die dialektik ihn ermöglichen könnte? schon die

darstellung von zuständen als latente, balancen sich zusammenbrauender konflikte stößt heute auf

enorme schwierigkeiten, die zielstrebigkeit des schreibers eliminiert allzu viele tendenzen des zu

beschreibenden zustandes. unaufhörlich müssen wir idealisieren, da wir eben unaufhörlich partei

nehmen und damit propagandieren müssen.« (31. 1. 1941) Mir scheint das objektiv historisch

bedingt zu sein. Welche Wahl hatte er? Darin liegt zugleich ein moralisch-politisches

Verantwortungsbewusstsein, das den Hass auf die Tuis ebenso durchdringt wie sein Verarbeiten

der Erfahrung des 17. Juni - so in den »Buckower Elegien«, besonders: »Böser Morgen«. Da

kommt das Verhältnis von »Erfahrung« und »Urteil« unter andrem Aspekt wieder hoch, mit allem,

was darin liegt: der selbstgesetzte Auftrag, seine gewählte Identität und Rolle in den

Klassenkämpfen der Zeit, die seine Möglichkeiten nicht schlechthin erschöpfte, Unterschiede und

Widersprüche zwischen dem Philosophen, dem Moralisten und dem Poeten, zwischen Gewolltem

und Erreichtem, Erwartetem und Gefundenem ... Von diesem Drama (»viele Männer sind in einem

Mann«) kennen wir ja nur einige Bruchstücke.

in: Theater der Zeit, Jg. 43, Nr. 2 (Februar 1988), S. 22-26

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Aus einem Gespräch zwischen Heiner Müller und Frank M. Raddatz

Unsere Zivilisation hat Auschwitz hervorgebracht. Bataille unterscheidet zwischen Zivilisationen

der Verschwendung – er macht das an den indianischen Hochkulturen fest – und der europäischen

Zivilisation der Ökonomie, die allein auf den Nutzen ausgerichtet ist. Ich sehe den Katholizismus

mehr in der Nähe einer Zivilisation der Verschwendung. In einer Zivilisation der Verschwendung

wäre Auschwitz nicht möglich gewesen. Unsere Zivilisation ist eine Zivilisation der Ausgrenzung.

Dass Marx und Engels das Lumpenproletariat aus der revolutionären Bewegung ausgegrenzt

haben, war die Grundlage der stalinistischen Perversion. Jetzt geht es um die Wiedergewinnung

des Lumpenproletariats, um alle, die aus den herrschenden Strukturen herausfallen. Alle Energie

der kapitalistischen Staaten zielt auf die Ausgrenzung und auf das Vergessenmachen der

Ausgegrenzten. Und gegen dieses Vergessen muss man arbeiten. Zu den Ausgegrenzten gehören

alle, die sich nicht mit der hier als Realität gehandelten Wirklichkeit zufriedengeben oder

identifizieren. Das ist das Fatzer-Problem, es ist das Grundthema des Jahrhunderts, und

Auschwitz ist das Modell des Jahrhunderts.

Nach Auschwitz hat das Gute geführt, nicht das Böse. Das Gute will selektieren, also Minderheiten

produzieren. Die sind dann böse und müssen ausgerottet werden.

Die Unterdrückung des Bösen führt nach Auschwitz. Das Gute produziert eine Struktur, die auf

Ausgrenzung und Selektion basiert, daraus entsteht das massenhaft, das institutionell Böse.

Auschwitz fängt damit an, dass man einem Kind auf die Finger haut, wenn es die linke Hand

benutzt, weil es Linkshänder ist, und sagt: die gute Hand.

Es gibt in den herrschenden Strukturen kein rationales Argument gegen Auschwitz. Wenn das

nicht gefunden wird, geht diese Zivilisation unter. Das ist die Grundfrage, und die kann nur

beantwortet werden durch die Mobilisierung der Ränder – nicht nur der sozialen, geographischen,

sondern auch der intellektuellen Ränder.

Wenn die Intellektuellen ins Zentrum drängen, verlieren sie die Kraft zur Veränderung. Sie müssen

am Rand bleiben, am Rand arbeiten. Vom Zentrum aus kann man nichts mehr bewegen. Ins

Zentrum gehören die Beamten. Die Intellektuellen müssen raus aus der Politik. Da verlieren sie

ihre Kraft. Susan Sontag kehrte neulich von einer Konferenz über das Schicksal Osteuropas

zurück und meinte: »Jedesmal, wenn man als Intellektueller an so einer Konferenz teilnimmt,

verliert man ein Stück seiner Unschuld.« Unschuld ist Kraft und gehört zum Rand wie die Naivität

oder der Traum.

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