Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

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  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    1/70

    Vom Einen zum Vielen

    er

    neue ufbruch der Metaphysik

    im

    12

    Jahrhundert

    Eine Auswahl zeitgenossischer Texte des

    Neoplatonismus

    Herausgegeben eingeleitet i.ibersetzt

    und

    kommentiert

    von

    Alexander

    idora

    und

    Andreas

    Niederberger

    Vittorio Klostermann

    rankfurt

    am

    Main

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    2/70

    Die Deutsche Bibliothek-

    CIP-Einheitsaufnahme

    Ein

    Titeldatensatz fiir diese Publikation ist bei

    Der

    Deutschen Bibliorhek erhaltlich.

    Vittorio Klostermann GmbH

    Frankfurt

    m Main 2002

    Alle Rechte vo;behalten insbesondere die des Nachdrucks und der bersetzung.

    Ohne

    Genehmigung des Verlages ist

    es

    nicht gestattet dies es Werk

    oder

    Teile

    in einem phot0mechanischen oder sonsrigen Reproduktionsverfahren oder umer

    Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten zu vervielfaltigen

    und

    zu

    verbreiten. Gedruckt auf alterungsbestandigem Papier t

    9706

    Druck: Weihert-Druck GmbH

    Darmstadt

    Printed

    in

    Germany

    ISBN 3-465-03209-8

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    3/70

    lNHALT

    Vom

    Einen zum Vielen -

    Der

    Neoplatonismus

    und seine Rolle fi ir die Philosophie des

    I2

    Jahrhunderts

    VII

    T exte und bersetzungen

    THIERR

    Y VON CHARTRES

    De sex dierum operibus / Vom Sechstagewerk Auszug)

    ISAAK

    VON

    STELLA

    Sermo Vigesimus secundus / Zweiundzwanzigste Predigt 20

    ACHARD

    VON

    SANKT

    VIKTOR

    De unitate Dei) et pluralitate creaturarurn / ber die Einheit

    Gottes und die Vielheit der Geschopfe Auszug)

    34

    ANONYMUS

    Liber

    de

    causis / Buch der Ursachen Auszug)

    S

    DOMINICUS GUNDISAL VUS

    De unitate et uno / Von der Einheit und vom Einen 66

    ANONYMUS

    Liber viginti quattuor philosophorum /

    Buch der vierundzwanzig Philosophen Auszug)

    ALAlN

    VON

    LILLE

    Regulae caelestis iuris /

    Die Regeln des hirnmlischen Rechts Auszug)

    Konunentare zu den T exten

    Auswahlbibliographie

    80

    90

    IOI

    . 167

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    4/70

    V

    OM

    EINEN ZUM VIELEN

    DER NEOPLATONISMUS

    UND SEINE ROLLE

    FOR

    DIE

    PHILOSOPHIE

    DES 12. JAHRHUNDERTS

    Platon, Platonismus und Neoplatonismus

    Eine T radition von der Ancike bis ins Miccelalter

    T rotz aller Vorbehalte gegen Periodisierungen in der

    e s c h i ~ h t e

    der Philosophie hat sich nichc zuleczc dank der einschlagigen Arbeiten

    etwa von Clemens Baeumk.er

    1

    , Raymond Klibanskf, J hannes Hirsch

    berger1 und anderer das mittelalterliche Denken vor dem massiven

    Einsetzen der Aristoteles-Rezeption

    als

    durch und durch platonisch

    gepragt erwiesen. Den Autoren gelang

    es

    zu zeigen, dass das Denken

    des Mittelalters durch verallgemeinemde Besrimmungen wie die Be-

    schrankung seiner philosophischen V erdienste auf den Aristotelismus

    ab dem 13. Jahrhundert und die damit einhergehende Erklarung aller

    friiheren Leistungen allein

    aus

    der Auseinandersetzung mit den tra

    dierten theologischen Fragen einem GroBteil der Scholaren und Schu

    len bis zum Ende des 12. Jahrhunderts nicht gerecht wird. Scattdessen

    erkannten sie, dass auch

    die

    theologischen Reflexionen gerade

    des

    I 2

    Jahrhunderts von Gedankenfguren durchdrungen sind, die auf den

    1

    Vgl. Clemens Baeumker, .,Der Plaronismus

    im

    Mimlalcer ,

    in:

    ders.,

    St:udien

    und

    Charakcerisciken

    zur

    Geschichce der Ph1losophie insbesondere des Miccel:ilcers

    Beicrage zur Geschichce der Philosophie

    des

    Miccelalcers XXV,

    I/2),

    Munscer

    1927,

    S.

    39- 79

    (erneuc in: Werner Beierwalces [Hg.].

    Phconismus

    in

    der Ph1lo

    sophie des Mitcel:ilcers.

    Darmscadt

    1969,

    S.

    1-55).

    Siehe Raymond Klibansky,

    The Concinuicy

    o

    che

    hconic

    Tradition dun ng che

    iYhddleAges.

    London

    2

    I95I.

    3

    Vgl. Johannes Hirschberger, .,Plaronismus und Mimlalcer ,

    in: Philosophisches

    J:ihrbuch a'er Gorres-GeselJschafr63 (I955), S. 120-130

    (erneut in: Werner Beier

    waltes [Hg.].

    Phconismus in der Philosophie des

    Jv J'ccel:ilcers, a.a.O., S.

    56-72).

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    5/70

    VIII

    Vom Einen

    zum

    Vielen

    Einfluss der antiken Philosophie,

    und

    zwar insbesondere jener Platons

    und der sich auf ihn beziehenden spatantiken Schulen zuriickgehen.

    Allerdings rnussten die Philosophiehistoriker zugleich eingestehen,

    dass der auf solche Art diagnostizierte Platonisrnus weder auf Quellen

    beruht, die allen Autoren gerneinsarn sind, noch eine einheitliche Ge

    stalt annirnrnt. Vielrnehr bezeichnet dieser

    Titel

    verschiedene Motive,

    Argurnente und explizite Aufnahrnen antiken Denkens, die zahlreiche

    Problerne und Fragestellungen der Philosophie betreffen und von

    keinern der rnittelalterlichen Philosophen und Theologen

    in

    ihrer

    Gesarntheit thernatisiert werden. Richtigerweise spricht Marie-Dorni

    nique Chenu daher von den ,Platonismen' des 12. J ahrhunderts irn

    Plural.'

    Diese Vielfaltigkeit der Platonisrnen des friihen und hohen Mittel

    alters ergibt sich jedoch nicht ausschlieBlich aus den verschiedenen

    Interessen und Kontexten der rnittelalterlichen Autoren,

    sondem

    sie

    hat ihren Ursprung bereits in den philosophischen Schulen der Antike

    und der Spatantike, in denen das platonische W erk auf vielschichtige

    W eise rezipiert wird und dabei jeweils verschiedene Elernente eine

    Fortentwicklung erfahren, die bei Platon selbst z.T. nur irn Ansatz

    vorliegen. Wird namlich ein Blick in das Schicksal des Denkens Pla

    tons geworfen, dann ist zunachst fur die ersten J ahrhunderte nach

    seinern T od irn Jahre 47 v. Chr. zu beobachten, dass sich die von ihm

    in Athen begriindete Akadernie unter Speusippos, Xenokrates, Pole

    rnon und Krates zunehmend von den weitreichenden rnetaphysischen

    und

    episternischen Anspriichen verabschiedet, fur die bis heute die

    platonischen Dialoge prirnar stehen. Stattdessen unterstreichen diese

    Denker den in der sokratischen Haltung gegeniiber dern jeweiligen

    Gesprachspartner zurn Ausdruck kornrnenden Skeptizisrnus. n der

    Neubegriindung der Akadernie, der sogenannten Mittleren (3. Jahr

    hundert v. Chr.) und Neueren Akadernie (ab dern 2. Jahrhundert v.

    Chr.), fiihreri die wichtigsten Reprasentanten diese T endenz fort

    und

    nehmen teilweise auch eklektizistische Haltungen an, so etwa Arkesi

    laos, Kameades sowie Antiochos von Askalon und sein Schiiler Ci-

    ' Siehe Marie-Dominique Chenu,

    Les

    Placonisrnes du XIIe sicle ,

    in:

    ders., l

    thologie

    au

    XI le siede, Paris 1957, S. 108-141 (dr. in: Werner Beierwakes [Hg.],

    Placonismus in der Ph1losophie

    des Jv/icre alcers,

    a.a.O.,

    S.

    268-3 I 6).

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

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    Vom Einen

    zum

    Vielen

    IX

    cero,

    5

    wodurch dieser fruhe Platonismus Motive der Stoa und des

    Epikureismus integrieren kann.

    Unter

    genuin metaphysischen

    und

    epistemischen Gesichtspunk:ten

    betrachtet wird das W erk Platons erst wieder vom sogenannten

    Mittelplatonismus, unter dessen

    Namen

    verschiedene Autoren der Zeic

    zwischen 50

    v.

    Chr. bis zur Begrtindung der Schule Plotins in Rom

    m

    J ahre

    244

    n. Chr. versammelt werden. Die Mittelplatoniker, die sich in

    ihren Auffassungen deutlich vom Skeptizismus

    und

    Eklektizismus der

    Akademie abheben, eignen sich zentrale Gedanken Platons, wie etwa

    seine Kosmologie und seine Ideenlehre, emeut an, vollziehen diese

    Aneignung aber im Rahmen insbesondere der philosophischen

    Theo

    logie, die in der aristotelischen

    Mecaphysik

    entworfen ist.

    6

    Im

    zweiten

    nachchristlichen Jahrhundert deutet Albinus

    e i ~ p i e l s w e i s e

    die platoni

    schen Ideen als ewige Gedanken im Geiste (nous) Gottes

    und

    erlautert

    damit nicht

    nur

    auf neue W eise die ariscocelische Lehre vom sich

    selbst denkenden Geist (nous nokos),

    sondem

    gibt zugleich der

    Lehre Platons eine neue Funktion im Gesamt der Philosophie.

    7

    Placons

    Dialoge ki:innen somit im Anschluss an die deutlich analytischeren

    Texte

    des

    Aristoteles

    fi.ir

    die namrphilosophischen, metaphysischen

    und theologischen Diskussionen der

    Zeit

    einen wichtigen Beitrag

    leisten. Denn sie erlauben es die aristotelischen berlegungen an jenen

    Stellen, an denen diese bloB skizzenartig sind und eine Suchbewegung

    beschreiben, material

    zu

    fassen,

    wie

    etwa im Falle der stark formali

    sierten aristotelischen nous-Lehre.

    Der

    Neoplatonismus greift die im Mittelplatonismus vorliegende

    Bearbeitung der kosmologischen Fragen sowie der Rolle der Ideen im

    Schi:ipfungsprozess der W

    elt

    insbesondere unter der Perspektive der

    Frage nach der Entstehung des Vielen, d.h. der W elt, aus dem Einen

    auf. So integriert Plotin

    205-270),

    der Begrtinder der ri:imischen

    Schule des Neoplatonismus, diese berlegungen in einen philosophi-

    5

    VgL

    Heinrich Dorrie,

    ie geschichdichen ~ V u a e l n des Placonismus,

    Stuttgart

    1987, s. 42-45.

    6

    'Vgl. zum Mittelplatonismus

    v.a.

    Philip Merlan,

    From Placonism o Neoplaconism,

    Den Haag

    1953

    sowie Clemens Zintzen (Hg.).

    er Micce placonismus,

    Dannstadt

    1981.

    7

    Siehe

    o ~ e r

    Miller Jones, ,,The Ideas

    as che

    Thought

    of

    God ,

    in: Classica Ph1lo

    logy 2l (1926), S. 317-326

    (dt.

    in:

    Clemens Zintzen [Hg.],

    DerMitcefplaconis

    mus, a.a.O., S.

    187-199).

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    7/70

    X

    Vom Einen zum

    Vielen

    schen Gesamtentwurf, der ontologisch den Hervorgang des Geistes

    und mit

    ihm der Formen bzw. Ideen), der Seele und der

    Welt

    aus

    dem gottlichen Einen analysiert und es zugleich erlaubt, die erkennt

    nistheoretische Relevanz dieser Seinsstufen oder Hypostasen zu be

    greifen.8 n diesem Sinne bestimmt er in seinen

    Enneaden

    das Eine

    (hen) als Grund und Bewahrer alles Seienden, der zugleich jedoch

    auf

    eine solche Art transzendent ist, dass er weder bezeichnet noch erkannt

    werden kann:

    Das Erste narnlich muss ein Einfaches, vor allen Dingen Liegendes

    sein, verschieden von allem, was nach ihm ist, fiir sich selbst seiend,

    nicht vermischt mit etwas, was von ihm stammt, und dabei doch in

    anderer W eise wieder fahig, den

    andem

    Dingen beizuwohnen,

    wahrhaft Eines seiend und nicht zunachst etwas anderes und dann

    erst Eines, von welchem schon die Aussage, dass es Eirn;s sei, falsch

    ist, von welchem es ,keinen B e ~ r i f f und ,keine Wissenschafr' gibt,

    vori welchem

    es dann auch heifit, dass

    es

    jenseits des Seins ist.

    9

    Aber wie soli aus einem solcherart bestimmten Einen die Vielheit

    und Verschiedenheit

    des

    weltlichen Seienden hervorgehen konnen,

    ohne dass jenes dabei selbst zwangslauf.g

    als

    vielfaltiges gedacht wer

    den muss

    :....

    ein Problem, das bereits Platon in seinem Pannemdes

    umtrieb?IO Plotin beginnt die Erklarung der Vervielfaltigung des vom

    Einen ursprunglich bewirkten Seienden, indem er als erste Seinsstufe

    nach dem Einen den Geist nous) einfuhrt. Er wird zunachst als die

    Ruckwendung oder Reflexion des Einen

    auf

    sich selbst bestimmt,

    wodurch

    es

    zu einer ersten V erdopplung kommt, da Erkennendes und

    Erkanntes verschieden sein mussen:

    Wir nennen aber, denn wir mussen uns deutlicher ausdriicken, den

    Geist ein A b ~ i l d v o ~ J nerr: [ d.h . dem Ei;ien

    J

    ers_dich darum, weil

    das Erzeugte lil gew1ssem S1nne em Jenes sem, v1eles von

    Ihm

    be

    wahren und AhD.lichkeit mit Ihm haben muss, wie sie auch das

    8

    Vgl.. zum Ge,samtzusammenhang der Philosophie Plocins Dominic J. O'Meara,

    P ocinus

    -

    n

    . ncroduct:ion

    co

    che Enneads,

    Oxford 1993 sowie Lloyd

    P.

    Gerson,

    P otinus,

    London 1994.

    P ocin,

    See e - Geisc - Eines,

    gr.-dc. hg.

    von Klaus Kremer,

    Hamburg 1990, 5.

    25

    V

    4 [7),

    1).

    .

    10

    Ygl. dazu E R. -Oodds, The

    Rumemdes

    of Placo and

    che

    Origin of

    che

    Neoplato

    nic ,One"',

    in:

    The

    Classica Quarrerly22

    (1928), 5. 129-142.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    8/70

    Vom

    Einen zum Vielen

    XI

    Licht mit der Sonne hat. Aber doch ist Jenes nicht Geisc; wie kann

    es da den Geisc erzeugen? Nun, in dem Gerichtetsein auf sich selbst

    erblickte es sich selbst, und dies Erblicken ist der Geist.

    11

    Obwohl der Geisc also nichts

    zum

    Einen hinzufugt, ist durch

    ihn

    damit die Grundlage fiir die spatere Vielheit der W elt gelegt, da er das

    Eine in vielfaltigen Formen erfasst, die ihrerseits die Ideen bzw. Exem

    plarursachen der W elt darstellen:

    Das Denken [ d.h. der Geist] aber sieht das Gedachte, wendet sich

    zu diesem hin und wird erst von ihm gleichsam

    zur

    Erfiillung ge

    bracht, insofem

    es

    an sich unbestirnmt ist wie das Sehen

    und

    erst

    durch das Gedachte seine Bestimmtheit erhalt; weshalb denn auch

    gesagt ist, dass aus der unbestimmten Zw.eihe.it

    und

    dem Einen die

    Ideen und Zahlen hervorgehen, das namhch

    1st

    der

    Ge1st

    Deshalb

    ist der Geist nicht einfacfi, sondem Vielheit, und weist bereits eine

    Zusammensetzung auf [ ] und erfasst bereits schauend die Viel

    heitY

    Di

    e ontologische Vielheit der W elt wird damit erkenntnistheore

    tisch in der Selbstreflexion des Einen

    als

    Geist begrundet, wodurch

    zugleich die grundsatzliche Erkennbarkeit alles Seienden auch fiir die

    zur Erkenntnis fahigen W esen nach dem Einen

    qua

    ihrer T eilhabe am

    Geist) gewahrleistet ist. Allerdings sind die Formen

    im

    Geist nicht

    hinreichend fur die Erklarung des Entstehens des innerweldich Seien

    den, zu dessen Belebung Plotin noch eine dritte Hypostase, namlich

    die Welt-

    )Sede

    psych), annirnmt. Mit den drei Hypostasen gelingt

    es

    ihm so, eine differenzierte Antwort auf die Frage nach dem Hervor

    gang

    proodos)

    des Vielen aus dem Einen

    zu

    skizzieren, deren spezif

    sche Leistung gegeniiber dem Mittelplatonismus darin besteht, dass sie

    den Geist

    als

    Vermittlungsprinzip im Schipfungsvorgang zwischen

    dem absolut transzendenten Einen und der Immanenz des Seienden

    ansiedelt.

    Damit

    wird aber die Systematik der aristotelischen Metaphy

    sik und Naturphilosophie aufgegriffen und zugleich m Rahmen eines

    zentralen platonischen Gedankens neu interpretiert. So werden freilich

    bereits in Aristoteles

    Metaphys/k

    sowohl ontologische

    als

    auch prin

    zipientheoretische berlegungen angestellt; da diese aber in erster

    Plotin, a.a.O., S 49 V I [IO], 7).

    2

    Plotin, a.a.O., S 27ff.

    V

    4 [7], 2).

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    9/70

    XII

    Vom Einen

    zum

    Vielen

    Linie vom innerweltlich Seienden her

    als

    dessen Erl

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    10/70

    Vom Einen zum Vielen

    XIII

    Jamblichs berlegungen am Beginn des 4. Jahrhunderts eine Alterna

    tive zu Plotins Li:isungsansacz dar, bei dem letzclich die Frage unge

    klarc bleibt,

    wie

    aus dem unbestimmten

    und

    absolut transzendenten

    Einen die konkrete Fahigkeit, sich selbst zu betrachten, erwachsen

    kann. So verlagert Proklos

    in

    seiner

    Element:at:io Theologica (Element:e

    er

    Tlieologie) die Vermittlung der Vielheit in die Henaden, etwa

    Sein und Leben, die als urspriingliche Einheiten unmittelbar auf das

    Eine folgen:

    Gibt es niirnlich ein Eines an sich, so gibt

    es

    auch ein zuersc an

    demselben Teilhabendes und ein zuerst Geeintes (hnomenon).

    Dieses besteht aus Henaden [ d.h. Einheiten

    .

    Denn wenn es aus

    Geeinten bestehen

    wi.irde

    dann wi.irden auch diese Geeinten aus

    denselben bestehen und so ins Unendliche.

    14

    Die

    Nii.he

    der Henaden

    zum

    Einen gewii.hrleistet ihre Einheit, auch

    wenn die Dinge an ihnen im Gegensatz

    zum

    Einen teilhaben ki:innen.

    In diesem Zusammenhang denkt Proklos sich die T eilhabe dergestalt,

    dass jede Gattung des Seienden an genau einer Henade teilhat, wobei

    die

    Nii.he

    der jeweiligen Henade

    zum

    Einen sich proportional

    zum

    Allgemeinheitsgrad der Gattung verhii.lt:

    n jeder gottlichen Henade hat irgendein Seiendes unmittelbar teil

    [

    ..

    ]. Und diese Henaden, an denen etwas teilhat, sind genauso vide

    wie die [ an ihnenJ teilhabenden Gattungen des Seienden. r

    J

    n

    jedem existierenden allgemeineren Gott, der dem Ersten naher ge

    stellt ist,

    hat

    eine allgemeinere Gattung der Seienden teil, an dem

    besondereren und eni:fernteren [Gott] eine besonderere [Gattung

    der Seienden].

    5

    14

    Proclus,

    Tlie E emencs ofTheo ogy.

    gr.-engl. hg. von E. R. Dodds, Oxford 1963,

    S. 6 Prop. 6).

    5

    A.a.O., S. 120 Prop. 135, 136).

    6

    Z.B. Plotin, a.a.O.,

    S.

    117 V 3 [49], 15).

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    11/70

    X V

    Vom Einen zum

    Vielen

    urn aus dem Einen-Vielen gleichsarn viele Eine zu rnachen, wodurch

    die Darstellung der Henaden zwangslaufg einen z.T. auBerordentlich

    schernatischen Zug bekomrnt.

    Es wurde bereits

    auf

    die hohe Systernatizitat der proklischen

    berlegungen verwiesen, die sich insbesondere in seiner

    Methodik

    widerspiegelt, welche in enger Anlehnung an die euklidische Axiornatik

    ein deduktives Modell prasentiert. Dabei ist diese Methode, die auch

    und gerade irn pejorativen Sinne als ,scholastisch' bezeichnet wurde,

    den beschriebenen Sachverhalten auf keinen Fall auBerlich, sondem

    zurnindest fur Proklos ein erkenntnistheoretischer Beitrag zur Er

    schlieBung der ontologischen V erhalcnisse selbst.

    In

    seiner urspriinglichen, hier fur Plotin

    und

    Proklos skizzierten

    Gestalt ist der Neoplatonisrnus von der doctrina chrisana zunachst

    zu unterscheiden, da er seine Kosrnologie in erster Linie aus dern anti

    ken griechischen Denken, insbesondere dern platonischen

    Iina/os

    heraus entwickelt. In diesern Kontext wird vor allern bei' Proklos auch

    die griechische Mychologie produktiv integriert, wenn dieser die

    He

    naden mie den griechischen Gi:ittem identifiziert. Allerdings steht der

    Neoplatonisrnus nicht einfach in der T radition der Amike,

    sondem

    ist

    gerade hinsichtlich seines zentralen Anliegens, narnlich der Frage nach

    der Entstehung der W elt, auch vorn judisch-christlichen Denken der

    Schopfung

    ex nih1lo

    und der absoluten T ranszendenz Gottes beein

    flusst.I7 Es ist daher nicht verwunderlich, dass auch die lateinischen

    Kirchenvater sich spatestens ab dern 4. nachchristlichen Jal1rhundert

    intensiv mie der philosophisch-religiosen W eltdeutung des Neoplato

    nisrnus auseinandersetzen.

    Die

    erste groBe Synthese von platonischer

    bzw. neoplatonischer Philosophie

    und

    christlicher Lehre legt Augusti

    u ~ 354-430) in seinern urnfangreichen Werk vor, das z.T. bereits

    durch die Dialogform an Platon erinnert

    und

    das inhaltlich besonders

    an dessen Ideenlehre

    und

    die neoplaconische Stufenontologie an

    schlieBt. eitere zentrale neoplatonische Elernente seines Denkens

    sind die Ineinssetzung von Sein und Gucsein und die Bestimrnung des

    Bosen als .nicht-seiend, die gerneinsarn zugleich darauf hinauslaufen,

    7

    Vgl. dazu Klaus Kremer,

    ,,Bonum est dillUsivum sui

    Ein Beitrag zum Verhaltnis

    von Neuplatonismus und Christentum , in: Wolfgang Haase (Hg.),

    Au Stieg un

    Medergang der r6mischen Welt36/2, Berlin u a 1987, S 994-1032.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    12/70

    Vam Einen

    zum

    Vielen

    xv

    allein dem Hochsten, d.h. dem Gott der christlichen Offenbarung,

    wahres Sein und damit auch wahre Gute zuzuschreiben.

    18

    Mindestens

    ebenso wirkmachtig fur die Philosophie des Mittelalters wie Augusti

    nus sind die Schrifren des

    A

    M.

    S

    Boethius 480 524 , der selbst bei

    Ammonios Hermeiou an der neoplatonischen Schule in Alexandrien

    studiert haben di.irfte.

    n

    seinen sogenannten

    Theologi.schen Trala:acen

    die wichtige griechische philosophische Termini erstmals in lateini

    scher Sprache wiedergeben, fasst er die wissenstheoretischen berle

    gungen der aristotelischen

    Mecaphys/k

    zusammen und verbindet diese

    mit einer neoplatonischen Ontologie mit dem Ziel, der christlichen

    Trinitatslehre ein philosophisches Fundament zu geben.

    19

    Wie

    eng die Verbindung von Christentum

    und

    Neoplaconismus in

    der Zeit des bergangs von Spatantike

    zu

    Mittelalter wird, zeigt der

    Fall eines griechischen Textkorpus aus dem

    6

    Jahrhundert, durch das

    zahlreiche neoplatonische Gedanken

    als

    originar und aucoritativ ver

    bi.irgter christlicher Lehrgehalt etabliert werden. Denn durch die

    Selbstidentifkation des Aucoren als des Dionysios vom Areopag aus

    der Apostelgeschichte prasentiert sich dieser mit der Aucoritat eines

    Zeitgenossen des Paulus, worin die christlichen Autoren des 6 und

    spaterer J al1rhunderte eine Legitimation fur ihre eigene bemal1me der

    neoplatonischen Philosophie sehen. Aufgrund ihrer inhaltlichen Breite

    werden die funf Schriften des Pseudo-Dionysios Areopagita schnell zu

    wichtigen Quellen, weshalb sie auch zu den ersten griechischen T ext

    korpora gehoren, die bereits im

    9

    Jahrhundert von Johannes Scotus

    Eriugena ins Lateinische i.ibersetzt und kommentiert werden. Im Zen

    tmm des Interesses steht dabei zum einen die bereits bei Plotin

    und

    Proklos angelegte negative Theologie, die Pseudo-Dionysios unter

    Rekurs auf sprachtheoretische berlegungen erkennmistheoretisch

    begri.indet: So lasst sich

    i iber

    Gott wegen seiner absoluten T ranszen-

    18

    Eine Gesamtdarstellung zu Augustinus, die auch auf seine neaplatonischen Einfliisse

    eingeht, bietet Kurt Flasch, August:inus - Ein/iJhn111g in sein Denken, Stuttgart

    2

    1994.

    9

    Ausfuhmngen zu den neaplatanischen Hintergriinden der

    Theologischen T

    rakt:at:e

    fmden sich in der Einfuhrung und Kammentierung van Michael Elsasser zu

    A

    M. S Baethius, Die r:heologischen Trakrace lat.-dt.

    hg

    van Michael Elsasser,

    Hamburg 1988. Siche femer Matthias Lutz-Bachmann, Das Verh.i mis von Phifo-

    sophie

    und

    Theofogie in den

    ,

    Opuscu a Sacra' des A M S .Boer:hius Eine Scudie

    zurEncwiddung der nachchalcedonischen Theo ogie, Miinster I 9 84.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    13/70

    XVI

    Vom Einen

    zum

    Yielen

    denz nur in Negationen oder in bersteigerungen des innerweltlich

    Seienden reden, z B als ber-Leben und ber-Weisheit. Zurn anderen

    i.ibertragt Pseudo-Dionysios die neoplatonische Stufenontologie in

    hirnrnlische und kirchliche Hierarchien, wornit er die abstrakte Seins

    ordnung konkretisiert

    und

    buchstablich verbildlicht.

    20

    Zwar ist die beschriebene Vielfaltigkeit der Platonisrnen und Neo-

    platonisrnen sowie ihrer christlichen Aufnahrne in Antike

    und

    Spatan

    tike ein wesentlicher Grund dafiir, dass das rnit ,Platonisrnus irn

    Mit-

    telalter' Bezeichnete die zu Beginn konstatierte Heterogenitat und

    Mehrdirnensionalitat besitzt; doch zeigt der vorangegangene Aufriss

    zugleich, dass es durchaus wiederkehrende Motive in der Geschichte

    des Platonisrnus insgesarnt gibt, wie etwa die absolute T ranszendenz

    des Hochsten, sei es nun als Gutes, Geist, Eines oder Gott, die Hierar

    chie der Ideen und der Seinsweisen sowie die

    e n t r a l i t ~ t

    der Frage

    nach der Entstehung des Vielen aus dern Einen und dessen Ruckgang

    in dieses. Diese sich durchhaltenden Elernente bleiben tro'tz .der neuen

    Fragen, Reflexionen und Arbeitsweisen der Offenbarungstheologie

    zurnindest fiir das philosophische Denken bis zurn Ende des 12. Jahr

    hunderts bestirnrnend, weshalb W emer Beierwaltes zu

    Recht

    von ei

    nern ,Platonisrnus irn Christenturn' spricht.

    21

    Allerdings werden diese

    Motive zurneist nicht aufgrund der direkten Lekti.ire der antiken und

    spatantiken griechischen T exte entwickelt, die groBtenteils gar nicht

    zur V erfiigung stehen - von Platon selbst etwa ist bis weit ins Mittel-

    alter hinein ausschlieBlich der erste T eil des Timaios in der berset

    zung des Chalcidius aus der ersten Halfte des 4. Jahrhunderts bekannt.

    Vielmehr verdanken sich diese

    Motive

    der breiten T radierung eines

    allgemeinen Platonismus,

    22

    der ausgehend von den W erken Ciceros,

    des Boethius

    und

    der Kirchenvater irn gesamten philosophischen

    und

    theologischen Schrifttum des Friih- und Hochrnittelalters Verbreitung

    fndet,

    10

    Ygl. zu .Pseudo-Dionysios auch Wemer Beierwaltes, Placonismus im Christentum,

    Frankfurc

    2

    2001,

    S

    44-84.

    2

    Ygl. Wemer Beierwaltes, ,,Vorworc , in:

    ders

    (Hg.), Platonismus in der Ph1 oso-

    phie

    des Mi:tela ters, a.a.O., S VII-XlY; ders., Placonismus irn Christentum, a.a.O.,

    S

    7-24.

    22

    Siehe Richard W Sour:hem, Platonism, Scho asa

    ethod and che

    Schoo r

    Chartres Reading 1979, S 6ff.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    14/70

    Vom Einen

    zum

    Vielen

    Die placonides 12. Jahrhunderts

    Zur Erlauterung unserer T extauswahl

    XVII

    Angeregt durch neue naturphilosophische, wissenscheorecische und

    metaphysische Interessen setzen die Autoren, die nach Charles

    Horner

    Haskins als Protagonisten der ,,Renaissance des 12. Jahrhunderts

    23

    bezeichnet werden, eigene Akzence und vertiefen die Auseinanderset

    zung rnit den platonischen Problemen auf eine W eise, die sie in die

    Niihe der spiitantiken neoplatonischen Verrnittlungsversuche platoni

    scher Kosrnologie

    und aristotelischer Metaphysik riickt. Kaum ver

    wunderlich konzentrieren sie sich dabei unter

    den

    ihnen bekannten

    T e;xten insbesondere auf das Fragrnent des platonischen

    Jmaios

    und

    die

    Theologischen

    Trakcace

    des Boethius, die sie gezielc nach Aus

    kunften i.iber das Ent- und Bestehen

    der

    W elt sowie hinsichtlich des

    Verhiilmisses der Wissenschaften zueinander befragen.

    24

    In

    dieser

    doppelten Perspektive ist auch ihr Interesse an den erse ki.irzlich aus

    dern Arabischen iibersetzten T exten zu erkliiren, da dies e selbst wie

    derurn nicht

    nur

    aristotelisches,

    sondem

    irnrner auch neoplatonisches

    Gedankengut tradieren. Die vorliegende T extauswahl beanspruchc

    folglich auch zu demonstrieren, dass zumindest die hier versamrnelten

    Autoren durch ihre Bezugnal1rne auf neoplatonische Gedanken und

    Schriften und ihre eigene Leistung zu spezifsch neoplatonischen Posi

    tionen innerhalb

    der

    ,Platonisrnen' des Mittelalters komrnen.

    Oer erste unserer T exte stamrnt von

    Thierry

    von Charcres, einern

    Bretonen, der

    in

    den I I 40er J ahren der beriihrncen Kathedralschule

    von Chartres als Kanzler vorsceht

    und

    nach seinern

    Ruckzug

    von der

    Lehrtiitigkeit in das

    kli:iscerliche Leben urn I I

    56

    verstirbc. Yon der

    Reputation seiner Chartreser Vorlesungen zeugen

    noch

    heute einer

    seits die Elogen seiner Schi.iler, etwa des Herrnann von Carinchia, eines

    in Spanien arbeitenden bersetzers arabischer W erke zur Astronomie,

    der seinen ,,gewissenhafren Lehrer

    Thierry

    gar ;,is die ,,den Sterbli-

    "-

    V

    gl.

    Charles

    Homer

    Haskins,

    The

    Renaissance

    o

    che T welfch Cenrury

    Cam

    bridge/Ma. 1927.

    4

    Siehe Alexandcr Fidora / Andreas Niederberger, ,,Philosophie und Physik zwischen

    notwendigem und hypothetischem Wissen. Zur

    wissenscheoretischen Bescimmung

    der Physik in der Ph1losophia des Wilhelm van Conches , in: Earf;.

    ence and

    Medicine

    6 (2001

    , S.

    22-34.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    15/70

    XVIII

    Yom Einen zum

    Vielen

    chen vom Himmel wiedergeschenk.te Seele Placons bezeichnet.

    25

    Andererseits wird Thierry mittlerweile ein reicher, obschon anonym

    uberlieferter T extbestand zugeschrieben, der aus seinen in Chartres zu

    den septem artes liberales gehaltenen V orlesungen hervorgegangen sein

    diirfre. T ypisch fur den Chartreser Platonismus insgesamt sind unter

    diesen T exten vor allem die zahlreichen Kommentare zu Boethius'

    Theologischen Tra.ktaten; in besonderer W eise charakteristisch fur

    Thierry ist dagegen der

    Traccacus de sex dierum operibus (Tra.ktat vom

    Sechscagewerk), ein Fragment gebliebener Kommentar

    zu

    den ersten

    Kapiteln des biblischen Schi:ipfungsberichtes.

    Einer von Thierrys engsten Schiilem, Clarembald von Arras,

    schickt ein

    J

    hrzehnt nach dessen T od ein Exemplar dieser Schrift

    zusammen mit einem sich an dies e anlehnenden eigenen T raktat an

    eine edle Dame,

    6

    der er folgende Erklarung uber Thierry

    und

    dessen

    W erk beigibt:

    Ich habe also Eurer Hoheit das Buchlein

    Vom

    Sechstagewer.k

    zugeschickt, das von Thierry, meinem Lehrer, verfasst wurae und

    das Rom bereits in seine Archive aufgenommen hat. Wieviel an

    Philosophie hierin enthalten ist, wird darin deutlich, dass dieser -

    gewiss der hervorragendste unter den Philosophen ganz Europas -

    Iehrt, wie die in der Materie wirkende Exemplarursache alles her

    vorgebracht hat, und zwar gemaB physikal1sch-naturphilosophi

    schen Argumenten.

    7

    25

    Dieser T ext

    aus

    dem Vorworc Hermanns zu seiner berseczung der

    P anisphiiren

    van Ptolemaios ist neu veroffentlicht in Hermann von Carinthia,

    De

    essenai:S,

    lac.-

    . engl. hg. van Charles Bumett, Leiden/Kiln 1982,

    S.

    347-349, hier

    S.

    349:

    [

    ...

    ]

    cibi

    ,inquam, diligemissime praeceptor Theodrice, quem haut equidem ambigam,

    Platonis animam celcius iterum morcalibus accomodatam.

    2

    Die Identitat der Adressatin ist unklar; womoglich handelt es sich um die Kaiserin

    Mathilde. Ygl. Richard W. Southern, ,,Thierry

    of

    Chames , in: ders., Scholasdc

    Humanism and m Unificacion o Europe - VoL

    . . :

    The Heroic Age, Oxford

    2001, S. 79-89, hier S. 83.

    7

    Clarembald von Arras,

    Episwla

    ad

    Dominam, in:

    Nikolaus M. Haring (Hg.), ifr

    and

    ~ o r k s

    o Clarembald

    o/

    Aaas. A Twe lh-Cencu17' Yfascer

    o/ m

    School

    of

    CharcreS,

    T oromo I 965,

    S.

    225-226:

    ,,Direxi itaque Y estrae Sublimitati libellum

    quem magister Theodoricus, meus doctor,

    De sex dierum open'bus

    edidit quem ,

    Roma iam suis commisit archivis. n quo quantum philosophiae contineatur, li

    quido apparet cum ipse - urpote totius Europae philosophorum praecipuus - qua

    liter exemplaris forma in materia operans cuncta produxerit, iuxta physicas tantum

    rationes edoceat.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    16/70

    Vom Einen zum Vielen

    XIX

    Diese AuBemng seines Zeitgenossen ist gleichsarn programrnatisch

    fiir Thierrys in den 40er Jahren, also relativ spat entsrandene Schrifr

    (ja for sein Gesamtwerk i.iberhaupt). Oenn trotz der traditionellen

    Form eines Genesis-Kommentars, wie ihn schon Augustinus und an

    dere vorlegten, geht es dem Chartreser Magister damm, den biblischen

    Schopfungsbericht in einem ganzlich neuen Licht zu interpretieren,

    namlich wortlich und unter kosmologischer Ri.icksicht, und zwar unter

    bewusster Ausklammemng des moralischen und allegorischen Schrifr

    sinnes der traditionellen Exegese.

    28

    Den Hintergrund dieses neuen

    Interpretationsparadigmas stellen zum einen die aus dem Arabischen,

    z.B.

    von

    Hermann

    von Carinthia, neu i.ibersetzten naturwissenschafdi

    chen T exte dar, zum anderen aber besonders der platonische

    Trinaios

    im lateinischen Fragment des Chalcidius, dessen charakteristische

    Lehre von der

    \V

    eltseele Thierry thematisiert. Die Identifizierung der

    platonischen W eltseele mie dem Heiligen Geist2

    9

    bildet auch den

    Hin-

    tergmnd

    fi.ir

    den in diesem Band ausgewahlten Abschnitt aus Vom

    Sechscagewerk,

    denn dieser hebt mie der Frage nach der Wirkungs

    weise des Heiligen Geistes in der W elt an.

    Um

    diese Frage jedoch in

    ihrer ganzen T ragweite zu erCirtem, muss Thierry an dieser Stelle einen

    metaphysischen Exkurs i.iber die Einheit Gottes in seinen drei Perso

    nen geben, der sich an der augustinischen Konzeption der T rinitat als

    Einheit = Vater) - Gleichheit =

    Sohn

    - Verbindung beider

    = Heiliger Geist)

    30

    orientiert und die Beziehung der Personen

    untereinander sowie ihre jeweilige Rolle fur die Entstehung der

    Vielfalt des innerweldich Seienden untersucht. Die unverkennbaren

    Parallelen, die sich hierbei zu den neoplatonischen Modellen des Her-

    yorgangs des Geistes aus dem Einen ergeben, verdeutlichen in ein-

    28

    Vgl. Thierry van Chartres,

    Tractacus de sex dierum openbus,

    in: Nikolaus M.

    I faring (Hg.), Commentmes on Boechius

    by

    Th1el7) ofChartres ;;nd

    H S

    School,

    Toronto 1971, S. 553-575, hier S. 555: ,.De septem diebus et sex operum distinc

    tionibus primam Geneseos partem secundum physicam er ad lirreram ego exposiru

    ms [ ..] Posrea vero ad sensum lirrerae hisrorialem exponendum veniam ur er allego

    r i c ~

    mo,;aiem lectionem quae a sanctis docroribus aperre executae sunt

    ex

    toro

    p r ~ \ ~ m 1 t t a m

    {: _

    D

    2

    '

    Siehe Thierry van Chames, a.a.O., S. 566: ,.Plaro vero in

    Timeo

    eundem spiritum F

    ~ i n u n d i animam vocat

    1

    30

    Siche Augusrinus, e

    doctrirHI chrisrna,

    hg. van Joseph Martin (Corpus chris

    tianorum. Series latina 32),

    Turnhout

    1962, I 5, 5,

    S.

    9: ,.In parre uniras, in filio

    aequalitas, in spiritu sancta unitatis aequaliratisque concordia.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    17/70

    xx

    Vom Einen zum Vielen

    drucksvoller W eise die Aneignung genuin neoplatonischer Moti

    ve

    fiir

    die christliche T rinitarsspekulation.

    Damit

    einher geht ein an Boethius

    und dessen Arisrotelismus geschultes Merhodenbewusstsein, das sich

    in wissenstheoretischen Reflexionen sowohl zum Beweisgang selbst

    als

    auch

    zur

    epistemischen Dimension der T rinitat fiir die Erkennbarkeit

    des innerweltlich Seienden auBert.

    Dass Thierry

    als

    ,Reinkamation' Platons galr, wurde bereits er

    wahnt; sein Epitaph bringt den komplementaren Zug seines Denkens

    in Anschlag, wenn

    es

    Thierry wohl vor allem

    mit

    Blick

    auf

    seine

    Boethius-Studien

    als

    ,,wurdigen Nachfolger

    des

    Aristoteles

    (c/Jgnus

    Aristoti is successor)

    feiert.

    31

    Auch in der Spannung von Plaron

    und

    Aristoteles steht Thierry in der

    Tradition

    des

    Neoplatonismus.

    Thierry

    und

    das Chartreser Umfeld sind moglicherweise auch das

    Ziel des jungen Englanders Isaak von Stella, unseres zweiten Autoren,

    der

    um

    I I 30 nach einer ersten Ausbildung in den

    artes in

    seiner

    Hei-

    mat nach Frankreich reist,

    um

    dort

    zu studieren.

    n

    Chartres

    lemt

    er

    I

    138

    womoglich seine Landsleute Johannes von Salisbury

    und

    Tho-

    mas Becket kennen, mir denen ihn eine enge Freundschaft verbinden

    wird. Bald jedoch wendet er sich der monastischen W elt

    zu und

    tritt

    in den erst kurzlich, gegen Ende des I I J ahrhunderts gegrundeten

    Zisterzienserorden ein. Das genaue Datum seiner Profess ist nicht

    iiberliefert, doch schlieBt er sich vermutlich

    um

    I I 40 den Brudem von

    Pontigny an,

    um II47

    zum Abt

    des von dieser Zisterzienserabtei ab

    hangigen Klosters von L'toile (lat.

    Stella)

    zu werden, dem er seinen

    Namen

    verdankt.

    In

    dieser Funktion trifft er

    auf

    Bemhard von Clair

    vaux, den einflussreichen Prediger

    und

    Kirchenpolitiker,

    und

    wie

    dieser

    nmmt

    auch Isaak selbst Anteil am politischen Geschehen,

    als

    der

    Streit zwischen

    Thomas

    Becket

    und

    Heinrich II ausbricht

    und

    ersterer

    in Pontigny Schutz sucht.

    Der

    Orden

    gerat in dieser Situation unter

    groBen politischen Druck, doch Isaak verteidigt seinen Freund

    Tho-

    mas.

    Vielleicht sind es diese politischen Wirren, die Isaak dazu bewe

    gen,

    siCh

    I

    I 6 7 gemeinsam

    mit

    einer Handvoll Mitbriider in das groBe

    Andr Verner, ,,Une piraphe indire de

    Thimy

    de Charrres , in: Recue1J de ca-

    vaux oflrcs a }d Clovis Brunei. Bd 2,

    Paris 1955,

    S

    660-670, hier

    S

    670.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    18/70

    Vorn Einen

    zurn

    Vielen XXI

    Abenteuer seines Lebens zu

    sci.irzen

    und sich

    auf

    ein Eiland zuri.ickzu

    ziehen. Lange Zeic war unklar, um welche Insel es sich dabei handelt,

    doch konnce mit groBer Sicherheit die Ile de R vor La Rochelle als

    jener

    Ort identifiziert werden,

    32

    wo

    Isaak und seine Gefahrten ein

    neues Kloster gri.inden, um sich bis zu seinem T ode (ca. I I

    69

    ganz

    der harten Arbeit und der Kontemplation zu verschreiben:

    Wir haben neben anderen Reichti.imem die ganze Vielfalt der Bu

    cher, ja die ganze W elt und beinahe die ganze Menschheit i.iber

    Bord geworfen, als wir zu wenigen, nackc und schriffbri.ichig, auf

    diese entfemte, vom Ozean umschlossene Insel fluchteten, um

    nackt das nackte Kreuz Christi zu urnklammem.

    33

    Oiese Geste der

    Demut darf

    jedoch nicht mir einem Anci-Intellek

    tualismus verwechselt werden,

    wie

    er den Zisterziensem bis heute

    gem

    nachgesagt wird. Gerade in der Einode der le de R wird Isaak seine

    bedeutendsten uns erhaltenen Schriften verfassen: die

    Seimones.

    Ihre

    literarische Kunstfertigkeit lasse daran zweifeln, dass Isaak sie tacsach

    lich in dieser Form wahrend der Messe oder bei der Feldarbeit, wie

    zumindest einige von ihnen suggerieren, spontan entwirft. Vielmehr

    handelt es sich um ausgefeilte Abhandlungen, die nicht nur exegetische

    und theologische Sachverhalte verhandeln, sondem immer wieder in

    die Philosophie zuri.ickkehren und sich aus Platon, Augustinus,

    Pseudo-Oionysios u.a. speisen.

    34

    Den Timaios

    hatte Isaak

    in

    Charcres

    Z

    Dies ist

    das

    Verdienst van Franz Bliernerzrieder, ,,Isaak van Stella

    I

    Beirrage zur

    Lebensbeschreibung , in: /ahrbuch liir Ph1losoph1 und spe/wlacive Theolog1

    I8

    (1904),

    S.

    I-34. Viele der van Bliernetzrieder gernachten Angaben

    zur

    Biographie

    des lsaak sind jedoch i.iberholr. so dass zurn Leben des Zisterziensers besser das

    Vorwort van Anselrn Hoste in Isaak von Stella, Sennons, lac.-frz. hg. van Anselrn

    Hosce, 3 Bde., Paris I967-I987, hier Bd. I, S.

    7-25

    zu vergleichen

    isc

    .

    . Isaak van Scella, a.a.O., Bd. IL S. 8: ,,Sicur cererae plenirudinis, sic nurnerosae codi

    .curn

    varietacis, et rotius orbis ac generis fere hurnani iacrurarn facienres, in hanc re-

    motarn et inclusarn Oceano insularn, nudi ac naufragi, nudarn nudi Chrisci crucern

    arnplexi,

    pauci evasimus.

    JfVgl. die Arbeiten van Andr Fraheboud, ,,Le Pseudo-Denys l'Aropagice panni les

    sources. du Cistercien Isaac de l'Ecoile , in: Col eccanea Ordinis Osceransium

    e-

    fonnacorum

    9 (1947),

    S.

    328-341 u. IO (1948),

    S.

    3-16; ders., ,,L'influence

    de

    S.

    ., Augustin sur le Cistercien Isaac

    de

    l'toile , in: Col eccanea Ordinis Oscerciensium

    \ Ref;macorum II (1949), S. I-17, S.

    264-278

    u. 12 (1950), S. 5-16; ders., ,,Isaac

    de _l Etoile er Platon , in: Colleccanea Ost:erciens 54 (1992), S. 175-191.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    19/70

    XXII

    Vom

    Einen zum

    Vielen

    kennen lemen konnen, das W erk des Areopagicen z.B. in der Pariser

    Abcei von Sankc Viktor.

    Beide T exte spielen eine wichtige Rolle auch in dem Predigten

    zyklus, dem unsere Schrift, die Predigt

    22

    entnommen ist, und der

    gleichsam einen theologischen Grundkurs fur die Sexagesima, die

    vV

    o

    che des achten Sonntags vor Ostem, darstellt. Den Ausgangspunkt in

    Predigt 18 stellt der Vers 8, 5 aus dem Evangelium nach Lukas dar:

    ,,Ein Sarnann ging aufs Felci, um seinen Samen auszusaen , der in den

    Predigten 18 bis 21 untersucht wird

    und

    zu einem Aufweis der Exis

    tenz Gottes sowie zu einer negativen Bestimmung desselben im Sinne

    der negativen Theologie des Pseudo-Dionysios fuhrt. Die Predigt

    soli demgegenuber auch positive Aussagen uber

    Gott

    gewinnen,

    35

    indem, ausgehend von der Identitat von ,Sein' und ,Haben' in Gott,

    nach dem gefragt wird, was ihm zugesprochen wird. Damit stellt sich

    die Frage nach der Bestimmung des V erhaltnisses von an innerweltlich

    Seiendem gewonnenen Begrifflichkeiten

    und

    dem einen ~ s o l u t trans

    zendenten Ursprung des vielfaltigen innerweltlich Seienden. Die er

    kenntnistheoretische Losung dieser Frage gibt Isaak im Anschluss an

    den Areopagiten, auch wenn er deutlich uber diesen hinausgeht und

    das Konzept einer analogen Theologie entwickelt. Ontologisch lost er

    das V erhaltnis von Schopfer

    und

    Geschopf in Auseinandersetzung mit

    der platonischen Lehre vom Demiurgen und der aristotelischen Vier

    Ursa:hen-Lehre, einem zentralen Gedanken aus dessen Metaphysik.

    36

    Diese V erschrankung von Elementen aus dem TXmaios dem Cor-

    us

    d.ton ysiacum und der aristotelischen Philosophie fuhrt zu einer

    Form des Neoplatonismus, rnit der Isaak seiner Exegese, ahnlich wie

    vor .ihm Thierry, eine beeindruckende metaphysische T ragweite ver

    leiht.

    Auch der dritte Autor unserer T extsammlung, Achard von Sankt

    Viktor, stammt wahrscheinlich aus England,

    wo

    er um die W ende

    35

    Ygl. Isaak van Scella, a.a.O., Bd. II, S. 52: .,Duo oscendisci nobis, Domine, servis

    cuis, id

    esc

    ec quod sis

    ec

    quid non sis;

    ec

    aescuamus ad cercium,

    id esc

    scire quid sis.

    36

    Siehe for den Gesamtzusammenhang der neun Predigcen unseres Zyklus, von denen

    hier nur die erscen fonf skizzierc wurden, Franz Bliemetzrieder, .,Isaac de Scella. Sa

    spculacion thologique , in: Recherches de Tholog/e andenne ec md/va e 4

    1932),

    s

    134-159.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    20/70

    Vom

    Einen

    zum

    Vielen

    XXIII

    vom I

    I zum 12.

    Jahrhundert geboren sein diirfre.

    37

    Seine Zugehorig

    keit zu einer normannischen Familie, die erst nach der Eroberung

    Englands durch die Normannen dorthin gekommen ist, wird

    fi.ir

    sein

    spateres Leben

    und

    die es pragenden Entscheidungen bestimmend

    bleiben. Zunachst begibt er sich jedoch

    zum

    Studium nach Paris,

    um

    dann in der Folge in diesem intellektuellen

    Zentrum

    der lateinischen

    W elt auch zur Lehre zu verweilen. Seit den vierziger J ahren des I 2.

    Jahrlmnderts ist Achard

    als

    Pariser Magister belegt, da er u.a. an der

    Seite von

    Robert

    von Melun in Disputationen

    als

    Umersti.itzer der

    Gegner des wohl wirkmachtigsten Theologen dieser

    Zeit, Petrus Lom

    bardus, auftritt, wie etwa Robert von Cricklade, ein weiterer Englander

    in Paris,

    in

    seinem

    Speculum

    fide

    festhalt.

    38

    Zugleich gehort er bereits

    in dieser Zeit der von Wilhelm von Charnpeaux begri.indeten Ordens

    gemeinschafr von

    Sankt

    Viktor an die fur die Regularkanoniker i.iber

    all in Europa ein wichtiges Vorbild ist. Diese Kanoniker streben eine

    monastische Existenzweise auch fur den W eltklerus an, d.h. auch letz

    terer soli gemeinschaftlich, asketisch

    und

    einer die alltaglichen Ver

    richtungen regelnden

    Ordnung

    gemili leben, wobei diese

    Ordnung

    vor

    allem

    auf

    der sogenannten Augustinusregel berul1t. Untersti.itzt von der

    Pariser Geistlichkeit sowie vom franzosischen Konig vermag Sankt

    Viktor, ein arn Rand von Paris gelegenes Kloster,

    mit

    seiner Verbin-

    . 'dung von gelebter Spiritualitat

    und

    in die stadtischen Dispucacionen

    hineinwirkender Intellektualitat zu einem herausragenden Beispiel der

    Reformbemiihungen zu werden, die von der romischen Kurie ausge

    hen. Nach

    dem

    Tod des

    Abtes Gilduin, der dem Kloster uber vierzig

    Jahre seit seiner offziellen Gri.indung im Jahre III3 vorstand, wird

    mit Achard

    II55

    ein neuer

    Abt

    aus der Mitte der Viktoriner gewahlt.

    Wie zahlreiche iiberlieferte Briefe demonstrieren, sorgt sich Achard

    als

    . Abt neben der Verwaltung des unterdessen mehr

    als

    40 Filiationen

    vmfassenden Klosters nicht

    nur

    um die spirituellen

    und

    intellektuellen

    .Bdange seiner Mitbri.ider,

    sondem

    er schaltet sich auch in allgemein-

    2

    den hiographisd1en Hinrergriinden Achards siehe

    J

    an Chirillon,

    Thologie,

    .rp111tu 11t et mmph;que dan.r l ceuvre oracoire d Achard de Saint- VIor, Paris

    S. II III; zu dem vorliegenden Texr ebd., S. 119-128.

    Richard W. Hum, ,.English Learning in che

    Lare

    Twelfrh Cemury , in: Ri

    Sourhern (Hg.), E.r.rap in lvfedievalHisco0 London u.a. 1968, S. 106-

    S. 123.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    21/70

    XXIV

    Vom Einen zum Vielen

    und kirchenpolitische Konfliktlagen der Zeit ein, wobei ihm die Nahe

    Sankt Viktors zum franzisischen Kinigshof zugute kommt. Vielleicht

    unter Anerkennung seiner normannischen

    Herkunft

    gibt er sein Amt

    jedoch schon sechs Jahre spater wieder auf, um

    zur

    groBen Enttau

    schung des franzisischen

    Kinigs

    Bischof van Avranches zu werden,

    einer kleinen Stadt in der Nahe des Mont-Saint-Michel, in der Nor-

    mandie also, d.h. dem Herrschaftsbereich Heinrichs IL, des englischen

    Kinigs. Als Prediger fuhrt Achard seine spirituellen und intellektuellen

    Bemiihungen fort und setzt sich m Rahmen seines administrativen

    Spielraums insbesondere fur die Pramonstratenserabtei La Lucerne ein.

    Nicht in der Kathedrale van Avranches, sondem in der Kirche van La

    Lucerne wird er dann auch nach seinem T

    od

    im J ahre I I

    7

    beigesetzt.

    Das heute bekannte W erk des Achard besteht im W esentlichen aus

    drei verschiedenen Arten van Schriften: aus den bereits genannten

    Briefen, einer Vielzahl von Predigten sowie schlieBlich aus zwei philo

    s o p h i s h ~ t h e o l o g i s h e n Schriften, dem T raktat

    De discretione animae

    spiritus

    et

    mentis (Van der Untersche1dung der Seele, e es Geistes une/

    e es Bewusstseins) sowie dem hier in Auszi.igen ausgewahlten De u ~

    tate

    Dei) et

    pluralitate creaturarum (Ober die Einheit Gottes une/ die

    Vielheit.der Geschopl). Der Text

    De

    unitate, der auch unter dem

    T itel De

    Trinitate

    iiberliefert wird, war lange Zeit nur durch eine

    sekundare Quelle, das dem J ohannes van Comwall zugeschriebene

    Eulog1iim adAlex.wc/rum IJIpapam (Grabschnfr .lr Papst Alex.wder

    III.), bekannt.

    39

    Nachdem Marie-Thrse d'Alvemy endlich ein

    Manu-

    skript in Padua ausfindig machte,

    40

    in dem sich die bei Johannes zitier

    ten

    Passagen fnden,

    warf

    dies allerdings fur einige

    Zeit

    ein neues

    Problem auf: Wenige Jahre zuvor hatte namlich Andr Combes einen

    Text

    vn

    Johannes van Ripa, einem Franziskaner des 14. Jahrhun

    derts, ediert, in dem dieser einen vermeindich von Anselm van Canter

    bury stammenden T raktat mir dem

    Titel De unitate divinae essentiae

    et

    plura.litate creaturarum (Van der Ein.heit e es gotdichen Wesens une

    39

    Siehe Nikolaus M. Haring, ,,The

    Eulogium

    ad

    Alexandrum

    papam

    cerrium

    of

    John

    of

    Comwall ,

    in: .iYfediaeval Scudies I3

    (1951), S. 253-300,

    Zim

    von Achard

    s. 267.

    IO

    Vgl. Marie-Thrse d'Alvemy, .,Achard

    de

    Saim-Vicrnr,

    De Trinicace-De

    unicace

    ec pluralicace creacurarum", in: Revue de chologie anenne ec mdivale 21 ( 1954 ,

    s.

    299-306.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    22/70

    Vom

    Einen

    zum Vielen

    xx

    der Vl .he1 der Gesc.hopi) zitiert und resumierc. Offensichdich ist

    dieser

    Traktat

    jedoch identisch mit demjenigen, der im Manuskript

    von Padua gefunden wurde,

    so

    dass sich die Frage stellte, ob

    es

    sich bei

    ihm tatsachlich

    um

    einen T ext Achards oder eine sehr viel friiher ver

    fasste Abhandlung Anselms handelte.

    J

    an Chatillon hat unterdessen

    i.iberzeugend gezeigt, dass es zwar einige Reminiszenzen an das Den

    ken Anselms in diesem

    Traktat

    gibt, dass er aber weder der Gesamtar

    gumentation nach zu Anselm passt, noch erklarbar ware, wie es zu

    Bezugnahmen auf Gedanken kommen konme, die erst in der ersten

    Halfte des 12. Jahrhunderts in den

    Mittelpunkt

    der philosophisch

    theologischen Diskussionen treten.

    41

    Selbst wenn also ausschlieBlich

    das

    Eu ogium

    die Attribution des T extes zu Achard rechtfertigt,

    so

    ist

    doch Anselm

    als

    Autor def.nitiv auszuschlieBen.

    Die I 98 7 unter dem Titel

    De

    unica ce Dei) .ecp i

    ralica

    ce creacura-

    rum von

    mmanuel Martineau edierte Schrift Achards

    von

    Sankt

    Viktor besteht aus zwei T eilen, wobei sich der erste T eil in metaphysi

    scher Perspektive mit dem Problem der Trinitat befasst, wahrend der

    zweite vermittels einer Formenlehre die Einheit und Vielheit der Ge

    schopfe thematisiert. Die von uns vorgenommene Auswahl beschrankt

    sich auf die ersten Kapitel

    des

    ersten T eils, in denen Achard, bevor er

    sich mit der T rinitat unmittelbar auseinandersetzt, zunachst bean

    sprucht zu klaren, inwiefern bei der Vielheit innerhalb der W elt

    i iber-

    haupt richtigerweise von Vielheit zu reden ist, oder ob aufgrund der

    dort fehlenden Einheit nicht auch die Vielheit in ihrem eigendichen

    Sinne

    Gott

    vorbehalten werden solite. Hierzu eri:irtert er die

    Art

    der

    Gleichheit, die den innerweltlichen Geschopfen eigentiimlich isr,

    und

    demonstriert, dass die Gleichheit

    nur

    bei Gott die Einheit in der Ver

    sc:hiedenheit zu stiften vermag, wahrend die Geschopfe in einer Ver

    schiedenl1eit verharren, die nur in Gott einer Einheit zugefiihrt werden

    kann

    Achard muss damit

    als

    ein Denker gelten, der zwar die Leistungen

    zeitgenossischen Philosophie und insbesondere deren neues Inte-

    Zur. Geschichte der Zuschreibung

    des

    T extes vgl. nebeg der bereits erwahncen

    Studie von Chatillon Anm. 37 auch das Vorworr von Emmanuel Marrineau zu

    des

    T extes in Achard von Sankt Viktor,

    L 'um de

    Dieu

    ec

    f

    plur:i-

    cr:itures

    De

    um:ice

    D/

    ec plur:ilic:ice cre:iturarum). lar.-frz. hg. von

    Martineau, Saint-Lambert

    des

    Bois

    I987, S

    I

    I-45.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    23/70

    XXVI

    V orn Einen

    zurn Vielen

    resse an der vom Neoplatonismus inspirierten Frage nach dem Ver

    hiiltnis von Einheit und Vielheit aufnimmt,

    sie

    zugleich aber aus

    schlieBlich auf den Bereich des Gottlichen begre=t Denn

    nur

    hier

    sind die eigenclichen Bedeutungen von Einheit

    und

    Vielheit zu klaren,

    wahrend die Wissenschaften des innerwelclich Seienden sich

    mit

    Gebrauchsweisen dieser Ausdri.icke begnilgen milssen, die in bestandi

    ger Abhangigkeit von den theologischen Explikationen stehen.

    Beim vierten hier ausgewahlten T ext ist die Autorenfrage weiterhin

    ungeklart und aufgrund seiner hohen Abstraktheit sind auch die

    mi:ig-

    lichen Schlilsse aus ihm vielfiiltiger

    Natur

    Gewiss ist alfein, dass der

    Liber

    de

    causis-

    das

    Buch der Ursachen

    -

    irgendwann

    Z .\'schen

    I I 6 7

    und I I 8 7 im spanischen

    Toledo

    von Gerhard von Cremona aus dem

    Arabischen ins Lateinische ilbersetzt wird. Der urspri.inglich aus Italien

    stammende Gelehrte

    kommt

    in der zweiten Halfte des 12.

    J

    hrhun

    derts nach Toledo, wo er sich der bedeutenden Obersd:zerbewegung

    anschlieBt und neben zahlreichen naturphilosophischen W erken groBe

    T eile des

    Corpus aristotelicum arabum

    ubertragt. Der lateinischen

    Obersetzung des Buchs der Ursachen durch Gerhard gehen jedoch

    diverse inhalcliche

    und

    sprachliche Aneignungsprozesse voraus, die

    diese Obertragung aus dem Arabischen ins Lateinische als

    nur

    einen

    weiteren Schritt

    in

    der komplexen Obermitclungs-

    und

    Rezeptionsge

    schichte des antiken bzw. spatantiken Denkens in der Philosophie des

    Mittelalters erscheinen lassen. So entstammen die inhalclichen

    Grund-

    elemente und -argumente des Liber

    de

    c usis den Elementen der

    Theologie des Neoplatonikers Proklos, wie das chriscliche Mittelalter

    spatestens seit

    Thomas

    von Aquin

    weiB,

    der

    als

    einer der ersten Latei

    ner uber beide T exte verfugte

    und

    fur den die Parallelen nicht unbe

    merkt bleiben konnten. 2 Allerdings ist der Liber mehr als ein bloBes

    Exzerpt,

    wie

    er

    hin und

    wieder charakterisiert wurde, denn die Lehr

    satze der pioklischen Elemente sind in diesem sowohl

    um

    Gedanken

    anderer Neoplarnniker, und d.h. insbesondere Plotins, erweitert

    als

    auch

    in

    monotheistisch-theologischer Perspektive prazisiert und

    t r a n s f o r m i ~ r t

    So greift der arabische Autor des

    Liber

    etwa

    auf

    Plotin

    42

    Siehe

    h o r n ~ s

    von Aquin, Super Librum de causis exposido

    hg.

    von Henri-Dorni

    nique Saffrey, Fribourg/Louvain I 954.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    24/70

    Vom Einen zum Vielen

    XXVII

    zuriick,

    um

    der weiter aben aufgedeckten T endenz des Proklas entge

    genzuwirken, antalagisch relevante Elemente, wie etwa das Sein, zu

    hypastasieren, und stattdessen die Beschreibung bzw. Analyse der

    Wirkungsweisen der ersten Ursachen im Wesendichen auf die Trias

    van Erstem bzw. Gatt, Intelligenz und Seele zu beschranken. Der

    manatheistische Blickwinkel wird sparesrens dann ersichclich, wenn

    schan nach wenigen Kapiteln an die Stelle der antik-spatantiken Ewig

    keitsvarstellungen der W elt der Gedanke van deren Schopfong tritt.

    Auf

    dem Hintergrund dieser produktiven arabischen Aneignung ist es

    wenig iiberraschend, dass sich auch der lateinische bersetzer z.T.

    bemiiht, vermeinclich ader tatsachlich unklare Stellen des arabischen

    T extes in seiner bertragung

    zu

    glatten.

    Der arabische V erfasser

    ader

    vielleicht auch

    nur Kampilatar des

    Buches der llrsachen

    muss nach dem Gesagten sawahl in einem Milieu

    gelebt haben,

    in dem er Zugang zu Originaltexten der griechischspra

    chigen Antike und Spatantike hatte,

    als

    er auch thealagisch einer

    ma-

    natheistischen Religian ader Denkweise verpflichtet war. Aufgrund

    dieser Kanstellatian sawie der sprachlichen

    und stilistischen Gestalt

    des

    arabischen Originaltextes ist zu vermuten, dass wir

    es

    mit

    einer

    Figur aus dem Bagdad des 9. Jahrhunderts zu tun haben,+

    auch wenn

    weiterhin ratselhafr bleibt, warum der T ext erst nach seiner lateini

    schen bersetzung auch im arabischen Denken rezipiert wurde. Fiir

    das

    lateinische Mittelalter ist die nachfolgende Bedeutung des

    Liber

    kaum zu iiberschatzen:4+ Nach einer ersren vamehmlich

    naturphilasaphischen Rezeptiansphase in der zweiten Halfre des 12.

    Jahrhunderts ( etwa bei den beiden anderen Autoren unserer Sammlung

    Daminicus Gundisalvus und Alain van Lille) wird er in den friihen

    Universitaten des I3. Jahrhunderts zu einem wesendichen Lehrbuch

    insbesandere der Metaphysik, wabei er teilweise sagar unmittelbar

    dem Aristateles zugeschrieben und

    als

    das fehlende ,,funfzehnte Buch

    Vgl.

    Richard

    C

    Taylor, ,,Remarks

    on

    the Latin

    Text

    and the Translator

    of

    the

    Kalam

    mahd

    al-kha1r / Liber de causi} , in: lfulJecin de philosophie mdivale 3 I

    (I989),

    S 75-IOZ hier

    S 77.

    Siche

    hier i:u

    ausfuhrlicher Alexander Fidora / Andreas Niederberger, ,,Van Toledo

    nach Paris. Der Liber de causi i und seine Rezepcion

    im

    I2. und I3. Jahrlmnden'',

    in; dies., Van lfagdad nach Toledo

    - Das

    ,lfuch der lfrsachen

    und

    seine R ezepa on

    ./mlvfittefalcer,

    Mainz 2001, S.

    205-247.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    25/70

    XXVIII Vom Einen

    zum

    Vielen

    seiner Mer:aph_ysik erachtet wird.

    5

    Der

    Liber

    nimmt auf dies e W eise

    groBen Einfluss auf die Neuforrnierung des Denkens im Zuge der

    Rezeption der arabischen Philosophie und uber sie verrnittelt auf den

    Aristotelismus

    ab

    der Mitre des 12. Jahrhunderts.

    Die vorliegende Kapitelauswahl konzentriert sich

    auf

    die Frage

    nach dem Verhal.tnis der ersten Einheit zur Vielheit der nachfolgenden

    Hypostasen bzw. des innerweltlich Seienden. Hierbei werden die cha

    rakteristischen Elemente des

    Liber de

    causis,

    wie

    etwa die im dritten

    Kapitel zuerst in Erscheinung tretende ,,Schopfung mittels der Intelli

    genz crear:io

    medianr:e

    inr:elligenr:ia) oder das bereits in den ersten

    Satzen des ersten Kapitels vorgestellte V erstandnis einander uberla

    gemder

    und

    voneinander

    nur

    nach unten

    hin

    abhangiger Kausalitaten,

    eingefuhrt. Mit der Zusammenfuhrung der Kausalitatstheorie und der

    authentisch spatantiken Lehre der spezifschen Einheiq des Ersten

    (Prinzips) erlaubt der Liber seinen mittelalterlichen Rezipienten, die

    Erorterung der Einheit und Vielheit auf verschiedenen Ebenen auf ein

    neues Niveau zu fuhren, wobei naturphilosophische Ausfuhrungen ein

    ontologisches Fundament bekommen, wahrend erstere zugleich die

    dabei genutzte Ontologie exemplifizieren

    und

    somit plausibilisieren.

    Gleichzeitig verdeutlicht der Neoplatonismus des

    Liber

    die Moglich

    keit und vielleicht auch die Notwendigkeit einer originar philosophi

    schen Perspektive filr die Fragestellungen der Ontologie

    und

    der Lehre

    erster Seinsprinzipien, womit er

    zu

    einem entscheidenden Ereignis filr

    das Auseinandertreten von Philosophie und Theologie wird, wie es

    sich in den folgenden zwei J ahrhunderten immer deutlicher abzeichnet.

    Wie

    die lateinische bersetzung des

    Buches der Ursachen

    so

    stammt auch der Traktat

    e

    unir:ar:e er

    uno Von der

    Einheir:

    und vom

    Einen), der larige Zeit filr ein

    Werk

    des Boethius gehalten wurde, aus

    dem T oedaner Umfeld. Zwar wird sein Autor in den Handschriften

    nicht genannt, doch deuten alle Anzeichen auf Dominicus Gundisal

    vus, der bis I I

    9

    durch verschiedene Urkunden

    als

    Archidiakon von

    45

    Vgl. Cristina d'Ancona Cosca, ,,Un ,quindicesimo libro' per

    la

    Metafisica di Aristo

    tele: l Liber

    e

    causis in alcuni commemi del XIII secolo , in: Cukura e Scuola I 09

    (1989), s 88-96.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    26/70

    Vom

    Einen zum Vielen

    XXIX

    Cullar im Raum Toledo belegt ist:f

    6

    Beginnen diirfre seine dortige

    Obersetzertatigkeit etwa ab II40, wobei er zunachst

    auf

    die Hilfe jii

    discher Gelehrter angewiesen zu sein scheint, z.B. Avendauth (Ibn

    Daud), die ihm die arabischen T exte zunachst ins Spanische iiberset

    zen, damit Gundisalvus sie sodann ins Lateinische iibertragen kannY

    Unter

    diesen befnden sich bedeutende neoplatonische Schrifren al

    Kindis, al-Farabis, Avicennas und

    Ibn

    Gabirols, durch die dem lateini

    schen W esten wichtige Theoriestiicke aus Platon und Aristoteles, wie

    etwa die aristotelische Metaphysik. z.T. erstrnals erschlossen werden.

    Doch

    geht Gundisalvus einen Schritt weiter

    als

    sein bereits er

    wahnter T oledaner Kollege Gerhard von Cremona, insofern er nicht

    nur

    die wichtigen arabischen Quellen erschlieBt, sondern zugleich auch

    um eine eigenstandige Interpretation und eine christliche Synthese des

    hier vorgefundenen Neoplatonismus bemiiht isc. So kommt

    es

    denn,

    dass Gundisalvus nicht nur uber zwanzig W erke aus dem Arabischen

    ins Lateinische iibertragt, sondern dariiber hinaus auch der Verfasser

    von

    fonf

    selbstandigen Abhandlungen ist. Es sind dies zum einen die

    beiden stark an Avicenna bzw. Aristoteles angelehncen Trakcace

    De

    anima (Van der Sede)

    und

    De

    im morca kcace

    ani.mae

    Van

    der Un

    scerblic.hkeic der Seele),

    deren erklarces Ziel es ist, zu sicheren Aussa

    gen iiber die Seele und ihr Schicksal nicht nur aus der Perspektive des

    Glaubens, sondern auch und gerade aus jener der Philosophie zu ge

    langen. Der Archidiakon bemuht sich also

    um

    eine philosophische

    Argumentation, die nicht nach au:Berlichen Grunden

    fi.ir

    die Unscerb

    lichkeit der Seele fragt - so die Kricik an der T radicion - sondern

    nach Grunden

    ex

    propriis , womic er eine philosophische Seelenlehre

    begriindet. Voi:

    gro:Ber

    Bedeutung ist ferner die Schrifr De

    processione

    . Siehe zu Person und Werk

    des

    Gundisalvus Alexander Fidora, .,Dominicus

    Gundissalinus , in:

    .8/ographisch-bibh ographisches Kirchenlex1kon

    XVII (2000),

    Sp.

    281-286,

    sowie Alexander Fidora /

    M.

    Jesus Sorn Bruna, .,,Gundisalvus ou

    Dominicus Gundisalvi' - Algunas observaciones sobre un reciente arriculo de Ade

    .line

    Rucquoi ,

    in:

    Estug ios edesi.iscos

    76

    (200I),

    S.

    467-473.

    Siehe

    zur T oledaner Ubersetzungstechnik die aufschlussreiche

    e m e r ~ u n g

    Aven

    dauths im Prolog zu seiner gemeinsam mit Gundisalvus angefertigcen Ubersetzung

    .

    Yol)Avicenna,

    Liber

    de anima seu sextus

    de

    naturah bus, hg. von Simone van Riet, 2

    .Bde. Louvain/Leiden 1968-1972, hier

    Bd. I S.

    4: .,Habetis ergo librum, nobis

    praecipiente et singula verba vulgariter proferente, et Dominico Archidiacono sin

    in latinum conve1tente, ex arabico translatum.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

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    xxx

    Vom

    Einen

    zum

    Vielen

    munck Vom

    Hervorgang der vVelc)-

    Gundisalvus' Metaphysik - die

    uber eine zunachst epistemologische Untersuchung zu einer Ontologie

    und

    schlieBlich zu

    Gott als

    der einen und ersten Ursache aufsteigt.

    Dabei iibemimmt Gundisalvus die weiter oben dargelegte Lehre des

    Liber de

    causi s von einer Schi:ipfi.mg der Dinge vermittels der Intelli

    genz. Wie unschwer zu erkennen ist, kreisen diese drei Schrifren, wenn

    auch unter verschiedenen Rucksichten,

    um

    die drei Hypostasen der

    plotinischen Seinsordnung: ,,Eines oder erste Ursache, ,,Intelligenz

    und ,,Seele .

    Gundisalvus' gewiss bekannteste

    und

    wirkmachtigste Schrifr, die

    den Titel De divisione philosophe Van der Eince1lung der Ph1loso

    phie)

    tragt, versucht diesen ontologisch-metaphysischen Reflexionen

    auf

    der epistemologischen Ebene Rechnung zu tragen. So wird durch

    dieses W erk nicht nur eine Vielzahl neuer naturphilosophischer Dis

    ziplinen in die lateinische Philosophie des Mittelalters eingefuhrt, etwa

    Optik (,De aspectibus') und Statik (,De ponderibus'), .Sondem auch

    die Metaphysik, die bis zu Gundisalvus dem Namen nach unbekannt

    ist: denn weder benutzt die griechische Antike den Begriff der Meta

    physik im Singular, noch taucht er in der arabischen Philosophie auf.

    Vielmehr. ist sowohl in der griechischen

    als

    auch in der arabischen

    Tradition stets von den ,,metaphysischen Dingen oder ,,Biichern im

    Plural die Rede, nie jedoch im Singular als

    einer

    wissenschaftlichen

    Disziplin gleich der Logik, Physik, Mathematik usw.

    48

    W as nun den hier ausgewahlten Kurztraktat De

    unica

    ce ec

    uno

    an

    belangt, so kann er gleichsam als in sich geschlossener und stark kom

    primierter Gesamtentwurf jener durch die

    Eince1lung der Ph1losophie

    w i s s ~ n s t h e o r e t i s c h

    fi.mdierten neoplatonischen Metaphysik gelesen

    werden, die Gundisalvus mit den Seelen-Traktaten und dem Traktat

    Vom Hervowang der

    vVelc

    bereits in ihren verschiedenen T eilen skiz-

    48

    V

    gl

    zur Genealogie

    des

    Begriffs der Metaphysik die leider noch zu wenig bekann

    tei: Arbeiten

    van_ I s ~ c i o

    P r ~ z Femandez, ,,Ve7bizaci6n

    Y

    nocionizacin de la mern

    fls1ca

    en la , rad1c10n Siro-arabe, rn: Pensam1enco 3I I 97 5),

    S 245-2

    7 I sow1e

    ders.,

    V

    erbizacin y nocionizacin

    de

    la

    metafisica en

    l

    tradicin latina ,

    in:

    Escu

    dios llos6fcos 24 I

    97

    5), S I 6I-222, wo auch auf die Bedeutung des Gundisalvus

    eingegangen wird. Siehe zur Geschichte des Ausdrucks der Mernphysik van der An

    tike bis zum Mitrelalter femer auch Luc Brisson, ,,Un si long anonymat , in: Jean

    Marc Narbonne / Luc Langlois (Hg.). La mcaphys1que - Son

    hwire,

    sa cnque,

    sesenjew; Paris 1999,

    S

    37-60.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

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    Vom

    Einen

    zum Vielen

    XXX

    ziert hac.

    9

    So legt Gundisalvus hier eine li.ickenlose Beschreibung des

    Seinskontinuums vor, das sich von der erscen Ursache, verscanden als

    Schopfer, i.iber die Intelligenzen bis zu den Seelen und den leblosen

    Korpem erstreckt, die allesamt allein durch die Einheit im Sein gehal

    ten werden. Denn die Einheit, so der Archidiakon, ist es, die den Zu-

    sammenl1alt von Form und Materie in den Dingen gewahrleistet, der

    letztlich der schlechthinnige Grund der Existenz ist: nur dort, wo

    Materie und Form zusammenkommen, ist Sein. Damit iniciiert der

    Archidiakon im Anschluss an

    Ibn

    Gabirols Fans

    vicae

    Quelle des

    Lebens) eine der zentralen Debatten der Metaphysik des Mittelalters,

    den Screit

    um

    den Hylemorphismus, der um die Frage kreist, ob alles

    Sein der Materie bedarf,

    und

    wenn

    ja,

    was

    uncer dieser genauerhin

    zu

    verstehen ist. ,Form', ,Materie', ,Einheic' und ,Sein' verschranken sich

    bei Gundisalvus so zu einer aufibn Gabirol fuBenden neoplaconischen

    Gesamtdeutung der Wirklichkeit, die, wie bereits fur den

    Liberfescge-

    stelic wurde, eine streng philosophische, prinzipientheoretische Inter

    pretation des Da-Seins der W elt vorlegen mochte.

    Ein weiterer T ext, der wie die beiden vorangegangenen Schriften

    die Bedeutung der ErschlieBung neuer Corpora fur die Entwicklungen

    in der Philosophie des I2 Jahrhunderts unterstreicht, ist der Liber

    VIginr i quactaor philosophorum Buch der vierundzwanzig Philoso-

    phen) - ein W erk, das nicht olme Grund in der handschrifclichen

    Tradition auch uncer dem Namen Riil:selhafre Dellmi:ionen Dellni-

    tiones enigmacae)

    bekannt ist.

    50

    Denn

    Ratsel gibt dieser Text gleich

    in zwei Hinsichcen auf: zum einen mie Blick auf seinen hermetischen

    Inhalt ( nicht vpn ungefahr ist dieses Buch dem Hermes T rismegistos

    zugeschrieben worden), zum anderen aber auch bezi.iglich seiner Ge

    schichte, deren Urspri.inge einige Autoren in der christlichen, andere in

    ~ I n

    diesem Sinne interpretierc auch Manuel Alonso in der Umersuchung, die er

    .seiner Edition van

    De

    un ace

    ec

    uno

    folgen lasst,

    das

    Opuskel

    als

    ein Spatwerk

    des

    Gundisalvus, in dem dieser noch einmal seine philosophischen Grundthesen voran-

    . gegangener Werke zusammenfasst und,

    wo

    niitig, prazisiert. Vgl. Manuel Alonso,

    ,.El

    L1ber de unitace ec

    uno Gundisalvo, intrprere de si mismo , in:

    Pensamienco

    ... I3.

    (1957). S. 159-202.

    50

    So die Handschrift Erfurt, Kartause Salvatorberg, C. 27.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    29/70

    XXXII

    Vom Einen zum Vielen

    der griechischen T radirion sehen wollen. Beide Fragen, also inhaltliche

    und quellengeschichtliche, sind eng rniteinander verwoben.

    Den

    wichtigsten Beitrag zur Quellengeschichre der lerzten Jahre,

    wenn auch vielleicht nicht' das letzte W

    ort

    hierzu, hat Franoise

    Hudry

    vorgelegt.

    5

    Unter

    Berufung

    auf

    eine alte lateinische Fassung des

    Bu-

    ches der vienmdzwanz{g Ph1losophen,

    welche eine rein neoplatonische

    Lehre des Hervorgangs der Hypostasen bietet,

    52

    zeigt sie dass die

    elaborierte T rinitatsspekulation der spateren Manuskripte erst irn

    Laufe der

    Zeit

    durch kleine, aber bedeutende stilistische Eingriffe in

    . den T ext entsteht. W enn aber die christliche T rinitatsspekulation in

    der urspriinglichen Fassung des T extes nicht weiter expliziert wird, so

    scheinr der T ext auch nicht notwendigerweise

    auf

    einen christlichen

    Entstehungskontext beschrankt zu sein, wie einige Autoren behauptet

    haben,

    53

    sondem kann durchaus seine Wurzeln in qer antiken und

    spatantiken griechischen Philosophie haben. Dabei weist insbesondere

    ein W erk groBe Ahnlichkeit

    mit

    den Abschnitten des

    Buches der

    r-

    undzwanz(g Ph1losophen auf, namlich der Liber de sapientia ph1lo-

    sophorum (Buch der vVeisheit der Ph1losophen),

    der m 3. nachchrist

    lichen Jahrhundert in Alexandrien entstanden sein soll. Obwohl dieser

    T ext

    nur

    noch in Fragrnenten rekonstruierbar ist,

    hat

    er deutliche

    Spuren in der Philosophie des Mittelalters hinterlassen, die vor allern

    nach Toledo fiihren. So fnden sich nicht nur bei den

    dort

    iibersetzten

    Werken des Avicenna und des Ibn Gabirol Spuren dieses Textes, son-

    5

    V

    gl.

    Franoise Hudrys aus:fuhrliche Einleitung zu ihrer Edirion

    des Liber nginci

    quaccuor ph1losophorum

    in der Reihe

    Hennes

    latinus

    III/

    l (Corpus christianorum.

    Continuatio mediaevalis 143A). Turnhout 1997,

    bes.

    S. V-XXIII.

    52

    Diesen T ext der in nur einem Manuskript, namlich Laon, Bibliothque Munic.ipale,

    412, uberliefen ist, hat Franoise Hudry zusammen mit einer franzosischen Uber

    seczung desselben ediert

    is

    Le

    kvre des XX. Vph1losophes,

    Grenoble 1989.

    53

    So Clemens Baeumker (,,Das pseudo-hermetische Buch der vierundzwanzig Meis

    ter ,

    in:

    ders.,

    Scudien und Charakcerisciken

    zur

    Geschichre der Ph1losophie insbe-

    sondere des .lvkccelalcers a.a.O., S. 194-214 und Marie-Thrse d'Alvemy (,,Un

    rmoin muet des lurres doctrinales du XIIIe sicle ,

    in:

    Archives d'hiscoirc' d o m ~

    nale.er iccraire

    du Moyen ge

    24

    [1949], S. 223-248). Ahnlich urteilt in jungster

    Zeit der Reihenherausgeber des

    Hennes

    lacinus,

    Paolo Lucentini, der uocz der

    Darlegungen von Hudry an der christlichen Autorschafc

    des

    W erkes festhak wobei

    er sich ailerdings nur auf den spateren T extbestand der Schrift stiitzr und

    das

    von

    Hudry

    in.

    Anschlag gebrachte Manuskript scheinbar unbeachtet lasst. Siehe Paolo

    Lucentini in der Einleitung zu seiner iralienischen Ausgabe

    des Libro dei v n t i ~

    cuaccro flosof.

    Mailand l 999.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    30/70

    Vom Einen zum Vielen XXXIII

    dem auch bei Dominicus Gundisalvus in seiner Schrift

    Vom Hervor-

    gang der FVe t;

    54

    weshalb die V ermutung nahe liegt, dass in Spanien

    eine arabisch-lateinische Tradition des .Buches der Weishe1c derPhilo-

    sophen bestand. Parallel dazu vermutet Hudry ebenfalls in Spanien

    eine griechisch-lateinische berlieferung dieses W erkes, das so

    zum

    Vorbild fur das

    .Buch der vierundzwanz{g Ph1losophen

    werden konnte,

    das ihrer Ansicht nach aufgrund seiner sprachlichen Eigenart sowie der

    Verwendung griechischer Terminologie ( namendich

    monas)

    eher aus

    dem Griechischen

    als

    aus dem Arabischen adaptiert zu sein scheint.

    55

    Die hier i.ibersetzten Abschnitte

    des .Buches der vierundzwan.z{g

    Philosophen

    stellen eine Auswahl aus insgesamt vierundzwanzig Ab

    schnitten dar, die jeweils eine philosophische Gottesdefnition vorstel

    len, die sodann in einem kurzen Kommentar systematisch entfaltet

    wird - ein V erfahren, das deudich an das .Buch der l rsachen erinnert

    tmd bei Alain von Lille emeut auftauchen wird. Gleichsam program

    marischen Charakter fur das gesamte W erk besitzt der erste Lehrsatz,

    der mir dem Begriff der monas (Einheit) das zentrale Thema des Neo-

    platonismus von Plotin bis Proklos aufgreift, um mir

    ihrn

    das V erhak

    nis einer urspri.inglichen Dreiheit zu erlautem. Diese aber ist - zumin

    dest im spateren T extbestand, dem wir hier folgen - nichts anderes

    als

    die Beschreibung des innergotdichen Lebens, d.h. der T rinitiit, mir

    Hilfe numerologischer Reflexionen. Die Parallelen zu Thierry sind

    dabei unverkennbar, weshalb etwa Marie-Thrse d'Alvemy den Autor

    des .Buches der vierundzwanz1g Philosophen anders als Hudry im

    Chartreser Umfeld situierte.

    56

    Von besonderer Bedeutung ist daneben

    Lehrsatz, in dem Gott

    als

    ,,unendliche Sphare beschrieben

    - eine Metapher, die

    i.iber

    das

    .Buch der vierundzwanz{g Ph1 oso-

    zu Alain von Lille, Meister Eckhart, Nikolaus von Kues und

    Pascal gelangen sollte.

    57

    Wahrend der erste Lehrsatz die

    1ttE:re1121 erulilg der Einheit in die reflexive Dreiheit darlegt, betont der

    iber nginriquaccuorph1Josophorum, a.a.O.,

    S.

    XII-XIII.

    Quellen des T

    extes

    das Vorworr van Franoise Hudry zu

    ua.1ucL>cm:u

    bersetzung

    e ivre des XX Vph1losophes,

    a.a.O.,

    S.

    I 8-2

    I.

    : h Marie-Thrse d'Alverny, ,.Un tmoin muet des lurres docrrinales du Xllle

    a.a.O, bes. S.

    23

    I.

    zur Geschichre dieser Merapher die nach

    wie

    vor lesenswerre Monographie

    Dietrich Mahnke, Unendliche Sphiire undAllmiccelpunh:; lJdcrage

    zur

    Genea-

    der machemacischen

    lv.[ysrik, Halle I937.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    31/70

    XXXIV

    Vom

    Einen zum Vielen

    zweite mit

    dem

    Bild der ,,unendlichen Sphare den Zusammenhalt und

    die Einheit dieser Dreiheit.

    amit

    sind die beiden Pale benannt, zwi

    schen denen sich auch die weiteren Lehrsatze bewegen, welche die

    Fragestellung zugleich

    mit

    epistemologischen Aspekten

    zur

    Erkenn

    barkeit Gottes anreichem, die an Pseudo-Dionysios erinnem.

    Insgesamt stellt das Buch der

    n'erundzwanz1g

    Plulosophen einen

    aufschlussreichen V ersuch dar, die klassischen Begriffe

    und Themen

    des Neoplatonismus zu einer chrisclichen Metaphysik zu transformie

    ren. Aufschlussreich vor allem deshalb, weil diese T ransformation hier

    nicht

    nur

    in ihren Resultaten iiberliefert ist. Vielmehr wird dieser

    T ransforrnationsprozess selbst durch die verschiedenen Versionen des

    T extes, insbesondere den von

    Hudry

    bemiihten lateinischen Urtext, in

    seinen einzelnen Schritten nachvollziehbar. Wie kaum ein anderes

    Werk gibt diese Schrift damit Einblicke

    in

    die produktive Aufnahme

    der verschiedenen philosophischen T raditionen, die : sich auf der

    lberischen Halbinsel iiberschneiden,

    und

    damit in die Genese des

    chrisclichen Neoplatonismus des 12.

    Jahrhunderts.

    en

    Abschluss der hier vorliegenden T extauswal bildet eine der

    originellsten Abhandlungen des

    12.

    Jal1rhunderrs, die, in den neunziger

    J ahren dieses J ahrhunderts verfasst, zugleich in verschiedener

    Hinsicht

    dessen Gipfel- und Schlusspunkt darstellt - mit ihr kehrt unsere Reise,

    die in Frankreich (

    und

    England) begann, nach dem W eg ii ber Spanien

    wieder an ihren Ausgangsort zuriick. So wird Alain von Lille

    um I 120

    wahrscheinlich

    in

    Lille, wie sein Name andeutet, geboren. Zwar wird

    er

    insbesondere aufgrund seiner allegorischen Gedichte

    Anndaudianus

    und

    e

    planctu naturae (Van der Klage der Nacur ,

    zu

    einem der

    meistgelesenen Auroren der folgenden hrzehnte und hrhunderte,

    wie die Spuren bis zu Dante und weit in die Renaissance hinein bele

    gen, von seinem Leben ist jedoch bis auf wenige Bemerkungen in

    seinen T exten selbst sowie seinen T odesort bzw. sein T odesdatum

    kaum etwas iiberliefert.

    58

    So ist durch die Hinweise in den T exten nur

    ersichclich, dass er wahrscheinlich zunachst einige Zeit als Magister

    n

    Paris oder' zumindest der Ile-de-France wirkr, wobei aufgrund der

    ss

    Siehe zur Biographie Alains insbesondere Marie-Thrse d'Alvemy (Hg.), A ain

    de

    Lii/e. Texces

    indics,

    Paris 1965,

    S.

    l 1-29.

  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    32/70

    Vom Einen zum Vielen

    xxx

    Eintliisse von Autoren wie Bernhard Silvestris oder Clarembald von

    Arras bzw. Thierry von Chartres nicht ausgeschlossen ist, dass er auch

    Abschnitte seines Studiums oder der Lehrtatigkeit an den Ufem der

    Loire ( d.h. in

    Tours

    oder Orlans)

    und

    in Chartres verbringt. n der

    Zeit nach diesen Tatigkeiten scheint er sich im Siiden des heutigen

    Frankreich aufzuhalten, wo er sich vermutlich

    als

    Kanoniker oder in

    sonstiger kirchlicher Funktion im Auftrag oder in enger Abstimmung

    mit den Benediktinem

    sowie

    dem

    Herzog

    \Vilhelrn VIII. von

    Mont-

    pellier praktisch

    und

    theoretisch

    mit

    den dorc verstarkt auftretenden

    Haresien auseinandersetzt.

    Wahrend

    er den theoretischen Ertrag dieser

    Auseinandersetzung in dem gegen vier Arcen von Haresien verfassten

    Traktat Concra haerer:icos (Gegen dre HiireciKer) niederlegt, trite er

    zugleich

    als

    begnadeter Prediger auf, wie eine stattliche Zahl iiberlie

    ferter T exte belegt. Sein Lebensende verbringt er im Mutterhaus des

    Zisterzienserordens in C1teaux, wo er schlieBlich nach seinem T od im

    Jahre 1202 oder

    1203

    begraben wird.

    59

    Der Nachwelt gilt Alain als doccor umversal, da sein W erk selbst

    im

    Kontext der Neuerungen

    und

    erstaunlichen Leistungen der Renais

    sance

    des

    12. Jal1rhunderts ein herausragender Ausdruck systematischer

    Scharfe und thematisch-stilistischer Vielfalt ist.

    60

    So sind Alain neben

    qen bereits angefuhrten Gedichten sowie den Auseinandersetzungen

    rnit.

    den Haretikem niimlich auch eine theologische Summe, ein Wor-

    terbuch der Theologie sowie die Regeln der Tlieologie zuzuschreiben,

    aus denen sich im Folgenden ein Auszug findet. n einem Zeitalter, in

    dern neue Wissensformen

    und

    Wissensbestande den angestammten

    .

    prdo scientzum

    problematisieren, geht der

    Autor

    aus Lille den Fragen

    nach, welche Inhalte

    nur

    in der Theologie angemessen erfasst und

    erirtert werden konnen

    und

    welche Gestalt die Theologie annehmen

    . ~ : : r n l S ~ , um als Wissenschaft neben den anderen Disziplinen bestehen zu

    ? ;

    kinnen. Dabei interessiert ihn vor allem,

    wie

    das V erhaltnis zwischen

    . der theologischen Tem1inologie und den Sprachen der anderen Wis-

    ~ ~ p s c h f t e n

    beschaffen ist

    und

    wie die Relation zwischen naturphiloso-

    s ~ ~ : : . ; \

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    r : ;rVgl. Marce Lebeau, ,,Dcouverte du tombeau du bienheureux Alain de Lille", in:

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    4

    F ~ ~ e ,

    in: Derek

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    , 8 y ~ ~ r (I- g.),

    Rcnaissance and

    Renewaf in

    Chriscian HsWLJ Oxford

    I977, S.

    II?

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  • 7/24/2019 Fidora - Buch Der Vierundzwanzig Philosophen

    33/70

    XXXVI

    Vam

    Einen zum Yielen

    phischen Erklarungsmodellen des Ent und Bestehens der W elt und

    theologischer Schopfi.mgstheorie zu verstehen

    isr

    61

    Die hier ausgewahlten Passagen der Regeln der Theologie oder der

    Regeln des himmlischen Rechcs

    spiegeln diese verschiedenen, aber

    dennoch miteinander verwobenen lnteressen Alains wider. Die Regeln

    stellen insgesamt den Versuch dar, analog zu den anderen Wissen

    schaften fur die Theologie eine Reihe von Axiomen aufzustellen, die

    als Fundamente fur eine wissenschaftliche Gotteslehre gelten konnen.

    Hierzu nutzt Alain die wissenschaftstheoretischen berlegungen seiner

    Zeirgenossen, etwa

    des

    Gilbert von Poitiers und des Gundisalvus, aber

    auch neu aus dem Arabischen iibersetzte T raktate, wie die beiden be

    reits vorgestellten

    Werke

    Buch der Ursachen

    bzw.

    Buch der nrund

    zwanz{g Ph1losophen. V

    or

    allem ersteres ist nicht nur inhaltlich zen

    tral, wie die berlegungen bereits der ersten Regel zeigen, sondern der

    Liber de causis gibt

    mit

    seiner revidierten Form der proklischen Ele

    mente

    eine Variante der axiomatischen Methode

    als

    'Vorgehensweise

    iiberhaupt der Regeln ab, indem auch diese einerseits

    in

    erklarender

    Hinsicht deduktiv verfahren, andererseits jedoch ontologisch die wech

    selseitigen Implikationsverhaltnisse des Ausgesagten betonen.

    62

    n

    ontol