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FLORIAN LEU In Feuerland lebt eine Frau, die als Letzte ihre Sprache spricht. Sie heisst Yamana, und es gibt darin ein Wort, für das wir einen Satz brauchen, bei dem es uns den Atem verschlägt. Mamihlapinatapai bedeutet: der Blick zwischen zwei Menschen, die wollen, dass der andere etwas in Gang setzt, was beide begehren, aber ohne den ersten Schritt zu wagen. Es ist ein Lieblingswort des Linguisten Dan Kaufman. Sprachen ver- schwinden schneller denn je, und dagegen kann Kaufman kaum etwas tun. Doch kann er Wörter wie dieses bewahren, mehr wird von den meis- ten Sprachen sowieso nicht bleiben. Sag es noch mal: mamihlapinatapai. Goodbye Babylon 8

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FlorIAn lEU

In Feuerland lebt eine Frau, die als letzte ihre Sprache spricht. Sie heisst Yamana, und es gibt darin ein Wort, für das wir einen Satz brauchen, bei dem es uns den Atem verschlägt. Mamihlapinatapai bedeutet: der Blick zwischen zwei Menschen, die wollen, dass der andere etwas in Gang setzt, was beide begehren, aber ohne den ersten Schritt zu wagen.

Es ist ein lieblingswort des linguisten Dan Kaufman. Sprachen ver- schwinden schneller denn je, und dagegen kann Kaufman kaum etwas tun. Doch kann er Wörter wie dieses bewahren, mehr wird von den meis-ten Sprachen sowieso nicht bleiben. Sag es noch mal: mamihlapinatapai.

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Kaufman sitzt in einem Zimmer an der achtzehnten Strasse mitten in Manhattan, trägt ein T-Shirt voller Flecken, sucht in einer Tüte nach chips-Krümeln. Kaufman wirkt wie ein Schuljunge – ein Held sieht an-ders aus. Hier, im Architekturbüro seines vaters, der auf Brückenbau spezialisiert ist, hat Dan Kaufman vor zwei Jahren eine urbane Feldsta-tion eingerichtet: Sprachkarten aufgehängt, Schreibtafeln aufgestellt, Mikrofone aufgepflanzt. Kaufman macht den Eindruck, wie er so in sei-nem Stuhl fläzt und chips isst, als würde er seine Zeit mit games und comics vertrödeln. Doch er ist Professor an der city University von new York, und bis heute hat er dreissig Sprachen gerettet oder zumin-dest ihr völliges verschwinden verhindert. Er ist ein kleiner Mann mit schmalen Schultern. Doch wenn er plötzlich hochschnellt, um etwas auf seinen Sprachkarten zu zeigen, hat er einen hastigen, federnden Schritt. Und er wirkt auf einmal so leicht, als würde er schweben, als könnte man ihn einfach wegniesen.

Als Student malte er sich ein Bibliotheksdasein aus: einen Stapel Papier vor der nase, eine lampe auf dem Tisch, stille Wesen um sich herum, zur Abwechslung vielleicht einmal ein Penner, der an einem der Tische schläft, bis die Wachleute ihn rauswerfen. Das wäre ein gutes le-ben gewesen für Kaufman, es wären darin Wörter wie «Öffnungszeiten» und «Feierabend» vorgekommen. Doch je länger er las und Zeilen un-terstrich, desto stärker hatte er den Drang, etwas gegen den verlust der Sprachen zu tun. Er hörte von Yawuru in Westaustralien, das noch fünf Sprecher hat. von Yoruk in nordkalifornien, das noch zwei Menschen kennen. Ein Kollege machte ihn auf die Sprache aus Feuerland aufmerk-sam, die nur noch im Kopf dieser alten Frau existiert. Wenn sie stirbt, geht eine von sechstausend Sprachen zugrunde. Alle zwei Wochen ver-klingt eine davon, verschliesst sich eine Sichtweise auf die Welt, ein Fenster auch ins Innere des Hirns. Ein Drittel der Sprachen ist erfasst und durchleuchtet worden, von einem Drittel haben wir ein paar Wör-terlisten, ein paar Hinweise zur grammatik, beim letzten Drittel tappen wir im Dunkeln und wissen kaum den namen der Sprache. Bis zur Jahr-hundertwende, schätzt Kaufman, werden neun von zehn Sprachen tot sein. «Eine Sprache sterben zu lassen», zitiert er den linguisten Ken Hale, «das ist, als würde man eine Bombe auf den louvre werfen.» Das sei, fährt er fort, als würde ein Bombenhagel auf new York niederge-hen. «von den achthundert Sprachen, die es hier gibt, steht die Hälfte kurz vor dem Ende.» Wie immer, wenn er apokalyptische Dinge sagt, hat Kaufman ein zartes lächeln im gesicht.

REpORtagEN #7

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Als er mit seiner Kollegin Juliette Blevins und dem Dichter Bob Holman die Allianz der gefährdeten Sprachen gründete, ist sein leben anders geworden. Mit chips im Mund sagt er: «Früher war ich ein fröhlicher Streber. Ein Streber bin ich noch immer, aber heute komme ich mir vor wie ein Indiana Jones der linguistik.» Der Archäologe mit der Peitsche in der Hand, der hinter den Schätzen her ist und immer wieder ruft: «Das gehört ins Museum!» gäbe es ein Museum der Sprachen, mit Kauf-man und Blevins als Kuratoren, müssten darin Tafeln hängen mit den besten Wörtern der Welt.

khonsay* (Bodo, Indien) Etwas aufheben, weil es selten und wertvoll sein könnte

mbuki-mvuki (Mongo, Kongo) Die Kleider ausziehen, um zu tanzen

ortekes (chakassisch, Sibirien) Zusammen Füchse jagen gehen (der höchste Freundschaftsbeweis)

sgriob (gälisch) Der Juckreiz, der sich vor dem ersten Schluck Whisky an der oberlippe bemerkbar macht

yerdegh-nga (Wagiman, Australien) Aufbrechen und niemandem sagen, wohin man geht

Juliette Blevins beschäftigt sich seit dem Anfang ihrer laufbahn

mit raren Sprachen und lehrt seit zwei Jahren ebenfalls an der city University. Früher lebte sie in Perth an der Westküste Australiens. Alle zwei Wochen setzte sie sich in ihren Wagen und fuhr nach norden, um lucy ryder zu besuchen. Blevins brachte die greisin zwei Jahre lang zum reden, denn in ihrem Kopf befand sich ein Schatz: nhanda.

Blevins unternahm Touren mit ihr, liess sich lucys Welt in der Aborigines-Sprache erklären. Dank dem vokabular von völkern, die an orten mit seltenen Pflanzen und Tieren leben, stossen Forscher manchmal auf Substanzen, die als Medikamente infrage kommen. Für das Schönste war Blevins jedoch zu spät gekommen: Die Songlines ihres Stammes wusste lucy nicht mehr. Die waren schon früher in vergessen-

* Fast alle Wörter stammen aus «The Meaning of Tingo» und «Toujours Tingo» von Adam Jacot de Boinod. Es sind Bücher voller Wörter, die schwer zu übersetzen sind. Wörter wie tingo, das von der osterinsel stammt und bedeutet: von jemandem so viele Dinge ausleihen, bis er nichts mehr hat.

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heit geraten, als Strassen und geleise das land durchzogen. Songlines sind lieder, die Wege durch die Wildnis beschreiben. Ein Mythos er-zählt, wie die Ureinwohner bei ihrer landung den Kontinent durch ihr Singen erst erschaffen haben. Die vorfahren kamen auch in den Song-lines vor: Abdrücke im Boden, die von riesen hätten stammen können, wurden als ihre Fussstapfen besungen. Die Songlines zogen sich wie Adern durchs land, als wäre ganz Australien eine Partitur.

Als lucy ein Mädchen war, wollten die Behörden ihre Sprache auslöschen. Die Männer mit den Uniformen kamen zu den Aborigines, nahmen die Kinder mit. Sie brachten sie in Internate, liessen sie erst zehn Jahre später und meist ohne Muttersprache nach Hause. So ver-bargen die Aborigines ihre Kinder: Sie fertigten ihnen Federschuhe an, damit keiner ihre Spuren sah. Die Behörden waren schlau und heuerten Fährtenleser an, oft waren es Aborigines auf Arbeitssuche, die sich über ein paar leicht verdiente Pfund freuten. Ihnen entging nichts, auch nicht lucy mit ihren Federschuhen an den Füssen.

lucy ryder ist längst tot. Aber nhanda, eine der einst 250 Sprachen Australiens, ist es noch nicht. Einerseits, weil sich ihre Tochter mit Blevins’ grammatik nhanda selbst beibrachte, wenn auch nur in Bruchstücken. Andererseits, weil nhanda, wie eine leiche im Mauso-leum, wohl noch lange aufbewahrt wird: Blevins’ Tonbänder lagern im leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Das ist das Schöne an Sprachen. Sie sind nicht so einfach totzukriegen, so ohne langes Federlesen. gäbe es dieses Museum der Sprachen, wären lucys Federschuhe vielleicht ein Höhepunkt der Ausstellung.

uluka (Mambwe, Sambia)Jemand, der geht wie vom Wind getragen

nusukaakatuat (Inupiat, Alaska) Heirat sicherstellen, indem man eine Frau entführt

age-otori (veraltetes Japanisch)nach einem Haarschnitt schlimmer aussehen als davor

eldhús-fifi (Altisländisch) Ein Dummkopf, der den ganzen Tag am Herdfeuer sitzt

magadang hinaharap (Tagalog, Philippinen) Schöne Brüste, eigentliche Bedeutung: schöne Zukunft

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Dan Kaufman ist mit Studenten ausgeschwärmt und hat an Quartier-festen leute gefragt, ob sie eine seltene Sprache beherrschten. Er hat Flugblätter gedruckt, sie überall in der Stadt verteilt und angeklebt, in 24-Stunden-Shops in Brooklyn, an laternen in der Bronx, am schwarzen Brett von Quartierzentren auf Staten Island. «¿Habla usted o conoce a alguien que habla un idioma o dialecto en peligro?» – «Parlez-vous ou connaissez-vous quelqu’un qui parle une langue africaine en voie de dis-parition?» – «Гoврите ли вы лил знaете ли вы людeй, кoтoрые гoвoрят нa вымирaющих языкaх?» Er bekam viele E-Mails, Einwanderer si-cherten ihre Zusammenarbeit zu, Studenten boten ihre Hilfe an. Kauf-man konnte nie absagen, arbeitete oft in die nacht hinein, eine Sitzung nach der andern, eine Sprache nach der andern. Er sagt, manchmal habe er sich gefühlt, als hätte er einen endlosen Höhenrausch. Am Schluss eines Aufzeichnungsmarathons musste Kaufman meist an eine Studen-tin abgeben. Selber brachte er kein Wort mehr heraus: ein sprachloser Sprachforscher. Wenn er nach Hause kam, sagte seine Frau, er opfere der Arbeit seine Familie. Und er gab ihr recht.

Wenn er seine Feldstation verlässt und auf Sprachenjagd geht, steigt er meist in die Metro nummer 7, fährt vom Times Square richtung Queens, von den grellen reklametafeln in den schummrigen osten. Wenn er in die gesichter der Passagiere schaut, weiss er wieder, warum er seine Stadt so liebt. In der Metro fühlt er sich wie in einem völkerkundemuseum auf rädern. Er hört einen chor, der in allen mög-lichen Sprachen singt und flennt, quatscht und keift. Zwischendurch das lied eines abgerissenen Sängers, der aussieht, als wäre er bei der Station Hölle zugestiegen. Eine Schmirgelpapierstimme im Duett mit dem rattern der Untergrundbahn.

Queens ist für Kaufman ein Hotspot der gefährdung, dreissig Mi-nuten von seiner Haustür in Manhattan entfernt. Manchmal fühlt er sich, als hätte er einen Tropenhelm auf dem Kopf und eine Botanisier-trommel in der Hand. Kaufmans lieblingsstrasse heisst roosvelt Ave-nue. oben rauscht die Metro über eine Brücke, unten auf den Trottoirs kann man Welten sammeln. Die ecuadorianische Bäckerei steht neben der Masseurin aus china steht neben dem salvadorianischen Delikates-sengeschäft steht neben dem kleinen lokal einer Kartenlegerin aus Kuba steht neben dem Fruchtstand eines mageren vietnamesen steht neben einer Autowerkstatt, wo die Taxis auch nachts repariert werden und die Fahrer sich die Zeit mit ihren Zigaretten vertreiben. Hin und wieder bleibt Kaufman einfach stehen und lauscht. Ein paar Mal ist es schon passiert, dass er Klänge aufschnappte, die ihm völlig fremd waren und neu.

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Es kommt in Queens häufiger vor, dass man leute vlaschki sprechen hört, als in den Dörfern Kroatiens, wo die Sprache herkommt. Aus Dör-fern, die heute oft verlassen sind. verlassen von Frauen wie valnea Smi-lovic, die vor fünfzig Jahren auswanderte und mit ihrer Mutter noch immer vlaschki spricht. Die Alte kann kaum Englisch, muss sie auch nicht. In ihrem viertel leben Hunderte, die vlaschki sprechen, mehr als in ganz Istrien. vermutlich ist Queens das viertel mit den meisten Ein-wanderern der Welt, mehr als hundertvierzig Sprachen sind hier regis-triert. Zum Beispiel chamorro, über Tausende von Seemeilen gebracht von den Marianeninseln; Kaschubisch aus dem polnischen Hinterland; rätoromanisch aus den Tälern graubündens; Bukharisch, eine jüdische Sprache, die hier mehr Sprecher hat als in Usbekistan.

Ausstellungsstück nummer zwei im Museum der Sprachen: ein deprimierend dicker Atlas der vereinten nationen. Das lexikon der Sprachen, die bald verschwinden werden. Es ist ein schweres Buch, man könnte damit leicht jemanden erschlagen.

igau (Malaiisch) In einem Albtraum zu reden anfangen

bakku-shan (Japanisch) Ein Mädchen, das von hinten schön aussieht, aber nicht von vorn

vomitarium (latein) raum, wo gekotzt wird, damit man nachher wieder essen mag

protintheuo (Altgriechisch) Die feinen Sachen rauspicken, bevor man ein gericht serviert

ølfrygt (Altdänisch) Die Angst, dass es zu wenig Bier hat

Feldarbeit gilt noch immer als etwas, was man nur mit visum

und Malariaprophylaxe tut. Und noch immer wollen viele Forscher zu orten aufbrechen, wo Sprachen so pur wie möglich sind. vor Kaufman ist niemand auf die Idee gekommen, die Ferne einfach zu sich zu holen. Zwar hat auch er Feldforschung in Südostasien betrieben, sich mit der Machete durch den Dschungel geschlagen, notizbücher in Schweiss getränkt, Feldforschungsklischees abgearbeitet. oft fiel es ihm aber leichter, Sprachen in new York zu finden.

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Juliette Blevins und er schätzen, dass allein die Schulkinder in new York etwa hundertachtzig Sprachen sprechen. Und sie nehmen an, dass hier ein Sechstel aller Sprachen überhaupt gesprochen wird – näher kommt man an Babylon nicht heran, ausser vielleicht in Papua-neuguinea auf der anderen Seite der Erde, wo die Sprachendichte wegen der Topogra-phie, wegen der zerklüfteten und schwer zugänglichen Täler etwa so hoch ist wie hier in der Stadt. «new York», sagt Kaufman, «ist die Kapi-tale der Sprachendichte.» Aber weil die leute, nach denen er sucht, oft alt und krank sind, wird sich das bald ändern. Es ist ein Widerspruch, der Kaufmans Arbeit ausmacht. Der grund, warum Sprachen verschwin-den, hat viel mit dem Sog der Megacitys zu tun. Warum sollte man eine Sprache lernen oder pflegen, die hier ohnehin keiner versteht?

Seit Kaufman die Feldstation betreibt, haben er und seine Studenten dreissig Sprachen kartografiert. Weil sie vor allem Aufnah-men gemacht, die Transkription aber aufgeschoben haben, müssen sie noch viel nachholen. Ab und zu halst sich Kaufman durch Zufall noch mehr Arbeit auf: Als er an einem Wochenende zu einer Hochzeit in Queens eingeladen wurde, kam er neben Husni Husain aus West-Sula-wesi zu sitzen. Er spricht Mamuju, wohl als einziger Mensch in Amerika, nicht mal seine Frau und seine Kinder können sich mit ihm auf Mamuju unterhalten. In Indonesien hatte Kaufman wochenlang nach dieser Sprache gesucht, doch keiner hatte ihm helfen können. Schliesslich hatte er geglaubt, sie sei unauffindbar.

samir (Farsi, Iran) Jemand, der nachts Konversation treibt

nakhur (Somali) Ein Kamel, das keine Milch gibt, wenn man es vorher nicht an der nase kitzelt

mokita (Kiriwina, Papua-neuguinea) Die Wahrheit, die alle kennen, und über die keiner spricht

kualanapuhi (Hawaiianisch) Ein Diener, der mit einem Fächer die Fliegen vom Kopf des Häuptlings wegwedelt

ichigo-ichie (Japanisch) Einen Moment schätzen und versuchen, ihn perfekt zu machen

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Einmal die Woche kommen leute wie Husni Husain in die Feldstation an der achtzehnten Strasse, in den raum ohne Fenster und mit den bunt schraffierten Sprachkarten an der Wand, der ein wenig wie ein Schutzbunker wirkt. Eine Sitzung dauert drei Stunden, für jede Stunde bietet Kaufman fünfzehn Dollar als Entschädigung. Die meisten ver-zichten darauf, fühlen sich wie Botschafter auf einer Mission. Einige ringen die Hände, wenn ihnen ein Wort nicht einfallen will. Anderen treten Tränen in die Augen, wenn ein Wort auf einmal wieder in ihrem Kopf auftaucht und sie an ihre Kindheit erinnert. Einige wollen nachher alles nochmal nachprüfen, damit sich kein Fehler einschleicht. Andere kümmern sich kaum darum, scheinen sich vor allem über die neugier der Forscher zu freuen und sich auch ein wenig zu wundern. Wenn Kaufman und die Studenten Wörterlisten erstellen, sind sie manchmal die Ersten, die diese Sprache mit der Schrift zusammenbringen. Bevor sie es tun, ist ihr Untersuchungsgegenstand etwa so greifbar wie luft.

Das machte auch Kaufmans vorgängern die Arbeit schwer. In-dianer, die am Amazonas lebten, schienen jedes Mal eine andere Sprache zu sprechen, wenn die Forscher Ende des neunzehnten Jahrhunderts sie besuchten. Sie merkten erst nach einer Weile, dass die Indianer mit ihrer Sprache spielten, um die langeweile zu verscheuchen. Sie erfanden Wörter, und wenn sie lachen mussten, tauschten sie sie aus. Die Wissen-schafter schleppten schon vor hundert Jahren Phonographen durch den Dschungel, nahmen Märchen am Amazonas auf, liebeslieder in neu-guinea, Trauergesänge in Sumatra, Zaubersprüche in grönland.

Wenn Kaufman Wörterbücher anlegt, bittet er seine Informanten, sich in die Heimat zu versetzen: in ein Haus in gabun, in ein Tal auf Java. Dann lässt er sich führen. Meist fängt er in der Küche an, lässt sich al-les erklären. vielleicht hört er, Monate später, im Schlafzimmer wieder auf, mit einer legende oder einem Wiegenlied. Es geht nicht nur darum, grammatik und Wortschatz einzufangen und mit Stecknadeln aufzu-spiessen wie Schmetterlinge. Es geht auch darum, Kurzfilme der leute zu drehen, wenn sie geschichten erzählen, die verschwinden würden. Denn sie sind ja nirgends festgehalten.

Eine 30-jährige Frau aus gabun, sie heisst Safiyatou und will ihren nachnamen für sich behalten, erzählt den linguisten eine ge-schichte, die sie als Mädchen hörte. Safiyatou sitzt 25 Jahre, nachdem ihre Mutter sie mit dieser geschichte in den Schlaf lullte, und 9500 Kilometer von ihrem Dorf entfernt in Kaufmans Sprachenzentrale und spricht in ein richtmikrofon. Und obwohl sich die Feldstation im Her-zen der Stadt befindet, ist es völlig still, da sind nur das gelegentliche

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Quietschen der Stühle und Safiyatous singende Stimme, die die ge-schichte eines Jungen erzählt, dessen Mutter stirbt. Der von den anderen Frauen des vaters verlacht und ständig zum Wasserholen geschickt wird. Dessen fein gearbeiteter Krug eines Tages hinunterfällt und zerbricht. Worauf er auf dem langen Heimweg ganz krank wird vor Sorge. Doch da erscheinen auf einmal geister und trösten ihn. Eine geschichte, die viel über die gegend erzählt, aus der sie kommt: dass Männer mehr als eine Frau hatten, ein grosser Teil des Tages fürs Wasserholen gebraucht wur-de, die Wege sich elend in die länge ziehen konnten, die Töpferei ein wichtiges Handwerk war. Und dass manchmal, wenn traurige Buben durch die gegend irrten, freundliche geister herumschwirrten.

gigirhi-gigirhi (Tsonga, Südafrika) von Dorf zu Dorf gehen und den Klatsch herumerzählen

tsumi-oidagana (Yamana, Argentinien) Jemandem einen Finger zum Dreinbeissen hinhalten

bakwe (Kapampan, Philippinen) Eine Zigarette mit der glut im Mund rauchen

gabkhron (Bodo, Indien) Angst vor einem Abenteuer haben

hanyauka (rukwangali, namibia) Auf Zehenspitzen über warmen Sand laufen

Es sind die geschichten, die an Kaufmans Sitzungen vielleicht

das Beste sind. Weil er und seine Kollegen sich aber oft ein wenig wie Diebe vorkommen, wollen sie den leuten etwas zurückgeben. Aus der geschichte des Jungen mit dem Krug soll ein Zeichner ein Kinderbuch machen, eines der merkwürdigsten Kinderbücher überhaupt, mögli-ches Ausstellungsobjekt nummer drei im Museum der Sprachen: eine geschichte, die kein Kind je wird lesen können. Safiyatous Kinder, die in der Bronx leben, sprechen nur Englisch und Französisch, die Kinder in Safiyatous Heimat lediglich Französisch. Ikota, ihre Muttersprache, gebrauchen fast nur noch die Alten.

Manche leute, die zu Kaufman kommen, sind Analphabeten. Zusammen mit Quartierzentren bietet er ihnen lesekurse an. Und dann sind da auch leute wie Irwin Sánchez, der die einst mächtigste Sprache

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Mittelamerikas spricht, das nahuatl der Azteken. Zwar hat die Sprache noch immer anderthalb Millionen Sprecher, aber auch sie ist gefährdet, weil die leute wegen ihrer Sprache oft erniedrigt worden sind und meist aufgehört haben, sie weiterzugeben. Sánchez, der gärtner aus Mexiko, unterrichtet abends und mit Kaufmans Hilfe nahuatl in einem Quar-tierzentrum in Brooklyn. Und es gibt leute wie Daowd I. Salih, ein Flüchtling aus Darfur, der als Altenpfleger in new Jersey lebt, gleich auf der anderen Seite des Hudson river. Er spricht Massalit und unter-richtet die Sprache an Kaufmans Universität. Eine von vielen Stammes-sprachen, die wegen des Bürgerkriegs verschwunden sind oder kurz davor stehen, zu verpuffen.

Mögliches Exponat nummer vier: die ausgebleichten Knochen eines Kriegstoten, daneben eine Kalaschnikow.

achaplinarse (Spanisch, lateinamerika) Angst bekommen und davonlaufen wie charlie chaplin

utouto (Japanisch) Einschlafen, ohne es zu merken

linti (Farsi, Iran) Einer, der den ganzen Tag durchbringt, indem er unter einem Baum liegt

greigh (gälisch) Die ungewöhnliche Hitze der Sonne, wenn sie auf einmal wieder hinter den Wolken hervorbricht

shmendrick (Jiddisch) Ein scheues, dummes nichts

Exponat nummer fünf: ein Schild, das bis vor fünfzig Jahren

in der Bretagne hing und dazu beitrug, dass manche leute sich heute noch schämen, wenn sie Bretonisch sprechen: Interdit de parler Breton ou de cracher par terre. Es ist verboten, Bretonisch zu sprechen oder auf den Boden zu spucken.

nummer sechs: die erste Bibel, die in nordamerika gedruckt wurde. Sie erschien in der Sprache der Wampanoag-Indianer, die an der ost-küste lebten, zwischen long Island und cape cod, wie die orte heute heissen. Die Siedler standen vor der Frage, was sie zuerst tun sollten:

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die leute zu Englisch zwingen oder sie bekehren. Sie entschieden sich für den glauben und übersetzten Mitte des siebzehnten Jahrhunderts die Bibel auf Wampanoag. Hundert Jahre später mussten sie sie nicht mehr nachdrucken, die Sprache gebrauchte fast niemand mehr.

nummer sieben: neben der Bibel würde ein Fernseher flim-mern, gezeigt würde der kleine Dokfilm über Jessie little Doe Baird, eine Indianerin auf cape cod. vor zwanzig Jahren hat sie mithilfe des linguisten Ken Hale und eines Stipendiums von einer halben Million Dollar die Sprache ihrer Ahnen wiederbelebt. Sie hat ein Wörterbuch mit 10 000 Einträgen verfasst und angefangen, die Sprache wieder zu sprechen, ihre Tochter damit vertraut zu machen und verwandte zu unterrichten. Heute gibt es auf dem gebiet, das den Indianern geblieben ist, eine kleine gemeinschaft mit zweisprachigen Kindern.

nummer acht: das Bild einer Flutwelle. Manchmal sind es auch Katastrophen, die Sprachen gefährden. Der Tsunami vor fünf Jahren zum Beispiel hat auf den Andamanen-Inseln östlich von Indien eine vielzahl von Sprachen an den rand des Abgrunds gebracht. nicht des-wegen, weil die leute alle ertranken. Sondern weil die Flut ihr Daheim wegschwemmte, sie die Inseln verlassen und auswandern mussten und sich in alle Winde zerstreuten.

walala (luvale, Sambia) Der glücksbringer eines Diebes, der die leute schlafen lässt, während er am Werk ist

termangu-mangu (Indonesisch) Traurig und unsicher, was man tun soll

pfumbra (Shona, Simbabwe) So gehen, dass man Staub aufwirbelt

ngaobera (Pascuense, rapa nui) Die Halsschmerzen nach langem Schreien

aware (Japanisch) Das gefühl beim Betrachten vergänglicher Schönheit

gattara (Italienisch) Eine Frau, oft alt und allein, die sich um Strassenkatzen kümmert

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Wenn die leute zu gebrechlich sind oder zu wenig Zeit haben, um in Dan Kaufmans Feldstation Auskunft zu geben, gehen die Forscher zu ihnen nach Hause. An orte, wo sich zahllose Dinge befinden, die eines Tages ebenfalls im Museum aufbewahrt werden könnten. Zum Beispiel die Songs des Musikers James lovell, der vor zwanzig Jahren der Armut in Belize entkam und heute in Brooklyn auf garifuna singt, auch Black Island carib genannt, eine Sprache mit etwa 200 000 Sprechern, aber ohne offiziellen Status. lovell lehrt seine Tochter garifuna, weil er es wichtig findet, seine Kultur zu bewahren, ein Hybrid zu sein. garifuna ist selbst ein Beispiel für globalisierung: Die Black Island caribs waren die Kinder von Sklaven aus Afrika. Die Sklaven waren nach einem Schiff-bruch auf St. vincent gestrandet, hatten mit den Insulanern Kinder ge-zeugt und ihre Sprachen zu einer einzigen verschmolzen. Ende des achtzehnten Jahrhunderts haben die Briten die Bevölkerung auf die Insel roatan vor der Küste Honduras’ verfrachtet, und weil die leute mit allen möglichen Europäern in Berührung kamen, finden sich in ihrer Sprache so viele lehnwörter wie sonst fast nirgends, fünfzehn Prozent Französisch, zehn Prozent Englisch, fünf Prozent Spanisch. Seit drei Jahren ist die Sprache Teil des immateriellen Erbes der Mensch-heit, ein weiterer versuch der Unesco, mit labels den verlust von Kul-turen aufzuhalten.

Zweitletzter Kandidat fürs Museum: ein Buch mit heiligen Schrif-ten in Mandäisch, einer Sprache aus dem Iran und dem Irak, die mit Aramäisch verwandt ist, der Sprache Jesu. Sie wird heute noch von etwa fünfhundert leuten gesprochen, zum Beispiel von einem alten, erschöpften Mann in Queens: nasser Sobbi. Einer von Kaufmans Kol-legen, charles Häberl, hat den Mann jahrelang besucht, Whisky mit ihm getrunken, sich Anekdoten ohne Ende angehört. Anekdoten über die Schönheit Persiens, als der Schah noch an der Macht war. Anekdoten über die Flucht nach Amerika vor mehr als dreissig Jahren, als die Man-däer wegen ihres glaubens verfolgt wurden. Mandäisch ist eine Sprache, die Häberl begeistert, weil sie seit biblischer Zeit gebraucht wird, zwar nicht unverändert geblieben ist, sich aber doch nur wenig gewandelt hat und noch immer fast ohne lehnwörter auskommt. Häberl besuchte den greisen, der in den USA als Juwelier zu geld kam und schon lange im ruhestand ist, während Jahren immer wieder und schrieb seine Dis-sertation über diese Sprache. Heute arbeitet Häberl an zwei Büchern: «Das eine soll ausgleichen, was das andere anrichtet», sagt er. Er über-setzt einerseits die religiösen Texte der Mandäer, deren glaube älter ist als das christentum, aber nahezu unbekannt. Andererseits arbeitet er

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an einer grammatik, damit man die Sprache lernen könnte. oder um sie irgendwann zu reanimieren, wie die Indianerin auf cape cod es mit der Sprache ihres Ururururururgrossvaters getan hat.

yuputka (Ulwa, nicaragua) Das gefühl, wenn einem etwas über die Haut krabbelt

limilimi (Hawaiianisch) von der Brandung hin und her geworfen werden

pulaka (Tulu, Indien) Haar, das sich vor Ekstase sträubt

inchokkilissa (Alabama, USA) Allein sein und die Stille einer gegend geniessen

gagung (Kantonesisch, china) Ein Mann, der wegen des ungleichen geschlechterverhältnisses keine Frau findet

kupa-manduka (Singhalesisch, Sri lanka) Jemand, den die Welt kalt lässt, eigentliche Bedeutung: ein Frosch in einem Brunnenschacht

Der Weg zum letzten Stück im imaginären Museum führt

über Bob Holman, den dritten gründer der Endangered Language Alli-ance. Er ist ein kleiner Dichter mit lauter Stimme, der einem Antworten gibt, bevor man Fragen stellt. Im Süden Manhattans, in der Bowery, hat er vor Jahren einen Klub aufgemacht, als die gegend noch rau war und sich hier noch andere gestalten herumtrieben als magere Männer mit Designerbrillen und junge Frauen in vintagekleidern. Holmans Woh-nung befindet sich direkt über seinem Poetry Club, und hier zeigte er mir auch ohne Aufforderung sein work in progress.

Es heisst canto und ist ein gedicht in hundert Sprachen, die bald weg sein werden. Holman reiste mit seinem Ersparten durch Alaska, Mali, Israel, Indien und durch viele andere länder. Er sammelte Zeilen in einer Inuitsprache. Traf einen griot in Timbuktu, das ist ein traditio-neller Sänger und geschichtenerzähler. liess sich hinreissen von einem alten Mann in Jerusalem, der noch ladino spricht, die geschmeidige Sprache der Juden, die aus Spanien vertrieben wurden.

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canto ist ein atemloser kleiner Film, alle paar Sekunden tritt eine Figur auf und sagt einen Satz in die Kamera. Es klingt seltsam und schön, gleichzeitig ist man froh um die Untertitel. Ich schaute mir den Film immer wieder an, während Holman in der Küche stand und uns etwas Kleines zubereitete. Irgendwann trat er neben mich: «Und?» Ich schaute ihn an und sagte, dass mir das Ding gefalle. ob er noch lange brauche, bis er fertig sei? «Sicher noch ein paar Jahre», sagte Holman. Und nach einer Weile fügte er an: «Ich sollte mich langsam beeilen.»

jufle (Schweizerdeutsch) Sich sputen, Hals über Kopf

gfürchig (Schweizerdeutsch) Fürchterlich, angsteinflössend

Wunderfitz (Schweizerdeutsch) Ein neugieriger Mensch, der das Fragen einfach nicht lassen kann

Schärme (Schweizerdeutsch) Ein sicherer, abgeschirmter ort

chrüsimüsi (Schweizerdeutsch) Ein nahezu unentwirrbares Durcheinander

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