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Dieses Buch nimmt Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung in den Blick. Unter Selbstformierung wird die Bestimmung unserer selbst hinsichtlich unseres Charakters verstanden, d.h. hinsichtlich der Eigenschaften, die das Gepräge unseres Handelns bestimmen. An der Bestimmung dieser Eigenschaften sind wir zum einen deswegen interessiert, weil unser Charakter unser Lebensglück beeinflußt. Zum anderen hat unser Charakter aber auch Einfluß auf die sittliche Quali- tät unserer Handlungen. Beide Aspekte stellen zentrale Gegenstände philosophischen Nachdenkens dar, deren Verhältnis umstritten ist. Der Autor zeigt, daß Schelling ein Zusammenfallen von Sittlichkeit und Glückseligkeit denken kann. Dabei gelingt es Schelling, den Ge- danken einer schrittweisen Selbstformierung mit einer rigoristischen Position zu vereinbaren, derzufolge ein Mensch nur entweder sittlich gut oder böse sein kann. Schellling zeigt, daß Selbstformierung als Be- wegung zu verstehen ist, in welcher wir uns selbst überschreiten und uns auf ein transzendentes Gegenüber beziehen. Die vollendete Theorie menschlicher Selbstformierung setzt ein begriffliches Instrumentarium voraus, das Schelling zwischen 1801 und 1811 schrittweise gewinnt. Die Studie verfolgt diesen Denkweg und beleuchtet nicht nur einen bislang wenig beachteten Aspekt des Schellingschen Denkens, sondern entfaltet außerdem eine systema- tisch relevante Theorie menschlicher Selbstformierung. Der Autor: Dr. Oliver Florig, M.A., Studium der Politikwissenschaft, Philosophie und VWL in Tübingen, Paris und München, Promotion und Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in München. Oliver Florig Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung Personale Entwicklung in Schellings mittlerer Philosophie Verlag Karl Alber Freiburg/München

Florig (2010) - Schellings Theorie Menschlicher Selbstformierung

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Book by Oliver Florig on Schelling's theory of human selfdevelopment

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Dieses Buch nimmt Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung in den Blick. Unter Selbstformierung wird die Bestimmung unserer selbst hinsichtlich unseres Charakters verstanden, d.h. hinsichtlich der Eigenschaften, die das Gepräge unseres Handelns bestimmen. A n der Bestimmung dieser Eigenschaften sind wir zum einen deswegen interessiert, weil unser Charakter unser Lebensglück beeinflußt. Zum anderen hat unser Charakter aber auch Einfluß auf die sittliche Qual i ­tät unserer Handlungen. Beide Aspekte stellen zentrale Gegenstände philosophischen Nachdenkens dar, deren Verhältnis umstritten ist. Der Autor zeigt, daß Schelling ein Zusammenfallen von Sittlichkeit und Glückseligkeit denken kann. Dabei gelingt es Schelling, den Ge­danken einer schrittweisen Selbstformierung mit einer rigoristischen Position zu vereinbaren, derzufolge ein Mensch nur entweder sittlich gut oder böse sein kann. Schellling zeigt, daß Selbstformierung als Be­wegung zu verstehen ist, in welcher wir uns selbst überschreiten und uns auf ein transzendentes Gegenüber beziehen.

Die vollendete Theorie menschlicher Selbstformierung setzt ein begriffliches Instrumentarium voraus, das Schelling zwischen 1801 und 1811 schrittweise gewinnt. Die Studie verfolgt diesen Denkweg und beleuchtet nicht nur einen bislang wenig beachteten Aspekt des Schellingschen Denkens, sondern entfaltet außerdem eine systema­tisch relevante Theorie menschlicher Selbstformierung.

Der Autor:

Dr. Oliver Florig, M . A . , Studium der Politikwissenschaft, Philosophie und V W L in Tübingen, Paris und München , Promotion und Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in München .

Oliver Florig

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung Personale Entwicklung in Schellings mittlerer Philosophie

Verlag Karl Alber Freiburg/München

Mbtr-Reihe Thesen

Band 41

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Unfvers.«tat Mfjnp h n

GeschwJsier-ScJioJf-piateT"

Sign. Unginalausgab e" ~ ——

© V E R L A G K A R L A L B E R in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de

Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany

ISBN 978-3-495-48428-9

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 9

Einleitung 11

1 Menschliche Selbstformierung in Philosophie und Religion . 21

1.1 Die epistemischen Sphären und die Idee des Absoluten . . 21

1.2 Die Selbstobjektivierung Gottes in ideell differenten Gestalten seiner selbst 25

1.3 Prälapsarische Freiheit und Sündenfall 29

1.4 Postlapsarische Freiheit, Sittlichkeit und Versöhnung . . . 33

1.5 Fazit: Die Notwendigkeit eines Neuansatzes 40

2 Der Mensch und die Offenbarung Gottes in der Freiheitsschrift 48

2.1 Freiheit, Leben und der interne Dualismus 49

2.2 Die Methode des Anthropomorphismus 57

2.3 Die Situiertheit menschlicher Freiheit im Leben Gottes . . 63 2.3.1 Die drei Bewegungsweisen der Liebe 63 2.3.2 Sehnsucht und anfängliche Natur: der Grund der

äußeren Offenbarung Gottes 66 2.3.3 Die innere Verwirklichung Gottes qua Reflexion . . 67 2.3.4 Gottes Offenbarung in der Welt 69 2.3.5 Die Vermittlung von Welt und Gott als Aufgabe des

Menschen 71 2.3.6 Gottes Offenbarung in der Geschichte 74 2.3.7 Die All-Einhei t der Liebe als antizipiertes Zie l der

Geschichte 77 2.3.8 Der Ungrund als vorausgesetzte Einheit 78

2.4 Fazit: Die Fortschritte gegenüber Philosophie und Religion. 79

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A— 5

Inhaltsverzeichnis

3 Die Konstitution des Geistes und die naturale Basis menschlicher Selbstformierung 82

3.1 Zur Interpretation der naturphilosophischen Deduktion in der Freiheitsschrift 82

3.2 Exkurs: Z u m näheren Verständnis der Darstellung meines Systems 85 3.2.1 Der Grundgedanke der Darstellung meines Systems . 86

3.2.2 Die Methode i m allgemeinen: Konstruktion und Potenzierung 91

3.3 Die Konstruktion qualitativer Bestimmtheit i m dynamischen Prozeß 94 3.3.1 Die Methode i m besonderen: Konstruktion und

Rekonstruktion der Materie 94 3.3.2 Die Konstruktion der Materie 96 3.3.3 Die Rekonstruktion der Materie 101

3.4 Der Organismus 106

3.5 Zwischenbilanz: Grundzüge der Naturphilosophie von 1801 110

3.6 Die Naturphilosophie in der Freiheitsschrift und die Konstitution des Geistes 111 3.6.1 Grund und Materie 111 3.6.2 Seele und Organismus 116 3.6.3 Konstitution und Struktur des Geistes 119

3.7 Schlußfolgerungen und weiterführende Bemerkungen . . 128 3.7.1 Der interne Dualismus 128 3.7.2 Selbständigkeit und realer Begriff der Freiheit . . . 130 3.7.3 Das Böse und die Unruhe des Geistes 131 3.7.4 Scheidung in der Sphäre des Handelns 134

4 Selbstsetzung und Selbstformierung in der Freiheitsschrifi. 141

4.1 Freiheit, moralische Selbstbestimmung und intelligible Tat bei Kant 142 4.1.1 Freiheit als Autonomie und Freiheit zum Guten und

zum Bösen 144 4.1.2 Das radikal Böse und die Natur des Menschen als

zurechenbare Tat 147 4.1.3 Die Einordnung der Lehre vom radikal Bösen in die

Freiheitsschrift 151

ALBER THESEN Oliver Florig

Inhaltsverzeichnis

4.2 Das intelligible Wesen als Bestimmungsgrund freier Handlungen 156

4.3 Das intelligible Wesen als Freiheitsakt 160 4.4 Einfache Selbstbestimmung oder schrittweise Selbst­

formierung 163 4.4.1 Die problematische Evidenz für eine schrittweise

Selbstformierung 164 4.4.2 Die fehlende Evidenz für eine in sich einfache Selbst­

bestimmung 169 4.4.3 Die notwendige Offenheit der menschlichen Selbst­

formierung 172

4.5 Fazit: Die Inkonsequenz Schellings in der Freiheitsschrift . 173

5 Menschliche Selbstformierung im ersten Weltalterdruck . 178

5.1 Scheidung als zeitgenerierender Ak t 178 5.1.1 Eigentliche und uneigentliche Vergangenheit und

die drei Weltalter 178 5.1.2 Schrittweise Scheidung und Zukunft 183

5.2 Das System der Weltalter 188 5.2.1 Die Momente des göttlichen Lebens 189

5.2.1.1 Die Lauterkeit 190 5.2.1.2 Die Kontraktion und das erste Wirkliche . . . 192 5.2.1.3 Die Weisheit 194 5.2.1.4 Die Rotation 195 5.2.1.5 Zeugung, Entwicklung und die Einheit im Geist 197

5.2.2 Die organische Weltzeit 201

5.3 Menschliche Selbstformierung in Analogie zum göttlichen Leben 206

Schlußbemerkung 212

Literatur 214

Register 221

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A—

Vorwort

Die vorliegende Arbeit stellt die überarbeitete Version meiner Disser­tation dar, die von der Fakultät für Philosophie der Ludwig-Maximi l i ­ans-Universität in München i m Sommersemester 2008 angenommen worden ist.

Meine Auseinandersetzung mit Schelling war von der Frage be­stimmt, was von ihm für das Gelingen menschlichen Lebens und für ein angemessenes menschliches Selbstverständnis zu lernen sei. In der Tat kann man sein Philosophieren von diesem Interesse her verstehen: Schelling spricht vom Menschen und seiner Freiheit, vom geschicht­lichen Charakter unseres Lebens und von unserer Stellung zur Natur. Diejenigen Gedanken, die aus heutiger Sicht als besonders proble­matisch und rechtfertigungsbedürftig gelten können, wie etwa die A n -setzung eines personalen Gottes, können von diesen Themen her in plausibler Weise entwickelt werden.

Auch in dieser Hinsicht möchte ich Thomas Buchheim, dem Be­treuer meiner Dissertation herzlich danken, der mich durch sein eige­nes Philosophieren immer wieder davon überzeugt hat, daß man Schel­ling nicht nur als Gestalt der Philosophiegeschichte sehen darf, sondern als systematischen Denker ernst nehmen kann und m u ß . Er hat durch seine Anregungen, detaillierte Kri t ik und seine freundliche Begleitung ganz entscheidend zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Axe l Hutter, der meine Arbeit als Zweitgutachter begleitet hat, danke ich für zahl­reiche, spannende Debatten und seine ebenso engagierte wie wohlwol­lende und hilfreiche Krit ik. Bei Henning Ottmann und Karl-Heinz Nusser möchte ich mich für ihre langjährige Unters tü tzung bedanken und für alles, was ich von ihnen gelernt habe. Thomas Kisser sei für die intensiven Lektüreseminare zu Texten der Identitätsphilosophie ge­dankt. Markus Kartheininger und Thomas Wyrwich danke ich für die Durchsicht meines Manuskripts und ihre kollegiale Ermunterung in der Endphase meiner Arbeit. Kristina Maschek sei für ihre Hilfe bei

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 9

V o r w o r t

der Rechtschreibkorrektur herzlich gedankt. Des weiteren bin ich dankbar allen Mitphilosophierenden, mit denen mich in den vergangen Jahren eine intensive Auseinandersetzung mit Schelling verbunden hat. Der Bayerischen Graduier tenförderung und dem Evangelischen Studienwerk danke ich für die finanzielle Unters tü tzung, die sie mir gewährt haben. Die vorliegende Arbeit ist meinen Eltern gewidmet, die mich nicht nur während der Abfassung meiner Doktorarbeit in jeder Hinsicht unters tü tz t haben.

10 ALBER THESEN Oliver Florig

Einleitung

Die Formierung des menschlichen Charakters kommt in der Philoso­phie meist i m Zusammenhang mit einem normativ-praktischen Inter­esse in den Blick. Dabei wird dieser häufig als Regel oder Mot iv von Handlungen aufgefaßt. 1 Nimmt man eine solche Beziehung von Cha­rakter und Handlung an, so liegt es nahe, daraus die Forderung an den einzelnen abzuleiten, seinen Charakter in der richtigen Weise zu be­stimmen, freilich unter der Voraussetzung, daß wir seiner ganz oder teilweise mächtig sind; kurz, diese Forderung setzt die Möglichkeit der Selbstformierung des Menschen voraus. Neben diesem ethischen bzw. moralischen Interesse gibt es aber noch ein weiteres, vielleicht als the­rapeutisch zu bezeichnendes Interesse, aus dem heraus der Mensch nach einer Formung seines Charakters streben mag. In diesem Fall geht es ihm darum, einen Charakter zu gewinnen, der ein subjektiv erfüllen­des bzw. glückliches oder doch wenigstens glücklicheres Leben ermög­lichen soll. Beide Interessen können aber auch wie etwa im platonischen Verständnis der Gerechtigkeit als Gesundheit der Seele zusammen­gespannt sein. Die gesunde Ordnung der Seele ist nach Piaton Gerech­tigkeit, geht mit gerechten Handlungen einher und beinhaltet zugleich das seelische Wohlbefinden. 2 Sie ist objektiv gut und subjektiv erfül­lend zugleich. Der Ungerechte hingegen ist nicht nur objektiv schlecht, er ist auch innerlich zutiefst zerrissen und getrieben, da er die Vielzahl seiner unersätt l ichen Begierden nicht zu bändigen vermag. 3

1 Der Zusammenhang wird in unterschiedlichen Theoriekontexten natürlich höchst unterschiedlich verstanden. Vgl. etwa Kants Lehre vom intelligiblen Charakter, die wei­ter unten diskutiert werden wird, und Aristoteles Überlegungen zur Herausbildung einer tugendhaften Haltung als motivationale Voraussetzung tugendhaften Handelns. (Vgl. etwa Nikomachische Ethik II.1-3 und Eudemische Ethik II.2) 2 Piaton: Politeia 444d - 445a. 3 Vgl. die drastische Schilderung des Lebens des tyrannischen Menschen: Piaton: Poli­teia 573c - 576b.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 11

Einleitung

Bei Schelling finden sich mancherorts ähnliche Motive, die frei­lich, wie zu zeigen sein wird, in ein ganz eigentümliches metaphy­sisches Gesamtkonzept eingefügt sind. 4 Der Mensch, so Schelling im zweiten Weltalterdruck, sehnt sich nach »Gelassenheit«, nach einem »Zustand des Nichtwollens«, in dem er der »Unruhe des Lebens« ent­kommt. (WA 2 Sehr. 134) Wie aber gelangt er zu dieser Gelassenheit? In einer bestimmten Phase seines Denkens weist Schelling der Philoso­phie die Rolle zu, uns zu einem »heiteren und ruhigen Leben« zu füh­ren (WS §305, V I 548), und zwar indem sie uns »lehrt, Handlungen und Dinge nicht in Bezug auf das Subjekt«, also mit Bezug auf uns, zu betrachten. Vielmehr sollen wir von uns absehen und alles »an sich selbst und in Bezug auf die Ordnung der Natur« betrachten. In dieser Ordnung aber ist »nichts an sich selbst unvol lkommen«, sondern drückt das Göttliche, »wenn gleich in verschiedenen Graden«, aus. (WS §305, VI 545) Die Handlungen des Menschen sollen, wenn er zu dieser Erkenntnis gelangt ist, d. h. wenn sie ihn wirklich ganz und gar durchdringt, das Göttliche ausdrücken und zwar ohne Entscheidung des einzelnen Menschen, der eben keine individuelle Freiheit hat, sich für oder gegen ein Handeln aus dem Göttlichen zu entscheiden. (WS § § 3 0 8 - 3 1 1 , VI 553-560) Damit aber ist menschliche Selbstformierung unmöglich. Wi r können durch unser Entscheiden und Handeln mithin nichts dazu beitragen, ob wir zu jener erstrebten Gelassenheit gelangen oder nicht.

Dieses Ergebnis aber ist nicht Schellings letztes Wort . 5 Liest man die oben zitierte Stelle aus dem zweiten Weltalterdruck unter der Per­spektive, wie die erstrebte Gelassenheit wohl zu erreichen wäre, s tößt man auf zwei mögliche Wege: Z u m einen können wir uns von »allen begehrlichen Dingen« abziehen und so hoffen, der Unruhe zu entkom­men. Z u m anderen können wir uns »allen Begehrlichkeiten« überlas­sen. Dabei versuchen wir nach Schelling, ohne daß wir dies wüßten , ebenfalls in den Zustand des Nichtwollens zu gelangen, eben indem wir alle Begierden befriedigen. ( W A 2 Sehr. 134) Die Unsinnigkeit des zweiten Versuchs ist offensichtlich, bringt er doch allenfalls eine kurz-

4 Man kann durchaus der Ansicht sein, das praktische oder gar, wie Rosenau es nennt, soteriologische Interesse sei für Schelling leitend gewesen. Rosenau zufolge betreibt Schelling Metaphysik in soteriologischer Absicht. (Rosenau 2002. S. 52) 5 Das ist noch nicht einmal innerhalb seines Identitätssystems der Fall: Auch dort gibt es Elemente einer Theorie menschlicher Selbstformierung, die innerhalb dieses Systems freilich keinen wirklichen Ort haben. (Vgl. 1.4 u. 1.5)

12 ALBER THESEN Oliver Florig

Einleitung

fristige Beruhigung; der erste hingegen hat die Schwäche, auf ein rein negatives Verhältnis zu unserer Sinnlichkeit hinauszulaufen. A u f alle Fälle aber involviert die erst genannte Strategie eine bewußte Formung unseres Charakters, denn eine entsprechende Haltung dürfte wohl nur mit großer M ü h e und schrittweise zu erlangen sein. Tatsächlich aber hat Schelling sich weder die erste noch die zweite dieser Strategien zu eigen gemacht. Sie dienen ihm wohl nur dazu, das Gemeinsame zweier radikaler Wege herauszustellen und so die Allgemeinheit unseres Stre­bens nach einem Ausgang aus der Unruhe zu erweisen. Das von Schel­ling tatsächlich vertretene Model l menschlicher Selbstformierung überschreitet die dargelegte Alternative, indem sie der »Unruhe des Lebens« eine doppelte Fassung gibt, deren eine wir bereits kennen ge­lernt haben: Es handelt sich um die Unruhe unserer Begierden und A n ­triebe, die sich immer wieder auf anderes richten und nur zeitweilig zum Schweigen kommen. Diese Unruhe radikalisiert sich nach Schel­ling dann, wenn wir in einer zweiten, viel fundamentaleren Unruhe die falsche Entscheidung treffen, nämlich die, uns einer Überschrei tung unserer bisherigen Existenzweise zu versagen und an unserem bisheri­gen Charakter sowie seiner Bedürfnisstruktur festzuhalten. Sie wird hingegen geschlichtet, wenn wir uns dafür entscheiden, unsere bisheri­ge Existenzweise zu überwinden. In diesem Fall aber überschreiten wir zugleich den Standpunkt, auf dem die dargelegte Alternative den Raum des Möglichen auszuschöpfen scheint.

Diese Alternative besteht nämlich nur dann, wenn wir unsere Ruhe in unserem Verhältnis zur Sinnlichkeit suchen, ohne über diese hinauszukommen. Letzteres aber ist uns nach Schelling möglich. Die zweite Unruhe nämlich ist zu verstehen als Widerspruch zwischen einem Prinzip, das uns auffordert, die Ebene der Sinnlichkeit zu über­schreiten, einerseits und unserem Hang, an ihr als der bestimmenden Realität unseres Lebens festzuhalten, andererseits. Dieses Gegenein­ander stellt eine für den Menschen charakteristische Fassung eines W i ­derspruchs dar, der in aller Entwicklung, nicht nur in der menschlichen anzusetzen ist. Im Ausgang von diesem allgemeinen Antagonismus läßt sich ein Grundmodell von Entwicklung überhaupt entwickeln, das eben auch auf die Selbstformierung des menschlichen Charakters angewendet werden kann: Alles Leben, so Schelling, ist bestrebt, sich einem bestimmten Widerspruch »zu entreißen«. (WA 2 Sehr. 124) Die­ser Widerspruch ist als »Widerstreit zweyer Principien« gefaßt, und zwar als Widerstreit zwischen einem Prinzip, »das vorwärts strebt,

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

Einleitung

zur Entwicklung treibt« und einem »anhaltenden, hemmenden, der Entwicklung widerstrebenden« Prinzip. ( W A 2 Sehr. 122) W ä r e nur das erste Prinzip, so gäbe es deswegen keine Entwicklung, weil alles »im N u , ohne Absatz und Folge geschähe«. Das zweite Prinzip aber würde für sich nur »absolute Ruhe, Tod, Stillstand« bewirken. ( W A 2 Sehr. 122) Entwicklung ist also nur durch das Zusammenspiel, die Ver­einigung der beiden gegenläufigen Prinzipien möglich. In der charak­terlichen Entwicklung des Menschen, der sich nach Schelling bewußt zu den beiden Prinzipien verhalten kann, ist Gelassenheit hinsichtlich dieser beiden Prinzipien also nur zu erreichen, wenn der Widerspruch zwischen ihnen geschlichtet wird. Möglich ist dies, wie weiter unten zu zeigen sein wird, nur dann, wenn das hemmende Prinzip dem zur Ent­wicklung drängenden Prinzip untergeordnet wird. Bezogen auf das Problem unseres Umgangs mit unseren Begierden ist das Gesagte fol­gendermaßen zu konkretisieren: Die Schlichtung des Widerstreits zwi ­schen dem Prinzip, das auf Überschrei tung unserer Sinnlichkeit drängt, und unserem Hang, an ihr als unserer bestimmenden Wirklichkeit festzuhalten, m u ß zugunsten des ersten Prinzips überwunden werden. In dieser Unterordnung wird zugleich die oben dargelegte, aus unserer sinnlichen Natur entstehende Unruhe beruhigt. Warum dies der Fall ist, wird weiter unten ausführlich zu erörtern sein.

Warum freilich das eine dem anderen Prinzip untergeordnet wer­den muß , das läßt sich schon hier mit Blick auf eine für Entwicklung nötige Asymmetrie plausibilisieren. Damit menschliche Entwicklung und Entwicklung überhaupt denkbar ist, m u ß die erwähnte Schlich­tung des Widerspruchs nämlich wiederholt vollzogen werden. Eine einmalige Vereinigung der beiden Prinzipien ergäbe nur ein stehendes Produkt. Eine Folge einzelner Schritte ist aber nur aufgrund einer Asymmetrie zu erzielen: Das die Entwicklung vorantreibende Prinzip, soviel zeigt ein Blick auf Schellings Potenzenlehre, wie er sie etwa i m naturphilosophischen Teil der Darstellung meines Systems ausgeführt hat, geht über die jeweils erreichte Synthese hinaus. 6 Es läßt den W i ­derspruch wieder aufleben und zwar solange, bis das Ziel der Entwick­lung erreicht ist, wobei jeder Entwicklungsschritt als Schlichtung des Widerstreits, d. h . als Synthese der beiden Prinzipien, zu verstehen ist. Diese Figur setzt außerdem voraus, daß das auf Entwicklung drängende Prinzip in irgendeiner Weise auf das Ziel derselben bezogen ist und

6 Vgl. 3.2.2.

14 ALBER THESEN Oliver Florig

Einleitung

jeden Zwischenschritt deswegen notwendig überschreitet. Das hem­mende Prinzip m u ß also durch das auf Entwicklung drängende Prinzip wiederholt überwunden und diesem untergeordnet werden, damit Ent­wicklung möglich ist.

Im zweiten Weltalterdruck betont Schelling außerdem, daß Ent­wicklung nur denkbar wird, wenn man ein Widerspruchsloses als alle Entwicklung »durchwirkende Einheit« ansetzt. (WA 2 Sehr. 124) A l s Einheit ist es Voraussetzung des Widerspruchs und seiner Schlichtung: Der Widerspruch wie die Bewegung, die seiner Überwindung dient, wären unverständlich, »wenn nicht hinter allem Leben, gleichsam als beständiger Hintergrund, das Widerspruchlose wäre und nicht jedem Lebenden ein unmittelbares Gefühl desselben beywohnte«. ( W A 2 Sehr. 124) Bezogen auf den Menschen heißt das, daß ohne eine Ver­trautheit mit Gelassenheit der Widerspruch zwischen den beiden Pr in­zipien gar nicht erkennbar, ja noch nicht einmal möglich wäre.

Was aber ist dieses Widerspruchslose, dessen Gefühl uns bei­wohnt? Nach Schelling ist es zwar Prinzip der differenzierten Wirk ­lichkeit, kann aber nicht als dieser vollständig immanent verstanden werden. U m das leisten zu können, was es leisten soll, m u ß das Wider­spruchslose die differenzierte Wirklichkeit, die durch den Widerspruch und das Bestreben ihn zu überwinden generiert wird, notwendig über­schreiten: Das Widerspruchslose ist dem Widerspruch also nicht nur koexistent. Es ist vielmehr außerdem sowohl das, was aller Entwick­lung voraus liegt, als auch das, worauf diese zielt. Damit aber ist es der Entwicklung enthoben, ihr transzendent.

Die Grundfigur, die Schelling hier entfaltet, taucht schon in den Briefen über Dogmatismus und Kriticismus auf, und zwar in Gestalt einer Theorie synthetischer Urteile. Synthesis sei nur verstehbar auf­grund eines Widerstreits »der Vielheit gegen die ursprüngliche Ein­he i t« . 7 (Briefe A A 1,3 60) Zugleich sei Synthesis nur »unter der Vor­aussetzung, daß sie sich selbst wieder in einer absoluten Thesis endige.«8 (Briefe A A 1,3 63) Insofern eine differenzierte Wirklichkeit

7 SWI294. 8 SW I 297. Analog konzipiert Schelling den Naturprozeß in der Allgemeinen Deduk­tion. Dort m u ß das ursprünglich identische Subjekt der Natur in zwei entgegengesetzte Kräfte, eine expansive und eine kontrahierende Kraft, auseinandertreten, um eine in sich gestaltete Natur hervorzubringen, und zwar durch Synthesis beider Kräfte, die wiederum nur durch die Annahme der ursprünglichen Identität erklärbar ist. (AD § 7, A A 1,8 300, SW IV 6)

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

Einleitung

und damit auch unsere individuelle Existenz auf diesem Widerspruch beruhen, läuft das menschliche Streben nach Rückkehr in die Einheit, so Schelling in den Briefen, auf ein Streben nach Selbstvernichtung hinaus. Eben deswegen ist es nur als unendlicher Progreß denkbar.9

(Briefe A A 1,3 96 f. u. 101 ff.) Eine Selbstformierung aber, die sich nicht vollenden darf, damit der Strebende nicht i m Strebensziel untergeht, ist sicher keine zufriedenstellende Figur. Im folgenden werden wir se­hen, welche theoretischen Mit te l Schelling aufbieten m u ß , um in die­sem Punkt zu einer befriedigenden Lösung zu kommen.

Dabei wird sich zeigen, daß Schelling das skizzierte Grundmodell nicht nur auf einzelne, als Entwicklung zu verstehende Prozesse, Vor­gänge oder geschichtliche Zusammenhänge anwendet, etwa auf die i n ­dividuelle, menschliche Entwicklung, den Naturprozeß oder die Ge­schichte der Menschheit. Er denkt vielmehr einen Weltprozeß, der im ganzen dem entsprechenden Modell entsprechend strukturiert und auf ein diesen Prozeß durchwirkendes und zugleich diesem enthobenes Zentrum bezogen ist. 1 0 Der Weltprozeß ist also als Ganzer ebenfalls als Ausgang aus der Einheit und Rückkehr in dieselbe zu verstehen. 1 1

(WA Fr. Sehr. 187) Auch für diesen Gesamtprozeß gilt, daß das Ins-Ziel-kommen der Entwicklung nicht so verstanden werden darf, daß alles, was in den einzelnen Schritten hervorgetreten ist, wieder im Wider­spruchslosen unterginge. Die entfaltete Wirklichkeit ist vielmehr so mit dem Widerspruchslosen zu vermitteln, daß dieses zum einen aller Entwicklung entrückt bleibt, zugleich aber sich in Bezug auf das Ent­wickelte als einheitsstiftendes Zentrum zeigt, durch welches die Wider­sprüche der Entwicklung geschlichtet werden, ohne daß die Mannigfal-

' SWI326f. u. 331 ff. 1 0 Andernfalls wäre die Einheit des Systems und der Wirklichkeit, um die es Schelling zu tun ist, nicht zu retten. Dieser Anspruch wiederum ist nicht willkürlich. Er resultiert vielmehr aus dem Einheitsanspruch der Vernunft. Entsprechend vollendet sich jede Begriffsbestimmung nur im Kontext einer vollständigen »wissenschaftlichen Welt­ansicht«. (FS VII 336) 1 1 In unserer Darstellung des Grundmodells von Entwicklung haben wir von der Zeit­lichkeit von Entwicklung abstrahiert. Tatsächlich aber sind die hier interpretierten Text­abschnitte als Reflexion über Zeitlichkeit zu verstehen. In Bezug auf den als zeitliche Entwicklung konzipierten Weltprozeß bezeichnet Schelling das Widerspruchslose als »Wesen der Ewigkeit«, die Bewegung der wiederholten Schlichtung des Widerstreits als »Sucht nach der Ewigkeit«. (WA 2 Sehr. 124) Diese Ewigkeit ist aus Sicht der Gegen­wart Vergangenheit und Zukunft. (WA Fr. Sehr. 187 ff.) Zu Schellings Zeittheorie in der Weltalterphilosophie vgl. 5.1 und 5.2.2.

ALBER THESEN Oliver Florig

Einleitung

tigkeit des Wirklichen vernichtet würde. Der Mensch als Gattung wie als Individuum ist in diesen Prozeß eingebunden. A l s dasjenige Wesen, das sich bewußt zu den beiden genannten Prinzipien verhalten kann, hat der Menschen in diesem Prozeß eine bestimmte Aufgabe, die er in seiner Selbstformierung erfüllen soll, sprich er soll die Vermittlung der im Prozeß entfalteten Wirklichkeit mit dem Ziel des Prozesses leisten. Entsprechend der Gerichtetheit dieser Entwicklung läßt sich bei Schel­ling kein ethisch indifferentes Model l menschlicher Selbstformierung entwerfen: Sie ist entweder in einem normativen Sinn gelingend, n ä m ­lich, wenn sie als Selbstüberwindung zu charakterisieren ist, oder sie ist als mißl ingend zu beschreiben, nämlich, wenn sie als »Steigerung der Selbstheit« zu verstehen ist. (WA 1 Sehr. 97) In diesem Fall aber schei­tert sie nach Schelling notwendig und ist, insofern der Mensch in ihr das seine Antriebe organisierende Zentrum verliert, eher als Selbstdefor­mation zu bezeichnen. Der Mensch fällt dann in jene oben beschriebene Unruhe, der er nur durch Selbstüberwindung entrinnen kann.

Wollen wir Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung verste­hen, so müssen wir die skizzierte Aufgabe des Menschen und seine Eingebundenheit in den Weltprozeß näher untersuchen. Dabei werden wir uns im ersten Kapitel der 1804 erschienenen Schrift Philosophie und Religion zuwenden, in der Schelling menschliche Selbstformie­rung zuerst systematisch und i m Rahmen eines metaphysischen Ge­samtentwurfs behandelt hat. Dabei setzt er freilich die im Grund­modell von Entwicklung enthaltenen Mit te l nicht ein und bleibt auch sonst hinter den Erfordernissen eines angemessenen Modells mensch­licher Selbstformierung zurück. Die genaue Interpretation und Kri t ik der Schrift von 1804 erlaubt daher, die theoretischen Voraussetzungen des ausgereiften Modells menschlicher Selbstformierung zu klären, zu dem Schelling erst in den Weltaltern gelangt. Ein solches Model l setzt, wie wir noch näher sehen werden, (1) einen relationalen Begriff von Identität voraus, der (2) mit einer dynamischen Systemarchitektur ver­bunden ist. Diese beiden Bedingungen sind Voraussetzungen des dar­gelegten Grundmodells von Entwicklung überhaupt . Ein angemessenes Modell menschlicher Entwicklung m u ß außerdem (3) der Kategorie des Willens eine zentrale Rolle e inräumen und (4) geeignet sein, einen angemessenen, nicht verharmlosenden Begriff des Bösen zu formulie­ren. Im zweiten Kapitel wird zu zeigen sein, inwiefern Schellings Den­ken in der Freiheitsschrift die im Rahmen unserer Krit ik seines Werkes

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

Einleitung

von 1804 formulierten Bedingungen eines angemessenen Modells menschlicher Selbstformierung erfüllt. Dabei werden wir uns zunächst auf die Untersuchung der Gesamtkonzeption dieser Schrift und auf die Situiertheit des Menschen in dieser Konzeption konzentrieren. Diese Untersuchung wird zeigen, daß Schelling in der Freiheitsschrift alle denkerischen Mit te l gewonnen hat, die für eine angemessene Theorie der charakterlichen Selbstbestimmung und Selbstbildung des M e n ­schen nötig sind. Ob er diese Mi t te l 1809 aber für eine solche Theorie wirklich in fruchtbarer Weise einzusetzen weiß, wird i m vierten Kapi­tel zu klären sein. Zuvor jedoch werden wir uns im dritten Kapitel der Evolution des menschlichen Geistes aus der Natur zuwenden. Dabei werden wir uns unter anderem auf die Naturphilosophie stützen, wie Schelling sie in der Darstellung meines Systems ausgeführt hat. Da das erwähnte Grundmodell von Entwicklung, das Schelling seiner Welt­alterphilosophie zugrundelegt, eine Weiterentwicklung der naturphi­losophischen Potenzenlehre darstellt, lassen sich einige Elemente, die Schelling an der zitierten Stelle aus dem zweiten Welt alt er druck nicht eigens erwähnt, unter Rückgriff auf die Schellingsche Naturphiloso­phie ergänzen. Umgekehrt rechtfertigt diese Kongruenz die Erwar­tung, daß aus Schellings Naturphilosophie einiges darüber zu lernen ist, wie Schelling Entwicklung i m allgemeinen und die menschliche Selbstformierung im besonderen denkt. In diesem Zusammenhang wird außerdem die für Schelling ab 1809 zentrale Unterscheidung »zwischen dem Wesen, sofern es existirt, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist«, in ihren verschiedene Anwendungen ge­nau untersucht. (FS VII 357) Das vierte Kapitel bündel t die Ergebnisse des zweiten und dritten Kapitels und wendet sich der Frage zu, wie Schelling menschliche Selbstformierung in der Freiheitsschrift kon­zipiert hat. Dabei wird sich zeigen, daß er in diesem Werk an der für seine identitätsphilosophische Phase charakteristischen Trennung ei­ner zeitlosen, intelligiblen Welt von einer zeitlichen, kausal verfaßten, empirischen Welt festhält. Damit handelt er sich das Problem ein, eine außerzeitliche Entwicklung denken zu müssen. Diese Schwierigkeit läßt sich, wie i m fünften Kapitel zu zeigen sein wird, im Rahmen der Weltalterphilosophie lösen. Besondere Bedeutung kommt dabei dem ersten Weltalterdruck zu, da Schelling sich dort ausführlich zur charak­terlichen Selbstbestimmung des Menschen äußer t . 1 2 Deswegen soll

Die nach der Freiheitsschrift verfaßten Texte sind, mit Ausnahme der gegen Jacobi

ALBER THESEN Oliver Florig

Einleitung

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung, wie sie sich in der Weltalterphilosophie vollendet, anhand dieses Fragments dargestellt werden. 1 3

Hier soll nicht behauptet werden, die Denkbarkeit menschlicher Selbstformierung sei das Leitmotiv der Schellingschen Denkbewegung zwischen 1804 und 1811, also zwischen Philosophie und Religion und dem ersten Weltalterdruck, gewesen. Für die Schriften von 1804 und 1809 steht vor allem die Frage nach der menschlichen Freiheit und dem Bösen i m Vordergrund. Dabei behandelt Schelling aber mehr oder we­niger explizit auch die Selbstbestimmung des Menschen hinsichtlich seiner Eigenschaften und der Ar t und Weise seines Auftretens, d.h. seines Handelns. In diesem Zusammenhang steht auch der mit der Freiheitsschrift vollzogene Übergang zu einem Denken, das den er­wähnten vier Voraussetzungen eines angemessenen Modells mensch­licher Selbstformierung entspricht. Hierzu gehört unter anderem die Verschiebung von einem an epistemischen Kategorien orientierten Denken, wie es das Identi tätssystem kennzeichnet, zu einer Philoso­phie, die das Wollen, Entscheiden und Handeln Gottes und des M e n ­schen in den Mittelpunkt stellt. Diese neue Phase des schellingschen Philosophierens setzt sich mit den Weltalterfragmenten fort, freilich ohne daß Schelling die menschliche Entwicklung dort allzu ausführlich diskutiert hätte. Allerdings erlaubt die ab 1809 verwendete Methode des Anthropomorphismus Aussagen über das Leben Gottes und den Weltprozeß auf den Menschen zu übertragen. M a n kann also sagen, daß die vorliegende Arbeit keine Frage an Schelling richtet, die diesem völlig fremd gewesen wäre. Sie ist entsprechend als Sichtbarmachung

gerichteten Streitschrift »Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen«, nicht als abgeschlossene Werke zu verstehen: Die Stuttgarter Privatvorlesungen gehen auf eine Reihe von privaten Vorträgen zurück, die Schelling 1810 in Stuttgart gehalten hat. Der in der durch den Sohn vorgenommenen Werkausgabe (SW) zu findende Text wurde von diesem anhand einer Mitschrift Georgiis und der Notizen seines Vaters zusammen­gestellt. (Veto 1973 Ed. S. 9 f.) Die Weltalterdrucke hingegen wurden von Schelling vor der Veröffentlichung zurückgezogen. 1 3 Dazu kommt, daß der erste Weltalterdruck anders als die Folgeversionen das Ganze der göttlichen Offenbarung in der Welt in den Blick bekommt. Für einen Vergleich der drei Drucke siehe die Einleitung von Manfred Schröter in den von ihm herausgegebe­nen und in den Nachdruck der Sohnesausgabe eingefügten Nachlaßband. (Schröter 1966 Ed. S. XVff.)

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A— 19

Universi tät Mönchen

Einleitung

eines bei Schelling selbst selten explizit, häufig aber implizit behandel­ten Themas zu verstehen.

Diese Sichtbarmachung rückt nicht nur einen Aspekt des schel­lingschen Denkens in den Vordergrund, der von der bisherigen Schel-lingforschung weitgehend unbearbeitet gelassen wurde, sie ist außer­dem von systematischem Interesse.14 Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung vereinbart nämlich, wie zu zeigen sein wird, i m Ge­danken einer Grundentscheidung für Gut oder Böse eine Form des ethischen Rigorismus, wie er für Pflichtethiken kennzeichnend ist, mit einem modifizierenden Umgang des Menschen mit seinem Cha­rakter, wie ihn Verfechter von Tugendethiken betonen. Dabei hält Schelling an zentralen Einsichten eines Piaton oder eines Aristoteles fest, indem er Erfüllung und Glückseligkeit an die ethisch richtige Grundorientierung und ein gelingendes Umgehen des Menschen mit sich selbst bindet.

1 4 Eine Ausnahme bildet die Arbeit von Shibuya. (Shibuya 2005) Was hier als »Selbst­formierung« bezeichnet wird, wird von Shibuya ebenfalls mit Blick auf Schelling unter dem Titel »Selbstbildung der Persönlichkeit« verhandelt. Die Arbeit von Shibuya hat u. a. das Verdienst, die Bedeutung der Niethammer-Rezension für die Genese des Kon­zepts der Selbstbildung bei Schelling zu beleuchten. Leider geht sie nicht mehr ausführ­lich auf die Vollendung dieses Konzeptes in der Weltalterphilosophie ein, sondern schließt mit einer Interpretation der entsprechenden Ausführungen in den Stuttgarter Privatvorlesungen. Dabei thematisiert sie außerdem überwiegend die Selbstbildung Gottes.

20 ALBER THESEN Oliver Florig

1 Menschliche Selbstformierung in Philosophie und Religion

Die Schrift Philosophie und Religion von 1804 hat unter anderem die Aufgabe, die Denkbarkeit menschlicher Freiheit und Tugend innerhalb des von Schelling bis dato vertretenen philosophischen Systems nach­zuweisen. Schelling antwortet damit auf Eschenmayer und dessen Auf­fassung, die Philosophie müsse um der Freiheit, der Tugend und des Handelns willen um eine Sphäre des Glaubens ergänzt werden, da die­se Gegenstände nicht in ein selbstgenügsames philosophisches System aufgenommen werden könn ten . 1 (Übergang § § 5 6 - 5 8 , 47 ff. u. §86 , 89 f.) Es verwundert daher nicht, daß in Philosophie und Religion be­reits Ansätze zu einer Theorie menschlicher Selbstformierung zu fin­den sind. Diese Ansätze sollen hier untersucht werden. Dazu wird es freilich notwendig sein, das Ganze der Schrift in den Blick zu nehmen. Wie erwähnt wird menschliche Entwicklung nämlich in Philosophie und Religion vor allem hinsichtlich ihres Ortes und ihrer Rolle in der Selbstobjektivierung des Absoluten thematisiert.

1.1 Die epistemischen Sphären und die Idee des Absoluten

In der Einleitung zu Philosophie und Religion findet sich eine Auf­gabenbestimmung der Philosophie, der zufolge sie die Lehre vom A b ­soluten und die Lehre von der »ewigen Geburt der Dinge und ihrem Verhältniß zu Gott zum vornehmsten, ja einzigen Inhalt« hat. Die Ethik als »Anweisung zum seligen Leben« müsse »auf diese«, d. h. auf die Lehre von der Abkunft der Dinge und ihr Verhältnis zu Gott, ge­gründet werden. 2 (PR V I 17) Schelling entwickelt die erwähnte Lehre

1 Eschenmayer äußert diese Kritik in seinem 1803 in Erlangen erschienen Werk »Die Philosophie in ihrem Uebergang zur Nichtphilosophie«. 2 Schelling spricht hier von den »Mysterien der Philosophie«. Diese Formulierung be-

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

Menschliche Selbstformierung in Philosophie und Religion

in einer Weise, die den epistemischen Kategorien verpflichtet bleibt, die seine identitätsphilosophische Phase insgesamt kennzeichnen. 3

Der Mensch erscheint in diesem Denken als Bürger zweier Welten, die jeweils als Sphären des Erkennens zu charakterisieren sind. Dabei bleibt die eine der beiden, die Sphäre der Sinnlichkeit und des Verstan­desdenkens, eine Welt des Scheins und der Nichtigkeit. Daneben kennt Schelling ein absolutes Erkennen, das er auch als Selbsterkennen des Absoluten beschreibt. Beide Erkenntnisweisen werden von Schelling so aufeinander bezogen, daß Sinnlichkeit und Verstandesdenken qua Absonderung gesetzte degenerative Formen des Erkennens darstellen, die gemeinsam eine Erkenntnissphäre ausmachen, während wir i m ab­soluten Erkennen von dieser Sphäre frei werden und zum Organ des Selbsterkennens des Absoluten werden.

Die Abwertung der ersten Sphäre als scheinhaft und nichtig greift einen Grundtenor der Identitätsphilosophie wieder auf, nämlich die Krit ik an unserem Alltagsbewußtsein und an erkenntnistheoretischen Standpunkten, die mit diesem darin übere ins t immen, daß sie durch die Entgegensetzung von Subjekt und Objekt, Idealität und Realität ge­kennzeichnet sind. Indem ich mich unserem All tagsbewußtsein gemäß als erkennendes Subjekt i m Gegensatz gegen das erkannte Objekt be­greife, verstehe ich mich als einzelner unter anderen einzelnen. Für unser Wissen hat das eine Reihe von Konsequenzen, deren einige hier erwähnt seien: Das »gemeine Wissen«, d. h. das Wissen auf dem Stand­punkt unseres Alltagsbewußtsein, ist beschränkt auf eine endliche,

darf einer Klärung durch den Kontext: Unmittelbar zuvor hatte Schelling von einer der Epoche Piatons noch vorausliegenden Zeit gesprochen, in welcher die Philosophie »in Mysterien bewahrt wurde«. (PR VI 16) Diese Einheit von Philosophie und Mysterien, sowie die Inhalte der ursprünglich in Mysterien gekleideten Philosophie seien verloren gegangen. (PR VI 16 f.) Eine Nähe der Philosophie zu den Mysterien wird auch im Bruno immer wieder betont. Die Beratungen in diesem Dialog, als dessen inhaltliche Fortsetzung Schelling Philosophie und Religion präsentiert (PR VI 13), werden in den Kontext eines Gesprächs über die Einrichtung von Mysterien gestellt. (Bruno IV 217, 232 ff.) Die zentrale Passage betreffend die Idee des Absoluten wird entsprechend einge­leitet, mit der Frage, welche Lehre den einzurichtenden Mysterien zugrundegelegt wer­den solle. (Bruno IV 234.) Die Inhalte der Mysterien sind also die zentralen Inhalte der Philosophie, wie sie Schelling in Philosophie und Religion darstellt. 3 Daß Philosophie und Religion der Grundkonzeption nach noch der Identitätsphiloso­phie angehört, kann hier nicht ausführlich gezeigt werden. (Vgl. hierzu Florig 2008) Charakteristisch für das Identitätssystem ist u. a. der Gedanke der als Selbsterkennen konzipierten Spiegelung des Absoluten in einer Totalität von Gestalten seiner selbst. Dieser Grundgedanke ist auch für Philosophie und Religion bestimmend.

22 ALBER THESEN Oliver Florig

D i e epistemischen Sphären und die Idee des Abso lu ten

durch die Sinnlichkeit vermittelte Erkenntnis, welche qua Subsumtion auf die Unendlichkeit des Begriffs bezogen wird. (FD IV 340) Der Be­griff ist dem endlichen, angeschauten Gegenstand äußerlich. Dieser drückt den Begriff nicht vollständig aus. Er wird nicht vom Begriff, sondern von anderem Endlichen bestimmt. (Bruno IV 249 ff.) Die Be­stimmtheit durch anderes Endliches ist generell als Relativität zu ver­stehen: Ein einzelner Gegenstand ist in dieser Perspektive hinsichtlich seiner Eigenschaften bestimmt durch seine Stellung im Zusammen­hang endlicher Gegenstände. 4 ( D M S §36, A A L 1 0 132, W S § 6 3 , V I 216 f.) Eine der Formen dieser Bestimmtheit ist die kausale Bedingtheit jedes endlichen Gegenstandes. (FD IV 342 ff.)

Schellings Krit ik an dieser Perspektive und insbesondere am Sub­jekt-Objekt-Gegensatz ist zunächst erkenntnistheoretischer Art , wird dann aber derart aufgeladen, daß er in Philosophie und Religion als Konstituens der gefallenen Welt verstanden wird. Damit ist schon an­gedeutet, daß Schelling das Böse hier letztlich epistemisch und damit unzureichend faßt. Doch sei zunächst kurz auf die i m eigentlichen S in­ne erkenntnistheoretische Kri t ik des erwähnten Gegensatzes eingegan­gen. Dieser macht nach Schelling nämlich jede wahre Erkenntnis der Dinge unmöglich. (Bruno IV 219 ff., FD IV 339 ff.) Besonders klar und systematisch äußer t er diesen Aspekt seiner Kri t ik im einleitenden Teil des Würzburger Systems. Dort diskutiert er verschiedene erkenntnis­theoretische Modelle und mißt sie an dem schon i m einleitenden Para­graphen der Darstellung für die Vernunfterkenntnis erhobenen A n ­spruch, die Dinge so zu erkennen, wie sie an sich sind. 5 ( D M S § 1 , A A L 1 0 116 f.) Wenn man, so Schelling, i m Wissen tatsächlich einen Unterschied zwischen wissendem Subjekt und gewußtem Objekt zuge­be, müsse man die Wahrheit des Wissens in eine Übere ins t immung beider setzen. 6 (WS § 1, V I 137 ff.) Dazu aber müsse man ein Verhältnis zwischen beiden annehmen. Dieses Verhältnis könne man dann erstens so verstehen, daß das Subjekt durch das Objekt bestimmt werde. In diesem Fall aber werde das Objekt nur qua Wirkung erkannt, die es auf das Subjekt ausübe, mithin nicht so, wie es an sich selbst sei. Zwei ­tens könne man das Verhältnis so konzipieren, daß das Objekt durch

4 DMS SW IV 130 f. 5 SWIV115. 6 Siehe hierzu Rang 2000. S. 67 ff.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

Menschliche Selbstformierung in Philosophie und Religion

das Subjekt absolut oder relativ bestimmt werde. Werde es absolut durch das Subjekt bestimmt, so sei das Objekt als Objekt eben gar nichts, sondern nur als Wirkung des Subjekts. Werde es nur relativ be­stimmt, dann werde es nur insoweit gewußt , als es durch das Subjekt bestimmt sei. In keinem Fall gebe es ein Wissen des Objekts als Ob­jekt. 7 (WS § 1 , VI 138 f.)

Schellings Diskussion der Unmöglichkeit eines Wissensbegriffs, der die Wahrheit in die Übere ins t immung des erkennenden Subjekts mit einem ihm äußerlichen Objekt setzt, dient dem indirekten Beweis der Identität von Erkennendem und Erkanntem als Voraussetzung allen Wissens: Dasjenige, das weiß, so Schelling, m u ß auch dasjenige sein, das gewußt wird. (WS § 1, VI 137ff.) Diese Voraussetzung aber ist nach Schelling in der Idee des Absoluten ausgedrückt:

»Aber eben diese erste Voraussetzung aller Wissenschaften, jene wesentliche Einheit des unbedingt Idealen und des unbedingt Realen ist nur dadurch möglich, daß dasselbe, welches das eine ist, auch das andere ist. Dieses aber ist die Idee des Absoluten, welche die ist: daß die Idee in Ansehung seiner auch das Seyn ist. So daß das Absolute auch jene oberste Voraussetzung des Wissens und das erste Wissen selbst ist.« 8 (Methode V 216)

Die Idee des Absoluten ist also erstes Wissen und zwar als Wissen des Wissens, »Idee aller Ideen«. (Bruno IV 243) Damit hat sie die Form einer Identität der Identität: Sie ist das Selbsterkennen der Identi tät . 9

Dieses Selbsterkennen läßt sich als Spiegelung beschreiben, in welcher das Absolute sowohl Urbild als auch Abbild seiner selbst ist. (Bruno IV 237 ff.) Indem das Abbild dem Urbild aber völlig entspricht, es sich in seinem Abbild und sich zugleich als Einheit von Urbi ld und Abbi ld er­kennt, ist das Absolute außerdem die Einheit beider i m Selbsterken­nen, also in der Idee seiner selbst. (Bruno IV 243, 252) Wenn man das Absolute also hinsichtlich der formalen Struktur des Selbsterkennens betrachtet, so sind Urbild und Abbild einander entgegengesetzt. Diese

7 Schelling nennt noch ein drittes Verhältnis: die Wechselwirkung. Diese dritte Varian­te löst das Problem natürlich nicht, sondern wird vielmehr von den Einwänden gegen die ersten beiden Varianten getroffen. (WS § 1, VI 139 f.) 8 Vgl. außerdem: FD IV 370 f.

» Von einer Identität der Identität als Selbsterkennen derselben spricht Schelling schon in der Darstellung, in welcher er freilich noch nicht über das Konzept der Idee verfügt. (DMS §§16 f., A A 1,10 122 f., SW IV 121 f.) Der Sache nach ist die Idee des Absoluten jenes Selbsterkennen der Identität.

24 ALBER THESEN Oliver Florig

Die Selbstobjektivierung Got tes in ideell differenten Gestalten seiner selbst

Entgegensetzung aber ist bloß ideell. Reell oder dem Wesen nach sind beide identisch. 1 0 (Bruno IV 249)

1.2 Die Selbstobjektivierung Gottes in ideell differenten Gestal­ten seiner selbst

Die im letzten Abschnitt dargelegte Beschreibung der Idee des Absolu­ten ist, so Schelling in Philosophie und Religion, ein Notbehelf: Die Idee des Absoluten kann man nicht von »außenher«, also durch die Beschreibungen, welche der Philosoph von ihr gibt, gewinnen. In der Beschreibung der Idee nämlich bleibt man notwendig den Gegensätzen des Verstandesdenkens verhaftet und kann dann das Absolute nur als Produkt einer Identifizierung bzw. Indifferenzierung dieser Gegensät­ze begreifen. (PR V I 21 ff.) Voraussetzung alles Erkennens ist vielmehr, daß die Idee des Absoluten in uns lebendig geworden ist. (PR VI 27) Die Lebendigkeit der Idee ist das absolute Erkennen bzw. das Vernunft­erkennen selber: Die Idee ist die Vernunft. (Aphorismen VII 149) Streng genommen kann man dann nicht mehr sagen, daß wir es sind, die erkennen. Sofern wir nämlich vernünft ig erkennen, ist unser Er­kennen bloßes Organ des Selbsterkennens des Absoluten und mit dem Absoluten unmittelbar eins. (WS §4 , V I 142 f.) U m die Unmittel­barkeit dieser Erkenntnis des Absoluten auszudrücken, bezeichnet sie Schelling auch als »intellektuelle Anschauung« . 1 1 (PR VI 23)

1 0 Es sei erwähnt, daß Schelling die Form des Absoluten von dessen Wesen unterschei­det, welches weder real noch ideal sei und von dem nur Identität ausgesagt werden könne. (Bruno IV 249 u. 252, FD IV 375 u. 404 f.) Die Form aber ist vom Wesen nur ideell unterschieden und zwar durch den ideellen Gegensatz von Idealität und Realität in der Form. (FD IV 380) Indem dem Wesen nach Idealität und Realität identisch sind, ist auch die Form mit dem Wesen völlig eins, so daß die erwähnte Identität auch als Einheit von Wesen und Form zu verstehen ist. (Bruno IV 249, FD 380 f.) Die Unterscheidung von Wesen und Form gehört also der Form an. Zugleich wird die wesentliche Einheit durch die Form des absoluten Erkennens als Identität in der Form erkennbar. (Vgl. Sandkaulen 1990. S. 165 f.) Zu den verschiedenen Bestimmungen der Identität bzw. der Indifferenz in verschiedenen Schriften Schellings vgl. Rang 2000. Abschnitte I 2 u. 4. 1 1 Auf den notorisch schwierigen Begriff der intellektuellen Anschauung soll hier nicht ausführlich eingegangen werden. (Für eine Interpretation desselben siehe Buchheim 1990, Görland 1973, Schulz 1975. S. 112 ff.; zur intellektuellen Anschauung bis 1800 siehe Fukaya 2006) Inwieweit das, was Schelling in Philosophie und Religion als intel­lektuelle Anschauung bezeichnet, identisch ist mit dem Vernunftstandpunkt in der Dar-stellung (DMS § 1 , A A 1,10 116f„ SW IV 114f.) sei hier nicht näher erörtert. (Vgl.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

Menschliche Selbstformierung in Philosophie und Religion

In Philosophie und Religion betont Schelling die Unmittelbarkeit der Einheit der intellektuellen Anschauung und des Absoluten. Er ant­wortet auf diese Weise auf einen Vorwurf Eschenmayers, die Identität von Erkennendem und Erkanntem lasse sich nur von einem Stand­punkt jenseits des Erkennens, nämlich vom Glauben her, gewinnen. 1 2

Erkennendes und Erkanntes können Eschenmayer zufolge nur durch Begrenzung integriert werden. (Übergang §38 , 29 f.) Eine solche Be­grenzung aber könne nur von einem Standpunkt jenseits des Erken­nens aus erfolgen, denn »um überhaupt eine Gränze zu finden, m u ß ich darüber hinausgehen«. (Übergang, Vorbericht, o. S.) Jenseits des Er­kennens aber gehe das Erkennen in Glauben über. (Übergang § 38,29 f.) Gegen diese Krit ik führt Schelling, wie gesagt, die völlige Differenzlo-sigkeit des Vernunfterkennens ins Feld, in welchem »alle Sehnsucht, die aus dem Widerstreit des Subjekts und Objekts entspr ingt«, auf­gehoben sei. (PR V I 18 f.) Jeder andere Standpunkt, auch der des Glau­bens, beruhe auf diesem Widerstreit und könne eben deswegen keine bessere Erkenntnis liefern als die Philosophie. Diese besitze »in klarem Wissen und anschauender Erkenntniß, was die Nichtphilosophie im Glauben zu ergreifen meint.« (PR VI 18) Anders als Eschenmayer geht Schelling, wie gesagt, nicht von der Differenz aus und fragt dann nach der Möglichkeit der Einheit, sondern setzt ein differenzloses, absolutes Erkennen als Organ der Philosophie an. Soweit Schellings Widerle­gung des dargelegten Vorwurfs.

Hier aber stellt sich die Frage, auf welche Weise in diesem Erken­nen mehr als nur das Eine erkannt werden kann. Oder anders gefragt, wie kann Schelling die Abkunft der Dinge aus dem Absoluten denken? Diese Frage trifft den zentralen Punkt der Identitätsphilosophie: Sie fragt letztlich nach dem Erfolg des Schellingschen Versuchs, das hen kai pan zu denken. 1 3 Eschenmayer zufolge m u ß Schelling i m Rahmen

hierzu Buchheim 1992. S. 74ff.) Es sei nur erwähnt, daß Schelling in Philosophie und Religion »intellektuelle Anschauung« und »Vernunft« synonym verwendet. Beide scheinen hier eher den Charakter eines unmittelbaren Inneseins zu haben, denn den eines Organs der Konstruktion, wie es die intellektuelle Anschauung etwa im Konstruk­tionsaufsatz oder die Vernunft in der Darstellung haben. 1 2 Zur Auseinandersetzung zwischen Schelling und Eschenmayer siehe Florig 2008, Gilson 1988 S. 17 ff., Jantzen 1994 und Roux 2005 Ed. Philosophie und Religion wird von Schelling selber als Antwort auf Eschenmayers Schrift von 1803 präsentiert. (PR VI 13) 1 3 Zahlreiche Einwände gegen Schellings Philosophie treffen denn auch genau diesen Punkt. Vgl. etwa Hegels Polemik gegen das »Hinunterwerfen« des Bestimmten »in den

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Die Selbstobjektivierung G o t t e s in ideell differenten Gestalten seiner selbst

seiner Philosophie entweder das Absolute sich selbst differenzieren las­sen oder ein differenzierendes Prinzip neben dem Absoluten anneh­men. Im zweiten Fall bliebe ein absoluter Gegensatz stehen. Im ersten Fall müß te das Absolute die Differenz in sich tragen, mithin getrübt sein. Es könnte dann also nicht als differenzlose Einheit verstanden werden. (Übergang § 73, 69 ff.) Schelling antwortet auf diesen Vorwurf, indem er zunächst die Frage nach der Herkunft wirklicher Differenz von der Frage nach der Möglichkeit des Selbsterkennens des Absoluten unterscheidet. (PR VI 32) Im Selbsterkennen des Absoluten nun ist noch keine wirkliche Differenz. M i t Hilfe des Selbsterkennens gewinnt Schelling vielmehr lediglich ideell differente Gestalten des Einen, die Ideen.

Dabei setzt Schelling zunächst nur eins voraus: die intellektuelle Anschauung. (PR V I 29) Sie ist schlechthin einfach und absolut, d. h. sie steht außer jeder Relation. Wenn Schelling sagt, das in ihr Erkannte sei nur als »reine Absolutheit« auszusprechen, so ist damit gemeint, daß in ihr kein ihr äußerliches Objekt gegeben ist. 1 4 (PR V I 29) M i t Bezug auf die intellektuelle Anschauung als »lebendig gewordene Idee des Absoluten« (PR V I 27) unterscheidet Schelling drei Momente: Das erste, freilich nur ideell und bezogen auf die Form absonderbare M o ­ment in dieser Idee ist das relationslose, in sich einfache Erkennen, das »schlechtin=Ideale«. l s (PR VI 29 f.) Daß in diesem Erkennen etwas er­kannt wird, das Reale nämlich, das freilich sein Sein i m und durch das Erkennen hat, bezeichnet Schelling als Form:

Abgrund des Leeren« (Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes, G W Bd. 9, S. 17), eine Polemik, die Hegel freilich nicht auf Schelling selber bezogen wissen will. (Brief vom 1.5.1807, ediert in: Fuhrmans, Horst: Briefe und Dokumente. Bd. 3. Bonn 1975. S. 432) Eine ähnlich Kritik an Schellings »verklärte(m) Spinozismus« äußert auch Jacobi (Jacobi, F. H. : Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung, Jacobi Werke Bd. 3, S. 76 f. u. 98 ff.) Schlegel wirft dem Pantheismus mit Bezug auf das I-Ging vor, aus einem bloßen »Combinationsspiel aus Einem Positiven und Negativen« könne keine Individualität gewonnen werden. (Schlegel, Friedrich: Über die Sprache und Weisheit der Indier - Ein Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde. Heidelberg 1808. S. 143 ff.) 1 4 Bezüglich der Funktion der intellektuellen Anschauung in Philosophie und Religion, in der Schelling eine positive Gegebenheit des Absoluten ansetze, siehe Buchheim 1992. S. 74 ff.; vgl. hierzu Rang 2000. S. 26 f. sowie Fußn. 27. 1 5 Vgl. Blanchard 1979. S. 429 ff. Blanchard betont, daß in Philosophie und Religion zunächst die Erkenntnis des Absoluten selber primär, das Sein des Absoluten dagegen sekundär sei. Er sieht im Übergang über die Form zum Realen ein Auseinanderlegen der Selbstaffirmation in drei Momente.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 27

Menschliche Selbstformierung in Philosophie und Religion

»Diese Form ist, daß das schlechthin=Ideale, unmittelbar als solches, ohne also aus seiner Idealität herauszugehen, auch als ein Reales sey.« (PR VI 30)

Das Reale und die Form sind die anderen beiden von Schelling unter­schiedenen Momente. Die Form ist, wie Schelling sagt, »unmittelbarer Ausdruck des schlechthin=Idealen« oder die Explikation der Absolut­heit. 1 6 (PR VI 32) Die Form wird nicht qua Handlung oder Tätigkeit gesetzt, sondern fließt aus, wie das Licht der Sonne: ohne Bewegung oder Veränderung dessen, aus dem sie fließt. (PR V I 32 f.) Das in der Form gesetzte, von Schelling auch als »Gegenbild« (PR V I 32) bezeich­nete Reale wiederum, ist eine Folge der Form. (PR V I 30) In diesem Folgeverhältnis wird keine reale Differenz gesetzt: Form und Reales sind nach Schelling nur ideell bzw. begrifflich differente, unzeitliche Folgen des schlechthin-Idealen. (PR V I 30 u. 32 f.) Trotz dieser M i n i ­mierung der Differenz als lediglich ideeller bezeichnet Schelling die Form wie das Reale als andere Absolute. (PR V I 31) Die Form und das Reale, das Gegenbild, sind selbständig, und absolut, denn »das Absolu­te kann nicht Idealgrund von irgend etwas seyn, das nicht gleich ihm absolut wäre.« (PR V I 31)

Eben als Absolutes ist das Gegenbild seinerseits produktiv und wird in einer Unendlichkeit von Formen, den Ideen, objektiv, deren jede wiederum neue Ideen produziert. (PR V I 33 ff.) Das Gegenbild bzw. die Ideen werden von Schelling auch unter Rückgriff auf den Bruno als Selbstobjektivierung des schlechthin-Idealen in einem Spie­gelbild beschrieben. (Bruno IV 23 f., PR V I 32) Dabei lasse sich, so Schelling gegen Eschenmayers Vorwurf, er denke ein Sich-Teilen des Absoluten (Übergang §73 , 69 ff.), keine »vol lkommenere Identität denken, als welche zwischen dem Gegenstand und seinem Bild ist«. (PR VI 33) Damit beschreibt Schelling das Verhältnis des schlechthin­idealen zum Realen eben in der Weise, in der er im Bruno die Struktur der Idee beschrieben hatte: ideelle Differenz bei reeller Identität. (Bru­no IV 243 f. u. 249) Eschenmayers Vorwurf, er denke ein Sich-Teilen bzw. Sich-Differenzieren des Absoluten, das die Differenz deswegen ursprünglich in sich tragen müsse, begegnet Schelling, so der zweite Teil seiner Verteidigung, indem er die Identität auf das schlechthin­ideale einschränkt. (PR V I 32) Der erste hatte ja darin bestanden, daß

Vgl. Jantzen 1994. S. 86. Schelling bezeichnet die Form auch als »Absolutheit«. (PR VI 30) Zur Absolutheit gehört, daß das Absolute eben nur durch sich selber ist. Zwei­fellos kommt in der Form also zum Ausdruck, was Absolutheit ist.

ALBER THESEN Oliver Florig

Prälapsarische Freiheit und Sündenfall

er die Möglichkeit des Selbsterkennens des Absoluten von der Wi rk ­lichkeit der Differenz entkoppelt hatte. (PR VI 32) Im Selbsterkennen nun sind, wie Schelling Eschenmayer zugibt, in gewisser Weise Diffe­renzen gesetzt: Form und Gegenbild aber sind lediglich ideell differente Folgen des Einen. (PR V I 30) Auch i m Gegenbild ist noch keine wirk­liche Differenz. Die Differenzen der Ideen untereinander sind vielmehr lediglich potentiell. (PR V I 33 f.) Jede Idee ist nicht Teil des Absoluten, sondern das ganze Absolute angeschaut in einer bestimmten Gestalt. (PdK V 370, FD IV 405)

Das Konzept der Idee hat in den identitätsphilosophischen Schrif­ten ab 1802 die Funktion, zwischen Einheit und empirischer Vielheit zu vermitteln. Von der Einheit des Absoluten aus gesehen, ermöglicht es eine Vielheit außerwesentl icher Bestimmungen, unter denen das Eine betrachtet wird. Wie wir gleich sehen werden, fungieren die Ideen au­ßerdem als Ermöglichungsgrund des Hervortretens wirklicher, d.h. empirischer Differenzen, die paradoxerweise zugleich als bloß schein­haft charakterisiert werden. Von der Mannigfaltigkeit der empirischen Dinge aus gesehen, bezeichnet der Begriff der Idee eine Perspektive, in welcher dieser Schein aufgehoben wird, indem das einzelne sich im Absoluten auflöst: Dadurch nämlich, daß man ein Ding als wirklich geschieden von anderen einzelnen Dingen betrachtet, d. h. unter Abse­hung von jedweder Relation, wird einem das Besondere an den end­lichen Dingen zu einer bloßen Wiederholung der absoluten Position. (Propädeutik V I 105) Es als absolut zu betrachten, heißt, das Ding nicht als bestimmt durch anderes Endliches zu betrachten, sondern als »un­endliche Position von sich selbst«. Besonderheit ist dann keine Nega­tion des Allgemeinen, sondern eben absolute Position. (Aphorismen VII162) Position von sich selbst zu sein, macht seine Absolutheit aus. Als Position seiner selbst, ist es Setzendes und Gesetztes, Erkennendes und Erkanntes in einem: Das Besondere wird zur Gestalt, unter der die Identität von Idealität und Realität angeschaut wi rd . 1 7

1.3 Prälapsarische Freiheit und Sündenfall

M i t der Aussage, die Ideen seien potentiell different, ist schon ange­deutet, wie Schelling das Hervorgehen wirklicher Differenz bzw. die

1 7 Vgl. hierzu Marquet 1973. S. 280.

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Menschliche Selbstformierung in Philosophie und Religion

Frage der Abkunft der Dinge aus dem Absoluten denken wi l l . Dieser Frage, die nach Schelling identisch ist mit der nach dem Bösen und dem Quell allen Übels (PR V I 28), begegnet er mit Hilfe des Gedankens der derivierten Absolutheit, die er als Freiheit zum Guten und zum Bösen deutet: Das schlechthin-Ideale objektiviert sich, wie wir gesehen haben, qua Form im Gegenbild, das sich seinerseits in Ideen objekti­viert, deren jede wiederum produktiv ist. Jeder dieser Folgen teilt das schlechthin-Ideale direkt oder indirekt sein Wesen, die Absolutheit mit. (PR VI 34) In der Sprache der Aphorismen ausgedrückt: Jede Folge ist Wiederholung bzw. Moment der absoluten Position. (Aphorismen VII160 ff.) In jeder Folge zeigt sich diese Absolutheit als In-sich-selbst-Sein, als Selbständigkeit bzw. als Freiheit. (PR V I 39) Dieses In-sich-selbst-Sein stellt die reale, endliche Seite der Idee dar; ihr Sein im Ab­soluten hingegen die ideale. (PR V I 41) Das Sein im Absoluten, die ideale Seite, ist eben derselbe Aspekt des Selbständigseins, aber so, daß dieses Selbständigsein als mitgeteiltes verstanden wird. Das Selb­ständigsein so akzentuiert bedeutet die Wesensgleichheit mit allem an­deren und mit dem schlechthin-Idealen selber und somit das Auf­gelöstsein des Besonderen i m Absoluten. 1 8

Die Freiheit des Realen ist entsprechend der dargelegten Doppe­lung eine Freiheit zur Freiheit und zur Unfreiheit: Die wahre Freiheit besteht in der Einheit des idealen und des realen Aspekts, d h. eben im Festhalten daran, daß die Selbständigkeit eine mitgeteilte ist. Sie ist Freiheit i m Einklang mit absoluter Notwendigkeit, d. h. mit dem, was aus der Selbstoffenbarung des Einen mit Notwendigkeit folgt. (PR VI 40) Eine solche Freiheit ist allerdings 1804 nach Schelling nicht unmit­telbar, sondern nur qua Rückkehr aus der Endlichkeit zu haben. (PR VI 43, 57) Der Durchgang durch die Endlichkeit ist Folge der Verwirk­lichung der zweiten Seite der gedoppelten Freiheit: Die Selbständigkeit

1 8 In den Aphorismen drückt Schelling diesen Gedanken so aus, daß jede in der absolu­ten Position begriffene Position Wiederholung der absoluten Position ist, die von dieser überhaupt wie von anderen Wiederholungen derselben nur ideell unterscheidbar ist. (Aphorismen VII 160 ff.) Der oben skizzierte Gedanke findet sich schon im Bruno als organische Einheit aller Dinge: Das Endliche ist, so Schellings 1803 verwendete Termi­nologie zwar ideell vom Idealen und zugleich von anderem Endlichen unterschieden, der Sache nach oder reell aber dem Idealen und damit allem anderen Endlichen gleich. Durch diese Gleichheit ist es aufgenommen in das unteilbare Leben des Absoluten. (Bruno IV 249 f. u. 258 ff.) Dieses Aufgelöstsein der Dinge bezeichnet Schelling als »Seyn in den Ideen«. (Bruno IV 259; vgl. auch WS VI 187)

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Prälapsarische Freiheit und Sündenfall

des Realen nämlich impliziert die Möglichkeit, sich vom Absoluten zu trennen: »Das Gegenbild (...) wäre nicht wahrhaft in sich selbst und absolut, könnte es nicht sich in seiner Selbstheit ergreifen, um als das andere Absolute wahrhaft zu sein.« (PR VI 39) Dadurch aber trennt sich das Reale vom Absoluten, verwickelt sich in empirische Notwen­digkeit, d. h. in den kausalmechanischen Zusammenhang der empiri­schen Welt, und verliert jene Freiheit, die es im Absoluten, d. h. in sei­ner Bestimmtheit durch das Ideale, als Selbstobjektivierung desselben genoß. (PR VI 39 ff.) Dieser Abfall beruht in seiner Möglichkeit zwar auf der mitgeteilten Absolutheit der Folgen, ist in seiner Wirklichkeit aber immer auf das Abgefallene selber zurückzuführen. (PR V I 40) Entsprechend ereignet er sich als Sprung, nicht als stetiger Übergang, und kann mithin nicht erklärt werden. Er ist grundlos. (PR V I 38, 42)

Wie aber geschieht diese Selbstergreifung und warum verwickelt sich das Reale durch sie in empirische Notwendigkeit? Nach dem gera­de Gesagten liegt Schellings Lösung für diese Frage auf der Hand: Der Abfall besteht eben darin, daß das Abgefallene sich nicht mehr als in der Selbstobjektivierung Gottes gesetzte Folge begreift, sondern sich als einzelnes setzt und zwar, indem sie sich von anderen Einzeldingen unterscheidet, d. h., indem sie in Relation zu anderem tritt. Damit aber findet ein Sprung in die kausal verfaßte Sinnenwelt statt: Das Abge­fallene produziert -»durch und für sich selbst das Nichts der sinnlichen Dinge«. (PR V I 40) Die Vernunft wird als gefallene Vernunft Verstand (PR V I 42 f.), der alles nur in Relation begreifen kann. (Aphorismen VII 173) Das Gesetztsein für sich und durch sich, das Schelling hier als Grund der Endlichkeit ansetzt, entspricht in seiner Interpretation der Fichteschen Tathandlung, die er als »Princip des endlichen Bewußt-seyns« versteht. 1 9 (PR VI 42 u. 50) Beide Aspekte des Falls sind episte-misch: Das Ich produziert sich in seinem Selbstbezug in Absetzung vom Absoluten und setzt in eben diesem Ak t für sich die Welt end­licher Objekte. (FD IV 355 ff.) Die Wirklichkeit dieses Bewußtseins aber ist bloßer Schein: Die Endlichkeit ist eben nur für und durch das endliche Bewußtsein, das eben dadurch endliches Bewußtsein ist. A n

1 9 In den Münchner Vorlesungen zitiert Schelling Fichtes Aussage, wonach »eines Jeden Ich selbst die einzige höchste Substanz ist.« {Grundlage der gesamten Wissenschafts­lehre. Gesamtausgabe Bd. 1,2 S. 122) Nach Fichte, so Schelling, sei mit dem transzen­dentalen Akt des Selbstbewußtseins für jeden das ganze Universum gesetzt, dem des­wegen außerhalb des individuellen Bewußtseins keine Realität zukomme. (MV X 90; ähnlich: SP VII 445)

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Menschliche Selbstformierung in Philosophie und Religion

sich, d.h. hinsichtlich des Absoluten und des Urbildes selber, ist sie nicht. (PR VI 41 f. u. 50) In diesem Sinne gibt Schelling Fichte wieder: »(...) die Ichheit ist nur ihre eigne That, ihr eignes Handeln, sie ist nichts abgesehen von diesem Handeln, und nur für sich selbst, nicht an sich selbst .« 2 0 (PR VI 43)

Bezogen auf die oben aufgeworfene Frage nach der Rolle des Menschen i m Offenbarungsgeschehen könnte man vermuten, daß dem Menschen die Aufgabe zukommt, durch seinen Abfall die empirische Welt zu pro­duzieren. Die Rede von einer Aufgabe wäre insofern zutreffend, als der Abfall, wie wir gleich sehen werden, zur Offenbarung Gottes notwen­dig ist. (PR VI 57) Diese Produktion der empirischen Welt vollzieht sich als degenerative Form des Erkennens, deren Ermöglichungsgrund, wie dargelegt, in einem epistemischen Prozeß, dem göttlichen Selbst­erkennen nämlich, gesetzt ist . 2 1 Dieser Vermutung bezüglich der Rolle des Menschen scheint freilich entgegenzustehen, daß nach Schelling das endliche Bewußtsein nur eine Steigerung der Absonderung dar­stellt. 2 2 Schelling nimmt nämlich eine Gradation des Für-sich-selbst-Seins an, die ihr Maximum in der Ichheit hat. 2 3 (PR V I 42, Bruno IV 259 f.) In einer denkbar niedrigen Potenz zeigt sich das Für-sich-selbst-Sein etwa als Starrheit i m unorganischen Körper. (PR V I 42) Diese Schwierigkeit m u ß die hier dargelegte Interpretation nicht gefährden: Wenn wir nämlich davon ausgehen, daß der Mensch von Schelling als primäres Gegenbild gedacht ist, dann ergibt sich in Einklang mit unse-

2 0 Die Ichheit ist nach Schelling eben das Sich-Ergreifen als Besonderem. In einer be­stimmten philosophischen Perspektive, der Fichtes, verhindert nach Schelling das Be­harren auf dem so ergriffenen Standpunkt der empirischen Ichheit das absolute Erken­nen, die intellektuelle Anschauung. Im Beharren darauf, daß ich es bin, der erkennt, verschwindet die Möglichkeit, die Dinge so zu erkennen, wie sie an sich sind. (FD IV 353 ff.) 2 1 Schulz liest Philosophie und Religion vom Gedanken des Abfalls her als Fichte-Kri­tik. Dieser habe nach Schelling richtigerweise die Selbstsetzung des Ichs als grundlos verstanden, aber übersehen, daß dieses Ich durch einen vorgängigen ideellen Kosmos getragen werde, den es voraussetzen müsse, um ihn aufheben zu können. Für Schelling könne das Ich also nur zweites, nicht Prinzip sein. (Schulz 1975. S. 125) 2 2 Görland ist der Auffassung mit Ichheit bezeichne Schelling an dieser Stelle das Für­sich-Sein als Prinzip des Abfalls allgemein. Ichheit in diesem Sinne sei zu unterscheiden von der bewußten Ichheit in der gefallenen Welt. (Görland 1973. S. 222) 2 3 Auf diese Weise löst Schelling die Aufgabe ein, zu zeigen, »daß nicht allein die Ich­heit alles, sondern auch umgekehrt alles Ichheit sey.« (FS SW VII351)

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Postlapsarische Freiheit, Sittlichkeit und Ver söhnung

ren bisherigen Darlegungen folgendes B i l d : 2 4 Durch unseren Fall ist für uns eine empirische Welt gesetzt, in welcher sich die Absonderung in graduell gesteigerter Weise ausdrückt. Sie erreicht ihr Max imum in unserem empirischen Ich, das zugleich Moment der empirischen Welt und ihr Ursprung ist.

1.4 Postlapsarische Freiheit, Sittlichkeit und Versöhnung

Wie dargelegt ist nach Schelling unser empirisches Dasein in einem Ak t der Selbstergreifung gegründet, in dem wir uns als einzelnes Ich und zugleich eine Welt empirischer Objekte produzieren. Gleichwohl ist es uns möglich, von uns in unserer Einzelheit und von unserem Bezug zur Welt der uns äußerlichen Objekte abzusehen. In diesem zu­nächst epistemisch zu verstehenden Absehen ist uns, wie Schelling sagt, das erste Gegenbild, die Ureinheit, d. h. die Bestimmtheit des Rea­len durch das Ideale als Urwissen gegenwärtig. (PR V I 42) Damit ge­winnt der Mensch erneut die Möglichkeit, sich »in die Absolutheit her­zustellen, oder aufs Neue in die Nicht=Absolutheit zu fallen und von dem Urbild sich zu trennen.« (PR VI 51 f.) Diese Möglichkeit tritt ge­rade i m Ich auf, welches nicht nur der Punkt der höchsten Entfernung vom Absoluten darstellt, sondern auch den »Moment der Rückkehr zum Absoluten, der Wiederaufnahme ins Ideale« bedeutet. (PR VI 42) Die Rückkehr freilich ist eine schrittweise, an deren Ende die Versöh­nung und Wiederauflösung des Universums in die Absolutheit steht. (PR V I 43, 57)

Daß die Rückkehr gerade in der Ichheit, also im Menschen, an­hebt, kann nicht verwundern, wenn das Ich zugleich der Punkt ist, in welchem die empirische Welt ihren Ursprung hat. Zugleich gilt nach Schelling: »Die Vernunft und die Ichheit, in ihrer wahren Absolutheit, sind ein und dasselbe«. (PR V I 43) Wie ist dies zu verstehen? Al le em­pirischen Gegenstände weisen, wie schon dargelegt, eine Selbstbezüg-lichkeit auf, durch welche sich die Form der Vernunfterkenntnis an den Dingen ausdrückt. (PR V I 42) Im Ich ist dieser Selbstbezug bewußt und erlaubt die Abstraktion oder Isolation desselben. Diese Abstraktion ist die Einnahme des Vernunftstandpunkts bzw. intellektuelle Anschau-

2 4 Dieser Gedanke wäre ein Vorläufer der besonderen Rolle als Ebenbild Gottes und Mittler von Gott und Natur, die der Mensch in der Freiheitsschrift inne hat. (Vgl. 2.3.4)

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ung. Entsprechend führt Schelling in den Ferneren Darstellungen im Rahmen seiner Krit ik an Fichte aus, daß in intellektueller Anschauung die Form der Ichheit nicht als solche verschwindet, wohl aber als beson­dere, d. h. als Form des empirischen oder relativen Ichs, und zwar dann, wenn wir aufhören uns als einzelne unter einzelnem zu betrachten, d.h. wenn wir von aller Relation abstrahieren. 2 5 (FD IV 355) In dieser Abstraktion wird die Form des Für-sich-Seins in ihrer Reinheit zurück­gewonnen und die Absolutheit selber wiederhergestellt: Die Form ver­schwindet nicht als solche, wohl aber als Grund der Besonderung.

Eben die Perspektive, in welcher wir uns auf eine prälapsarische Freiheit hin verstehen können, ist die Perspektive, in welcher wir als Vernunftwesen erneut frei sind. Schelling nimmt aber nun nicht an, daß wir in dieser Perspektive die Welt des Verstandes und der Sinnlich­keit hinter uns gelassen hät ten. W i r hören vielmehr nicht auf, den Schein der empirischen Welt zu produzieren. Die Rückkehr ins Abso­lute vollzieht sich, wie gesagt, schrittweise. (PR V I 43 u . 57) A n diesen Punkt knüpft Schelling Umrisse einer Geschichtsphilosophie, die hier nicht näher erörtert werden soll. Festzuhalten aber ist, daß Fall und allmähliche Rückkehr zur Offenbarung des Absoluten notwendig sind:

»Die Ideen, die Geister mußten von ihrem Centro abfallen, sich in der Natur, der allgemeinen Sphäre des Abfalls, in die Besonderheit einführen, damit sie nachher, als besondere, in die Indifferenz zurückkehren und, ihr versöhnt, in ihr seyn können, ohne sie zu stören.« (PR VI 57)

Was in Fall und Rückkehr in die Absolutheit gewonnen wird, ist nach Schelling dies, daß die Absolutheit der Ideen in der Versöhnung eine selbstgegebene ist, während die anfängliche Absolutheit eine von Gott herrührende ist. Dieses selbstgegebene Sein i m Absoluten aber ist Vollendung der Sittlichkeit. (PR VI 63) Die Rückkehr soll also den Cha­rakter einer Entscheidung haben. Die Verbindung von Gott und Welt darf nicht in dem Sinne notwendig sein, daß sie von Seiten der Welt ohne eine Entscheidung wirklich wäre. Gott offenbart sich, so der von Schelling hier anvisierte Gedanke, in einem selbständigen Gegenüber, das sich mit ihm freiwillig verbindet. Eine solche Verbindung Selbstän-

2 5 Schelling kritisiert hier Fichte, gibt dabei aber seine eigenen Positionen in einer an Fichte angelehnten Terminologie wieder. Einer vorsichtigen Übertragung der Gedanken in einen Kontext, in welchem Schelling seine eigenen Gedanken zwar in massiver Ab­weichung von Fichte, jedoch gleichfalls in fichtescher Begrifflichkeit formuliert, steht also nichts im Wege.

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Postlapsarische Freiheit, Sittlichkeit und V e r s ö h n u n g

diger ist, wie Schelling andernorts formuliert, Liebe. (Aphorismen VII 174) M i t dem Wort »Liebe« ist in Philosophie und Religion zunächst die »Indifferenz oder Neidlosigkeit des Absoluten gegen das Gegen­bild« ausgedrückt . 2 6 (PR V I 63) Diese Neidlosigkeit zeigt sich darin, daß sich Gott in seiner Fülle in einem anderen Absoluten objektiviert. Liebe bezeichnet aber nicht nur den Ak t der Selbstobjektivierung, son­dern auch das erwähnte Verhältnis des Absoluten zu Mensch und Welt, welches von Seiten des Menschen durch eine Entscheidung zustande kommen soll. N u r durch die Rückkehr nämlich, so Schelling, vollende sich das »Bild (...) jener Neidlosigkeit«, d.h. des als Liebe bezeichneten Verhältnisses Gottes zu Welt. (PR V I 63 f.) Hier ist Liebe im Sinne der Aphorismen als Verbindung Selbständiger zu verstehen. 2 7 Damit faßt Schelling ein Verständnis der Identität ins Auge, wonach Identität als Verbindung, Relation zu verstehen ist.

Im Gedanken der postlapsarischen Freiheit und der Versöhnung von Welt und Gott deutet sich an, wie Schelling das oben angedeutete Pro­gramm der Gründung der Ethik auf der Lehre vom Absoluten und vom Verhältnis der Dinge zu ihm einlösen w i l l . 2 8 (PR V I 17) Diese beinhal­tet auch den Gedanken einer schrittweisen Rückkehr des Menschen, der als Prozeß menschlicher Selbstformierung gedeutet werden kann. Allerdings bleiben Schellings Ausführungen in diesem Punkt sehr skizzenhaft und unzureichend. Ausgangspunkt dessen, was man vor-

2 6 In den Aphorismen drückt Schelling diese Neidlosigkeit aus, indem er sagt, »daß, was für sich absolut seyn möchte, dennoch es für keinen Raub achtet, es für sich zu seyn, sondern es nur in und mit den andern ist.« (Aphorismen VII174) Gemeint ist, daß die Absolutheit nichts ist, was das Absolute für sich behalten will und muß, wie ein Räuber seine Beute, sondern etwas, das es in und mit andern sein kann, eben weil es dem Wesen nach Liebe ist. (Vgl. 2.3.1) Die Stelle ist eine Anspielung auf Philipper 2,6f.: »Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern ent­äußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an.« 2 7 Auf die Rolle der Liebe in Philosophie und Religion weist Blanchard hin. (Blanchard 1979. S. 446). 2 8 Auch hier ist Schelling bemüht, einen Vorwurf Eschenmayers zu entkräften, dem zufolge Schelling die Tugend aus der Vernunft ausgeschlossen habe. (Übergang §86 , 89 f.) Der Vorwurf der Immoralität ist Schellings Identitätssystem häufig gemacht wor­den, u.a. von Jacobi. (Vgl. Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung, Jacobi Werke Bd. 3, S. 97) Ähnlich äußert sich Schlegel, der, ohne jedoch Schelling beim Na­men zu nennen, dem Pantheismus vorwirft, er hebe den Gegensatz von Gut und Böse auf. (Schlegel, Friedrich: Über die Sprache und Weisheit der Indier - Ein Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde. Heidelberg 1808. S. 127)

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sichtig als ein Modell menschlicher Selbstformierung bezeichnen könnte, ist Schellings Verständnis der Sittlichkeit. Sie gründet nach Schelling in der Erkenntnis der absoluten Identität von Notwendigkeit und Freiheit als von allem Handeln unabhängiges »Wesen oder An=sich alles Handelns«. (PR V I 53) Das sittliche Handeln ist Aus ­druck dieser Identität. (PR V I 53, 55 f.) Was gemeint ist, wird klarer, wenn man Schellings Krit ik an denjenigen Philosophen betrachtet, welche Tugend oder sittliches Handeln als »Unterwerfung« unter ein Sollen verstehen und nicht als absolute Freiheit. (PR V I 55) Wer Tugend auf solche Weise verstehe, setze den Begriff des Bösen voraus und lasse, wie Schelling sagt, eine Differenz zwischen dem allgemeinen Gesetz und den einzelnen Vernunftwesen stehen, welche dem Sitten­gesetz ebenso unterliegen wie einzelne Körper der Schwere. Damit aber fallen auch die Freiheit des Vernunftwesens (realer Aspekt oder Selbstheit) und die Notwendigkeit des Sittengesetzes (idealer Aspekt oder Deriviertheit) auseinander, ebenso wie Glückseligkeit und Sitt­lichkeit. (PR VI 55) Wenn wir uns erinnern, daß Schelling das Selbst­sein der Folgen des Absoluten (realer Aspekt der Idee) als mitgeteiltes Selbstsein (idealer Aspekt) verstanden hat, und daß er des weiteren den Abfall als ein Geltendmachen des realen Aspekts gegen den idealen ver­steht, die dann als Besonderes und Allgemeines auseinanderfallen, so wird deutlich, daß eine Auffassung, die diese Momente auseinander­hält, Sittlichkeit nur als Unterordnung des Besonderen unter das A l l ­gemeine denken kann, während es Schelling zufolge gerade darauf an­kommt, beide Aspekte zur Einheit zu bringen. N u r dann aber sind wir nach Schelling auch wahrhaft frei. Schelling denkt offenbar eine schrittweise Ineinsbildung von Besonderheit und Allgemeinheit, rea­lem und idealem Aspekt. Die Vollendung der so verstandenen Sittlich­keit bedeutet die Wiederaufnahme der Identität in die Seele, die von einer Wiederaufnahme der Seele ins Absolute begleitet w i rd . 2 9 Dieses Sein im Absoluten aber ist, so Schelling in einer spinozistischen Wen-

M Zugleich kann Schelling sagen, daß tugendhaft derjenige handelt, welcher nur der »inneren N o t w e n d i g k e i t « der Natur der eigenen Seele gemäß handelt. Dann aber han­delt er auch absolut frei. (PR VI 55) Diese Natur der Seele nämlich ist die Identität von Allgemeinem und Besonderem. Dieser Gedanke kehrt in verwandelter Gestalt in der Freiheitsschrift (FS VII 384) wieder und greift den zweiten Teil der Freiheitsdefinition Spinozas auf, nach welcher das Ding frei zu nennen ist, »das allein aus der Notwendig­keit seiner Natur heraus existiert und allein von sich her zum Handeln bestimmt wird«. (Spinoza: Ethik I Def. 7)

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Postlapsarische Freiheit, Sittlichkeit und V e r s ö h n u n g

dung, die gleichzeitig eine Abwehr Eschenmayers darstellt, Glückselig­keit. 3 0 (PR V I 55 f.) Damit ist für Philosophie und Religion deutlich, daß Schelling in der Tat in der Nachfolge eines Piaton die Übereinst im­mung des moralischen und des an Erfüllung orientierten Interesses an unserem Charakter teilt, ja die Untrennbarkeit der beiden behauptet.

Schellings Kri t ik an einem Verständnis von Sittlichkeit, welches Allgemeines und Besonderes als getrennt begreift, eben weil es sich nicht auf einen absoluten Standpunkt erheben kann, hat natürlich die Positionen Kants und Fichtes im Blick. A n Kant kritisiert Schelling, daß er, indem er jede theoretische Erkenntnis des Übersinnlichen leugne, dieses letztlich einem praktisch motivierten Glauben überantwor ten müsse: Die absolute Erscheinung des Sittengesetzes könne nur, so Schellings Wiedergabe der kantischen Auffassung, »der Widerklang einer höheren und übersinnlichen Welt in uns seyn.« Diese Welt nun müsse ich um dieser Stimme willen glauben: »So gewiß ich nun jener Stimme und ihrem absoluten Gebot Glauben beimesse, so gewiß m u ß ich dem Uebersinnlichen überhaupt Glauben beimessen«. (Propädeutik VI 120) Da der Glaube immer auf etwas außer uns gehe, bleibe damit das Differenzverhältnis zwischen uns und dem Unendlichen bestehen, mit der Folge, daß der Standpunkt, an dem wir von einer uns äußer­lichen Stimme aufgefordert würden, nicht überwunden werde. 3 1 (Pro­pädeutik V I 121)

Auch Fichte bleibt nach Schelling auf dem Standpunkt der Diffe­renz stehen: Nach Fichte könne das Absolute nur reell sein als etwas außer uns. (Verhältnis V 112 f.) Eben deswegen müsse Fichte die Rea­lität des Absoluten i m Praktischen ansetzen. Dort aber gelte, daß es, als uns äußerlich, keine Realität habe, »als in der Sklaverei und Unterwer­fung des Ichs« unter das Absolute, welches eben nur »in der Gestalt des absoluten Gebietens« erscheinen könne. Nie komme es nach Fichte zur vollkommenen Aufnahme des »Kategorischen und Unendlichen in das

3 0 Vgl. Spinoza: Ethik V Prop. 31-36. Eschenmayer nennt den Glauben Potenz des Seligen, die er jenseits der drei Potenzen der Spekulation ansetzt, nämlich jenseits der Potenz des Endlichen als Standpunkt der Sinnlichkeit, der Potenz des Unendlichen als Standpunkt des Verstandes und der Potenz des Ewigen als Standpunkt der Vernunft. (Übergang §57 , 49 ff.) 3 1 Daß Schelling Kant in mancherlei Weise nicht trifft, zeigt sich schon daran, daß er den Autonomiegedanken noch nicht einmal erwähnt. Allerdings ist ihm zuzugestehen, daß Kant das Sollen nicht in seiner Verwirklichung aufhebt und nur eine unendliche Annäherung an die Heiligkeit des Willens annimmt. (KpV A A V 122)

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Ich«, so daß das Differenzverhältnis in einem unendlichen Progreß er­halten bleibe. (Verhältnis V 113) Freilich kennt auch Schelling einen Progreß, der natürlich auch das Bestehen einer Differenz impliziert, nur daß dieser Progreß eben nicht unendlich ist und die Differenz des näheren als Differenz von Einheit und Differenz zu verstehen ist, d. h. als Differenz, welche zwischen der Einheit von Allgemeinem und Be­sonderem einerseits und der Differenz von Allgemeinem und Besonde­rem andererseits besteht. Dieser Progreß vollzieht sich, wie dargelegt, als schrittweise Rückkehr aus der endlichen, empirischen Welt ins A b ­solute. Schelling betrachtet die Vernunfterkenntnis eo ipso nur als M o ­ment der Rückkehr, nicht aber als deren Vollendung. (PR V I 51 f.) Diese Rückkehr beinhaltet nach Schelling eine schrittweise Reinigung der Seele, die er in die Tradition Piatons und der griechischen Mysterien stellt: Eine »heilige Lehre« zitierend führt er aus, die Seelen seien »an den Leib wie an einen (...) Kerker gefesselt«. 3 2 (PR VI 47) Es komme diesen Lehren zufolge darauf an, die Seele von der »Beziehung und Gemeinschaft des Leibes« mit der Sinnenwelt abzuziehen. (PR V I 39) Hier klingt ein Mot iv an, das wir in der Einleitung mit Blick auf die Frage kennengelernt hatten, wie der Mensch i n einen Zustand des Nichtwollens, der Gelassenheit gelangen könne. Die zitierte Strategie einer völligen Abwendung von der Sinnlichkeit scheint i n der Tat der ethische Standpunkt Schellings in Philosophie und Religion zu sein. Damit wiederholt Schelling auf ethischer Ebene die Abwertung der empirischen Wirklichkeit und propagiert unbefriedigender Weise ein rein negatives Verhältnis zur Sinnlichkeit. 3 3

Die eben zitierte Stelle scheint freilich i m Widerspruch zu stehen zu dem oben dargelegten Gedanken, wonach wir auf dem Standpunkt der Vernunft erneut frei sind, auf unserer Selbstheit zu beharren oder die erwähnte Einheit herzustellen. Bezüglich des Verhältnisses von Wissen und sittlichem Handeln hatte obige Stelle nämlich die Auffas­sung nahe gelegt, daß Schelling das Handeln im Vernunfterkennen fundiert sein läßt, so daß es letztlich als Vollendung der i m Erkennen anhebenden Rückkehr zu verstehen wäre. Hier nun macht Schelling sich offensichtlich den platonischen Gedanken zu eigen, wonach die

3 2 Zur Rolle platonischer Gedanken in Philosophie und Religion vgl. Asmuth 2008 S.98ff. 3 3 Die Strategie der Abwendung wird erste später durch die einer Durchdringung des Sinnlich-Leiblichen durch den Universalwillen abgelöst. (Vgl. 3.6.3 u. 3.7.3)

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Postlapsarische Freiheit, Sittlichkeit und V e r s ö h n u n g

Reinigung der Seele die Voraussetzung der Erkenntnis des Urbildes darstellt. (PR VI 39) Ähnlich argumentiert Schelling in der ein Jahr zuvor erschienenen Schrift » Über das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt«. Dort konstatiert er zunächst eine Über­einstimmung von Vernunftwissen und Sittlichkeit: Beide setzen eine Abkehr vom Sinnlichen und Stoffartigen voraus. (Verhältnis V 122) Diese Übere ins t immung faßt Schelling dann als wechselseitige Voraus­setzung, welche die Identität beider Momente i m Absoluten ausdrückt: Das wahre Wissen sei nicht ohne »vollendete Einbildung oder Auf­lösung des Besonderen i m Allgemeinen, d. h . ohne die sittliche Rein­heit der Seele.« Wahre Sittlichkeit wiederum habe nur derjenige, der »seine Seele bis zur Theilnahme an dem Urwissen geläutert hat«. (Ver­hältnis V 123) In diesem Urwissen wird das Handeln gewußt als ein bestimmtes Moment des Urwissens, nämlich als Moment der Einbi l ­dung der Realität in die Ideali tät . 3 4 (Methode V 218 ff.) Schelling folgt Piaton, den er auch 1803 zitiert, also nicht nur darin, daß er eine Iden­tität von ethischem und theoretischem Wissen behauptet, sondern auch darin, daß er dieses Wissen von unserem Umgang mit unserer Sinnlichkeit abhängig macht. Das Absehen von der Sinnlichkeit ist also, auch was die intellektuelle Anschauung, keine rein methodische Devise.

Die verschiedenen Bemerkungen Schellings könnte man in Über­einstimmung bringen, indem man die Rückkehr als schrittweisen Pro­zeß versteht, in welchem sich epistemischer und sittlicher Fortschritt wechselseitig stärken bzw. wechselseitig in Vorleistung gehen. Der Entschluß zur Rückkehr wäre nicht als punktuell zu verstehen, sondern so, daß er sich in diesem Prozeß vollzieht, immer wieder erneuert wer­den m u ß und ihn so gleichsam begleitet. In dieser Interpretation könn­te der kantische und fichtesche Standpunkt der Pflicht als zu überwin­dende Etappe i m Gesamtprozeß begriffen werden. In diesem Sinne wäre dann Schellings Bemerkung zu verstehen, wonach wir uns, auch bevor wir zu wahrem Wissen gelangen, aufgefordert sehen, unsere Be­sonderheit in das Allgemeine zu bilden. In dieser Forderung werden wir, so Schelling, zuerst der intellektuellen Welt bewußt. (Verhältnis

3 4 Genauer bezeichnet das Handeln diesen Moment innerhalb der ideellen Reihe, die in ihrer Gesamtheit als Einbildung der Realität in Idealität zu verstehen ist, und zwar so, daß in ihr das Wissen die umgekehrte Bewegung darstellt, d.h. die Darstellung der Idealität in der Realität. (Methode V 219 f.)

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V122) Das erreichbare Zie l unserer sittlichen Selbstbildung aber ist die Rückkehr in die Einheit.

1.5 Fazit: Die Notwendigkeit eines Neuansatzes

Damit ist deutlich, daß menschliche Selbstformierung nach Schelling schon 1804 als Bewegung der Annähe rung an eine Einheit mit dem Absoluten zu verstehen ist. Der Mensch übe rn immt dabei eine be­stimmte Rolle in der, wie man mit Blick auf spätere Schriften sagen könnte, Offenbarung Gottes. Diese Offenbarung konzipiert Schelling 1804 als Selbstobjektivierung eines zunächst völlig differenzlosen A b ­soluten, wobei die Form der Selbstobjektivierung, wie auch das qua Form gesetzte Gegenbild, vom Absoluten selbst, dem schlechthin-Idea­len, nur ideell different sein sollen. Gleichwohl sind sie als andere A b ­solute anzusprechen. Dies gilt ebenso für die im weiteren Verlauf der Selbstobjektivierung qua Produktivität des Gegenbildes gesetzten Ideen: auch sie sind lediglich ideell differente Folgen des Einen, die alle in sich absolut sind. Diese Absolutheit der Folgen interpretiert Schel­ling als Freiheit zum Abfall. Der Abfall ist grundlos und vollzieht sich als Sprung. Des näheren ist er zu verstehen als Geltendmachen der ei­genen Absolutheit gegen die Deriviertheit derselben. Dieses Geltend­machen ist als Ak t der Selbstproduktion gefaßt, in welchem zugleich die empirische Welt endlicher Objekte gesetzt ist. Der Fall in diese von Schelling als nichtig apostrophierte Welt ist seiner Grundlosigkeit zum Trotz notwendig zur Offenbarung Gottes. Schelling denkt eine Rückkehr der Folgen Gottes in Gott, die sich qua Vernunfterkenntnis und Sittlichkeit vollzieht. Der Gewinn dieses Durchgangs durch die Nichtigkeit soll darin bestehen, daß das Sein der Folgen in Gott nach der Rückkehr selbstgegeben ist. Dem Menschen kommt in diesem Offenbarungsprozeß eine doppelte Rolle zu: Z u m einen stellt das menschliche Ich den Punkt der Absonderung schlechthin dar, der im Abgesonderten zugleich das Maximum derselben ausmacht. Z u m an­deren hebt im Menschen die Rückkehr ins Absolute an, die von Schel­ling als geschichtlich gedacht wird. Die Rückkehr soll sich qua Erken­nen und sittlicher Selbstformierung des Menschen vollziehen.

Der hier nochmals skizzierte Systementwurf ist freilich zahlreichen Einwänden ausgesetzt, die auch die Denkbarkeit menschlicher Ent-

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Fazit: D i e Notwendigkeit eines Neuansatzes

wicklung betreffen. Diese Einwände lassen sich in vier Gruppen glie­dern:

(1) Eine Reihe von Einwänden richten sich gegen das Verhältnis von Identität und Differenz. Identität war in den Passagen, in denen Schelling die Idee Gottes verhandelt, zunächst verstanden einmal als pure Differenzlosigkeit, wie sie nach Schelling das schlechthin-Ideale charakterisiert, zum anderen als Identität in der Form, durch welche eine ideelle Differenz gewonnen wurde. Die Form wurde dem Model l der Spiegelung oder Selbstobjektivierung entsprechend konzipiert, das bereits in früheren Schriften der Identitätsphilosophie Anwendung fand. Dieses Verständnis der Identität als Identität in der Form bzw. als Einheit von Urbild und Gegenbild steht aber offensichtlich im W i ­derspruch zu dem in den ethischen und geschichtsphilosophischen Pas­sagen der Schrift auszumachenden Bestreben Schellings, eine Identität zu denken, die als »Liebe« i m Sinne einer Verbindung Selbständiger konzipiert ist. Eine solche relationale Identität ist nämlich nicht als Spiegelungsverhältnis zu verstehen, sondern m u ß qua Entscheidung hervorgebracht werden.

Dieser Widerspruch hinsichtlich des Identitätsbegriffs äußer t sich außerdem in der Spannung zwischen der behaupteten Selbständigkeit der Folgen gegenüber dem Absoluten, wie sie der zweite, relationale Identitätsbegriff erfordert, und der von Schelling gleichfalls betonten bloßen Idealität der Differenzen, die dem identitätsphilosophischen Identitätsbegriff entspricht. Ob diese Spannung aufgelöst werden kann, hängt davon ab, wie man die Idealität der Differenzen versteht. Völlig unauflösbar wäre sie dann, wenn die Differenzen bloß von einem endlichen, also qua Fall gesetzten Standpunkt, also gleichsam von außen an das Eine herangetragen würden. Dann nämlich wäre auch der Abfall , der ja als Aktualisierung einer potentiellen Differenz zu verstehen ist, völlig undenkbar: Er hät te nichts Ermöglichendes i m Absoluten selber. In gewisser Weise müssen die differenten Gestalten des Einen also auch schon im Selbsterkennen des Absoluten als unter­scheidbare Momente enthalten sein. Wie dargelegt, versucht Schelling dieses Problem mit Hilfe des Gedankens der derivierten Absolutheit zu lösen: Als Absolute sind die Folgen ihrerseits absolut und damit poten­tiell unterschieden, obgleich sie als solche dem Wesen nach nicht un­terschieden sind und auch nie als wirklich unterschieden gesetzt wer­den können.

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(2) Des weiteren kann man Schelling 1804 die Unmöglichkeit einer dynamischen Perspektive vorhalten. Eine solche Perspektive, die Entwicklung und Geschichte ernst nimmt, wird schon durch den ersten qua Spiegelung gefaßten Identitätsbegriffs insofern ausgeschlossen, als Schelling die Selbstobjektivierung des Absoluten als Genese einer ewi­gen Ideenordnung konzipiert, in der keine Geschichte statthat. Die em­pirische Welt aber, in der allein es Geschichte und Entwicklung geben kann, ist eine Welt des Scheins, der Nichtigkeit. Die Ebene, in der wir unser Leben führen, uns hinsichtlich unseres Charakters bestimmen und handeln, ist also radikal entwertet. Dennoch soll der Durchgang durch die Endlichkeit etwas für die Offenbarung des Absoluten austra­gen, nämlich die freiwillige Rückkehr der Folgen ins Absolute, und das, obwohl Fall und Endlichkeit das Absolute und die Ideen in keiner Weise berühren . 3 5

(3) Weitere Einwände treffen die für menschliche Selbstformie­rung zentralen Bergriffe des Willens, des Entscheidens und des Han­delns. Zwar versucht Schelling 1804, dem menschlichen Entscheiden und Handeln eine zentrale Rolle in der Offenbarung Gottes e inzuräu­men. Dieser Versuch aber m u ß mißlingen: Schelling denkt 1804 in epistemischen Kategorien und verfügt nicht über die Mit te l , u m Ent­scheiden und Handeln überhaupt angemessen denken zu können . Die Selbstergreifung kann keinesfalls als Handlung interpretiert werden. Sie stellt vielmehr die Einnahme einer Perspektive dar, i n welcher wir uns selbst als Endliche und zugleich die Welt endlicher Objekte pro­duzieren, d. h. sie ist ein zwar produktiver, aber epistemischer Akt .

Außerdem ist einzuwenden, daß Schelling kein Mot iv angeben kann, das eine solche Freiheitstat motivieren würde. A u f diesen Punkt weist Habermas hin: Der Abfall sei ein Abfall ins Nichts, das vor die­sem Abfall aber doch wenigstens als Verlockung wirklich sein müsse,

3 5 Shibuya schreibt Schelling in seiner Identitätsphilosophie die Absicht zu, die für die Moderne charakteristische »Zerfallenheit der Individualität« zugunsten einer organi­schen Perspektive zu überwinden, in der auch das durch Sukzessivität gekennzeichnete Geschichtsverständnis der Moderne abgelöst wird zugunsten der Simultaneität. Zu­gleich konstatiert Shibuya, daß Schellings Identitätsphilosophie an dieser Aufgabe ge­scheitert sei, da im Rahmen dieses Denkens Individualität nicht positiv zu fassen sei. (Shibuya 2005 S. 14 u. 35 ff.) Eine organische Perspektive mit einer positiven Bestim­mung des Endlichen verbinden zu können, ist in der Tat eine Stärke der Position, die Schelling 1809 erreicht. Die Aufgabe, im Rahmen dieser Position eine Vermittlung von Nacheinander und Simultaneität zu erreichen, nimmt Schelling, wie im letzten Kapitel zu zeigen sein wird, 1810/1811 in den Blick.

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Fazit: D i e Notwendigkeit eines Neuansatzes

um den Fall motivieren zu können . 3 6 Ähnliches gilt für das Entscheiden und Handeln als Moment der Rückkehr: Auch hier ist die motivationa-le Grundlage möglicher Entscheidungen völlig ungeklärt .

(4) Schließlich kann man Schelling entgegenhalten, es sei ihm 1804 nicht gelungen, das Böse angemessen zu fassen. Das hängt zum einen mit dem bereits erwähnten Fehlen einer motivationalen Grund­lage des Falls und der Rückkehr zusammen. In diesem Zusammenhang ist zu bestreiten, daß die behauptete Selbständigkeit der Folgen des A b ­soluten als Freiheit zum Abfall verstanden werden kann. Die Absolut­heit der Folgen soll nach Schelling implizieren, daß jede in sich absolu­te Folge des Absoluten sich gegen dieses, d. h. gegen ihre Deriviertheit wenden kann. Darin nun besteht nach Schelling die Freiheit zum Bö­sen. Die Möglichkeit, sich gegen die Idealität, d. h. die Deriviertheit zu wenden, soll also qua Derivation mitgeteilt sein. Wie aber soll aus der Deriviertheit diese Möglichkeit, also eine Freiheit zum Bösen folgen? Die Absolutheit der Folgen ist keine inhaltlich bestimmte Freiheit.

Z u m anderen wird der Fall von Schelling, wie gesagt, als episte­mischer Ak t gefaßt. Daher kann das daraus folgende Übel kein wirk­liches sein, es ist vielmehr bloßer Schein. Das aber macht die ethische Aufladung des Falls unplausibel. 3 7 Außerdem wird der Fall im Sinne einer felix culpa als Mi t te l der Offenbarung des Absoluten - und als Voraussetzung menschlicher Selbstformierung - verharmlost. Der Ge­danke einer felix culpa steht des weiteren, wie Hermanni richtig be­merkt, im Widerspruch zur Unableitbarkeit und Faktizität des Falls. 3 8

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß man in der sittlich-episte-mischen Rückkehr des Menschen in Gott qua Ineinsbildung von Beson­derem und Allgemeinem ein Modell menschlicher Selbstformierung entdecken kann. Gleichwohl liegt hier noch keine ausbuchstabierte Theorie menschlicher Selbstformierung vor, allenfalls eine grobe Skiz­ze, die außerdem an den erwähnten Problemen scheitert.

3 6 Habermas 1954. S. 204 f. 3 7 Seine 1804 vertretene Theorie des Bösen hält Schelling in der Freiheitsschrift offen­sichtlich selbst für völlig unbefriedigend: Im Zusammenhang einer Darstellung m ö g ­licher Erklärungen des Bösen bemerkt Schelling, die in diesem liegende positive Ver­kehrung könne der nicht erklären, »der nur die abgezogenen Begriffe des Endlichen und des Unendlichen« habe. (FS VII 370 f.) 3 8 Hermanni 1994. S. 181 ff. u. 242.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung

Menschliche Selbstformierung in Philosophie und Religion

Die vier Gruppen von Einwänden bringen jeweils Defizite zum Aus­druck, die auf die vier in der Einleitung genannten Bedingungen eines angemessenen Modells menschlicher Selbstformierung beziehbar sind. Die Einwände laufen darauf hinaus, daß diese Bedingungen eben nicht erfüllt sind. N u n könnte man fragen, ob Schelling den genannten Vor­aussetzungen überhaupt genügen muß , um menschliche Selbstfor­mierung angemessen denken zu können. Für die zweite und dritte Be­dingung, die eine dynamische Perspektive und eine angemessene Einordnung des Willens in das philosophische System fordern, ist das unbestreitbar. Was den vierten Punkt, also die Forderung nach einem angemessenen Begriff des Bösen, angeht, so kann man Selbstformie­rung sicherlich auch ohne diesen Begriff denken, wenn man eine ande­re Theorie menschlicher Unvollkommenheit vertritt. Schelling selber hat sich zeitweilig eine solche Theorie zu eigen gemacht: Im Würzbur­ger System argumentiert er, daß jede Handlung »etwas Positives« ein­schließe. W i r würden, so Schelling, in keiner Handlung »Unvollkom­menheit bemerken, wenn wir sie absolut und nicht in Vergleichung mit andern Dingen betrachteten.« Eben das soll uns die in der Einleitung erwähnte philosophisch herbeigeführte Form der Gelassenheit, näm­lich eine »heitere Betrachtung der Welt und der Menschen« verschaf­fen. (WS §305, V I 544 f.) Das Böse wird hier also, ganz gemäß der Grundausrichtung der Identitätsphilosophie, auf eine epistemische Per­spektive reduziert. In der Freiheitsschrift greift Schelling diese Position mit der Bemerkung auf, daß auf diese Weise »das Böse gänzlich ver­schwindet«. (FS VII 353 f.) Schelling ist 1809 der Auffassung, daß eine solche Auffassung nicht mit der »treue(n) Beobachtung der Phänome­ne des sittlichen Urtheils«, also, modern gesprochen, mit unseren mo­ralischen Intuitionen vereinbar wäre. (FS VII388)

Was die erste Voraussetzung, also die Notwendigkeit eines rela­tionalen Identitätsbegriffs angeht, so könnte man fragen, ob Schelling den Widerspruch zwischen dem identitätsphilosophischen und dem re­lationalen Identitätsbegriff nicht zugunsten einer konsequenten A n ­wendung des ersten auflösen könnte, ohne den Gedanken menschlicher Selbstformierung aufgeben zu müssen. Dann aber liefen wir Gefahr, die Formierung unseres Charakters als Arbeit an unserer Selbstver­nichtung verstehen zu müssen, wie Schelling es in den Briefen der dog­matischen, speziell der spinozistischen Moral vorwirft. 3 9 (Briefe A A 1,3

3 9 SW 1316 ff.

ALBER THESEN Oliver Florig

Fazit: D ie Notwendigkeit eines Neuansatzes

85 ff.) Genau genommen liefe das Streben nach der Realisierung der Identität von Idealität und Realität allerdings darauf hinaus, uns als Endliche zu vernichten und uns als Moment einer absoluten Produk­tion zu bewahren. Die folgende Äuße rung eines der Protagonisten des Dialogs Clara läßt sich in diesem Sinne verstehen:

»Nur sehe ich so gar nicht ein, [...] ob denn jenes nothwendig folge, daß, wenn wir mit dem Göttlichen ganz eins geworden, dann alles besondere Da-seyn für uns verloren sey. Denn der Tropfen im Ocean ist doch immer dieser Tropfen, wenn er gleich nicht unterschieden wird, das einzelne Fünkchen im Feuer oder der einzelne Strahl in der Sonne (wenn es einen solchen gäbe) sind, jenes doch immer das Fünkchen, und dieser der einzelne Strahl, wenn sie gleich nicht als besondere gesehen werden.« (Clara IX S. 72)

Deswegen sei es auch nicht zu sehen, warum diejenigen, »die i m Tode von Gott in seliger Entzückung hingerissen« werden, »gleichsam als vom allgemeinen Magnet«, dabei doch »ihre ganze Eigenthümlichkeit« nicht bewahren sollten. Doch der Fortgang des Gesprächs führt über diese Auffassung hinaus zu einer Grundunterscheidung der Freiheits­schrift, die wir im folgenden Kapitel näher betrachten werden. Clara, die Namensgeberin des Dialogs, weist nämlich auf etwas »Physisches« hin, das in jedem der Hingerissenen anzusetzen sei und das nicht vom Magneten stamme. (Clara IX 72 f.) Ohne eine solche physische Wurzel wäre der Mensch, wie Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen ausführt, eben nur »wie ein Strahl in der Sonne, ein Funke im Feuer« und hät te »keine Freiheit gegenüber von Gott«. (SP VII 458) Die er­wähnte Wurzel soll also garantieren, daß die Einheit mit Gott eine frei­willige Verbindung Selbständiger bleibt. Die von Schelling anvisierte relationale Identität ist eben nur unter Bedingung menschlicher Frei­heit aufrecht zu erhalten, wie umgekehrt menschliche Freiheit nur unter Voraussetzung eines solchen Identitätsbegriffs systematisch ge­dacht werden kann. Diese Freiheit wiederum ist Bedingung mensch­licher Selbstformierung.

Ein Begriff der Identität, der als Verbindung zu verstehen ist, ist aber auch aus anderen Gründen notwendig, wie Schelling in der Dar­legung gegen Fichte von 1806 herausstellt. 4 0 In dieser Schrift fixiert

4 0 Eine Interpretation des erwähnten Abschnitts als Selbstkritik Schellings findet sich bei Buchheim: Buchheim 1997 Ed. S. XVf. u. 2004. S. 16ff. Eine entgegengesetzte Inter­pretation vertreten Brito (1987. S. 96 u. 98) und Marquet (1973. S. 349) Für Marquet stellt die Schrift von 1806 den Höhepunkt des Identitätssystems dar. M . E. ist der von

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

Menschliche Selbstformierung in Philosophie und Religion

Schelling zunächst ein Moment, in welchem das Absolute nur Eines ist, das als solches in sich nicht offenbar ist, sich nicht als das zeigen kann, was es ist und sich auch nicht als das erkennt, was es ist . 4 1 Im Absolu­ten, so Schelling, sind Sein und Erkennen vollständig und ohne jede Differenz eins. (Darlegung VII 52 ff.) Erst »mir dieser Indifferenz« sei auch der Gegensatz von Einheit und Vielheit gesetzt, und zwar »durch die nothwendige Folge der Selbstoffenbarung«. 4 2 (Darlegung VII 54) Der Gegensatz also ist Voraussetzung der Selbstoffenbarung. Die Be­gründung sei hier zitiert:

»Ein Wesen, das bloß es selbst wäre, als ein reines Eins (...), wäre nothwendig ohne Offenbarung in ihm selbst; denn es hätte nichts, darin es sich offenbar würde, es könnte eben darum nicht als Eins seyn, denn das Sein, das aktuelle wirkliche Seyn, ist eben die Selbstoffenbarung. Soll es als Eins seyn so muß es sich offenbaren in ihm selbst; es offenbart sich aber nicht, wenn es bloß es selbst, wenn es nicht in ihm selbst ein Anderes, und in diesem Anderen sich selbst das Eine, also wenn es nicht überhaupt das lebendige Band von sich selbst und einem Anderen ist.« (Darlegung, VII 54)

In der näheren Bestimmung dieses Anderen äußer t Schelling hier eini­ge Gesichtspunkte, die auch in der Folge wichtig sein werden:

1. Das Andere ist vom Einen nicht verschieden. Es ist nur das Eine, »aber als ein Anderes.« (Darlegung VII 55)

2. Das Andere gehört zur Existenz des Einen, ist also mit diesem da, sofern das Eine existiert, und kann daher nicht erst zu diesem als Existierendem hinzukommen oder werden. (a.a.O.).

3. Das Eine, wenn es existiert, ist in dieser Existenz »Band seiner selbst als Einheit, und seiner selbst als des Gegentheils, oder als Vielheit«, d. h. Existenz ist eben dies, Einheit seiner selbst und sei­ner selbst als Vielheit zu sein. (a. a. O.)

Brito und Marquet zitierte Gedanke, daß das Absolute nur als Band seiner selbst und seines Anderen, der Vielheit nämlich, existiert, gerade als Überschreitung der Identi­tätsphilosophie anzusehen. « Beides wird von Schelling ab 1809 differenziert. Die Bedingungen von Offenbarung, die Schelling hier skizziert, gelten freilich für die innere, wie die äußere Offenbarung Gottes, ja für die Artikuliertheit des Seienden überhaupt. 4 2 Das hervorgehobene »mit« bedeutet, so Buchheim, daß die Einheit als ein Moment festgehalten und die Dualität als zweites Moment gesetzt wird. Dies weist voraus auf den Gedanken der Zeugung, der ab 1809 zentral wird. (Buchheim 2004. S. 16 ff.)

46 ALBER THESEN Oliver Florig

Fazit: D i e Notwendigkei t eines Neuansatzes

4. Das Durchdringen der Einheit durch den Gegensatz zu sich, d.h. das Band, ist Liebe. Damit ist die Existenz des Einen, d. h. die Wei ­se, in der es sich zeigt, Liebe. (Darlegung VII 59)

In der Freiheitsschrift wird Schelling das nicht offenbare Eine als Ungrund oder Indifferenz bezeichnen, die sich erst gegenüber einer differenten Wirklichkeit in Vereinigung derselben als Band der Liebe aktualisiert. (FS VII 405 ff.) Auch dieser Gedanke ist 1806 schon aus­gesprochen: Das Eine existiert als Liebe, d. h. als die Verbindung seiner selbst und des Vielen. Dabei geht das Eine in der Vielheit, durch die es zu sich durchdringt, nicht verloren, wie umgekehrt die Vielheit in ihrem Verhältnis zur Einheit nicht vernichtet wird. Die eingangs er­wähnte Gelassenheit bzw. die im Prozeß der Selbstformierung gesuch­te Widerspruchslosigkeit beruht dann nicht, auf der Vernichtung von Differenz im Widerspruchslosen, sondern auf einer gelungenen Ver­mittlung der differenten Wirklichkeit mit dem Einen.

In den folgenden Kapitel werden wir sehen, wie Schelling (1) den 1804 bereits zu findenden Begriff von Identität als Verbindung Selbstän­diger widerspruchsfrei in das Gesamtsystem einfügen kann, (2) eine dynamische Perspektive in sein Denken integriert, (3) sein durch epi-stemische Kategorien geprägtes Identi tätssystem zugunsten eines Denkens hinter sich läßt, das dem Wil len eine zentrale Bedeutung ein­räumt, und (4) einen angemessenen Begriff des Bösen gewinnt. Wie zu zeigen sein wird, bringt Schelling ab 1809 ein denkerisches Mit te l in Anschlag, das in allen vier Punkten zum Tragen kommt. Gemeint ist die bereits erwähnte Grundunterscheidung, nämlich die Differenz von Grund und Existierendem, die für eine Theorie einer schrittweisen und dynamischen Selbstformierung des Menschen fruchtbar gemacht wer­den kann.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

2 Der Mensch und die Offenbarung Gottes in der Freiheitsschrift

Im folgenden soll unter anderem dargestellt werden, wie Schelling die 1806 skizzierte Grundfigur einer relationalen Identität in der Freiheits­schrift konzipiert hat. Außerdem ist zu klären, welche Rolle dem M e n ­schen und seiner Entwicklung bei der Konstitution dieser Identität zu­kommt. Dabei wird sich zeigen, daß Schelling in der Freiheitsschrift, anders als in Philosophie und Religion, grundsätzlich über die nötigen theoretischen Mit te l verfügt, um ein angemessenes Model l mensch­licher Selbstformierung unter Berücksichtigung der vier genannten Bedingungen zu formulieren.

Daß die Freiheitsschrift darauf abzielt, menschliche Selbstbestim­mung in den Blick zu nehmen, läßt schon der Titel vermuten. Vor­nehmlich geht es Schelling dem Titel zufolge eben darum, »das Wesen der menschlichen Freiheit« zu ergründen. Alles andere wird dann im Rahmen einer Erörterung der »damit zusammenhängenden Gegen­stände«, also mit Bezug auf die Freiheit des Menschen betrachtet. Die einzelnen Momente des Lebens Gottes können daher als Vorausset­zungen eines angemessenen Verständnisses menschlicher Freiheit bzw. des Freiheitsgebrauchs des Menschen gedeutet werden. Wie dieser Freiheitsgebrauch näher zu verstehen ist, kann hier nur skizziert wer­den, da es in diesem Kapitel um die Einordnung des Menschen in das Ganze der Offenbarung Gottes, bzw. um die Klärung der Vorausset­zungen menschlicher Freiheit zu tun ist. Daher wird auch offen blei­ben, ob bzw. wie Schelling die ihm 1809 zu Gebote stehenden theore­tischen Mit te l nutzt, um menschliche Selbstformierung tatsächlich in angemessener Weise zu denken. Dieser Frage soll i m vierten Kapitel nachgegangen werden, nachdem im dritten Kapitel einige der hier ein­geführten, für Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung zen­tralen Theoriestücke näher erörtert worden sind.

48 ALBER THESEN Oliver Florig

Freiheit, Leben und der interne Dualismus

2.1 Freiheit, Leben und der interne Dualismus

Im einleitenden Teil der Freiheitsschrift legt Schelling zunächst das be­reits durch den Titel seiner Schrift angedeutete Untersuchungsziel dar. Eine Untersuchung des Wesens der menschlichen Freiheit könne ent­weder darauf zielen, den Begriff der Freiheit zu bestimmen, oder sie könne bemüht sein, »den Zusammenhang dieses Begriffs mit dem Ganzen einer wissenschaftlichen Weltansicht« zu ergründen. Da aber kein Begriff für sich allein bestimmt werden könne und umgekehrt, so kann man ergänzen, die Einordnung der Freiheit in einen Gesamt­zusammenhang des Wissens, selbstverständlich nicht ohne begriffliche Bestimmung der Freiheit denkbar ist, laufen beide Untersuchungen auf dasselbe hinaus. (FS VII336)

Warum aber ist unsere Freiheit überhaupt ein Gegenstand unseres Nachdenkens? Welches Interesse nehmen wir an diesem Begriff? M i t Blick auf spätere Stellen der Freiheitsschrift sei auf ein Schlüsselwort aufmerksam gemacht, das sich schon in den ersten Zeilen der Unter­suchung findet. Laut Schelling ist uns allen nämlich ein unmittelbares »Gefühl« der »Thatsache der Freiheit« eigen. Durch den Ausdruck »Gefühl« ist offensichtlich eine unreflektierte Gewißheit bezeichnet, die unsere Freiheit als eine Tatsache auffaßt, die für gewöhnlich ebenso außer Zweifel steht wie anderes, was wir als Tatsache betrachten. Der Allgemeinheit dieses Gefühls zum Trotz ist es ausgesprochen schwie­rig, es »auch nur mit Worten auszudrücken«. (FS VII 336)

Sucht man im Text der Freiheitsschrift nach Kandidaten dafür, welchen Gehalt das erwähnte Gefühl wohl haben mag, bzw. welches Gefühl es hier auf den Begriff zu bringen und im Weltganzen zu ver­orten gilt, stößt man zunächst auf eine Stelle, an der von einem »Ver­langen« die Rede ist. Dieses Verlangen geht darauf, der Freiheit »alles analog zu machen, sie über das ganze Universum zu verbreiten«, ein Verlangen, das nur empfinde, »wer Freiheit gekostet hat«. (FS VII 351) Schon diese Formulierung deutet an, daß dieses Verlangen dem eigent­lichen Gefühl der Tatsache der Freiheit gegenüber sekundär ist. Außer­dem kann eine Freiheit, die über das ganze Universum verbreitet ist, nicht die spezifisch menschliche Freiheit sein, die Schelling zu unter­suchen sich vorgenommen hat. (FS VII352)

A n späterer Stelle ist dann von einem Bewußtsein die Rede, für den eigenen Charakter und die aus ihm folgenden Handlungen in einem moralischen Sinne verantwortlich zu sein, und zwar deswegen,

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

D e r Mensch und die Offenbarung Got tes in d e r Freiheitsschrift

weil man seinen Charakter frei bestimmt hat. (FS VII386) Die erwähn­te Zuschreibung von Verantwortung beinhaltet also das Bewußtsein einer Freiheit verstanden als freie Bestimmbarkeit des eigenen Charak­ters. Eine solche in unseren moralischen Urteilen vorausgesetzte und angenommene Freiheit als »Vermögen des Guten und des Bösen« aber ist spezifisch menschlich und ist folglich als diejenige Freiheit zu iden­tifizieren, die es noch näher zu fassen und in das Weltganze einzuord­nen gilt. (FS VII 352) Wie sich zeigen wird, erfordert dieses Unterneh­men außerdem ein Denken, das zugleich auch dem eben erwähnten Verlangen genügt, eine freilich nicht spezifisch menschliche Freiheit »über das ganze Universum zu verbreiten«.

Der Bestimmung und Einordnung der beiden e rwähn ten Freiheits­begriffe nähert sich Schelling allerdings über den Umweg einer Vertei­digung seiner bisherigen Philosophie. Trotz des schon 1806 angedeute­ten Neuansatzes geht Schelling nämlich schon auf der ersten Seite des einleitenden Teils zu einer ausführlichen Verteidigung des Gedankens der derivierten Absolutheit und der Selbständigkeit der Folgen Gottes über. 1 Diese Selbstverteidigung hat die Gestalt einer Apologie des Pan­theismus, zu dem, wenn unter diesem Begriff nur »die Lehre von der Immanenz der Dinge in Gott« verstanden werde, »jede Vernunftansicht in irgend einem Sinn (...) hingezogen werden« müsse . 2 (FS VII 339) Schelling wendet sich gegen die Auffassung, »das einzig mögliche Sy­stem der Vernunft sey Pantheismus, dieser aber unvermeidlich Fatalis­mus«. (FS VII 338) Folgt man dieser Verteidigung, so bemerkt man allerdings rasch, daß Schelling schon innerhalb seiner Apologie das

1 Im Vorbericht zur der Sammlung von Schriften, in der die Freiheitsschrift zuerst erschien, behauptet Schelling außerdem explizit eine Kontinuität zwischen dieser und Philosophie und Religion. (FS VII333 f.) Dieser Aussage Schellings zum Trotz bestehen zwischen beiden Werken doch erhebliche Differenzen, welche die Freiheitsschrift als Neueinsatz erscheinen lassen. Zu Kontinuität und Diskontinuität zwischen beiden Wer­ken und zur Auseinandersetzung mit Eschenmayer vgl. Florig 2008. 2 Schelling nimmt hier seine von vielen als Pantheismus kritisierte Identitätsphiloso­phie in Schutz. Habermas weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß er eben die hier noch einmal vertretene Fassung seiner Philosophie mit der Freiheitsschrift endgül­tig aufgibt. (Habermas 1954: S. 231 f.) Freilich behält er den Gedanken der am Ende der Geschichte erreichten Immanenz der Dinge in Gott bei, konzipiert diese Immanenz aber so, daß sie eine Verbindung von Gott und Welt beinhaltet und Gott als von der Welt unterschiedene Person gedacht ist.

ALBER THESEN Oliver Florig

Freiheit, Leben und der interne Dualismus

Identitätssystem hinter sich läßt und auf eine neue Artikulation des Gefühls der Tatsache der Freiheit zielt.

In seiner Verteidigung des Pantheismus unterscheidet Schelling verschiedene irrige Auffassungen dieses Systemtyps und kritisiert sie. So wendet er sich u.a. gegen ein Verständnis, wonach i m Pantheismus nur Gott sei, alle Individualität also aufgehoben werde. Auch wenn man, wie Spinoza, das einzelne nur als eine Modifikation der einen Substanz betrachte, folge nicht, daß die unendliche Substanz in einer bestimmten Modifikation betrachtet mit der »unendlichen Substanz schlechthin betrachtet einerlei sey«. 3 (FS VII 344) Gegen eine Auffas­sung des Pantheismus, wonach dieser in einer Leugnung der Freiheit bestehe, stellt Schelling folgende Aussage: »Abhängigkeit hebt Selb­ständigkeit, hebt sogar Freiheit nicht auf .« 4 (FS VII346) Die Immanenz der Dinge in Gott vergleicht Schelling mit dem Begriffensein der Or­gane in einem Organismus: Jedes einzelne Organ in einem Gesamt­organismus habe sein Leben für sich, dessen Freiheit sich in der Krank­heit äußere, (a. a. O.)

Daß Schelling selber beabsichtigt, eine Ar t der Immanenz zu den­ken, machen die folgenden Zitate deutlich:

»Gott ist nicht ein Gott der Todten, sondern der Lebendigen. Es ist nicht einzusehen, wie das allervollkommenste Wesen auch an der möglich voll­kommensten Maschine seine Lust fände. (...) Die Folge der Dinge aus Gott ist eine Selbstoffenbarung Gottes. Gott aber kann nur sich offenbar werden in

3 Gegen die umgekehrte Auffassung, wonach Gott mit seinen Folgen derart einerlei sei, daß er in seinen Folgen verschwinde, wendet Schelling ein, daß bei Spinoza Gott und die Dinge toto genere verschieden seien, indem Gott das ist, »was in sich ist und allein aus sich selbst begriffen wird; das Endliche aber, was nothwendig in einem anderen ist, und nur aus diesem begriffen werden kann.« Gott bejaht sich, setzt sich selbst, alles andere ist nur Bejahtes, Folge Gottes. (FS VII340) Schelling hat hier natürlich Jacobis Spinoza-Kritik im Blick. Jacobi behauptet für Spinoza eine Ungeschiedenheit Gottes und seiner Folgen: Spinoza setze eine immanente Ursache der Welt an, die »mit all ihren Folgen zusammengenommen - Eins und dasselbe« ist. (Jacobi, F. H.: Über die Lehre des Spino­za. Jacobi Werke Bd. 1.1, S. 18) Diese Ungeschiedenheit kann man als Verschwinden Gottes in seinen Folgen interpretieren (a.a.O. S. 22f. u. 39) oder aber als Verschwinden der Folgen in Gott. (a. a. O. S. 99 f. u. 111 f.) 4 Auch hier zielt Schelling natürlich v.a. auf Jacobi, der seinen Sprung aus der als pa­radigmatisch verstandenen, pantheistischen Philosophie des Spinoza heraus, eben we­gen deren Fatalismus unternimmt. {Über die Lehre des Spinoza, Jacobi Werke Bd. 1,1. S. 27 ff.)

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

D e r Mensch und die Offenbarung Got tes in der Freiheitsschrift

dem, was ihm ähnlich ist, in freien aus sich selbst handelnden Wesen; für deren Seyn es keinen Grund gibt als Gott, die aber sind, sowie Gott ist. Er spricht und sie sind da.« (FS VII 346 f.)

Etwas weiter unten äußert er einen ähnlichen Gedanken und kommt dabei ausdrücklich auf das Konzept der derivierten Absolutheit zu sprechen:

»Die Repräsentationen der Gottheit können nur selbständige Wesen seyn; denn was ist das Beschränkende unsrer Vorstellungen als eben, daß wir Un­selbständiges sehen? Gott schaut die Dinge an sich an. A n sich ist nur das Ewige, auf sich selbst Beruhende, Wille, Freiheit. Der Begriff einer derivirten Absolutheit oder Göttlichkeit ist so wenig widersprechend, daß er vielmehr der Mittelbegriff der ganzen Philosophie ist. Eine solche Göttlichkeit kommt der Natur zu. So wenig widerspricht sich Immanenz in Gott und Freiheit, daß gerade nur das Freie, und soweit es frei ist, in Gott ist, das Unfreie, und soweit es unfrei ist, nothwendig außer Gott.« (FS VII 347)

Spinozas System sei nicht - wie Jacobi meint - fatalistisch, weil es pan-theistisch, sondern weil es rein realistisch sei: die Folgen Gottes seien ihm Dinge in einer gleichfalls dinglich verstandenen Substanz. Schel­ling hingegen zielt auf eine Immanenz endlicher, freier Folgen in der unendlichen Freiheit Gottes. (FS VII349 f.)

Dieser Verteidigung zum Trotz führt gerade die A r t und Weise, in der Schelling die Freiheit der Folgen Gottes begründet und bestimmt, über die Identitätsphilosophie hinaus. Freiheit wird hier zunächst verstan­den als Selbständigkeit der Folgen Gottes gegenüber Gott. Diese Selb­ständigkeit bezeichnet Schelling 1809 als formelle Freiheit. (FS VII 347, 349) Sie wird im weiteren Verlauf der Freiheitsschrift eben nicht über das Konzept der derivierten Absolutheit begründet , die ja auf eine >Mitteilung von Absolutheit von oben< hinauslief. Die Selbständigkeit der Folgen beruht nämlich, so Schelling an späterer Stelle, auf ihrem Gewordensein, in einem von Gott »verschiedenen Grunde«, d.h. in dem, »was in Gott selbst nicht Er Selbst ist«, der Natur in Gott. (FS VII359) Die Natur ist Grund der äußeren Existenz Gottes und als sol­che zu unterscheiden, von Gott selbst, d.h. von Gott, sofern er unab­hängig von der Welt existiert. Diese Unterscheidung, die Hermanni als »internen Dualismus« bezeichnet, zielt auf einen relationalen Begriff der Identität im Verhältnis von Gott und Welt, in dem Gott sich offen­bart, existiert, indem er sich der Welt verbindet, d.h. i m Sinne der

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Freiheit, Leben und der interne Dualismus

zitierten Ausführungen von 1806 aus der Vielheit wieder zu sich hin­durchdringt. 5

Der Gewinn gegenüber 1804, der es erlaubt, den Grund als selb-ständigkeitsverleihendes Prinzip zu begreifen, liegt darin, daß das Rea­le hier nicht als durch das Ideale gesetzt und vollständig bestimmt zu verstehen ist, sondern als ein ursprünglich Anderes. Dieses Andere ist gesetzt durch einen kontrahierenden, der Offenbarung Gottes wider­strebenden Wil len, der sich in den selbständigen Folgen Gottes außer­dem als Eigenwille verhält und individuierend wirkt. In der Offenba­rung steht diesem Wil len das ideale Prinzip entgegen, das von Schelling ebenfalls als Wil le , nämlich als auf Offenbarung drängender Universalwille gefaßt wi rd . 6 (FS VII 359 ff.) Dieser Wil le zielt i m Letz­ten auf die Verbindung von Gott und Welt, d. h. auf das e rwähnte H i n ­durchdringen Gottes durch die Vielheit zu sich selbst.

Soll dieses Hindurchdringen aber im Sinne der Verwirklichung einer relationalen Identität verstanden werden, sollen also die Einwän­de, die in diesem Punkt gegen Philosophie und Religion erhoben wur­den, vermieden werden, so müssen die Dinge und Gott jeweils unab­hängig voneinander existieren. Die Unabhängigkeit Gottes von der Welt wird von Schelling, analog zur Unabhängigkeit der Dinge von Gott, eingelöst, indem er die Unterscheidung von Grund und Existie­rendem auf Gott selbst anwendet: Gott trägt, so Schelling 1809, den Grund seiner Existenz in sich. (FS VII357 f.) Dieses Sich-selbst-Grund-Sein ist im Falle Gottes i m Sinne der causa sui zu verstehen, wobei

5 Hermanni 1994. S. 73 ff. In diesem Zusammenhang sei mit Hermanni noch einmal unterstrichen, daß Schelling hier keinesfalls zwischen »Grund zur Existenz« und »Exi­stenz« unterscheidet, sondern zwischen »Grund« und »Existierendem«. Andernfalls nämlich wäre, wie Hermanni betont, die Gleichursprünglichkeit der Prinzipien aufgeho­ben. (Hermanni 1994. S. 87 f.) Gegen dieses Mißverständnis wendet sich schon Schel­ling selbst in eindeutiger Weise: »Allein ich habe überhaupt nicht von einem Unter­schied zwischen Existenz und dem Grund zur Existenz gesprochen, sondern von einem Unterschied zwischen dem Existirenden und dem Grund zur Existenz ( . . . )«. (Brief an Eschenmayer vom April 1812. SW VIII164) 6 Innerhalb des Schöpfungsgeschehens kann der Universalwille in manchen Verhält­nissen als das beschrieben werden, was auf Basis und in Überwindung des Eigenwillens als seinem Grund existiert, bzw. existieren soll. Die Unterscheidung von »Grund zur Existenz« und »Existierendem« findet hier also eine Anwendung, die sich von ihrer Applikation auf das Verhältnis von Gott und Welt sowie auf das von Gott zu sich selbst unterscheidet. Eine nähere Differenzierung der verschiedenen Anwendungen der Un­terscheidung von Grund zur Existenz und Existierendem wird im dritten Kapitel vor­genommen. (Vgl. 3.7.1)

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

D e r Mensch und die Offenbarung Got tes in der Freiheitsschrift

hierunter ein reelles Verhältnis zu denken ist, das von Schelling, wie wir sehen werden, als innertrinitarisches Zeugungsverhäl tn is von Va­ter und Sohn konzipiert wird . 7 In diesem Zusammenhang ist zu beto­nen, daß die Natur in Gott als Grund der unabhängigen Existenz der Dinge nicht identisch ist mit dem Grund der Existenz Gottes in sich selbst. Wäre dies der Fall, so wäre die Natur als der Grund, in dem die einzelnen Dinge als von Gott unabhängige werden, zugleich Grund der persönlichen Existenz Gottes. Das aber liefe auf den Gedanken eines schrittweise sich entfaltenden Gottes hinaus: Gott als Person würde sich aus seinem Grund erst entwickeln. 8 Damit wäre dann die für die relationale Identität zentrale wechselseitige Unabhängigkeit von Gott und Welt aufgehoben. Daß Schelling so nicht denkt, wird in der in Fol­ge als Denkmal bezeichneten Streitschrift gegen Jacobi sehr deutlich. Dort wendet sich Schelling gegen den Vorwurf einer Naturalisierung des Absoluten und die von Jacobi aufgemachte Alternative, Gott müsse entweder im Sinne des Theismus als Ursache oder als Grund i m Sinne des Naturalismus verstanden werden. 9 Diese Alternative besteht nach Schelling nicht. Gott sei nämlich beides: Ursache bzw. Grund seiner selbst als eines intelligenten, sittlichen Wesens und zugleich durch Herablassung auch Grund der Schöpfung. 1 0 (Denkmal VIII 71) Mi t

7 Vgl. 2.3.3. 8 Da Schelling den Grund, wenigstens sofern er Grund der Kreatur ist, als »Dunkel« bezeichnet (FS VII 360 f.), würde er, so scheint es wenigstens, außerdem noch eine Dun­kelheit in Gott annehmen, aus der Gott sich dann schrittweise entwickeln würde. Die Frage, ob Schelling in der Freiheitsschrift und den Weltalterfragmenten Gott als tran­szendent aufgefaßt oder nicht vielmehr einen dynamischen Pantheismus im skizzierten Sinne konzipiert habe, ist in der Literatur umstritten. Fuhrmans etwa vertritt die erste Auffassung. (Fuhrmans 1954. S. 140 f. 228 u. 297 ff.) Vergauwen hingegen sieht eine Zweideutigkeit Schellings in dieser Frage. (Vergauwen 1975. S. 261 f.). Wieland meint, die Figur des werdenden Gottes in den Weltaltern gehöre dem Mythos an. Wo Schelling also mythisch erzähle, könne er eigentlich kein Absolutes mehr ansetzen. Dies sei nur möglich, wo Schelling aus der Erzählung heraustrete und diese interpretiere. (Wieland 1954. S. 77.) Tatsächlich ist die Alternative von Transzendenz vs. Pantheismus zu eng: Insofern Gott sich in sich selbst verwirklicht, transzendiert er den Weltprozeß. Zugleich zielt dieser aber auf eine Vereinigung der Welt mit Gott, in welcher die Unterscheidung von Welt und Gott nicht aufgehoben wird, eben, weil diese Verbindung Liebe ist, d.h. eine Verbindung Selbständiger. Wer das Pantheismus nennen wolle, so Schelling, möge das tun. (FS VII409) 9 Jacobi, F. H.: Über die göttlichen Dinge. Jacobi Werke. Bd. 3. S. 105 ff. 1 0 Im Sinne der Selbstzeugung Gottes ist auch folgendes Zitat zu verstehen:, »Gott allem - Er selbst der Existirende - wohnt im reinen Lichte, denn er allein ist von sich selbst.« (FS SW VII 360)

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Freiheit, Leben und der interne Dualismus

dieser doppelten Anwendung des internen Dualismus ist also eindeutig eine das Identi tätssystem sprengende Unterscheidung von Gott und Welt herbeigeführt.

Ein weiterer Begriff, der über das Identi tätssystem hinausweist, ist der Begriff des Lebens, der, wenigstens was die Lebendigkeit der Folgen Gottes und das Verhältnis von Gott und Welt angeht, gleichfalls das erwähnte Gegeneinander der beiden Wil len voraussetzt. Leben wird von Schelling nämlich, mit Bezug auf die äußere Verwirklichung Got­tes, als Verbindung widerstreitender Kräfte verstanden. 1 1 Schelling for­muliert bündig: »(.. .) wo nicht Kampf ist, da ist nicht Leben.« (FS VII 400) Etwas milder seine Wortwahl in den Stuttgarter Privatvorlesun­gen: »Ohne Gegensatz kein Leben.« Der Gegensatz ist nach Schelling notwendig, wi l l man Gott nicht als leere Identität denken. (SP VII 435) Die Überwindung der für das Leben konstitutiven Gegensätze wird von Schelling als Werden gedacht: Leben impliziert Werden, Entwick­lung. 1 2 (SP VII 432) Diese Entwicklung wird von Schelling i m Sinne einer freien, willenhaften Produktivität verstanden, auf welcher, wie im dritten Kapitel ausführlich zu erörtern sein wird, die spezifisch menschliche Freiheit aufruht. Insofern nun das ganze Universum als lebendig und Lebendigkeit wiederum als freie Produktivität verstanden ist, ist damit dem Verlangen, die Freiheit über das ganze Universum zu verbreiten, Genüge getan.

Wenn aber Gott selbst als lebendig zu denken ist, dann müssen auch in ihm selbst, d.h. sofern er unabhängig vom Weltprozeß exi­stiert, ein Gegensatz und ein Werden sein. Diese Notwendigkeit zwingt Schelling aber nicht dazu, einen sich nach und nach entwickelnden Gott zu denken. Beide Elemente der Lebendigkeit sind bezüglich der inneren Verwirklichung Gottes nämlich durch das Zeugungsverhäl tnis zu interpretieren: Gott wird, indem er sich zeugt. Er setzt und über­windet den Gegensatz in sich selbst durch ein innertrinitarisches Lie­besverhältnis und, wie wir sehen werden, durch das als Geist bezeich-

1 1 Der Begriff des Lebens ist schon für die Frühphase schellingschen Denkens zentral, rückt aber in der Identitätsphilosophie in den Hintergrund. Zur Bedeutung des Begriffs des Lebens für Schellings frühes Denken und den Einfluß Oetingers und Böhmes in diesem Zusammenhang siehe Habermas 1954. S. 122 ff. 1 2 Mit der Einführung der beiden Prinzipien ist schon der Weg hin zu Geschichtlichkeit geebnet: Das Verhältnis der beiden Prinzipien kann zeitlich interpretiert werden. (Vgl. Kap. 5; vgl. hierzu Hutter 2004. S. 87)

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nete Erkennen der Identität seiner selbst als Vater und als Sohn. Das Verhältnis Gottes zu sich ist damit ein immerwährendes und zugleich immer vollendetes Werden. Gott, so Schelling, ist »ein ewig (...) zu Stande gekommenes u. noch immer zu Stande kommendes, u. das nie aufhören wird zu Stande zu k o m m e n « . 1 3 ( W A Fr. Sehr. 199) In diesem Sinne könnte man auch Schellings Bemerkung verstehen, im Sein Got­tes sei das Werden selber wieder ein Sein . 1 4 (FS VII403)

Damit dürfte auch vom Begriff des Lebens her deutlich geworden sein, daß Schellings Verteidigung des Pantheismus eine Form ange­nommen hat, die nicht nur die von Spinoza ausgearbeitete Version die­ses Systemtyps sprengt, sondern auch diejenige, die Schelling in sei­nem Identitätssystem konzipiert hat: Für den Gedanken des Lebens als sich entwickelnde Einheit entgegengesetzter Kräfte bzw. Willen, wie wir ihn in der Einleitung bereits im Rahmen des Grundmodells von Entwicklung expliziert hatten, fand die Identitätsphilosophie kei­nen Ort bzw. nur einen in der abgefallenen Welt; ist das Identitäts­system doch nach dem Grundgedanken der Spiegelung des Einen in einer Vielzahl von Gestalten organisiert. 1 5

Wie schon angedeutet, macht es die Unterscheidung von Grund und Existierendem bzw. von Eigen- und Universalwille nicht nur möglich, Lebendigkeit und Freiheit über das Ganze des Wirklichen zu verbrei­ten, sie erlaubt es auch, die von Schelling schon 1804 anvisierte mora­lische Freiheit zu denken: Im Menschen sind die beiden Prinzipien so eins, daß der Mensch Geist ist. A l s Geist besitzt er eine Freiheit gegen­über den ihn konstituierenden Prinzipien, deren Ordnung er bestim­men kann. (FS VII 364) Damit hat Schelling den realen Begriff der Freiheit als »Vermögen des Guten und des Bösen« gewonnen und die spezifisch menschliche Freiheit bestimmt. (FS VII 352) Die für diese Freiheit konstitutive Alternative wird in einer freien Tat zur Entschei-

1 3 Vgl. auch: WA 1 Sehr. 72. 1 4 So jedenfalls sind, wie Buchheim vorschlägt, die Bezüge, wenn Schelling schreibt: »Im Seyn freilich ist kein Werden; in diesem (also im Sein; der Verf.) ist es selber (also das Werden, der Verf.) wieder als Ewigkeit gesetzt«. (FS VII403; hierzu Buchheim 1997 Ed. S. 159) Buchheim betont, das Leiden Gottes in seinem Werden könne nur auf Gott bezogen werden, sofern er sich in der Geschichte offenbart. 1 5 Habermas sieht denn auch die »Wendung (...) zur Gestalt« als das zentrale Charak­teristikum des Ubergangs von der Natur- zur Identitätsphilosophie an. (Habermas 1954.

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D i e Me thode des A n t h r o p o m o r p h i s m u s

dung gebracht, wobei diese Tat eben kein Erkennen ist, sondern den Charakter einer wirklichen Entscheidung hat. (FS VII 382 ff.)

Damit ist deutlich, daß Schelling 1809 Veränderungen ins Auge faßt, welche wenigstens drei der oben genannten Bedingungen eines ange­messenen Modells menschlicher Selbstformierung entsprechen oder wenigstens auf den ersten Blick zu entsprechen scheinen: Der erwähnte interne Dualismus zielt offensichtlich (1) darauf, Identität als Verbin­dung zu konzipieren. Der Gegensatz von Universal- und Eigenwillen scheint außerdem (2) geeignet, dynamische Prozesse denkbar werden zu lassen. Die Willenhaftigkeit dieser beiden, den menschlichen Geist konstituierenden Prinzipien erlaubt außerdem (3) die Begründung und Formulierung der motivationalen Grundlage menschlicher Entschei­dung. M i t dem realen Begriff der Freiheit scheint außerdem (4) ein er­ster Schritt zu einem angemessenen Begriff des Bösen getan.

Der Widerspruch, der prima facie zwischen der Verteidigung des Pantheismus einerseits und den deutlichen Zeichen eines Neuansatzes andererseits besteht, läßt sich auflösen: Zwar zielt Schelling nach wie vor auf eine Immanenz der von Gott hervorgebrachten Folgen Gottes in Gott. Diese Immanenz aber wird unter Ansatz der Unterscheidung zwischen Gott selbst und dem Grund zur Existenz Gottes gedacht, so daß die Immanenz die Verschiedenheit der Dinge von Gott nicht ge­fährdet und mit einem relationalen Identitätsbegriff kompatibel bleibt. Wie Schelling das Verhältnis von Gott und Welt des näheren denkt, wird im Verlauf des Kapitels deutlicher werden. Zuvor sei ein A b ­schnitt über die Methode eingefügt, die Schelling 1809 in Anschlag bringt.

2.2 Die Methode des Anthropomorphismus

Auch bezüglich seiner Methode nimmt Schelling 1809 nämlich eine Wende vor, die man als Wende hin zum Anthropomorphismus charak­terisieren kann:

»Alles Göttliche ist menschlich nach Hippokrates und alles Menschliche ist göttlich. Also können wir hoffen, uns der Wahrheit in dem Maße anzunä­hern, in welchem wir alles menschlich nehmen.« (WA 2 Sehr. 158)

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

D e r Mensch und die Offenbarung G o t t e s in d e r Freiheitsschrift

Die Methode Schellings impliziert umgekehrt die Möglichkeit einer vorsichtigen Übertragung der Aussagen, die Schelling über Gott und seine Entwicklung in der Welt macht, auf den Menschen. 1 6 Wodurch aber ist diese Methode motiviert und begründet? Zunächst könnte man auf den Einfluß Jacobis verweisen: Zweifellos entspricht sie näm­lich dem menschlichen Verlangen nach einem lebendigen und persön­lichen Gott, also eben dem Verlangen, das Jacobi gegen Spinoza artiku­liert. 1 7 Auf ein solches Verlangen geht Schelling explizit ein:

»Verlangen wir einen Gott, den wir als ein ganz lebendiges, persönliches We­sen ansehen können, dann müssen wir ihn eben auch ganz menschlich anse­hen, wir müssen annehmen, daß sein Leben die größte Analogie mit dem menschlichen hat, daß in ihm neben dem ewigen Seyn auch ein ewiges Wer­den ist, daß er mit einem Wort alles mit dem Menschen gemein hat, aus­genommen die Abhängigkeit (...).« (SP VII 432)

Indem Schelling aber darauf insistiert, daß uns gerade die Forderung der Lebendigkeit und Personalität Gottes zu einer Methode führt, in der wir etwas über Gott und sein Leben ausmachen können, wendet er das Jacobische Anliegen gegen dessen »Unphilosophie«, die eben über Gott wissenschaftlich nichts aussagen zu können glaubt, eine Auffas­sung, die Schelling als »Lehre der freiwilligen Blindheit« verspottet.18

(Denkmal VIII51) Diese Wendung trifft auch Eschenmayer und dessen »Nicht-Philosophie«. 1 9 Dieser wendet sich denn auch i n einem nach der Lektüre der Freiheitsschrift verfaßten Brief an Schelling gegen die

1 6 Hennigfeld weist darauf hin, daß Schelling die anthropologischen Überlegungen, die er in den Zeitaltern anstellt, der Metaphysik unterordnet. Selbst in der Freiheitsschrift stehe neben Aussagen über den Menschen ein ontotheologischer Entwurf. (Hennigfeld 2002. S. 13 f. u. 21) Österreich sieht im Anthropomorphismus einen Versuch Schellings, die begriffliche Spekulation durch ihre Angemessenheit an die menschliche Erfahrung zu bestätigen. (Österreich 2002. S. 29.) Wieland hingegen ist der Auffassung, der An­thropomorphismus solle es ermöglichen, die »anthropologischen Erfahrungen im Sche­ma des theogonischen Prozesses auslegen zu können«. (Wieland 1956. S. 75) 1 7 Vgl. Jacobi, F. H . : Über die Lehre des Spinoza, Jacobi Werke Bd. 1,1. S. 19 ff. 1 8 Jacobi, F. H.: Brief an Fichte, in: Jacobi Werke Bd. 11,1. S. 194. 1 9 Eschenmayer 1803. Die Differenzen und Entsprechungen zwischen Eschenmayer und Jacobi in diesem Punkt können hier nicht herausgearbeitet werden. Im Ganzen sind sie immerhin so stark, daß sich Eschenmayer genötigt sieht, sich gegen die Vorwurf, er habe Jacobi plagiiert, zu wehren. Eschenmayer tut dies in einem Anhang zu seiner 1805 in Erlangen erschienen Schrift »Der Eremit und der Fremdling. Gespräche über das Heilige und die Geschichte«. S. 110 f.) Zu den Differenzen zwischen Jacobi und Eschen­mayer vgl. Roux 2005 Ed. S. 227-267.

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Die Me thode des A n t h r o p o m o r p h i s m u s

Übertragung menschlicher Prädikate auf Gott. Sie seien »rein mensch­lich und unangemessen der Würde Got tes« . 2 0 Schellings Verteidigung gegen diesen Vorwurf zeigt, daß er diese Methode nicht nur in einem menschlichen Bedürfnis gegründet sieht. Sie entspricht vielmehr ihrem Gegenstand bzw. läßt sich i m Laufe der Untersuchung als diesem gemäß rechtfertigen:

»Es kann überhaupt nicht die Frage seyn, mit welchem Recht wir unsere Begriffe auf Gott übertragen; wir müssen vorerst wissen, was Gott ist. Denn gesetzt, es fände sich bei fortgesetzter Untersuchung, daß Gott wirklich selbstbewußt, lebendig, persönlich, mit Einem Wort menschenähnlich ist, wäre es dann noch ein Einwurf, daß wir damit unsere menschlichen Begriffe auf ihn übertragen? Wenn er nun menschlich ist, wer darf etwas dagegen einwenden?« 2 1

Außerdem mache derjenige, der den Anthropomorphismus ablehne, den Menschen ebenfalls zum »Maß der Gottheit«, freilich zu einem negativen. 2 2 A u f einen möglichen Vorwurf, er richte sein Denken an menschlichen Bedürfnissen, nicht an den der Vernunft eigenen Ratio­nalitätsstandards aus, kann man mit Schelling durch den Gedanken der Kongruenz von Gefühl und Vernunft in der wahren Erkenntnis ant­worten. Ein wahres System dürfe den »heiligsten Gefühlen, (...) dem Gemüth und sittlichen Bewußtseyn« nicht widersprechen, sondern be­friedige »alle Anforderungen des Geistes wie des Herzens, des sittlich­sten Gefühls wie des strengsten Verstandes«. 2 3 (FS VII413)

Die erwähnten »Anforderungen (...) des sittlichsten Gefühls« können i m Kontext des Programms der Freiheitsschrift, das Gefühl der Tatsache der Freiheit mit Bezug auf das Ganze der Wirklichkeit zu artikulieren, so auf unser Verlangen nach einem persönlichen Gott be­zogen werden, daß sie dieses Verlangen zusätzlich motivieren: Z u ­nächst sei an die schon in der Einleitung erwähnte und noch ausführ-

2 0 Eschenmayer: Brief an Schelling. 18.10.1810. Der Brief ist in der SW abgedruckt. Die zitierte Stelle findet sich in: SW VIII148) 2 1 Schelling: Brief an Eschenmayer vom April 1812. Auch der Antwortbrief findet sich in der SW. Das Zitat steht in: SW VIII167. 2 2 Schelling: Brief an Eschenmayer vom April 1812. SW VIII168. Was hier stellenweise als Polemik wirken mag, wird von Schelling 1820 in überaus durchsichtiger Weise wei­tergeführt, indem er das »absolute Subjekt« als das Indefinible, Unendliche, definiert, dem wir, eben um es als indefinibel zu denken, auch die Möglichkeit zuschreiben m ü s ­sen, von sich aus definibel, endlich zu werden. (Erlangen IX 219) 2 3 Vgl. auch Clara IX 9.

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licher zu rechtfertigende Prämisse erinnert, daß menschliche Entwick­lung nur als sittliche Selbstformierung gelingen kann. Wenn des wei­teren gelingende, menschliche Selbstformierung, wie in der Einleitung ebenfalls dargelegt, nur durch die Bezugnahme auf ein allem Wider­spruch transzendentes Prinzip möglich und zu verstehen ist, so müssen wir ein Absolutes denken, um unsere B e m ü h u n g e n u m die Formierung unseres Charakters explizieren zu können. Eine solche Bezugnahme kann aber, wie mit Blick auf Philosophie und Religion gezeigt, nur dann nicht als Arbeit an der Vernichtung unserer selbst als individuel­ler, endlicher Wesen verstanden werden, wenn unser Verhältnis zu ihm im Sinne einer relationalen Identität verstanden werden kann. Damit liegt es zumindest nahe, das Absolute als personales Gegenüber zu ver­stehen. Wenn dieses Absolute außerdem geeignet sein soll, als einen­des Prinzip der ganzen Wirklichkeit zu fungieren, dann kann diese Wirklichkeit nicht ganz anders geartet sein als dieses Prinzip. Sie muß dieses Prinzip vielmehr in irgendeiner Weise zum Vorschein bringen, offenbaren. N u n ist die Wirklichkeit, in der wir leben nach Schelling, unserem Verlangen, alles der Freiheit analog zu machen entsprechend, lebendig und quasi-personal verfaßt. Andernfalls wäre unsere Freiheit ein Fremdling in dieser Welt, ein kontingentes Randphänomen einer unfreien, apersonalen Wirklichkeit. Dann aber wäre schwer zu sehen, wie sie mit ihr in einem systematischen Zusammenhang stehen könn­te. Wenn Lebendigkeit und Personalität also schon u m unserer Freiheit wegen zentrale Züge der Wirklichkeit sein müssen, dann m u ß auch das Absolute, das sich in ihr zeigen soll, als lebendig und personal gedacht werden. 2 4

Die »Anforderungen (...) des strengsten Verstandes« freilich lau­fen darauf hinaus (FS VII 413), die Annahme eines persönlichen We­sens als Schöpfer der Welt zunächst eben als bloße Annahme, als Hy­pothese zu behandeln, die nur i m Verlauf wissenschaftlicher Untersuchung zu rechtfertigen ist. Schelling betont entsprechend, »daß die vollkommen begründete Einsicht von der Existenz dieses We­sens nur die letzte Frucht der durchgebildetsten, umfassendsten Wis­senschaft seyn könne.« Er fährt fort: »So steht es i m Grunde bis diesen Tag.« (Denkmal VIII 54) Diese Wissenschaft m u ß , wie dargelegt, eine

» Daneben kann man natürlich noch andere Motive ins Feld führen, etwa unser Erle­ben, das wenn es denn waches Erleben ist, in Tieren und Pflanzen sicher keine Auto­maten oder Maschinen zu sehen vermag.

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Die Methode des A n t h r o p o m o r p h i s m u s

solche sein, die das Ganze der Wirklichkeit als Offenbarung eines an-thropomorphen, personalen Gottes verstehbar macht. Da Schelling Personalität mit Hilfe der Unterscheidung von Grund und Existieren­dem denkt (FS VII 395), m ü ß t e sich diese Wissenschaft vollenden, i n ­dem sie alle ihr entgegenkommenden Phänomene durch den internen Dualismus deuten kann. Für naturale Phänomene bedeutet das, daß man diese Struktur in der ontischen Verfaßtheit des Gegenstandes wie­dererkennt, für geistige oder pr imär geistige Phänomene, wie etwa die menschliche Freiheit oder das Böse, m ü ß t e entsprechend des eben skiz­zierten Programms gezeigt werden, wie sie sich innerhalb einer mit Hilfe dieser Unterscheidung gedachten Wirklichkeit denken lassen. Diese Wissenschaft vollendet sich, indem sie die einzelnen Phänomene in eine in sich geschlossene, systematische Ordnung bringt.

Die wissenschaftliche Weltsicht, die Schelling ins Auge faßt, m u ß au­ßerdem ein aus sich selbst bestehendes Prinzip haben, das sich in allen Systemteilen reproduziert, und zwar so, daß dabei »eine Methode der Entwicklung und des Fortschreitens« etabliert wird, aus der die einzel­nen Teile hervorgehen. 2 5 (SP VII421) Das sich Reproduzierende ist die Identität zweier entgegengesetzter Prinzipien. Die geforderte Methode wiederum beruht auf eben jener in der Einleitung skizzierten Bewe­gung, in welcher eine in sich widersprüchliche Wirklichkeit aus diesem Widerspruch zu entkommen sucht, bis die in sich differenzierte Wi rk ­lichkeit ein den Widerspruch schlichtendes Verhältnis zum Wider­spruchslosen gefunden hat. Dieses Verhältnis ist, so ist noch zu zeigen, eine der Formen, unter welchen Gott als Liebe existiert. In ihrer V o l l ­endung m ü ß t e diese Wissenschaft das Ganze der Welt als Grund der (äußeren) Existenz Gottes als Liebe begreifen können. Dieses Zie l frei­lich ist nicht nur der Endpunkt des Systems, es ist auch das, was aus Sicht der Gegenwart noch aussteht. Es ist zukünftig.

M a n kann sich fragen, welche Konsequenz diese Zukünftigkeit für Schellings Philosophie hat. Daß die Vollendung der Wissenschaft, wel­che die anthropomorphe Betrachtung Gottes und der Welt letztlich rechtfertigt, noch aussteht, könnte nämlich auch in der Unabgeschlos-senheit des Weltprozesses liegen. In den Einleitungen zu den drei

2 5 Freilich wird diese Logik an bestimmten Stellen unterbrochen, und zwar dort, wo der Fortgang durch eine freie Handlung bestimmt wird, etwa durch die freie Entscheidung des Menschen, seine Rolle im Offenbarungszusammenhang auszufüllen oder nicht.

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D e r Mensch und die Offenbarung Got tes in der Freiheitsschrift

Weltalterdrucken äußert sich das darin, daß die künftige Vollendung zwar antizipiert wird, die Zukunft zugleich aber nicht als Gegenstand des Wissens, wie die Vergangenheit, oder der Erkenntnis, wie die Ge­genwart bestimmt wird, sondern nur »geahndet« werden kann. (WA 1 Sehr. 3) M a n könnte also annehmen, daß die Vollendung der Wissen­schaft in der Gegenwart prinzipiell unmöglich ist. In Frage gestellt wird diese Lesart freilich durch Schellings Bemühen , i m ersten Weltalter­druck diese Zukunft als Fortschreibung derjenigen Entwicklung auf­zuzeigen, die sich zuvor bei der Beschreibung von Vergangenheit und Gegenwart bewährt hat. Es liegt daher nahe, Ahndung entsprechend als kontrollierte Antizipation zu verstehen. 2 6

Es entspricht dem skizzierten Programm, daß die ausgezeichneten Ge­genstände, die Schelling in den einleitenden Passagen der Freiheits­schrift erwähnt, also unter anderem Personalität, Lebendigkeit und Geistigkeit, auf dem erwähnten internen Dualismus von Grund und Existierendem beruhen. Diese Unterscheidung erweist sich also als das zentrale Theorieelement, von dem die weiteren Neuerungen ab­hängen, ob es sich um die Neubegründung der Selbständigkeit der Fol­gen Gottes und der menschlichen Freiheit handelt, oder um die Per­sonalität und die Lebendigkeit Gottes und des Menschen.

Wie aber hängen Personalität, Geistigkeit und Lebendigkeit zu ­sammen, wenn sie alle i n irgendeiner Weise auf einer Verbindung der beiden Prinzipien beruhen? Im dritten Kapitel werden diese Verhält­nisse vor allem mit Blick auf diese Welt und den Menschen näher zu betrachten und zusätzliche Aspekte einzuführen sein. Einstweilen sei, wiederum mit Blick auf die außergöttl iche Wirklichkeit, folgende Dif­ferenzierung skizziert: Leben meint die Verbindung gegensätzlicher Kräfte überhaupt und zwar so, daß das Existierende als Band seiner selbst und der es konstituierenden Basis besteht.2 7 Dabei fungiert das

2 6 Eine solche Fortschreibung hält Schelling andernorts immerhin für einen gangbaren Weg, den Übergang von der Natur in die Geisterwelt auf methodisch abgesicherter Weise vollziehen zu können. (Clara IX 5 f., 20 f.) Damit würde die Gefahr, die nach Marquet aus der Verschiedenheit der Bezugnahme auf die drei Weltalter für die Einheit des Systems erwächst, wenn nicht ausgeräumt, so doch gemildert. (Vgl. Marquet 1973. S. 409) 2 7 Das gilt streng genommen nicht für jedes Verhältnis eines Existierenden zu seiner Basis, sondern nur für die organische Natur und den Geist, nicht aber für das Verhältnis von Licht und Schwere im dynamischen Prozeß. (Vgl. 3.7.1)

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Die Situiertheit menschlicher Freiheit im Leben G o t t e s

Existierende als das ideale, organisierende Prinzip gegenüber dem rea­len, auf dem es existiert und das sich zu dieser Existenz zum einen an­bietet. Z u m anderen aber verschließt sich dieses als das, was es von sich her ist, und m u ß erst zum Existierenden organisiert werden. Diese Ba­sis ist ihrerseits bereits ein Produkt widerstreitender Kräfte, also für sich ein Existierendes. Die Stufe des Geistes ist erreicht, wenn die orga­nisierende Aneignung den Grad einer inneren Durchsichtigkeit gewon­nen hat. Damit ist die Stufe der Natur, die reale Reihe abgeschlossen. Ab diesem Punkt beginnt die ideelle Reihe, sprich die Sphäre des Han­delns, in welcher das erwähnte Prinzipienpaar neu interpretiert werden m u ß : Als Geist können wir uns bewußt zu dem, als was wir uns zeigen, verhalten. Das heißt, wir können als dieser oder jener existieren, indem wir das, was wir bisher sind, zum Grund eines neuen Auftretens unse­rer selbst machen, und zwar indem wir es modifizieren und reorgani­sieren. M i t Geistigkeit ist hier das Moment der Bewußtheit , der Selbst­durchsichtigkeit bezeichnet. Diese auf der Geistigkeit beruhende Freiheit, sich so oder so zu zeigen, macht wiederum die Personalität aus: Person ist, wer Charakter hat, d.h. wer seinem Sein und Tun ein »Ge­präge« geben, sich also selbst formieren kann. 2 8 ( W A 2 Sehr. 177)

2.3 Die Situiertheit menschlicher Freiheit im Leben Gottes

Wie schon bemerkt, ist menschliche Freiheit nach Schelling im Welt­ganzen zu situieren. Im folgenden werden wir daher die Hauptmomen­te des Systems von 1809 betrachten. Dabei werden wir fragen, wie sie zur Artikulation der spezifisch menschlichen Freiheit beitragen. Zuvor jedoch ist es hilfreich, den zentralen Begriff der Liebe in seinen ver­schiedenen Anwendungen näher zu bestimmen.

2.3.1 Die drei Bewegungsweisen der Liebe

Gott ist dem Wesen nach Liebe. (FS VII 397, 405 f.) Als solcher offen­bart er sich uns, indem er die Welt mit sich verbindet. Dieses Durch-

2 8 Vgl. Buchheim 2004. S. 29 ff. Als persönlich bezeichnet Schelling diejenigen Eigen­schaften, die wir im Prozeß unserer Selbstbildung erworben haben. (Anthropologisches Schema X 289)

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D e r Mensch und die Offenbarung Got tes in der Freiheitsschrift

dringen Gottes durch die Vielheit zu sich selbst, die wir schon in seiner Selbstkritik von 1806 angedeutet fanden, ist nur eine, wenn auch die höchste der Formen der Liebe, als die sich Gott in seinem Verhältnis zur Welt zeigt. Insgesamt sind 1809 nämlich drei Bewegungen, Verhal­tensweisen oder Weisen des Auftretens der Liebe Gottes in seinem Ver­hältnis zur Welt zu identifizieren, in Einklang zu bringen und im Ge­samtsystem zu verorten. 2 9 Folgende Weisen des Auftretens der Liebe sind zu unterscheiden:

a) Die Liebe als das Bewegende zur Schöpfung

Der Begriff »Liebe« tauchte schon in Philosophie und Religion und in den Aphorismen auf. Kern dessen, was dort mit Liebe bezeichnet war, ist die »Neidlosigkeit« des Absoluten seinem Gegenbild, d.h. dem Menschen und der Welt gegenüber. (PR V I 63) Diese Neidlosigkeit ist als Fülle Gottes zu verstehen, deretwegen Gott seine Absolutheit »für keinen Raub erachtet«, sondern sie in einem Absoluten außer sich ob­jektiviert. 3 0 (Aphorismen VII 174) Sie äußer t sich also in der Selbst­objektivierung Gottes aus seiner Fülle heraus. Der Gedanke der not­wendigen Selbstobjektivierung, den Schelling 1804 explizit nicht als Handlung verstanden wissen wi l l (PR V I 32), wird 1809 allerdings durch die Figur einer freiwilligen Schöpfung, einer »That« abgelöst. Die Liebe als Äußerung der Fülle Gottes oder als »Communicat ivum sui« wird entsprechend zum Grund des göttlichen Schöpfungshan­delns. (FS VII396 f.) Die Liebe ist hier also nicht als Gefühl verstanden, wohl aber als Wille, der zugleich das Wesen Gottes ausmacht. Dabei gilt für die Freiheitsschrift, daß Gott seinem Wesen als Liebe gemäß die Welt schöpfen muß , wobei er in dieser Schöpfung auch absolut frei ist, eben weil er seinem Wesen als Liebe gemäß handelt. 3 1 (FS VII 397) Frei ist nach Schellings an Spinoza angelehnter Freiheitsdefinition

2 9 Buchheim unterscheidet drei Funktionen der Liebe: das Zeugen, das Scheiden und das Vereinen. (Buchheim 2004. S. 33.) Die letzten beiden entsprechen der zweiten und drit­ten der hier genannten Bewegungen der Liebe. Eine genaue Zuordnung des Zeugens zum ersten hier genannten Auftreten der Liebe ist nicht möglich, da Gott die Welt nicht zeugt. 3 0 Vgl. 1.4. Für eine Interpretation der Liebe als Gipfel der Sittlichkeit und als inner­trinitarisches Verhältnis siehe Buchheim 2004. S. 31 ff. 3 1 Dem dritten Weltalterdruck zufolge hätte sich Gott auch nicht offenbaren können. (WA 3 VIII306) Daß er es aber tat, ist durch die Liebe motiviert. (WA 3 VIII310 f.)

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D i e Situiertheit menschl icher Freiheit im Leben Got tes

nämlich derjenige, der von seinem Wesen zum Handeln bestimmt wird . 3 2 (FS VII 384)

b) Die Offenbarung der Liebe als bejahendes, auf Entwicklung und

Vereinigung von Welt und Gott drängendes Prinzip in Entgegen­

setzung und Zusammenspiel mit dem kontraktiven Prinzip

Der Entschluß zur Schöpfung impliziert ein entsprechendes Handeln Gottes. In diesem Handeln zeigt sich die Liebe in der zweiten Weise ihres Auftretens, nämlich als dasjenige Prinzip, das i m Weltprozeß dem verneinenden Prinzip entgegen auf Entwicklung und schließlich auf Vereinigung der Welt mit Gott drängt. Kontrahierendes Prinzip und Liebe sind eben die zwei Prinzipien von Entwicklung, die Schelling im zweiten Weltalterdruck ausgemacht hatte, wobei die Liebe als das unmittelbar telosbezogene Prinzip zu verstehen ist, welche das Wesen Gottes im Weltprozeß ausdrückt. Unter anderem bezogen auf diese Wirkungsweise der Liebe betont Schelling immer wieder, daß die Existenz der Liebe eine verneinende, kontraktive Kraft voraussetzt, in deren Überwindung sie wirksam werden kann. 3 3 (FS VII 375) In der Interaktion dieser beiden Prinzipien i m Weltprozeß entsteht eine in sich differenzierte Wirklichkeit. (FS VII 361 ff.)

c) Die Offenbarung der Liebe als Band zwischen Freien

In der durch den Widerstreit der beiden Prinzipien konstituierten Wirklichkeit kommt dem Menschen als geistigem Wesen die Aufgabe zu, die Welt mit Gott zu vermitteln und die dritte Weise der Offenba­rung der Liebe zu aktualisieren. 3 4 Dieses Auftreten der Liebe setzt, wie dargelegt, die Selbständigkeit und Freiheit der Verbundenen voraus, denn sie verbindet, wie Schelling sagt, nur solche, »deren jedes für sich seyn könnte und doch nicht ist (...) ohne das andere.« (FS VII 408, Aphorismen VII174) Diese in einer freien Verbindung vorausgesetzte Selbständigkeit wird, wie gesagt, in der Freiheitsschrift mit Hilfe des

3 2 Spinoza: Ethik I Def. 7. 3 3 Die Liebe »ist das Nichts der Eigenheit, sie sucht nicht das ihre und kann darum auch von sich selbst nicht existirend seyn.« (WA 1 Sehr. 19) Sie würde, wie Schelling glei-chenorts sagt, zerfließen. Dieser Punkt ist so zentral für Schellings Denken ab 1809, daß er ihn in jedem Systementwurf bzw. Systemfragment wiederholt: SP VII 438f., W A 1 Sehr. 19 ff., W A 2 Sehr. 172, W A 3 VIII 210 f. 3 4 Auch der Gedanke der Aktualisierung der Liebe in Verbindung Freier findet sich nach 1809 immer wieder. (FS VII408, SP VIII453 u. W A 1 Sehr. 64.)

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D e r Mensch und die Offenbarung Got tes in der Freiheitsschrifi

internen Dualismus begründet . Zugleich wird das Verhältnis von Gott und Mensch, in welchem auch die Welt als Ganzes mit Gott im Ver­hältnis steht, zu einem interpersonalen Verhältnis. U m in dieses Ver­hältnis treten zu können, m u ß der Mensch den Eigenwillen dem Uni ­versalwillen oder der Liebe unterordnen. Die Überwindung des Eigenwillens durch die Liebe im zweiten Sinne ihres Auftretens ist also Voraussetzung der Aktualisierung der Liebe in der Verbindung Selb­ständiger.

2.3.2 Sehnsucht und anfängliche Natur: der Grund der äußeren Offenbarung Gottes

Die Wirklichkeit der Liebe setzt, wie bereits gesagt, Differenz voraus, wobei Differenz in der Freiheitsschrift nicht, wie Schelling es 1804 we­nigstens für die ideelle Differenz versucht hatte, als notwendige Kon­sequenz einer basalen Operation eingeführt wird, sondern schlicht als Voraussetzung der Offenbarung des Einen: Schelling legt die Bedin­gungen einer systematischen Philosophie dar, die unsere Freiheit und unsere Selbstbestimmung im Zusammenhang des Ganzen der Wirk­lichkeit denken kann, ohne diese Bedingungen in einen genetischen Zusammenhang zu bringen. Das folgende Zitat ist also als Exposition der Bedingungen der Offenbarung der Liebe zu verstehen:

»Der Ungrund theilt sich aber in die zwei gleich ewigen Anfänge, nur damit die zwei, die in ihm, als Ungrund, nicht (...) Eines seyn konnten, durch Liebe eins werden, d. h. er theilt sich nur, damit Leben und Lieben sey und persön­liche Existenz.35 (FS VII 408)

A u f den Begriff des Ungrundes wird noch einzugehen sein. Die hier erwähnten zwei Anfänge sind zu verstehen als Gott selbst einerseits, und der Natur in Gott als Grund der äußeren Offenbarung Gottes an­dererseits. Diese Natur in Gott oder den Grund hatte Schelling der M e ­thode des Menschlichnehmens entsprechend metaphorisch als Sehn­sucht bezeichnet, und zwar als gleichewige »Sehnsucht, die das ewige

3 5 Die Rede vom Auseinandergehen und der Selbstscheidung Gottes, die eine Aktivität des Ungrundes zu beinhalten scheinen, ist irreführend: Der Wille zur Existenz, wie Schelling 1811 das Analogon zur Sehnsucht bezeichnet, wird nicht vom Höchsten selber hervorgebracht, sondern zeugt sich in diesem selber und wird von ihm lediglich emp­fangen. (WA 1 Sehr. 16 f.)

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Die Situiertheit menschl icher Freiheit im Leben G o t t e s

Eine empfindet, sich selbst zu gebären.« (FS VII 359) Die Sehnsucht ist Wille, aber ein unverständiger, d. h. einer, der nicht informiert ist dar­über, was er wi l l , und der entsprechend nicht durch dieses Wissen ge­leitet ist. 3 6 In späteren Schriften wird dieser Wil le als verneinender oder kontrahierender Wil le charakterisiert: Indem er auf etwas geht, das er nicht selbst ist, ist er zunächst die Verneinung des Gewollten, denn »Sich wollen und sich verneinen als seyend ist eins und dasselbe.« (WA 3 VIII 224) Dabei wird dieser Wil le als konstitutiv für das ge­dacht, was Schelling 1809 »anfänglich regellose Natur« nennt. (FS VII 361) Was darunter genau zu verstehen ist, wird im dritten Kapitel un­ter Heranziehung der Schellingschen Naturphilosophie von 1801 nä­her zu untersuchen sein. Hier sei nur auf den Text der Freiheitsschrift verwiesen, wonach diese Natur als ungestaltetes Zusammen von Kräf­ten gedacht ist, aus dem heraus die gestaltete Wirklichkeit schrittweise entfaltet wird. (FS VII 361 ff.) Die Sehnsucht tritt in dieser Entfaltung als Wil le auf, der sich der Entfaltung widersetzt.

Damit hat Schelling zwei Bedingungen des als Entwicklung kon­zipierten Weltprozesses eingeführt: das aller Entwicklung widerstre­bende Prinzip sowie die anfänglich regellose Natur als Basis von Ent­wicklung. Da diese Basis die Selbständigkeit der Welt gegenüber Gott begründet und das der Entwicklung widerstrebende Prinzip für die Freiheit des Menschen konstitutiv ist, hat Schelling damit zugleich zwei für seine Untersuchung der menschlichen Freiheit zentrale Ele­mente gewonnen.

2.3.3 Die innere Verwirklichung Gottes qua Reflexion

Der nächste Gedankenschritt beinhalt die Anwendung der Unterschei­dung von Grund und Existierendem auf Gott selbst. Es wird geklärt, in welcher Weise Gott als causa sui zu denken ist. Insofern damit zugleich die Unabhängigkeit der Existenz Gottes in sich selbst von der Existenz der Welt gewonnen wird, wird hier zugleich eine Voraussetzung der als Liebe bezeichneten relationalen Identität geklärt, welche ja die wech­selseitige Unabhängigkeit von Welt und Gott impliziert. Auch dieser Schritt exponiert insofern eine Voraussetzung der 1809 vertretenen

3 6 Von Sehnsucht ist nach Schelling eben dann zu sprechen, wenn wir nach »unbekann­tem namenlosen Gut verlangen«. (FS VII360)

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Konzeption menschlicher Freiheit als es eben Aufgabe des Menschen ist, die erwähnte Verbindung in einer freien Entscheidung zu aktuali­sieren. Im Text der Freiheitsschrift wird dieser gedankliche Schritt in äußerster Knappheit ausgesprochen.3 7 Nach einigen Sätzen zur nähe­ren Charakterisierung der Sehnsucht schreibt Schelling:

»Aber entsprechend der Sehnsucht, welche als der noch dunkle Grund die erste Regung göttlichen Daseyns ist, erzeugt sich in Gott selbst eine innere reflexive Vorstellung, durch welche, da sie keinen andern Gegenstand haben kann als Gott, Gott sich selbst in einem Ebenbilde erblickt. Diese Vorstellung ist das Erste, worin Gott, absolut betrachtet, verwirklicht ist, obgleich nur in ihm selbst, sie ist im Anfange bei Gott, und der in Gott gezeugte Gott selbst « (FS VII 360 f.)

Die Bezeichnungen der reflexiven Vorstellung als »der in Gott gezeug­te Gott« und als »Wort« begründet eine trinitarische Deutung dieses Verhältnisses. Unter »Wort« nämlich versteht Schelling im ersten Weltalterdruck den Sohn Gottes, der als das differenzierende Prinzip, als Liebe, in der Schöpfung fungiert. 3 8 ( W A 1 Sehr. 57) Die Einheit von Gott und seinem Spiegelbild, verstanden als völlige Durchsichtigkeit im Selbsterkennen, ist dann als Geist zu deuten. 3 9 Die Liebe, die Gott ist und die er in seinem Verhältnis zu sich selbst verwirklicht, ist im Geist verständige Liebe: Gott weiß sich als Liebe.

Eine Dunkelheit in Gott selbst, sofern er i m eben entwickelten Sinne trinitarisch verfaßt ist, ist hier der Ansetzung der Sehnsucht zum Trotz nicht gegeben. Der Sehnsucht ist in Gott qua Zeugung vielmehr immer schon entsprochen.4 0 Innerhalb eines trinitarischen Verhältnisses ist sich Gott selber Grund, und zwar in Form eines interpersonalen Ver-

3 7 Dieser Schritt nimmt im ersten Weltalterdruck hingegen einen breiten Raum ein, im zweiten und dritten fast den gesamten. 3 8 Schelling lehnt sich hier natürlich an den Prolog des Johannesevangeliums an. (Jo­hannes 1,1-4) e w 3 5 Vgl. Buchheim 1997 Ed. S. 174. Für eine trinitarische Deutung dieser Passage vgl. auch Hennigfeld 2001. S. 66 ff. " Der Ausdruck »entsprechend der Sehnsucht« kann nun so verstanden werden, daß der Sehnsucht in Gott immer schon Genüge getan ist. Zugleich kann der Ausdruck als Behauptung e.ner Analogie gedeutet werden: So wie die Natur bzw. die Sehnsucht in Bezug auf Gottes äußere Existenz als deren Grund fungiert, so macht sich Gott in seiner inneren Verwirklichung zum Grund seiner selbst. (Vgl. Buchheim 1997 Ed. S. 174.)

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hältnisses. 4 1 A u f diese Weise ist auch dem erwähnten Schellingschen Diktum Genüge getan, wonach Gott als Existierender allein i m »reinen Licht« wohne und »von sich selbst« sei. (FS VII 360) Denn insofern er sich als innerlich Unterschiedener selbst zeugt und sich als Einheit i m Geist durchsichtig wird, gilt das, was von aller Kreatur gilt, von ihm eben nicht, nämlich, daß sie aus »Dunkelheit ans Licht« gehoben sei. (FS VII 360) Zugleich ist durch die innere Verwirklichung Gottes der Gedanke eines erst in der Welt zu sich kommenden Gottes ausgeschlos­sen. 4 2 Damit ist außerdem klar, daß Gott, indem er sich selbst i m Sinne eines innertrinitarischen Verhältnisses als Person konstituiert hat, als personales Gegenüber des Menschen gedacht wird.

2.3.4 Gottes Offenbarung in der Welt

Daß dieser personale Gott aber nicht nur ein Gegenüber ist, dem der Mensch sich in Aktualisierung der relationalen Identität verbinden kann, sondern auch als Schöpfer einer personal verfaßten Wirklichkeit zu verstehen ist, macht Schelling im Fortgang des Gedankengangs deutlich.

Zunächst gibt Schelling in äußerster Dichte und in unmittelbarem Anschluß an das im letzten Abschnitt interpretierte Zitat eine Schil­derung des Entschlusses Gottes zur Schöpfung:

»Diese Vorstellung ist zugleich der Verstand - das Wort jener Sehnsucht, und der ewige Geist, der das Wort in sich und zugleich die unendliche Sehnsucht empfindet, von der Liebe bewogen, die er selber ist, spricht das Wort aus, daß nun der Verstand mit der Sehnsucht zusammen freischaffender und allmäch­tiger Wille wird und in der anfänglich regellosen Natur als in seinem Element oder Werkzeug bildet.« (FS VII 361)

Wie zuvor verwendet Schelling also auch hier eine anthropomorphe Rede. Die Sehnsucht ist Sehnsucht nach der äußeren Verwirklichung Gottes. Was in dieser Offenbarung wirklich werden kann, das hat Gott in der reflexiven Vorstellung seiner selbst erkannt. Vom Moment des Reflexivwerdens, den Schelling in den Weltalterfragmenten als Weis­heit bezeichnet, sagt er dort, daß in diesem »alles, was einst seyn sollte,

4 1 Vgl. Buchheim 2004. S. 33; vgl. hierzu W A 1 Sehr. 72. 4 2 Vgl. Fuhrmans 1954. S. 297 ff. und Hermanni 1994. S. 102 ff.

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an dem innern Blick des still anschauenden Wesens« vorüberging. 4 3

(WA 1 Sehr. 31) Die Weisheit unterscheidet sich freilich in manchem vom hier betrachteten Moment der Reflexion, doch hat Gott nach Schelling auch in dieser alles erkannt, was in ihm »implicite enthalten« sei. 4 4 (FS VII 396) Insbesondere hat Gott dasjenige Wesen erblickt, in dem und demgegenüber er sich vorzüglich offenbart, nämlich den Menschen. (FS VII 363) In diesem offenbart er sich deswegen ins­besondere, weil der Mensch Geist ist wie Gott, freilich so, daß er sich, wie wir noch näher sehen werden, von Gott abwenden kann. (FS VII 364) Diese Möglichkeit des Bösen ist für die äußere Offenbarung Got­tes als Liebe nach Schelling unumgängl ich notwendig: Die Selbständig­keit des Menschen qua Selbstheit reicht nicht aus, um die Liebe als Band zu aktualisieren. Hierzu ist auch nötig, daß die mögliche Tren­nung des Menschen von Gott in einer freiwilligen Verbindung über­wunden sei. 4 5 (FS VII 373 f.)

Der Entschluß zur äußeren Offenbarung ist, wie dargelegt, zugleich notwendig und frei: Als Liebe konnte sich Gott seiner Offenbarung nicht versagen. (FS VII 397) In diesem Moment verhäl t sich Gott also als Liebe in der ersten der oben unterschiedenen Weisen. Er tut dies, indem er das Wort ausspricht. (FS VII 361) Dieses Aussprechen meint, daß Gott das von ihm als möglich Erkannte w i l l , bejaht. Dieser Wille der Liebe, auch als Universalwille oder Verstand bezeichnet, tritt der Sehnsucht entgegen, die als Verneinung dessen, was sein soll, der Be­jahung dessen, was sein soll, nämlich der äußeren Offenbarung Gottes in der Welt bzw. im Menschen, entgegenwirkt. M i t dem Wil len der Liebe hat Schelling das zweite der beiden für die Denkbarkeit von Ent­wicklung nötigen Prinzipien eingeführt. Dieses Prinzip wirkt derart, daß es die Kräfte der »anfänglich regellosen Natur« schrittweise aus-

4 3 Die Bilder dessen, was einst sein soll, bezeichnet Schelling als Ideen. Sie können freilich nicht mit den Ideen in der Identitätsphilosophie in eins gesetzt werden. Zwar produzieren sie sich im Selbsterkennen des Einen, doch kann man von ihnen eben nicht sagen, daß sie die eigentliche unvergängliche Wirklichkeit darstellen, aus der die empi­rische Wirklichkeit qua Fall hervorgeht. Vielmehr werden sie wirklich im prälapsari-schen Schöpfungshandeln Gottes. (WA 1 Sehr. 30 f., W A 2 165 ff.) 4 4 So bezeichnet Schelling die Weisheit ausdrücklich nicht als Logos und verleiht ihr den Charakter eines ephemeren Bilderreigens. (WA 2 165 ff.) Zur Weisheit siehe 5.2.1.3. 4 5 Schelling verweist hier auf den Gedanken aus Philosophie und Religion, wonach das Sein in Gott ein selbst eingenommenes sein muß. (FS VII 404)

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einandersetzt und zu immer differenzierteren Wesen entfaltet, bis im Menschen das Ziel der Naturentwicklung erreicht ist, nämlich ein geistiges Gegenüber, das sich als solches mit Gott aus freien Stücken verbinden kann. (FS VII 361, 373 f.)

2.3.5 Die Vermittlung von Welt und Gott als Aufgabe des Menschen

Die schon wiederholt angesprochene Mittlerfunktion des Menschen drückt Schelling aus, indem er sagt, der Mensch sei der »Erlöser der Natur« . N u r der Mensch sei als Geist ursprünglich in Gott geschaffen. (FS VII 411) Nur er kann als freies und bewußtes Gegenüber sich Gott durch das Band der Liebe verbinden und das Ganze der Welt mit ihm vermitteln, d.h. erst i m Menschen ist die evolvierte Liebe bewußter Wille wie in Gott. Daß der Mensch die Aufgabe hatte, eine freiwillige Verbindung von Natur und Gott herzustellen, ist im Gespräch Clara aus postlapsarischer, kontrafaktischer Perspektive folgendermaßen ausgedrückt:

»Der Mensch hätte schon hier ein zugleich geistlich und leibliches Leben gelebt; die ganze Natur hätte sich in und mit ihm zum Himmel oder zum unvergänglichen ewigen Leben erhoben. Gott wollte nicht ein todtes oder nothwendiges, sondern ein freies und lebendiges Band beider (der äußeren und der inneren Welt) (...). Von der Freiheit des Menschen hing also auch die Erhebung der ganzen Natur ab. Es kam darauf an, ob er vergäße, was hinter ihm war, und nach dem griff, was vor ihm war.« (Clara IX 32)

Die Mittlerfunktion des Menschen hat hier allerdings schon, wie in den Schriften ab 1810 allgemein, eine etwas andere Gestalt angenommen: Der Mensch ist hier nur indirekt Mitt ler von Natur und Gott. Direkt vermittelt er Natur und Geisterwelt. 4 6 (Clara IX 31 f.) Im Dialog Clara beschreibt Schelling diese Vermittlung als Vergeistigung der Natur. Die Natur ist permanentes Hervorbringen, Erschaffen in immer höhe­ren Stufen, das sich in der Geisterwelt fortgesetzt hätte - Schelling spricht hier von einem Fortwachsen - , hät te der Mensch diesen Über­gang nicht unterbrochen. Der Mensch ist also der Punkt, in dem die Natur über sich hinaus gekonnt hätte. Da er dieses Fortwachsen durch

4 6 Zur Mittlerfunktion des Menschen und seiner Stellung im Kosmos siehe auch: SP VII 479 u. 484, W A 3 VIII 260 f. Zur Rolle des Menschen als Mittler von Natur und Geisterwelt vgl. Österreich 2002. S. 26 ff.

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seinen Fall unterbrochen hat, perpetuiert die Natur ihr Produzieren, indem sie ihre Produkte immer wieder vernichtet. 4 7 Das aber ist der Grund für die Sterblichkeit der Menschen. (Clara IX 30ff.) In den Stuttgarter Privatvorlesungen thematisiert Schelling den Übergang umgekehrt von der Seite der Geisterwelt als Verleiblichung des Geistes in der Natur: Im Geist, der aus der Natur emporgehoben wurde und in ihr wirkt, obgleich er ihr nicht mehr eigentlich angehört , also im menschlichen Geist, liegt, wie Schelling sich ausdrückt, der »Verklä­rungspunkt der Natur« . (SP VII 454) Unter Verklärungspunkt nämlich versteht Schelling hier denjenigen Punkt, an dem die Natur aufhört, das eigentlich Existierende zu sein, und zum Leib, zum Grund der geistigen Welt wird, eben indem in ihr selbst der Geist hervortritt und sich dem Geistigen verbindet. Dadurch aber wird das Band der Liebe realisiert. 4 8 (WA 1 Sehr. 64 ff.) Dem entspricht, wie i m dritten Kapitel im Zusammenhang mit einer Analyse der Genese und der inneren Struktur des Geistes näher zu zeigen sein wird, die Einsetzung der Lie­be, also des göttlichen Prinzips, das den Menschen über sich hinaus weist, als dem Herrschenden, Existierenden im menschlichen Geist. 4 9

Die Freiheit, diese Mittlerfunktion anzunehmen oder nicht, wird von Schelling als Freiheit zum Guten oder Bösen gefaßt und i n den Kon­stitutionsbedingungen des Geistes fundiert: Der Geist konstituiert sich, wie im dritten Kapitel näher gezeigt werden wird, als Identität des W i l ­lens des Grundes und des Willens der Liebe. (FS VII 363 f.) Der Wille des Grundes verhält sich in jedem Wesen als Eigenwille, der auf Selbst­erhaltung dringt und individuierend wirkt. (FS VII 362) Der Wille der Liebe ist demgegenüber der bewußte, organisierende Wil le Gottes zur Offenbarung, der diejenige Ordnung der Schöpfung wi l l , in der Gott sich offenbaren kann. 5 0 Schelling bezeichnet ihn deswegen eben auch

4 7 Die Folge ist eine uneigentliche Zeitlichkeit einer steten Wiederkehr des Gleichen. (Zur Zirkulär!tat der Weltzeit vgl. Hutter 2004. S. 89) Dieser Wiederkehr zum Trotz, die sich in der empirischen Welt im Einzelnen phänomenal ausweisen läßt, darf das Ganze der empirischen Welt aber nicht als eine bloße Wiederkehr des Gleichen verstanden werden, sondern ist vielmehr in einer Offenbarungsgeschichte, einer »Wiedererhe­bung« der gefallenen Welt, begriffen, die als schrittweise Scheidung zu verstehen ist. (SP VII463) Vgl. hierzu 5.2.2. 4 8 Entsprechend vermutet Schelling ein höchstes Wesen in der Geisterwelt, das diese wiederum mit Gott vermittelt und gleicherweise frei ist, sich zu versagen. (SP VII 479) 4 9 Vgl. 3.6.3. & 1

5 0 Vgl. Buchheim 1997 Ed. S. 175.

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als »Universalwille«. (FS VII 363) Ihm zu folgen, bedeutet für den Menschen, seine Rolle i m Ganzen der Offenbarung einzunehmen, sprich die Welt mit Gott zu vermitteln und die eigene Selbstheit dieser Aufgabe unterzuordnen. (Clara IX 29 ff.) In der Freiheitsschrift drückt Schelling dies so aus, daß der Mensch den Geist erhalten habe, um »im Centro«, in das er erschaffen wurde, also in Gott, zu bleiben. 5 1 (FS VII 365) Indem der Mensch aber Geist ist, ist er frei gegen die ihn konsti­tuierenden Prinzipien: Sie sind zu seiner Disposition gestellt. (FS VII 364, 370)

Als Wesen, das beider Prinzipien mächtig ist, ist der Mensch als in seinem Verhältnis zu diesen Prinzipien unentschieden gedacht. Diese Unentschiedenheit kann nicht als reine Indifferenz verstanden werden, eben weil der Mensch in Gestalt der beiden Wil len die »Selbstbewe­gungsquelle zum Guten und Bösen gleicherweise in sich hat«. (FS VII 374) Nun verlangt die Offenbarung Gottes Entschiedenheit: U m Gott zu offenbaren, m u ß sich der Mensch frei zum Guten entscheiden. Die­se Entscheidung denkt Schelling als angestoßen durch die »Sollicita-tion«, die Versuchung zum Bösen. (FS VII374) Die Sollizitation ist eine Folge der Situation, in die der Geist durch seine eigenen Konstitutions­bedingungen und durch seine Mittlerposition gestellt ist: Der Wil le des Grundes weckt i n ihm »die Lust zum Creatürlichen«. (FS S W 381) Die­se Lust bewirkt im Widerstreit mit dem Universalwillen Angst, und zwar Angst vor der Selbstaufgabe, die als Vernichtung erscheint, ohne es freilich zu sein. In Wahrheit nämlich verliert derjenige, der sich von sich scheidet, sein Leben nur, »um es in weit höherem Sinne wieder Zugewinnen.« ( W A 1 Sehr. 99) Systematisch ist diese Bewahrung des Endlichen im Absoluten daraus begründet, daß die All-Einhei t der Lie­be die Selbständigkeit und Freiheit der in ihr Begriffenen voraussetzt, so allerdings, daß der Eigenwille in ihr bloßes Werkzeug ist. Eine Selbstaufgabe in diesem Sinn, die eben nicht Vernichtung des Indivi­duums ist, ist freilich nötig, damit der Mensch in Gott, d. h. in der A l l -Einheit der Liebe leben kann. Schelling spricht hier davon, daß der Mensch »aller Eigenheit absterben« müsse. Die Liebe oder das »Cen­trum« nämlich »ist für jeden besondern Wil len verzehrendes Feuer«, so daß »die Angst des Lebens selbst« den Menschen zum Abfall dränge. Es sei daher ein »fast nothwendiger Versuch«, sich gegen den Univer­salwillen zu wenden und außerhalb von Gott »eine Ruhe seiner Selbst-

5 1 Zur Redeweise von »Centrum« und »Peripherie« siehe Buchheim 1997 Ed. S. 130 f.

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heit zu suchen.« (FS VII 381) Der Versuch ist also, das sei hier unter­strichen, fast notwendig, aber eben nur fast.

Der Abfall des Menschen, die Realisierung des Bösen, besteht folglich darin, daß der Mensch auf seiner Selbstheit beharrt, sie dem Universalwillen überordnet und seine Geistigkeit als Mi t t e l der Selbst­erhaltung instrumentalisiert. (FS VII 365) Diese Verkehrung wird von Schelling als ein Handeln gefaßt, d.h. als eine Entscheidung darüber, als wer wir in die Existenz treten und wirken. Der Handlungscharakter ist anders als 1804 über die Willenhaftigkeit der Prinzipien begründet. Das Böse ist entsprechend mehr als eine falsche, wenn auch produktive Perspektive, sondern eine »positive Verkehrtheit oder Umkehrung der Principien«. 5 2 (FS VII 366)

2.3.6 Gottes Offenbarung in der Geschichte

Zwischen die skizzierte Begründung der Möglichkeit des Bösen über die Konstitutionsbedingungen des Geistes und die Entscheidung, in der das Böse wirklich werden kann, schiebt Schelling einen Abschnitt ein, in welchem die universelle Wirksamkeit des Bösen zunächst in der Natur, dann in der Geschichte aufgewiesen wird. Die Wirksamkeit des Bösen ist noch nicht die Wirklichkeit desselben, sondern beschreibt zu­nächst die Wirkrichtung des Grundes, sich der Entwicklung, der Liebe zu verschließen. 5 3 Schelling spricht hier von »Erregung« des Eigenwil­lens. (FS VII 375 f.) Die Erregung des Eigenwillens beinhaltet das Stre­ben des Willens des Grundes bzw. des Eigenwillens, sich zum Herr­schenden zu machen, wobei dieses Streben insofern als Streben nach dem Bösen charakterisiert werden kann, als diese Verkehrung eben das Böse ist. (FS VII 380 f.) Gleichwohl ist der Wi l l e des Grundes nicht

5 2 Von diesem neuen Begriff des Bösen her kritisiert Schelling Auffassungen, die das Böse »aus dem Begriff der Relationen« oder der Endlichkeit erklären, wie er es selber 1804 getan hatte: »Das Böse kommt nicht aus der Endlichkeit an sich, sondern aus der zum Selbstseyn erhobenen Endlichkeit«, d. h. aus einer Endlichkeit, die sich gegen Gott zu behaupten versucht. (FS SW VII370 Fußn.) Schelling wendet sich entschieden gegen alle Bestimmungen des Bösen, die es nicht als positiven Gegensatz des Guten fassen und keine positive Ursache des Bösen annehmen, wie Schelling es im Gedanken des Abfalls tut, sondern das Böse wie Leibniz nur als Unvollkommenheit oder als bloße Wirkung der Sinnlichkeit begreift. (FS VII 367, 371) 5 3 Vgl. Buchheim 1992. S. 137 f.

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böse, sondern nur »das mögliche Princip des Bösen« (FS VII 403), und zwar deswegen, weil die Wirklichkeit des Bösen die Entscheidung vor­aussetzt, den Eigenwillen zum Herrschenden zu machen. Eben deswe­gen kann die Erregung des Eigenwillens in der Natur in dieser nicht zur Verwirklichung des Bösen führen. (FS VII 377) Das ist erst i m je indi­viduellen Geist möglich: »Denn das Böse kann immer nur entstehen im innersten Wil len des eignen Herzens .« 5 4 (FS VII 399)

M i t der Evolution des Geistes wird der schon die Natur bestimmende -und konstituierende - Widerstreit von Eigen- und Universalwille auf eine geistige Ebene gehoben, also in einer höheren Potenz wiederholt. Schelling spricht diesbezüglich von einem Widerstreit zwischen dem »Geist des Bösen« und dem »Geist der Liebe«. (FS VII 377) Hier sind der Geist der Liebe und der Geist des Bösen als geschichtliche Prinzi­pien zu verstehen, die im Verlaufe der Geschichte in unterschiedlichen Konfigurationen interagieren, so daß verschiedene Gestalten des Geistes wirklich werden: »Die Geburt des Geistes ist das Reich der Ge­schichte, wie die Geburt des Lichts das Reich der Natur i s t .« 5 5 (FS VII 377f.) Insofern beide Prinzipien in der Geschichte wirken, kann man diese mit Buchheim als »Milieu« verstehen, in dem die je individuelle Entscheidung zum Guten oder zum Bösen fällt. 5 6 Der Mensch wird von Schelling dann also nicht nur in seiner Stellung zwischen seinen natur­haften Antrieben und der Liebe als göttl ichem Prinzip betrachtet, son­dern auch in seiner Verortung in einer je bestimmten geschichtlichen Situation.

Diese Interpretation scheint allerdings zur Konsequenz zu haben, daß man die Geschichte entweder ganz für vermeidbar halten oder aber eine felix culpa annehmen m u ß . Die Geschichte, die Schelling hier skizziert, ist nämlich eindeutig als postlapsarische Offenbarungs­geschichte zu verstehen. 5 7 Auch im Falle einer durch den Fall geprägten

5 4 Die Erregung des Willens des Grundes in der Natur wird im dritten Kapitel unter Heranziehung der Naturphilosophie verständlich werden. 5 5 Schelling nennt hier unter anderem eine »Zeit seliger Unentschiedenheit«, eine »Zeit der waltenden Götter«, die wohl mit dem antiken Griechenland zu identifizieren ist, einen geschichtlichen Moment, in dem »das im Grunde wirkende Princip endlich als welteroberndes Princip hervortrat«, gemeint ist wohl das Reich Alexander des Großen, und so fort. (FS VII 379) 5 6 Vgl. Buchheim 1992. S. 180. 5 7 Das Wort, d. h. der Geist der Liebe wird hier als Person, d. h. als Christus verstanden.

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Geschichte gilt freilich, daß jeder einzelne Mensch, seiner Verstrickt-heit in eine solche Geschichte zum Trotz, durch seine »eigne Schuld« fällt. 5 8 (FS VII 382) Allerdings ist zu bemerken, daß Schelling dem fe-lix-culpa-Gedanken 1809 vehement widerspricht. 5 9 In aller Deutlich­keit wendet sich Schelling gegen den Gedanken, im Wi l l en zur Schöp­fung sei das Böse als Mit te l oder als conditio sine qua non in Kauf genommen. Der Wil le zur Schöpfung sei nur ein Wi l l e zum Guten. 6 0

(FS VII 402) Eine genaue Lektüre zeigt denn auch, daß die Erregung des Grundes, d.h. das Streben nach der Wirklichkeit des Bösen zur Offenbarung Gottes nötig ist, nicht aber die Wirklichkeit des Bösen. Der Gedanke an eine notwendige geschichtliche Offenbarung Gottes läßt sich mit dem Gedanken der Vermeidbarkeit des Falls nur verein­baren, wenn man eine Geschichte als möglich denkt, die nicht vom Fak­tum des Falls ausgeht. Nach Schellings Grundkonzeption, der zufolge die empirische, zeitlich verfaßte Wirklichkeit Konsequenz des Sünden­falls ist, muß diese Geschichte als außerzeitl iche verstanden werden. 6 1

Die Geschichte, die Schelling tatsächlich schildert, ist allerdings dieje­nige, die den Fall voraussetzt. 6 2 Sie endet, wie oben erwähnt , mit der Rückkehr der Welt in Gott in der Al l -Einhei t der Liebe.

(FS VII 377) »Denn nur Persönliches kann Persönliches heilen, und Gott m u ß Mensch werden, damit der Mensch wieder zu Gott komme.« (FS VII 380, SP VII 463) Christus ist hier als derjenige gedacht, der Gott und Mensch wieder versöhnt, nachdem der Mensch gefallen ist. 5 8 Der Gedanke Kierkegaards, daß der einzelne Mensch trotz seiner Eingebundenheit in eine von der Erbsünde geprägten Geschichte, in welcher die Sünde sich quantitativ an­reichert, durch eigene Schuld fällt, so daß die Sünde durch jeden einzelnen Menschen neu in die Welt kommt, könnte hier zur Erläuterung dienen. (Vgl. Kierkegaard, Sören. Der Begriff Angst, in: Gesammelte Werke. 11. u. 12. Abt. S. 27.) 5 9 Eine Reihe von Interpreten, welche die Deutung des Falls als felix culpa vertreten, finden sich aufgeführt in Buchheim 1997 Ed. S. XXXf. Fußn. 56 u. 62. Müller hingegen sieht eine Widersprüchlichkeit der Schellingschen Argumentation in diesem Punkt (Müller 1844. S. 128 ff, ähnlich Habermas 1954. S. 271), während Buchheim (2000. S. 47 ff. u. 1999 S. 188 f.) und Hermanni (Hermanni 1994. S. 240 ff.) den Gedanken der felix culpa für die Freiheitsschrift ablehnen. Buchheim betont die Notwendigkeit der Erregung des Bösen, d.h. dessen Streben nach Wirklichkeit. Eine solche Notwendigkeit aber komme der Wirklichkeit desselben eindeutig nicht zu. (Buchheim 1997 Ed. S. XXX) 6 0 In den Stuttgarter Privatvorlesungen macht Schelling deutlich, daß die empirische Geschichte als Umweg anzusehen ist, den der Mensch hätte vermeiden können. (SP VII 461) Zur Vermeidbarkeit der Folgen des Falls vlg. auch Clara IX 32 6 1 Vgl. 4.1.3,4.4 u. 4.5. 6 2 Die hier vertretene Deutung der in der Freiheitsschrift zu findenden Skizze der Offenbarungsgeschichte im Sinne eines Milieus der Selbstbestimmung des einzelnen,

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2.3.7 Die All-Einheit der Liebe als antizipiertes Ziel der Geschichte

Diese All-Einhei t der Liebe ist das von Schelling antizipierte und er­hoffte Resultat des Weltprozesses, der postlapsarisch als Rückkehr der Welt in Gott zu verstehen ist. Der Weltprozeß endet mit der Aussto­ßung des Bösen und der Verbindung des Ganzen der Wirklichkeit mit Gott, der darin, wie Schelling sagt, »Alles in Allem« ist. (FS VII404) In dieser Verbindung Gottes mit allem ist dieser i m Sinne der dritten der oben genannten Bewegungsweisen der Liebe aktuell. Zugleich ist der zur Entwicklung nötige Widerspruch dadurch gelöst, daß das zur Ent­wicklung drängende Prinzip, die Liebe als Universalwille, d. h. die Liebe in der zweiten ihrer Erscheinungsformen, an ihr Ziel gekommen ist und sich nicht mehr in Widerspruch gegen den jeweils erreichten Stand der Entwicklung setzt. Im Menschen, und qua Mensch in der ganzen Schöpfung, ist die Liebe das Herrschende, auf das hin alles andere als Mit te l organisiert und geeinigt ist. In dieser durch den Menschen her­zustellenden Ordnung sind sich die beiden die Entwicklung der Welt konstituierenden Prinzipien in gewissem Sinne einig: Der Wille des Grundes war ja ursprünglich ein Wil le zur Existenz, zur Offenbarung Gottes. Sein Gegensatz mit dem Universalwillen war insoweit Mit te l zum Zweck, wie er eben den Grund des Höheren abgab. (WA 1 Sehr. 58) Der alle Entwicklung vorantreibende Widerspruch aber war nicht nur Motor des Weltprozesses. Er war auch das Treibende unseres Stre­bens. (WA 2 Sehr. 134) Entsprechend ist die All-Einhei t der Liebe nicht nur als antizipiertes Ziel der Geschichte zu verstehen, sondern, wie wir sehen werden, auch als das anzustrebende Ziel unserer Selbstformie­rung. Erst in der All-Einhei t der Liebe enden die Widersprüche, die unser Leben bestimmen und denen wir in unseren Bestrebungen zu entkommen suchen.

wird dadurch gestützt, daß Schelling zunächst die Möglichkeit des Bösen aus der inne­ren Verfaßtheit des Geistes begründet, um anschließend zu erörtern, wie das Böse »als ein unverkennbar allgemeines, mit dem Guten überall im Kampf liegendes Princip aus der Schöpfung habe hervorbrechen können.« (FS VII373) Erst danach, also nachdem die Möglichkeit des Bösen qua Geistigkeit und die Wirksamkeit des Bösen in Natur und Geschichte entfaltet sind, beantwortet Schelling die Frage, wie »im einzelnen Menschen die Entscheidung für Böses oder Gutes vorgehe«. (FS VII 382) Wäre die Geschichte nicht als Situierung der Entscheidung des einzelnen Menschen, sondern lediglich als Folge dieser Entscheidung zu verstehen, wäre diese Reihenfolge sinnvoller Weise umzu­drehen.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 77

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2.3.8 Der Ungrund als vorausgesetzte Einheit

Dieses Streben ist, wie Schelling im zweiten Weltalterdruck deutlich macht, nur denkbar vor dem Hintergrund eines Prinzips, das dem W i ­derspruch entrückt ist und zu dem wir zurückzukehren bemüht sind. (WA 2 Sehr. 124) Das Analogon des Widerspruchslosen führt Schelling in der Freiheitsschrift mit Blick auf Frage nach der Einheit des Systems ein, welche durch den internen Dualismus bedroht zu sein scheint. Nachdem er lange mit der Unterscheidung von Grund und Existieren­dem in Gott operiert hatte, stellt Schelling die Frage, ob die beiden Prinzipien einen »gemeinsamen Mit te lpunkt« haben oder eben nicht. (FS VII 406) Diese Frage zielt nicht auf eine noch zu erreichende Ein­heit beider, also auf die All-Einhei t der Liebe, sondern auf eine ursprüngliche. Ohne eine solche aller Duali tät vorausliegende Einheit erhielte man einen absoluten Dualismus, den Schelling als »Selbstzer­reißung und Verzweiflung der Vernunft« ablehnt. (FS VII354) Auf der anderen Seite dürfen die beiden Prinzipien auch nicht einfach in eins fallen. (FS VII 406) Die Lösung des Problems besteht, wie angedeutet, darin, die Alternative von Dualismus und Monismus zu vermeiden, indem eine als »Ungrund« oder »Indifferenz« bezeichnete Einheit ge­dacht wird, die dem Gegensatz von Grund und Existierendem, Realität und Idealität vorausliegt, die aber für alle weiteren Momente der Ent­wicklung nicht aufgehoben wi rd . 6 3 (FS VII 406)

Die allem Gegensatz vorausliegende Einheit wird von Schelling als Indifferenz bezeichnet, um auszudrücken, daß sie nicht durch Ver­einigung der entgegengesetzten Prinzipien gewonnen wird, sondern durch Abkoppelung. 6 4 Durch den Ausdruck »Ungrund« für diese Ein­heit soll hingegen die Verneinung der Offenbarung angezeigt wer­den. 6 5 Dieses Moment entspricht der Indifferenz, die Schelling in der Darlegung gegen Fichte exponiert hatte: Das Eine ist hier weder in sich

6 3 Vgl. Hennigfeld 2001: S. 129 f. Hier zeigt sich eine generelle Strategie Schellings, die er in den Weltaltern noch expliziter ausführt, nämlich verschiedene, anscheinend unver­einbare, aber in ihrem relativen Recht unverzichtbare Systemtypen auf verschiedene Momente seines Systems zu verteilen, das entsprechend als System von Systemen kon­zipiert ist. Sehr deutlich äußert sich Schelling zu diesem Vorgehen im ersten Weltalter­druck: W A 1 Sehr. 87 ff. u. 102 ff. 6 4 Buchheim 1997 Ed. S. 162. 6 5 Buchheim 1997 Ed. S. 161.

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Fazit: D i e Fortschritte gegenüber Philosophie und Religion

noch nach außen offenbar.66 (Darlegung VII 54 ff.) Des näheren spricht Schelling hier von Ün-Grund, weil diese Einheit anders als der Grund nichts ist, auf dem etwas existieren, in die Offenheit heraustreten könnte. Genauso wenig könnte der Ungrund als Ungrund offenbar werden, obgleich sich das, was hier als Ungrund bezeichnet wird, in einem späteren Moment als die Liebe zeigt, die sie schon immer war:

»Die Liebe aber ist das Höchste. Sie ist das, was da war, ehe denn der Grund und ehe das Existirende (als getrennte) waren, aber noch nicht war als Liebe, sondern - wie sollen wir es bezeichnen?« (FS VII 406)

Nun, bezeichnet wird es eben als Indifferenz oder als Ungrund. Schel­ling knüpft hier ganz offensichtlich an seine Selbstkritik von 1806 an. Das Eine m u ß durch sein Anderes zu sich selbst durchdringen, um sich als Liebe zu zeigen.

2.4 Fazit: Die Fortschritte gegenüber Philosophie und Religion

M i t Blick auf die Gesamtarchitektur der Freiheitsschrift läßt sich kon­statieren, daß Schelling 1809 über denkerische Mit te l verfügt, die den vier im Rahmen unserer Kri t ik an seinem System von 1804 identifi­zierten Bedingungen eines angemessenen Modells menschlicher Selbstformierung genügen:

(1) Die erste Bedingung eines solchen Modells, die der Darlegung gegen Fichte zufolge auch Bedingung der Offenbarung des Einen war, hat Schelling 1809 in einer eigentümlichen Weise erfüllt: Das Erforder­nis einer relationalen Identität von Gott und Welt wurde mit Hilfe der Unterscheidung von Grund und Existierendem gelöst. Indem Schelling diese Unterscheidung doppelt, nämlich einmal auf Gott selbst und dann auf das Verhältnis von Gott und Welt anwendet, kann er eine wirkliche Differenz denken, die durch eine als Liebe zu verstehende Verbindung überwunden wird, in welcher die Unterscheidung von Gott und Welt bzw. Gott und Mensch nicht aufgehoben, sondern bewahrt wird. Damit ist der für Philosophie und Religion konstatierte Widerspruch zwi­schen dem identitätsphilosophischen und dem relationalen Identitäts­begriff zugunsten des letzteren ausgeräumt und die dort zu konstatie-

6 6 In den Stuttgarter Privatvorlesungen wird von Gott in diesem Moment gesagt, daß er bewußtlos sei. (SP VII 432 ff. u. 428; vgl. auch: WA 3 VIII 238 u. 262)

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

D e r Mensch und die Offenbarung Got tes in der Freiheitsschrifi

rende Spannung zwischen der Selbständigkeit der Folgen Gottes und der Idealität der Differenz behoben.

(2) Der Gegensatz von Grund und Existierendem bzw. Eigen- und Universalwillen erlaubt aber nicht nur, die wechselseitige Unabhängig­keit von Gott und Welt zu begründen, er ermöglicht außerdem im Sin­ne der zweiten Bedingung Geschehen, Entwicklung zu denken. Freilich besteht in diesem Zusammenhang das Problem, auf das noch im vier­ten Kapitel einzugehen ist, nämlich daß Schelling entweder ein außer­zeitliches Geschehen denken oder den Fall als Voraussetzung der ge­schichtlichen Entwicklung ansetzen m u ß . Im fünften Kapitel wird sich zeigen, daß Schelling dieses Problem erst im ersten Weltalterdruck einer zufriedenstellenden Lösung zuführt .

(3) Die für menschliche Selbstbestimmung geforderte Einfügung des Prinzips des Willens in das Gesamtsystem ist in Gestalt der Prinzi­pien von Eigen- und Universalwillen geleistet.

(4) Im Ausgang von diesem Gegensatz gewinnt Schelling ein überzeugendes Konzept der menschlichen Freiheit zum Guten oder zum Bösen. Die motivationale Grundlage einer Entscheidung zum Bö­sen, wie einer Entscheidung zum Guten, ist geklärt. Das Böse wird des weiteren in seiner Positivität ernst genommen und nicht als episte-mischer Akt und als Fall in die Nichtigkeit verharmlost. Der Gedanke der felix culpa wird von Schelling zurückgewiesen. Damit ist auch die vierte Bedingung erfüllt.

Zugleich lassen sich in der Freiheitsschrift auch alle Elemente des ein­gangs skizzierten Grundmodells von Entwicklung identifizieren: eine aller Entwicklung entrückte, widerspruchslose Einheit sowie der Ge­gensatz eines auf Entwicklung drängenden und eines die Entwicklung hemmenden Prinzips. Zusätzlich hat Schelling einen in unserer einlei­tenden Skizze nicht erwähnten anfänglichen Grund von Entwicklung eingeführt. Der aus dieser anfänglichen Einheit schrittweise qua Inter­aktion beider Prinzipien evolvierte Geist ist dann, wie dargelegt, eben diejenige Instanz, durch dessen Handeln der Widerspruch, der die Ent­wicklung antreibt, zu seinem Ende kommen kann. In welcher Weise Schelling menschliche Selbstformierung unter Einsatz dieser Elemente in der Freiheitsschrift des näheren gedacht hat und ob sein 1809 ver­tretenes Modell menschlicher Selbstformierung als gelungen anzuse­hen ist, ist Gegenstand des vierten Kapitels. Im folgenden Kapitel sind einige Konzepte, die hier eingeführt wurden, näher zu klären. Das be-

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Fazit: D i e Fortschritte gegenüber Philosophie und Religion

trifft unter anderem die Begriffe von Leben, Geist, Personalität, dem Bösen, sowie die Unterscheidung von Grund und Existierendem. Diese Klärung soll i m Rahmen einer Interpretation der Evolution des Geistes aus der Natur in Gott erfolgen, da Schelling die erwähnten Begriffe im Zusammenhang mit dieser Evolution einführt. Außerdem können aus der Interpretation der Entwicklung des Geistes aus der Natur Schluß­folgerungen für die charakterliche Entwicklung des Menschen gezogen und die besondere Weise erläutert werden, in welcher der Mensch sich auf den Grund seiner Existenz bezieht. Dieser Grund wird dabei von Schelling vor allem i m Sinne unseres naturalen Seins verstanden, d.h. der unserer tierischen Existenz entstammenden Antriebe, Fähigkeiten und Eigenschaften. Menschliche Selbstformierung vollzieht sich, i n ­dem der Mensch diese Basis seines Lebens in Unterordnung unter den Universalwillen in Dienst nimmt und entsprechend modifiziert. Dabei gewinnt er das, was Schelling als Gelassenheit bezeichnet, d. h. einen Zustand, in dem die beiden in der Einleitung unterschiedenen Formen der Unruhe überwunden sind.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 81

3 Die Konstitution des Geistes und die natu­rale Basis menschlicher Selbstformierung

3.1 Z u r Interpretation der naturphilosophischen Deduktion in der Freiheitsschrifi

In seiner Freiheitsschrift verweist Schelling wiederholt auf seine Na­turphilosophie: Z u m einen erklärt Schelling, die »Naturphilosophie unserer Zeit« habe zuerst »zwischen dem Wesen, sofern es existirt, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist«, unterschie­den. Diese Unterscheidung gehe auf die »erste wissenschaftliche Dar­stellung derselben« zurück. 1 (FS VII357) Gemeint ist Schellings eigene Darstellung meines Systems der Philosophie von 1801, auf die er in einer Fußnote verweist. 2 Zum anderen enthäl t die Freiheitsschrift eine sogenannte »naturphilosophische Deduction«, die aber ganz offen­sichtlich nicht mehr ist als eine in Metaphern gekleidete Skizze. 3 Daß Schelling diese Deduktion selber für nicht vollständig hält, zeigt seine Bemerkung, es sei »Aufgabe einer vollständigen Naturphilosophie« zu »zeigen, wie jeder folgende Proceß dem Wesen der Natur näher tritt«, d. h. wie der menschliche Geist schrittweise aus der Natur entwickelt wird.* (FS VII362)

1 Wenn Schelling schreibt, daß »nur aus Grundsätzen einer wahren Naturphilosophie (...) sich diejenige Ansicht entwickeln (läßt), welche der hier stattfindenden Aufgabe vollkommen Genüge thut«, meint Schelling eben diese Prinzipiendifferenz. (FS VII 357) Mit der Aufgabe, die Schelling hier erwähnt, ist die Frage nach dem Verhältnis Gottes zum Bösen gemeint, die Schelling wenig zuvor in ihren Aporien entfaltet hat. 2 Buchheim weist darauf hin, daß diese Unterscheidung sich sowohl innerhalb des Schellingschen Werks, als auch außerhalb desselben schon früher findet. (Buchheim 1997 Ed. S. 114 f.) 3 Die Bezeichnung »naturphilosophische Deduction« findet sich im Jahreskalender von 1809 (Hg. von Knatz et. el. 1994, S. 14), in dem Schelling die einzelnen Schritte der Abfassung der Freiheüsschrift festgehalten hat. 4 Genau genommen unterscheiden sich die beiden Hinweise darin, daß der erste auf eine präzise zu identifizierende Schrift verweist, während der zweite eine Aufgabe fot-

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Z u r Interpretation der naturphilosophischen Dedukt ion in der Freiheitsschrifi

Der erste Hinweis begründet die Erwartung, daß eine nähere U n ­tersuchung der Schellingschen Naturphilosophie in der Fassung von 1801 einem besseren Verständnis der Unterscheidung von Grund und Existierendem dienen kann. A n den von Schelling in der Freiheits­schrift zur Erläuterung des internen Dualismus angegebenen Stellen der Darstellung meines Systems ist vornehmlich von der Schwerkraft die Rede, welche sich in der absoluten Identität nicht als diese selbst, sondern als »Grund ihres eignen Seyns« verhalte. 5 ( D M S § 54, A A 1,10 147) Als Existierendes ist dann das Licht angesprochen, in welchem die absolute Identität sich zuerst als wirklich zeigt, und zwar im Verhältnis zu dem Grund ihres Auftretens als Licht. 6 ( D M S § 93, A A 1,10 162 f.) Wi r haben also hier ein Auftreten des Absoluten, in dem sich dieses als sein eigener Grund verhält, zu unterscheiden von einem Auftreten des Absoluten in einer Gestalt, dem Licht, das sein Wesen für eine be­stimmte Potenz ausdrückt. Diese zunächst noch recht formale Überein­stimmung läßt es prima facie gerechtfertigt erscheinen, wenn Schelling in der Freiheitsschritt auf das Verhältnis des Lichts zur Schwerkraft verweist, um das Verhältnis Gottes selbst zu seinem Grund analogisch zu erläutern. (FS VII 358) Dabei differenziert er 1809, wiederum ent­sprechend der Darstellung, das absolute Sein der absoluten Identität von dem, was in einer untergeordneten Potenz »beziehungsweise auf die als existirend erscheint«, also das Licht. 7 (FS VII 358)

Der zweite Hinweis läßt vermuten, daß die aufgrund ihrer Skiz-zenhaftigkeit und der stark metaphorischen Rede unverständlichen Ausführungen zur Evolution des Geistes in der Freiheitsschrift mit Blick auf Schellings eigene Naturphilosophie aufgeschlossen werden können. Diese Vermutung wird durch eine gegen Fichte gewendete Formel bestärkt, durch die Schelling eine Kontinuität zu früheren Schriften herstellt. Es komme nämlich, so Schelling, darauf an zu zei-

muliert, von der hier offen bleibt, inwieweit Schelling sie als geleistet ansieht. Man kann aber davon ausgehen, daß Schelling die Lösung dieser Aufgabe im Rahmen bzw. in Fortsetzung oder Modifikation seiner Naturphilosophie für möglich hält. 5 SWIV147. 6 SW IV 163 f. 7 Als »Natur im Allgemeinen« bezeichnet Schelling alles, was »jenseits des absoluten Seyns der absoluten Identität« liegt, also u. a. auch das Licht sowie die ganze belebte und unbelebte Natur, aber auch die Potenzen des Geistes, die ideelle Reihe. (FS VII 358) Diese Passage wiederholt zum Teil wörtlich eine Stelle aus §145 der Darstellung. (DMS A A L 1 0 202, S W I V 203 f.)

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 83

D i e Konstitution des Geistes

gen, daß »nicht allein die Ichheit alles, sondern auch umgekehrt alles Ichheit sey.« 8 (FS VII 351) In der Vorerinnerung zur Darstellung hatte Schelling mit ähnlichen Worten noch eine etwaige Differenz zu Fichte charakterisiert, der sich möglicherweise auf dem »Standpunct der Re­flexion« halte, während er, Schelling, den »Standpunct der Production« eingenommen habe.9 (DMS A A 1,10 111) Gemeint ist natürlich das Bestreben Schellings, den Standpunkt des menschlichen Bewußtseins auf dem zwar ichhaften, aber unbewußten Produzieren der Natur zu fundieren, während die Wissenschaftslehre rein als solche, das Objek­tive nur in seinem Eintreten ins Bewußtsein erblicken k ö n n e . 1 0 (Begriff A A 1,10 88 ff.) M i t seinem Vorhaben, das Verhältnis des menschlichen Geistes und der Natur so zu begreifen, daß dieser aus der Natur evol-viert, bewegt sich Schelling 1809 also bei allen Veränderungen in den Grundbegriffen und der Architektur seines Systems i m Rahmen eines älteren Programms.

Da die eigentliche charakterliche Entwicklung des Menschen an seine Geistigkeit gebunden ist, der Geist aber auf der Basis von Natur existiert, nimmt eine Untersuchung der Evolution des Geistes zugleich die naturale Basis der menschlichen Selbstformierung in den Blick. In­sofern der Naturphilosophie eine Variante des eingangs skizzierten Grundmodells von Entwicklung zugrunde liegt und die in der Natur begonnene Entfaltungsbewegung sich in der charakterlichen Entwick­lung des Menschen fortsetzt, lassen sich aus einer solchen Unter-

8 Den Gedanken der Ichhaftigkeit der Natur drückt Schelling in den Ideen wie folgt aus: »Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn.« (Ideen A A 1,5 107, SW II 56) In späteren Schriften zielt Schelling darüber hinaus auf die Gründung der menschlichen Freiheit auf die spontane Produktion der Natur: Die Natur ist »auf­gehobene Freiheit«, auf deren Basis die eigentliche, menschliche Freiheit im Handeln hervortritt. (StI A A 1,9 67, SW III 376) 9 SWIV109. 1 0 SW IV 84 ff. In diesem Bestreben hat sich Schelling Schmied-Kowarzik zufolge Ende 1800 von der Wissenschaftslehre und der Transzendentalphilosophie verabschiedet, und zwar mit der Allgemeinen Deduktion von 1800 und der Schrift »Über den Begriff der Naturphilosophie« von Januar 1801. (Schmied-Kowarzik 1996. S. 116ff.) Lauth datiert das Auftreten einer diesbezüglichen Differenz schon früher, nämlich auf 1798. (Lauth 1975. S. 61 ff.) Für eine Gegenüberstellung der Positionen von Fichte und Schelling, die diese in ihren vor Erscheinung der Darstellung geführten Auseinandersetzungen u.a. hinsichtlich des Verhältnisses des subjektiven Ichs zur Natur eingenommen haben, siehe Lauth 1975. S. 118 ff.

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Exkurs: Z u m n ä h e r e n Verständnis der Darstellung meines Systems

suchung außerdem einige Hinweise darauf gewinnen, wie letztere, d. h. wie menschliche Selbstformierung mit Schelling zu denken ist.

Im folgenden werden wir daher die Schellingsche Naturphiloso­phie von 1801 in relevanten Zügen darstellen, um dann mit ihrer Hilfe die naturphilosophischen Passagen der Freiheitsschrift, d.h. die Kon­stitution des Geistes zu interpretieren. Hierbei sind ergänzend die naturphilosophischen Abschnitte der Stuttgarter Privatvorlesungen heranzuziehen. Anschließend werden wir einige Schlußfolgerungen bezüglich des genauen Verständnisses des internen Dualismus und des Verlaufs menschlicher Selbstformierung ziehen. Vor die eigent­liche Erör terung ist ein Exkurs eingefügt, welcher die Naturphiloso­phie von 1801 in das Ganze des Schellingschen Systemfragments von 1801 einordnet und außerdem dazu dient, mögliche Einwände gegen Heranziehung der Naturphilosophie im Rahmen einer Interpretation einschlägiger Passagen der Freiheitsschrift zu entkräften.

3.2 Exkurs: Z u m näheren Verständnis der Darstellung meines Systems

Gegen die Behauptung, man könne dem von Schelling in der Freiheits­schrift gegebenen Hinweis auf die naturphilosophischen Teile der Dar­stellung trauen und diesen etwas für das nähere Verständnis des inter­nen Dualismus und der Evolution des Geistes abgewinnen, lassen sich einige Einwände vorbringen, die sich vor allem gegen die Erläuterung des internen Dualismus mit Hilfe des Prinzipienpaars von Licht und Schwerkraft richten: Erstens könnte man einwenden, daß Schelling das absolute Sein der absoluten Identität in der Freiheitsschrift ganz anders verstehe als in der Darstellung. Außerdem könnte man auf un­sere Aussage verweisen, wonach die Einführung des internen Dualis­mus die Abkehr Schellings von seiner Identitätsphilosophie markiert. Wie, so könnte man fragen, kann dieser Dualismus dann schon in der paradigmatischen Fassung dieses Systems aufgefunden werden? Oder, wenn er dort schon vorhanden sein sollte, m u ß er dann nicht ganz an­ders verstanden werden, möglicherweise so, daß eine Erläuterung des internen Dualismus in den späteren Schriften unter Rückgriff auf die Darstellung unmöglich ist? Hier ist unter anderem die Willenhaftig-keit zu nennen, welche die Prinzipien ab 1809 charakterisiert, während Schelling zuvor von Kraft, Tätigkeit oder Wirksamkeit spricht. Die

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

Die Konstitution des Geistes

Triftigkeit dieser Einwände läßt sich nur mit Blick auf die Gesamtkon­zeption der Darstellung beurteilen, die wi r i m folgenden i m Grundr iß betrachten wollen.

3.2.1 Der Grundgedanke der Darstellung meines Systems

Die Darstellung meines Systems setzt ein mit einer Nominaldefini­tion, nach welcher unter Vernunft die »totale Indifferenz des Subjecti-ven und Objectiven« verstanden werden so l l . 1 1 ( D M S § 1 , A A 1,10 116) A u f den Standpunkt der Vernunft gelangt man, indem man von sich als Denkendem und damit vom Subjekt-Objekt-Gegensatz abstrahiert: Die Vernunft ist absolute Vernunft. 1 2 ( D M S § 1 , A A I , 1 0 116 f.) M i t der Einnahme des Standpunkts der Vernunft ist diese noch nicht wirk­sam: Wirkl ich ist sie nach Schelling erst durch die Form des Selbst­erkennens. Da im vernünftigen Erkennen kein der Vernunft äußeres Objekt erkannt wird, ist ein solches Erkennen Selbsterkennen. Durch diese Form ist weder das Erkennende als Erkennendes noch das Er­kannte als Erkanntes gesetzt, sondern die absolute Ident i tä t . 1 3 (DMS § 6 , A A I , 1 0 1 1 9 )

Konstitutiv für die Form ist nun, daß zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten in gewisser Weise Differenz besteht: Im unend­lichen Selbsterkennen m u ß sich die absolute Identität unendlich als Subjekt und Objekt setzen. 1 4 (DMS §§ 19-21, A A 1,10 123 f.) Die Form aber wäre unmittelbar wieder aufgehoben bzw., wie Schelling auch sagt, nicht actu, wenn Subjekt und Objekt nicht in irgendeiner Weise different wären . 1 5 ( D M S §24, A A 1,10 126) Schelling löst das Problem mit Hilfe quantitativer Differenz: Da zwischen beiden keine qualitative Differenz bestehen kann - beide sind ja dem Wesen nach absolute Identität - , läßt sich die Differenz nur als quantitative denken, d. h. die eine absolute Identität wird mit einem Übergewicht der Subjektivi­tät und Objektivität gesetzt und das, der Unendlichkeit des Selbst-

1 1 SWIV114. 1 2 SW IV 114f. Für eine Interpretation des ersten Paragraphen der Darstellung vgl. Buchheim 1990. S. 321 ff. und ders. 1992. S. 72 ff. 1 3 SWIV117. M SW IV 122 f. 1 5 SW IV124 f.

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Exkurs: Z u m n ä h e r e n Verständnis der Darstellung meines Systems

erkennens wegen, ins Unendliche. 1 6 ( D M S §§ 23 f., A A 1,10 125 f.) Da­bei wird freilich nach Schelling immer dasselbe gesetzt, die absolute Identität nämlich, die alles ist, was ist: Sie ist absolute Total i tät . 1 7

(DMS § § 2 5 - 2 8 , A A 1,10 126 f.) Bezogen auf die quantitativen Ausdrücke ihrer selbst wird die

Identität bestimmt als quantitatives Gleichgewicht, zu welchem sich die quantitativen Differenzen im Ganzen ausgleichen. Die absolute Identität existiert als quantitative Indifferenz, d.h. nur durch die Ge­samtheit der quantitativ differenten Ausdrücke ihrer selbst. 1 8 ( D M S §30 f., A A 1,10 127 ff.) Dieses Gesetztsein der Identität in quantitativen Differenzen versinnbildlicht Schelling durch eine Linie:

+ + A=B A=B

A = A

In dieser Linie wird der Ausdruck der Differenz, A - B, in welcher A für die Subjektivität, B für die Objektivität steht, so gesetzt, daß in der einen Richtung die Subjektivität, in die andere Richtung die Objektivi­tät überwiegt . 1 9 ( D M S § 46, A A 1,10138 ff.) Die Formel A = A ist Aus­druck der absoluten Ident i tä t . 2 0 (DMS §4 , A A 1,10 118) Da diese Iden­tität aber zur Indifferenz wird, wenn man sie in der als quantitative Differenz stabilisierten Subjekt-Objekt-Differenz actu setzt, bezeich­net die Formel A = A in der Linie auch die quantitative Indifferenz. 2 1

Die durch die Linie dargestellten Verhältnisse sind nach Schelling uni­versell: Sie kehren in allen Seinsbereichen wieder: Die Linie ist die »Form des Seyns der absoluten Identität im Einzelnen wie im Gan­

zen.«22 ( D M S §47, A A L 1 0 140) Schelling drückt dies auch so aus, daß die Linie ins Unendliche teilbar sei. Zugleich gilt, daß jeder Punkt, je nach Betrachtungsweise als Indifferenzpunkt oder als einer der bei­den entgegengesetzten Pole betrachtet werden kann. 2 3 (DMS §46

1 6 SW IV 123 ff. 1 7 SW IV 125 f. 1 8 SW IV 126 ff.; vgl. Buchheim 1992. S. 75 ff. und Ziehe 1996. S. 204. 1 9 SW IV 137 ff. 2 0 SW IV 116 f. 2 1 Vgl. hierzu Ziehe 1996. S. 205 ff. 2 2 SWIV139. 2 3 SWIV138.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

Die Konstitution des Geistes

A n m . D, A A 1,10 139) Diese Betrachtung findet jedoch nur relativ auf andere Punkte statt: A n sich, d.h. außerhalb jeder Relation betrachtet, stellt jedes A = B eine Totalität für sich selbst, also ein A = A dar.2 4

( D M S §41 , A A 1,10 134 f.) Wie dargelegt ist quantitative Differenz Voraussetzung der

Existenz der absoluten Identität als quantitativer Indifferenz. Da quan­titative Differenz aber die Form des einzelnen Seins ist ( D M S §37, A A 1,10 132) 2 5, ist das einzelne Sein Voraussetzung der Existenz der absoluten Identität. Das einzelne Sein aber verdankt sich einem Abson­derungsakt, in dem man einen Vorläufer des Falls erblicken kann, wie ihn Schelling 1804 konzipiert. Das einzelne Sein als Folge dieses Falls ist bloße Erscheinung. A n sich nämlich ist kein einzelnes Sein, sondern nur absolute Identität, die nie aus sich herausgetreten ist . 2 6 ( D M S §14, A A 1,10 121) Al le Differenz ist nur außerhalb der absoluten Identität. Damit ist zu konstatieren, daß das Absolute in seiner Wirklichkeit auf Erscheinung, d. h. auf einen epistemischen Ak t angewiesen ist, in wel­chem das eigentlich Identische als different gesetzt ist . 2 7

Wie fügen sich nun die Prinzipien von Licht und Schwerkraft in diese Figur der Setzung des Einen qua unendlicher Spiegelung? Diese beiden Prinzipien gehören einem dynamischen Denken an, das die Phänome­ne der Natur als Steigerungen, Potenzen in einem Idealisierungspro­zeß verstehen möchte. 1801 versucht Schelling, dieses Denken in die

2 4 SWIV133. 2 5 SWIV131. 2 6 SW IV119 f. Vgl. auch DMS § 28, A A 1,10 127, SW IV 125 f. 2 7 Schon Jabobi bemerkt mit Bezug auf den spinozistischen Gott, dieser habe Wirklich­keit nur im einzelnen, also in der natura naturata. (Jacobi, F. H. Über die Lehre des Spinoza, Jacobi Werke Bd. 1.1, S. 39; vgl. hierzu Buchheim 1992. S. 79 f.) Es ist offen­sichtlich, daß Schelling mit seiner Ideenlehre und der Lehre vom Abfall, wie er sie in Philosophie und Religion konzipiert, diese paradoxe Fassung des Verhältnisses von Identität und der endlichen Dinge zu überwinden versucht: Die endliche, scheinhafte Welt ist nicht mehr Voraussetzung der Existenz des Absoluten im Selbsterkennen. Das Absolute objektiviert sich nicht im Endlichen, sondern in gleichfalls absoluten Gestalten seiner selbst. Freilich kann man auch 1804 fragen, wie denn die Objektivierung des Absoluten in einer Unendlichkeit von Ideen denkbar sein soll, ohne daß man die für die scheinhafte Welt konstitutive Relationalität mitdenkt. In der Tat tut Schelling dies ja, indem er potentielle Differenzen ansetzt, die wohl als abgeblendete Relationalität zu verstehen sind. Außerdem ist zu bemerken, daß 1804 in Gestalt eines als felix culpa zu verstehenden Falls in die Nichtigkeit eine verwandte Paradoxie zu finden ist. Sie wird lediglich systematisch später verortet.

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Exkurs: Z u m näheren Verständnis der Darstellung meines Systems

Identitätsphilosophie einzutragen, indem er die im Selbsterkennen des Absoluten gesetzten Gestalten in eine dynamische Ordnung bringt, in welcher die jeweils höhere Potenz durch eine Steigerung der Subjekti­vität bzw. der Idealität von der niedrigeren Potenz unterschieden ist. 2 8

Genauer gesagt, faßt er das Selbsterkennen als Steigerungsprozeß, in welchem die erwähnte Ordnung generiert wird. Die Linie ist entspre­chend zu verstehen als Niederschlag des Prozesses, der bei der unbe­lebten Natur beginnt, zum Organismus fortschreitet und schließlich in die ideelle, geistige Reihe übergeht. Die Prinzipien von Licht und Schwerkraft sind die zentralen Kategorien der untersten Potenz, in welcher die Eigenschaften der Dinge, insofern sie anorganisch und un­belebt sind, produziert werden.

Die Betrachtung der Grundkonzeption der Darstellung scheint den oben geäußer ten Verdacht gegen die Vergleichbarkeit von Licht und Schwerkraft bzw. der Naturphilosophie von 1801 einerseits und den Prinzipien von Grund und Existierendem bzw. dem Denken Schel­lings um 1809 andererseits zu bestätigen: Zwar findet sich in der Dar­stellung in Gestalt von Licht und Schwerkraft ein Vorläufer des inter­nen Dualismus, diese beiden Prinzipien werden aber gedacht als konstitutiv für eine scheinhafte Realität außerhalb der absoluten Iden­tität, während Grund und Existierendes in der Freiheitsschrift gerade als diejenigen Prinzipien fungieren, die das Sein eines von Gott Unter­schiedenen in Gott denkbar werden lassen sollen. Die unterschiedliche Funktion der beiden Prinzipienpaare hängt eng zusammen mit der Rol ­le des Endlichen und den unterschiedlichen Fassungen der All-Einheit : Während 1801 die einzelnen Dinge nichtige Erscheinungen der abso­luten Identität sind, die zur Existenz derselben als quantitativer Indif-

2 8 Habermas, der die Identitätsphilosophie als Abkehr von Schellings Verteidigung der Realität der Natur - und der Geschichte - gegen Fichte versteht, weist darauf hin, daß Schelling das Schema der Potenzen zwar als ideelle Bestimmungen des Einen in die Identitätsphilosophie aufgenommen, diese Potenzen zugleich aber zu bloßem Schein erklärt habe. (Habermas 1954. S. 193 f. u. 198 f., S. 200 f.) Dieses Manöver ist nach Ha­bermas entsprechend völlig ungeeignet, die von ihm konstatierte Entwirklichung des Endlichen und des Lebens in der Identitätsphilosophie zu korrigieren. (Zur Entwirk­lichung des Endlichen in der Identitätsphilosophie vgl. Habermas 1954. S. 177 ff.) In mancher Hinsicht ähnlich argumentiert Marquet: Die historische Struktur des internen Dualismus sei durch die Gleichzeitigkeit aller Potenzen sofort dementiert worden. A u ­ßerdem habe Schelling 1801 beides, Grund und »essence«, als die Marquet das Existie­rende interpretiert, als an sich indifferent verstanden und nicht in eine wirkliche Diffe­renz gebracht. (Marquet 1973. S. 283 f., 395 f., 402)

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Die Konstitution des Geistes

ferenz gleichwohl nötig sind, ist die Welt der einzelnen Dinge 1809 als selbständiges und in Gestalt des Menschen auch freies Gegenüber Got­tes bestimmt, das mit ihm durch das Band der Liebe verbunden ist. 2 9

Das absolute Sein der absoluten Identität wird entsprechend in der Freiheitsschrift als All-Einhei t der Liebe gedacht, d.h. als äußere Existenz Gottes in freier Verbindung seiner selbst und der Welt. Diese All-Einheit der Liebe unterscheidet sich vom Sein der absoluten Iden­tität in der Darstellung dadurch, daß sie Einheit Selbständiger ist und nicht die eine Identität, die existiert durch und in einer Vielheit quan­titativ differenter Gestalten ihrer selbst.

Man könnte also geneigt sein, Habermas recht zu geben, der Schellings Verweis auf die Darstellung zur Er läuterung des internen Dualismus deswegen für irreführend hält, weil der Unterscheidung von Schwerkraft und Licht dort keine systementscheidende Bedeutung zukomme. 3 0 Dem ist, wie dargelegt, insofern zuzustimmen, als die Ar t und Weise, in der das Absolute sich selbst Grund ist, sowie das Verhält­nis des Absoluten zur Welt 1801 eben nicht mit Hilfe dieser Unter­scheidung gedacht werden. Dennoch schießt Habermas über das Ziel hinaus, wenn er erklärt, der Grund von 1809 habe lediglich einige »flüchtige Anklänge an Formulierungen aus der Zeit der Identi tätsphi­losophie«. 3 1 Das Verhältnis der beiden Prinzipien in der Natur wird nämlich von der unterschiedlichen Fassung der absoluten Identität nicht berührt . Aber auch das Verhältnis von Gott und Natur, wie Schel­ling es 1809 faßt, weist, wie zu zeigen sein wird, strukturelle Analogien zum Verhältnis von Licht und Schwerkraft auf, so daß Schellings Ver­weis auf seine Naturphilosophie zur Erläuterung des erstgenannten Verhältnisses gerechtfertigt ist. Die Berechtigung des Rückgriffs auf Schellings Ausführungen zur Naturphilosophie in der Freiheitsschrift läßt sich damit nur noch durch Verweis auf die Willenhaftigkeit der Prinzipien bestreiten, welche die Prinzipien 1801 ja nicht aufweisen. Auch dieser Einwand könnte die strukturelle Analogie freilich nicht

29 Philosophie und Religion stellt hier eine Zwischenform dar: Der Mensch soll als freies Gegenüber Gottes gedacht sein, wie in der Freiheitsschrift. Zugleich aber ist die endliche Welt in sich nichtig, wie in der Darstellung. 3 0 Habermas 1954. S. 249 f. 3 1 Habermas 1954. S. 250. Heidegger hingegen ist der Auffassung, die Unterscheidung von Grund und Existierendem sei schon 1801 vorhanden, aber »noch nicht ausdrücklich in der ganzen Tragweite für die Bestimmung des Seienden überhaupt herausgearbeitet«. (Heidegger 1971 S. 188)

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Exkurs: Z u m n ä h e r e n Verständnis der Darstellung meines Systems

gefährden, sondern allenfalls die hier beabsichtigte Interpretation der Konstitution des Geistes mit Hilfe der Naturphilosophie. Die nähere Interpretation dieser Konstitution wird aber zeigen, daß dieser Ein­wand nicht greift. 3 2

3.2.2 Die Methode im allgemeinen: Konstruktion und Potenzierung

Im Vernunfterkennen, so haben wir gesehen, wird das Identische in einer Vielzahl quantitativer Gestalten gesetzt. Dieses Erkennen vol l ­zieht sich außerdem als Potenzierungsprozeß. Unter Potenzierung ver­steht Schelling die Wiederholung des produktiven Vorgangs des Selbsterkennens. Dabei wird das Produkt jedes Schrittes, das in sich als Synthesis von Idealität und Realität und damit als Selbsterkennen gefaßt ist, in einer höheren Potenz zum reellen Faktor eines neuen, wieder als Selbsterkennen strukturierten Produzierens. 3 3 Vorausset­zung seiner Methode in der Darstellung, so schreibt Schelling i m Rückblick, sei, »daß immer das, was auf einer vorhergehenden Stufe noch subjectiv gesetzt ist, in einer folgenden selbst objectiv werde -zum Object hinzutrete«. ( M V X108)

Die beiden erwähnten Gedanken sind Grundelemente des philoso­phischen Systems von 1801, die es uns erlauben sollen, die Einheit der Wirklichkeit zu denken. Wenn Schelling uns also in § 1 der Darstellung auffordert, den Standpunkt der Vernunft einzunehmen und uns dann in den folgenden Paragraphen erklärt, dieses Vernunfterkennen vol l ­ziehe sich als Setzen des Identischen in quantitativer Differenz, so schlägt er uns eine Methode vor, mit der wir die Vielheit der Dinge als ebenso viele Weisen verstehen können, in welchen das Eine gesetzt ist. 3 4 Jedes einzelne Ding ist dann als eine besondere Form des Auftre­tens des Einen begreifbar.35 (FD IV 406 f.) Freilich zeigt Schelling dies

3 2 Vgl. Kapitel 3.6.1. 3 3 An dieser Stelle ist das von Zeltner konstatierte Umschlagen der anfänglichen Statik der Identitätsphilosophie in eine Entwicklungsdynamik zu verorten. (Zeltner 1975. S. 92) Diese Dynamik wird aber aufgehoben dadurch, daß alles, was an ihr dynamisch ist, der Nichtigkeit anheimfällt. Die absolute Identität ist in jedem Moment des Prozes­ses in Wahrheit schon am Ziel. 3 4 Wobei die Differenz, wie gesagt, eine außerwesentliche ist, derer die Identität zwar zur ihrer Existenz bedarf, die sie aber ihrem Wesen nach nicht betreffen. 3 5 Indem wir es als Universum für sich und damit als absolut denken, vernichten wir es

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung

Die Konstitution des Geistes

nicht für einzelne Dinge, sondern für bestimmte Potenzen, d. h. für all­gemeine Weisen, in denen das Identische auftritt, in der Darstellung etwa für den dynamischen Prozeß und den Organismus, im Würzbur­ger System dann außerdem auch für das Wissen, das Handeln und die Kunst. Diese Formen des Auftretens des Einen bilden notwendige M o ­mente einer Ordnung, die Schelling, wie erwähnt , durch den Gedanken der Potenzierung gewinnt. Diese Gestalten werden also begriffen, in ­dem einmal gezeigt wird, daß sie Gestalten des Einen sind. Hier wird die Differenz auf Identität hin interpretiert. Z u m anderen werden sie begriffen, indem gezeigt wird, daß sie notwendige Momente i m sich selbst potenzierenden Selbsterkennen des Einen darstellen. Hier wird eine bestimmte Weise des Auftretens des Einen in den notwendigen Zusammenhang des Ganzen des Differenten gestellt. Rang spricht diesbezüglich von einem topologischen Erkenntnisbegriff und verweist auf die kantische Idee der Einheit der Vernunfterkenntnis als »Idee (...) von der Form eines Ganzen der Erkenntniß, welches vor der bestimm­ten Erkenntniß der Theile vorhergeht und die Bedingungen enthält, jedem Theile seine Stelle und Verhältniß zu den übrigen a priori zu bes t immen.« 3 6 (KrV B 673) Diese Idee ist die Idee eines Systems von Erkenntnissen, deren Zusammenhang durch notwendige Gesetze ge­stiftet wird. Ein solcher Zusammenhang wird in der Darstellung garan­tiert durch die beiden erwähnten Grundgedanken der Setzung des Identischen in einer Vielzahl quantitativ differenter Ausdrücke, die au­ßerdem in einer qua Potenzierung generierten Ordnung begriffen sind, deren einzelne Schritte notwendig sind.

Die philosophische Methode, in der die beiden Grundgedanken angewandt und die erwähnte Ordnung generiert wird, heißt Konstruk­t ion. 3 7 Indem die Wissenschaft ihre Gegenstände konstruiert, treten sie an die rechte Stelle und werden eben dadurch erk lär t . 3 8 (PdK V 418, W S §208, VI 402) Zugleich wird für jeden Gegenstand bzw. für jeden

als für sich bestehendes einzelnes und versenken es im Absoluten. (FD IV 406 f.; vgl. hierzu Krings 1982. S. 349 f.) 3 6 Siehe Rang 2000. S. 203 f. 3 7 Schelling erläutert diese Methode in seinem Aufsatz »Über die Konstruktion in der Philosophie« von 1803; vgl. hierzu u. a. Krings 1982 und Rudolphi 2002 Kap. 5.1. 3 8 Vgl. Rang a. a. O. Schelling lehnt die Erklärung von Erscheinungen durch die Angabe ihrer Ursachen ab: Die Konstruktion, durch welche eine Erscheinung an ihre Stelle tritt, ist »zugleich ihre einzig wahre und richtige Erklärung«. (PdK V 418; vgl. auch FD IV 344)

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Exkurs: Z u m näheren Verständnis der Darstellung meines Systems

Gegenstandsbereich gezeigt, daß er eine Weise des Auftretens des einen Identischen ist, bzw. daß er ein Universum für sich ist. 3 9 (FD IV 395 f. u. 406 f.) Das geschieht dadurch, daß jede Gestalt als Identität von Idealität und Realität, Allgemeinem und Besonderem begreifbar wird. Die Gleichsetzung beider nämlich ist Konstruktion. (Konstruktion V 131 f.) Zugleich m u ß einer der beiden gleichgesetzten Faktoren so ge­dacht werden, daß er das Produkt transzendiert und den Prozeß des immer gesteigerten Selbsterkennens weiter treibt. W i r werden sehen, wie Schelling dies einlöst. Es dürfte schon hier deutlich sein, daß diese Konstruktion einer Entwicklungslogik folgt, die als Form des eingangs skizzierten Modells zu verstehen ist.

M i t Bezug auf diese Steigerungslogik ist natürlich zu fragen, wel­chen Status die einschlägigen Erörterungen haben. Es ist sehr plausi­bel, die Schellingsche Naturphilosophie von 1801 als Konstruktion einer ideellen Naturordnung zu verstehen, in welcher die Prozeßtypen konstruiert werden, die real nur in der empirischen Natur auffindbar sind. 4 0 Es geht hier also nicht darum, die Realgenese der einschlägigen Prozesse zu beschreiben. Für die naturphilosophische Deduktion in der Freiheitsschrift ist allerdings fraglich, ob diese Deutung noch trägt. Wenn die empirische Natur nämlich auf eine Freiheitstat des M e n ­schen zurückgeht, diese Freiheit aber umgekehrt, wie in diesem Kapitel näher zu zeigen sein wird, auf einem Naturprozeß aufsitzt, dann kann die Wirklichkeit dieses Naturprozesses keinesfalls als erst in die empi­rische Welt fallend angenommen werden. Es m u ß vielmehr ein außer­zeitliches Werden gedacht werden, wie Schelling es in einer Selbst­interpretation schon für die Potenzenfolge der Darstellung ansetzt. ( M V X 124f.) Spätestens 1810 jedenfalls unterscheidet Schelling eine logische Ordnung des Wirklichen in der Idee Gottes und einen wirk­lichen, zeitlich zu denkenden Naturprozeß, so daß wir die einzelnen Potenzen der Natur 1810 bereits als Perioden des Werdens zu verste­hen haben. 4 1 (SP VII 424-431) Diese Frage gilt es i m vierten Kapitel noch einmal aufzugreifen.

3 9 Vgl. Krings 1982. S. 349 f. 4 0 Vgl. Durner in seinem Vorwort zu seiner Ausgabe des zweiten Hefts der »Zeitschrift für spekulative Physik« (Durner 2001 Ed. S. XXXIX) oder Veto, der die Potenzen um 1800 als transzendentale, in einer idealen Sukzession stehende Konzepte versteht. (Veto 1973 Ed. S. 33) 4 1 Vgl. Veto 1973 Ed. S. 33 ff.

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Die Konstitution des Geistes

3.3 Die Konstruktion qualitativer Bestimmtheit im dynamischen Prozeß

3.3.1 Die Methode im besonderen: Konstruktion und Rekonstruktion der Materie

Wie i m vorangehenden Exkurs ausgeführt , denkt Schelling 1801 die Einheit der Wirklichkeit, indem er alle Gestalten des Wirklichen als Weisen des Auftretens der absoluten Identität von Idealität und Reali­tät konzipiert, und zwar indem er jede Gestalt als Synthesis eines idea­len und eines realen Prinzips konstruiert. Jede einzelne Synthesis, bzw. das jeweils synthetisierende Prinzip wiederum ist, wie noch näher zu zeigen sein wird, als realer Faktor einer neuen, prozessual zu ver­stehenden Synthesis gedacht, dem jeweils ein idealer Faktor bzw. das ideale Prinzip in einer neuen Potenz entgegentritt. A u f diese Weise konstruiert Schelling eine Ordnung der Natur, in welcher jeweils kom­plexer organisierte Prozesse auf der Basis weniger komplexer Prozesse hervortreten, diese in Dienst nehmen und in ihr Prozessieren aufneh­men. In der Terminologie von 1809 gesagt, die vorgängigen, einfache­ren Prozesse sind Grund der Existenz der höherstufigen, komplexeren Prozesse. Die Konstruktion dieser Prozesse folgt außerdem, soviel dürfte schon deutlich sein, einer Entwicklungslogik, wie wir sie aus dem eingangs skizzierten Grundmodell kennen.

Bezüglich dieses Modells hatten wir eine aller Entwicklung vor­ausliegende Grundlage derselben erwähnt . Sie wird von Schelling in einem ersten Schritt konstruiert, und zwar als völlig ungestaltete M a ­terie. Dabei lehnt sich Schelling stark an Kants Metaphysische An­fangsgründe der Naturwissenschaft und die durch Kant inspirierten Schriften Eschenmayers an. 4 2 Von Eschenmayer und Kant übernimmt Schelling den Gedanken, die Materie müsse als durch zwei einander entgegenwirkende Kräfte konstituiert gedacht werden, nämlich durch

4 2 Eschenmayer legt seine Naturphilosophie unter anderem in der 1797 in Tübingen erschienenen Schrift »Säze aus der Natur = Metaphysik auf chemische und medizi­nische Gegenstände angewandt« vor. Zu nennen ist außerdem die »Dedukzion des le­benden Organismus« von 1799. Diese Schrift erschien in dem von Andreas Röschlaub herausgegebenen »Magazin zur Vervollkommnung der theoretischen und praktischen Heilkunde«. 2. Bd. 3. Stück. Zur Abhängigkeit der Schellingschen Naturphilosophie von Kant und Eschenmayer vgl. Jantzen 1994. S. 74 ff., Rang 2000. S. 116 ff. und Ziehe 1996. S. 212 ff.

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D i e Konstrukt ion qualitativer Bestimmtheit im dynamischen Prozeß

die auf Ausdehnung gehende Repulsivkraft und die diese Ausdehnung einschränkende Attraktivkraft. Das quantitative Verhältnis dieser Kräfte bestimmt nach Kant und Eschenmayer den Grad der Raum­erfüllung. Während sich Kant allerdings nur für die Möglichkeit einer nicht-mechanischen bzw. nicht-atomistischen Erklärung der Raum­erfüllung überhaupt interessiert, geht Eschenmayer weiter und führt die verschiedenen Quali täten der Materie auf die verschiedenen Grö­ßenverhältnisse der beiden Kräfte zurück. 4 3

In der 1801 erschienen Schrift Über den wahren Begriff der Na­

turphilosophie und die richtige Art, ihre Probleme aufzulösen wirft Schelling Eschenmayer vor, die zwei ursprünglichen Kräfte auf diese Weise nur in ein rein quantitatives Verhältnis gesetzt zu haben. 4 4 (Be­griff A A 1,10 98 f.) A u f diesem Wege aber erhalte man ewig nur unter­schiedliche Grade von Dichte bzw. spezifischer Schwere und lasse alle anderen Eigenschaften der Materie unbestimmt. Die drei Dimensionen des Raumes und die verschiedenen nicht auf Dichte bzw. Schwere re-duziblen Quali täten werden nach Schelling konstruierbar, wenn die beiden Kräfte, Repulsiv- bzw. Expansivkraft und Attraktivkraft, nicht nur in ein arithmetisches, sondern auch in ein geometrisches Verhält­nis gesetzt werden. 4 5 (Begriff A A 1,10 103 ff.) Dieses geometrische Ver­hältnis wird in zwei Schritten gewonnen: In einem ersten Schritt, in der Konstruktion der Materie, wird nur die dritte Dimension konstru­iert. Das Verhältnis der beiden Kräfte in der dritten Dimension ist ein rein arithmetisches. Diese Bemerkung betrifft aber insofern nur das Produkt dieses ersten Schrittes, als in der Konstruktion desselben die beiden ersten Dimensionen (Linie und Fläche) als Momente auftreten, Momente freilich, die sich im Produkt auslöschen und nur noch poten-

4 3 Siehe Kant: M A I V 497 ff., Eschenmayer 1797. S. 5 ff. 4 4 SW IV 94 f. Schelling antwortet hier auf einen Artikel Eschenmayers, der 1801 in der »Zeitschrift für spekulative Physik« Bd. 2. 1. Heft unter dem Titel »Spontaneität = Weltseele oder das höchste Princip der Naturphilosophie« erschienen ist. Vgl. hierzu Jantzen 1994. S. 77f. 4 5 SW IV 100 ff. Die Rede von qualitativen Differenzen, die für die Allgemeine Deduk­tion sicher gerechtfertigt ist, scheint für die Darstellung problematisch, da dort, abge­sehen von der Differenz des idealen und des realen Prinzips alle Differenzen lediglich als quantitativ gefaßt sein sollen. (DMS § 2 3 , A A 1,10 125, SW IV 123) Die qua Potenzie­rung gewonnenen Qualitäten müssen sich also wieder als quantitative Differenzen ver­stehen lassen: Der Gewinn an Gestaltetheit qua Potenzierung ist als quantitative Zu­nahme der Idealität zu verstehen. Die Steigerungslogik der Potenzierung schlägt sich in der Weltlinie nieder und zeigt sich dort als quantitative Zunahme.

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tia in ihm enthalten sind. 4 6 (Begriff A A 1,10 103 f., D M S §52, A A 1,10 144)

Die Konstruktion der Materie wird abgelöst durch die Rekon­struktion derselben. Dieser Prozeß ist nicht bestimmt durch den ein­fachen Gegensatz von Expansivkraft und Attraktivkraft. Vielmehr ist er bestimmt dadurch, daß die potenzierte ideelle Tätigkeit (das Licht) das Produkt der ersten Konstruktion (die Materie) aufzuheben bestrebt ist. 4 7 (Begriff A A 1,10 103 f.) Die destruierende Tätigkeit des Lichts ver­anlaßt einen Prozeß der Rekonstruktion, in welchem nicht nur die Dreidimensionalität der Materie aktuell wird, sondern mit ihr auch die qualitative Differenz. Den drei Momenten der Konstruktion wie der Rekonstruktion entsprechen nämlich drei Funktionen der Materie: Magnetismus (Linie), Elektrizität (Fläche) und Chemismus (Breite). Die Qualitäten ergeben sich aus dem Verhältnis der Körper zu diesen drei Funktionen. 4 8 (AD §47, A A 1,8 342) Diese Qual i tä ten werden also wirklich qua Aktualisierung der drei Funktionen.

3.3.2 Die Konstruktion der Materie

Die im Begriff skizzierte Grundkonzeption liegt sowohl der Allgemei­nen Deduktion als auch dem naturphilosophischen Teil der Darstellung zugrunde. Dabei geht Schelling in einer Weise vor, die man als Refle­xion auf die Bedingungen der Existenz einer differenzierten Wirkl ich­keit überhaupt rekonstruieren kann. 4 9 Zunächst bedarf es hierzu zwei­er, einander entgegengesetzter Prinzipien, die Schelling einführt, indem er die im allgemeinen Ausdruck der Differenz (A = B) aufein­ander bezogenen Faktoren näher bestimmt: B, d. h. die Objektivität ist zu verstehen »als das, was ursprünglich ist, (also als reelles Princip)«,

« Begriff SW IV100, DMS IV 143. 4 7 SWIV100. 4 8 SWIV51. 4 9 In der Darstellung reflektiert Schelling genau genommen auf die Bedingungen der Aktualität der Form, unter der die absolute Identität existiert. Hiervon kann an dieser Stelle freilich abstrahiert werden. Tatsächlich existiert die absolute Identität, wie in obigem Exkurs ausführlich ausgeführt, nur unter Bedingung der Realität einer differen­zierten, von Schelling freilich als scheinhaft abgetanen Wirklichkeit. Hiervon geht Schelling an dieser Stelle aus. Diese Wirklichkeit wiederum setzt voraus, daß die beiden im allgemeinen Ausdruck der quantitativen Differenz gleichgesetzten Faktoren reell, d.h. reale Wirkfaktoren in einem Produkt sein müssen. (§§50 f.)

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A , d. h. die Subjektivität »als das, was nicht ist, in demselben Sinne wie B, sondern B erkennt, also als ideelles Princip.« 5 0 ( D M S §44, A A 1,10 137) B verhält sich als unendliche Extension, als das an sich Unbe­grenzte, A als das B qua Erkennen begrenzende Prinzip. Da beide an sich unendlich sind, ist A negativ, B positiv unendlich. 5 1

Beide Prinzipien müssen nun so ins Verhältnis gesetzt werden, daß sie als real wirksame in einem Produkt vereinigt sind. 5 2 Ausgehend von dieser Voraussetzung gewinnt Schelling das Schema aller Poten­zen, die Triplizität, indem er zunächst auf zwei Momente reflektiert, die für sich genommen diese Bedingung eben nicht erfüllen, um dann das dritte Moment als Voraussetzung der Wirklichkeit der beiden er­sten Momente e inzuführen . 5 3 (DMS §50, A A 1,10 141 ff.) In einem er­sten Moment, dem der relativen Identität, werden die beiden Pr inzi ­pien nämlich so aufeinander bezogen, daß das eine Prinzip nur als ideell, das andere nur als reell begriffen wird. A u f diese Weise wird die erwähnte Bedingung offensichtlich nicht erfüllt. Das ideelle Pr in­zip, soll nämlich, so Schelling, »zwar subjectiv, aber als seyend (...) oder als reell gesetzt s eyn .« 5 4 ( D M S §50, A A L 1 0 142) Dasselbe gilt für das zweite Moment, die Duplizität, in dem die beiden Prinzipien in ihrer Trennung, d.h. ohne Bezug aufeinander betrachtet werden. Erst wenn also beide Prinzipien so ins Verhältnis gesetzt werden, daß sie, also A und B, wie Schelling sich ausdrückt, »gemeinschaftlich unter B gesetzt« werden, ist die erwähnte Bedingung erfüllt und der Moment erreicht, den Schelling als »relative Totalität« bezeichnet. (a.a.O.) Der Ausdruck »unter B gesetzt« drückt zum einen tautologisch die mehr­fach exponierte Voraussetzung aus, nämlich insofern als B als Aus­druck für Realität fungiert. Zugleich aber bezeichnet B in diesem Aus­druck auch ein synthetisierendes Prinzip, durch welches A und B in den gesuchten Zusammenhang gebracht werden. Damit heißt »unter B ge-

5 0 SW IV 135 f. 5 1 Die beiden Prinzipien, A und B, sind hier noch nicht als Attraktivkraft und Expansiv­kraft bestimmt. Die Argumentation bewegt sich immer noch in jenem Teil der Darstel­lung, in welchem Schelling die Voraussetzungen einer differenzierten Wirklichkeit überhaupt betrachtet. 5 2 Bei Schelling wird diese Voraussetzung wiederum als Bedingung der Existenz der absoluten Identität eingeführt, die eben nur ist, wenn A und B als Faktoren der Form, unter welcher sie ist, in allen Potenzen, d. h. in allen quantitativ differenten Ausdrücken ihrer selbst seiend sind. (DMS § § 4 3 - 4 9 , A A 1,10 136-140, SW IV 135-139) 5 3 SW IV 140 ff. 5 4 SWIV141.

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setzt« zu sein eben auch, durch ein drittes synthetisierendes Prinzip so in ein reelles Verhältnis gesetzt zu sein, daß dadurch eine bestimmte Wirklichkeit konstituiert wird.

Wie erwähnt wiederholt sich dieses Schema in jeder Potenz.55

(DMS §50, A A 1,10 143) Die erste Anwendung findet es in der Kon­struktion der Materie, die Schelling in der Darstellung allerdings nicht durchführt. Schelling zeigt vielmehr, daß die Materie als erste relative Totalität anzusprechen ist. Insofern sie Bedingung der Wirklichkeit der ersten beiden Momente ist, kann man sie auße rdem als das erste Vor­ausgesetzte bezeichnen, das in Folge als Grundlage der weiteren Kon­struktion einer differenzierten Wirklichkeit fungiert. 5 6 (DMS §51, A A 1,10 143 ff.) Sie erfüllt damit die Funktion, die Schelling 1809 der »anfänglichen Natur« zuweist, und ist, wie wir weiter unten sehen werden, mit dieser identisch. Den in der Darstellung geführten Beweis, der Behauptung, daß die Materie als erste relative Totalität und, wie Schelling sagt, »pr imum Existens« anzusprechen sei, brauchen wir hier nicht zu verfolgen. 5 7 ( D M S § 5 1 , A A 1,10 145) Er würde überhaupt nur mit Blick auf andere naturphilosophische Entwürfe verständlich.

Setzt man jedoch die entsprechende Ausführungen dieser Schrif­ten, insbesondere der Allgemeinen Deduktion zu den einschlägigen Pa­ragraphen der Darstellung i n Beziehung, so lassen sich einige Grund­linien der Materiekonstruktion herausarbeiten, die für den Fortgang der Argumentation wichtig sind: 5 8 Zunächst wird deutlich, daß die L i ­nie als erste Realisierung der relativen Identität und die Breite als erste Realisierung der Duplizität anzusehen sind. 5 9 ( A D § § 6 - 1 0 u. 18, A A 1,10 299 ff. u. 307) Gemeint sind Linie und Breite als konstitutive Ele­mente des erfüllten Raums. A l s solche aber setzen beide das Ge­setztsein von A und B, hier als Attraktiv- und Expansivkraft gefaßt, in einer gemeinsamen Realität voraus. Eine solche gemeinsame Realität aber ist, wie gesagt, zuerst in der Materie erreicht. Diese Realität aber ist, wie bereits erwähnt , keinesfalls dreidimensional strukturiert: In ihr löschen sich die beiden ersten Momente der Konstruktion, Linie und

5 5 SWIV142. 5 6 SW IV 142 ff. 5 7 SWIV145. 5 8 Auf eventuelle Differenzen zwischen beiden Schriften kann hier nur eingegangen werden, wo es für das Verständnis der weiteren Argumentation unerläßlich ist. 5 9 SWIV5ff .u . l3 f .

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Breite, vielmehr aus und sind nur potentia in ihm enthalten. 6 0 ( D M S §50, A A 1,10 143) Sie gewinnen ihre Wirklichkeit erst in der Rekon­struktion der Materie.

Die Synthese von Attraktiv- und Repulsivkraft setzt außerdem die bereits mit Blick auf das Schema der Triplizität erwähnte syntheti­sierende Kraft voraus. Sie wird von Schelling als Schwerkraft bezeich­net und stellt eine der Weisen des Auftretens der absoluten Identität dar, und zwar eben diejenige, auf die Schelling 1809 im Zusammen­hang der Einführung des internen Dualismus verweist. In der Schwer­kraft verhält sich die absolute Identität als »Grund ihres eignen Seyns« . 6 1 ( D M S §54, A A 1,10 146ff., vgl. FS VII 357ff.)

In der Allgemeinen Deduktion wird außerdem die innere Struktur der Materie näher beleuchtet. In diesem Zusammenhang verweist Schelling auf eine weitere Bedingung, unter welcher allein Realität denkbar ist: Beide Prinzipien, die hier ja als Kräfte gefaßt sind, müssen vereinigt sein, ohne sich auszulöschen. 6 2 (AD §33 , A A 1,10 322 f.) Die Forderung der Vereinigung der beiden Kräfte bei gleichzeitiger dyna­mischer Entgegensetzung ist in der Materie dadurch erfüllt, daß die Attraktivkraft A , wie dargelegt, immer in die Ferne wirkt, die Expan­sivkraft B hingegen nicht. 6 3 (AD § 8, A A 1,10 300 f.) Daher können bei­de in einen Punkt gesetzt sein, ohne sich auszulöschen. Indem A aber in der Ferne B entgegenwirkt, wird B eingeschränkt und der erfüllte Raum produziert. 6 4 (AD §§34 f., A A 1,10 323 ff.) Der Grad der Raum­erfüllung, die Dichte, hängt ab von der dem Produkt mitgeteilten A t ­traktivkraft: Da die Expansivkraft an sich unbegrenzt ist, wird der Grad ihrer Begrenztheit im jeweiligen Produkt von der Stärke der Attraktiv-

6 0 SWIV143. 6 1 SW IV146 ff. D. h. die Schwerkraft setzt die Materie als diejenige Realität, aus der die quantitativ differenten Ausdrücke ihrer selbst entwickelt werden, als deren Indifferenz die absolute Identität existiert. Die spezifische - und paradoxe - Art und Weise, in der die absolute Identität 1801 in Entwicklung des von ihrem Grund her Möglichen exi­stiert, wurde im Exkurs 3.2 ausführlich dargelegt. 6 2 SWIV29f. 6 3 S W I V 7 f . 6 4 SW IV 31 f. Erst im Produkt des dritten Moments ist ein Verhältnis der beiden Kräfte erreicht, das nicht mehr geometrisch ist, sondern arithmetisch, also jenes Verhältnis, das Eschenmayer in seiner Materiekonstruktion allein gewinnen kann. (AD § 4 3 , A A 1,10 234, A A IV 31) Er betrachtet nur dasjenige Verhältnis der Kräfte, das im dritten Mo­ment der Konstruktion entsteht, d. h. die bestimmte Raumerfüllung. (Begriff A A 1,10 98 f., SW IV 94 f.)

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kraft determiniert. Der Grad der Begrenztheit der Expansivkraft ist die spezifische Raumerfüllung, sprich Dichte. Da der Grad der Gravitation vom Grad der Attraktivkraft abhängt, ist damit auch die spezifische Schwere bestimmt. 6 5 (AD §§38 f., A A 1,10 329 ff., D M S §58, A A 1,10 150) Die Kraft, welche Expansivkraft und Attraktivkraft in das erwähn­te Verhältnis setzt, ist, wie dargelegt, die Schwerkraft. Sie heißt so, weil sie die Schwere hervorbringt. 6 6

Die Dichte bzw. die spezifische Schwere, so Schelling im Begriff und in der Allgemeinen Deduktion, ist die einzige in der ersten Kon­struktion gewonnene Bestimmung der Materie. A l l e anderen werden nur durch Rekonstruktion der ursprüngl ichen Konstruktion gewon­nen. 6 7 (AD §47, A A L 1 0 341 f.) In diesem Punkt besteht freilich eine Differenz zwischen dem Begriff bzw. der Allgemeinen Deduktion ei­nerseits und der Darstellung andererseits: In den ersten beiden Schrif­ten nimmt Schelling eine Festlegung der spezifischen Schwere in Un­abhängigkeit von den zur Rekonstruktion der Materie gehörenden Prozessen an. 6 8 (AD a. a. O., Begriff A A 1,10 98 f. u . 103 f.) Die Materie wird damit schon vor ihrer Rekonstruktion als in gewisser Hinsicht gestaltet gedacht. In der Darstellung hingegen wird nach Schelling das Produkt der ersten Konstruktion erst durch die Kohäsion, also dem er­sten Moment der Rekonstruktion spezifiziert, und zwar so, daß beide in einem indirekt proportionalen Verhältnis stehen. 6 9 (DMS §72, A A 1,10 154 f.) Schelling nimmt in der Darstellung also eine vollkom­men ungestaltete Materie als Grund von Gestaltung an. Die für die erste Materie dargelegte Gestaltlosigkeit, d. h. die Produktion der rei­nen dritten Dimension, wird von Schelling i n der Darstellung als ur­sprüngliche Flüssigkeit der Materie ausgedrückt . 7 0 ( D M S §54, A A 1,10 148) In der Materie sind gleichwohl alle drei Momente und die mit ihnen gegebenen Bestimmungen potentialiter enthalten.

Die gestaltlose Materie fungiert i n der weiteren Konstruktion als Substrat von Gestaltung. Schelling beschreibt die Schwere im Würz-

6 5 ADIV36f f . ,DMSSWIV149 . 6 6 Die Schwerkraft darf also keinesfalls mit der Gravitationskraft verwechselt werden. (AD §39, A A 1,10 330 ff., SW IV 38 f.) Es sei noch erwähnt, daß Schelling mit Schwere gelegentlich auch die Schwerkraft selber bezeichnet, (etwa SP VIII447) 6 7 SWIVSOf. 6 8 Begriff SW IV 94 f. u. 99 f. 6 9 SW IV154 f. 7 0 SW IV147; vgl. auch §95 , A A 1,10 170, SW IV 171.

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burger System entsprechend als allgemeinen »Grund von Realität«, in welchem jede Besonderheit eingezogen ist. 7 1 (WS §§98—106, V I 256 ff.) Sie enthalte keinen Grund von Differenz: Sie sei »ewige Nacht, ein Abgrund ewiger Stille und Verborgenheit, in dem die Dinge ohne eignes Leben sind.« (WS §105, V I 266) Demgegenüber fungiert das Licht als differenzierendes Prinzip. (WS §§103 ff., V I 261 ff.)

3.3.3 Die Rekonstruktion der Materie

Die Materie enthält nicht nur die Momente der Konstruktion des dy­namischen Prozesses als einer Potenz. Sie enthält vielmehr der Mög­lichkeit nach alle anderen Potenzen, also auch die der ideellen Reihe. 7 2

(DMS §59, A A 1,10 151) Dies wird von Schelling 1801 durch das Ent­haltensein des prinzipiell unbegrenzbaren ideellen Prinzips in der M a ­terie begründet . Als »an sich unbegränzbar« enthält es »den Grund aller Potenzen«. (a.a.O.) Diese Unbegrenzbarkeit ist Grund der Poten­zierung: Jedes Produkt, in welchem das ideelle Prinzip begrenzt ist, wird durch dieses transzendiert und zur reellen Seite eines höheren Prozesses gemacht. Jede Wiederholung hat die Form des Selbsterken­nens. In jeder Wiederholung werden neue Eigenschaften entwickelt, wird ein höherer Grad an Differenziertheit gewonnen. Die Konstruk­tion operationalisiert also das erwähnte Grundmodell von Entwicklung und generiert eine zunehmend komplexe Struktur. Der erste Schritt dieser Operationalisierung auf der Basis der ungestalteten Materie stellt die Rekonstruktion der Materie dar.

Den Übergang von der Konstruktion der Materie zur Rekonstruk­tion derselben, also die erste Wiederholung der Konstruktion, begrün­det Schelling dem Dargelegten entsprechend damit, daß das ideelle Prinzip, indem es i m bisher erreichten Produkt reell und begrenzt ist, als ideelles unbegrenzbar gesetzt ist, und zwar in einer höheren Potenz, der Potenz des Lichts, das Schelling auch als A 2 bezeichnet. 7 3 ( D M S §58, A A 1,10 150) Das Licht geht darauf, das Begrenztsein des ideellen Prinzips in der relativen Totalität aufzuheben. Es wirkt also der Schwerkraft entgegen, welche das Produkt in seinem Sein zu behaup-

7 1 Das Zitat findet sich in WS §105 , VI 266. 7 2 SWIV150. 7 3 SWIV149.

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Die Konstitution des Geistes

ten strebt. Durch die Einwirkung des Lichts wird die Schwerkraft be­stimmt, den gesetzten Zusammenhang von A und B in einer höheren Potenz zu rekonstruieren. 7 4 ( D M S §§60ff., A A 1,10 151 f.)

A u f diese Weise wird zunächst die relative Identi tät in ihrer Ak­tualität konstruiert. Genauer beschreibt Schelling diese Stufe des Na­turprozesses so, daß die Materie (A = B) als Substrat in ihren zwei Po­tenzen A und B gesetzt ist, die wiederum i m Verhältnis relativer Identität zueinander stehen. 7 5 ( D M S §64 , A A 1,10 152) Die destruie-rende Tätigkeit des Lichts bewirkt also nicht die teilweise oder vollstän­dige Aufhebung der Schwere, sondern vielmehr, daß diese sich erneut setzt. Der Zusammenhang von A und B steht unter der Form der Linie und wird von Schelling Kohäsion genannt. 7 6 ( D M S §67, A A 1,10 153) In jedem Punkt der Linie werden A als negative und B als positive Kraft gesetzt. Dies entspricht dem Gesetztsein der Materie als Substanz.7 7

(DMS §70, A A 1,10 154) N u n wirkt die negative Kraft jedes Punktes auf den Nachbarpunkt und bindet dessen positive Kraft, wodurch die Punkte ihrer Entfernung voneinander widerstehen. Das nennt Schel­ling Kohäsion. (AD IV 56 f.) Ihr Grad bestimmt die Festigkeit eines Körpers. Beim Betrachten der Linie wird deutlich, daß wir hier den Ma­gnetismus in seiner Aktualität konstruiert haben: Die Linie nämlich weist einen positiven und einen negativen Pol auf, d.h. einen Pol, an dem die Attraktivkraft, und einen, an dem die Expansivkraft über­wiegt. 7 8 (DMS §68, A A 1,10 153)

Die Schwerkraft ist nach dieser Interpretation das Reproduzieren­de der Schwere in der höheren Potenz. Die Schwere in der Linie gesetzt ist Kohäsion. Die Kohäsion wiederum ist Äußerung , Realisierung der Schwerkraft unter Bedingung der Differenz: Die Kohäsionskraft ist, so Schelling, »die unter der allgemeinen Form des Seyns (A und B) existi-rende Schwerkraft .« 7 9 (DMS §93 , A A 1,10 164) Zugleich widerstreiten sich Schwerkraft und Kohäsion: Während diese darauf geht, das ur­sprüngliche, gestaltlose Produkt zu erhalten bzw. jede Differenzierung wieder einzuziehen, ist die Kohäsion Form, Gestaltung, Differenz. Sie

7 4 SWIV151. 7 5 SWIV152. 7 6 SW IV 153 f. 7 7 SW IV 153 f. 7 8 SW IV 153In der vorgängigen Konstruktion der Materie wurde der Magnetismus in seiner Potentialität konstruiert. 7 9 SWIV164.

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D i e Konstrukt ion qualitativer Bestimmtheit im dynamischen P r o z e ß

ist also auf das Licht als der Schwerkraft widerstrebendes Prinzip eben­so angewiesen wie auf diese selbst.8 0 ( D M S §72, A A L 1 0 155) M a n kann also sagen, daß Gestaltung nur möglich ist in der Schwebe zwi ­schen Einziehung derselben durch die Schwerkraft und Vernichtung durch Aufhebung jedes Zusammenhangs durch die Wirkung des Lichts. Wie dargelegt, wird die Schwerkraft durch die differenzierende Tätigkeit des Lichts in eine Wirkungsweise versetzt, in der sie ein Pro­dukt hervorbringt und stabilisiert, das sie, würde sie alleine für sich wirken, vernichten, einziehen würde. Schon hier kann man erkennen, daß dieses Wirken der Schwerkraft dem Wirken des Willens des Grun­des in der Freiheitsschrift analog ist: Auch der Wil le des Grundes er­füllt seine Aufgabe i m Ganzen des Weltprozesses, indem er dem idea­len Prinzip entgegenwirkt.

Ähnlich dem Wil len des Grundes, der als den Dingen inhärenter Eigenwillen diese in ihrem jeweiligen Sein zu bewahren strebt, wird auch die Schwerkraft außerdem als dem Körper inhärentes Prinzip ver­standen, das in jedem Körper als das angesetzt ist, das diesen zu erhal­ten strebt. Die Schwerkraft ist, wie Schelling sagt, Grund »nicht nur des Seyns sondern auch der Fortdauer aller Dinge« . 8 1 ( D M S §54, A A 1,10148) Die Kohäsion ist die Verwirklichung dieses Identitätsstre­bens: Jeder Körper habe, so Schelling, das Bestreben, eine Totalität für sich zu sein und seine Kohäsion zu erhöhen, denn nur durch sie be­haupte er seine Ident i tä t . 8 2 ( D M S §§80f., A A L 1 0 157) Es verwundert daher nicht, daß die Kohäsion bzw., wie Schelling auch sagt, Kohärenz allgemein das Prinzip der Absonderung in der unorganischen Natur darstellt. 8 3 ( D M S § 72, A A 1,10 155) Es handelt sich um eben die Starr­heit, die wir in Philosophie und Religion als Ausdruck der Ichheit und der Absonderung i m unorganischen Körper kennengelernt hatten. 8 4

(PR V I 42) Die Kohäsion wird entsprechend in den Stuttgarter Privat­vorlesungen als Prinzip der Selbstheit verstanden, das sich unendlich fortsetzen würde, würde es nicht in seiner Wirksamkeit beschränkt. Dieses durch die zweite Dimension beschränkte Streben geht letztlich darauf, alles zu sein. (SP VII447) Im Organismus, der nächsten Potenz,

8 0 SWIV155. 8 1 SWIV147. 8 2 SW IV 157 f. 8 3 DMS SW IV155, vgl. auch WS § 1 2 3 f., VI 286 f. 8 4 Vgl. 1.3.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

Die Konstitution des Geistes

äußert es sich als Streben nach Reproduktion, Wachstum. (SP VII452) Beide Bestrebungen kann man als Ä u ß e r u n g jener allgemeinen Erre­gung des Eigenwillens in der Natur erkennen, die Schelling in der Frei­heitsschrift im Ganzen der Natur am Werk sieht, die dort aber insofern stets das Werk des Universalwillens verrichtet, als es die notwendige Grundlage seines Hervortretens abgibt und das Wirken des Universal­willens nicht gefährdet. Erst im Menschen besteht die Gefahr, daß der Eigenwille aus der ihm angemessenen Position als Grund des Auftre­tens der Liebe hervortritt. (FS VII 375 ff.)

In der Allgemeinen Deduktion versucht Schelling den Übergang zur nächsten Gestalt des dynamischen Prozesses, zur Elektrizität nämlich, aus der Tätigkeit des Lichts zu gewinnen: Gegen die Tätigkeit des Lichts kann die in der Linie gesetzte Kohäsion, wie Schelling sagt, »nicht mehr entschieden behauptet« werden. 8 5 ( A D § 53, A A 1,10 352) Die Kräfte werden getrennt und können in alle Richtungen wirken. Dadurch wird die Rekonstruktion des zweiten Moments der ersten Konstruktion möglich: In jede Richtung nämlich tritt die Kohäsion er­neut ein, diesmal aber als in der Fläche wirkend. 8 6 ( A D § 5 3 , A A 1,10 351 ff.) In diesem Schritt werden mit der Elektrizität alle sich auf diese beziehenden Eigenschaften der Körper, d.h. nach Schelling alle Eigen­schaften der Oberfläche eines Körpers, konstruiert. In der Darstellung hingegen wird die Elektrizität nicht konstruiert, sondern über die Ko-häsionsveränderung eingeführt, die zwei Körper bei Berührung wech­selseitig ineinander setzen. Dabei ist jeder Körper bestrebt, seine Ko­häsion auf Kosten des anderen zu e rhöhen . 8 7 ( D M S § § 8 1 ff., A A I , 1 0 157 ff.) Die dabei entstehende Kohäsionserhöhung ist als negative, die entsprechende Kohäsionsverminderung als positive Ladung zu verste­hen. 8 8 (DMS § 85, A A 1,10 159) Schelling konzipiert hier also ein Uni­versum von Körpern, die sich selbst zu erhalten streben, indem sie ihre Kohäsion auf Kosten eines anderen erhöhen. Im jeweiligen Körper ist die Leitung von Elektrizität gedacht als Ausgleich bzw. Verbreitung der in einem Punkt erlittenen Kohäsionsveränderung über den ganzen

8 5 SWIV61. 8 6 SW IV 60 ff. 8 7 SW IV157 f. 8 8 SWIV159.

104 ALBER THESEN Oliver Florig

Die Konstrukt ion qualitativer Bestimmtheit im dynamischen P r o z e ß

Körper. »Alle Leitung ist Identitätsbestrebung des Körpers.« 8 9 ( D M S § § 8 6 - 9 1 , A A L 1 0 159 ff.) Hinter dieser Bestrebung steht wieder die Schwerkraft als diejenige Kraft, die auf das Sein des Körpers geht und unter Bedingung der durch das Licht gesetzten Differenz die größt­mögliche Kohäsion zu bewirken sucht. Auch hier verhält sich die Schwerkraft analog dem Wirken des Eigenwillens in der Freiheits­schrift. Weiter unten wird darüber hinaus zu zeigen sein, daß es sich hier um mehr als ein analoges Verhalten zweier Prinzipien geht: Die Schwerkraft ist 1809/1810 nämlich als Eigenwille in einer bestimmten Potenz, nämlich im dynamischen Prozeß zu verstehen.

Den Übergang zum Chemismus gewinnt Schelling in der Allgemeinen Deduktion wiederum durch die destruierende Tätigkeit des Lichts. Ge­gen diese Wirkung kann, so Schelling, der Zustand bestimmter Raum­erfüllung, also das dritte Moment der Konstruktion der Materie, nicht mehr aufrechterhalten werden, so daß den Körpern, wie Schelling schreibt, »die Bedingung der letztern von außen« zugeführt werden m u ß . 9 0 (AD §54, A A 1,10 353 f.) Gemeint ist, daß sich die miteinander reagierenden Körper wechselseitig Attraktiv- bzw. Expansivkraft mit­teilen. Entscheidend ist, daß die Kohäsionskraft im chemischen Prozeß eine durchdringende Kraft wird und so auch die dritte Dimension und damit die chemischen Eigenschaften der Körper rekonstruiert wer­den. 9 1 (AD §56, A A 1,10 355)

Damit ist der dynamische Prozeß und die »Entstehung der ge­formten und differenten (mit unterscheidbaren Eigenschaften) aus­gestatteten Materie« abgeschlossen. ( M V X 109) In der Allgemeinen Deduktion zieht Schelling diesbezüglich folgendes Fazit:

»Alle Qualitäten, wodurch Materien sich von einander unterscheiden, lassen sich zuverläßig entweder auf Verschiedenheiten ihrer Cohäsionkräfte, oder auf ihre sinnlich empfindbaren oder endlich auf ihre chemischen Eigenschaf­ten reduciren. Eine vierte Klasse wird sich nicht angeben lassen. Wir können also glauben, unsrer Aufgabe: die Qualitätsunterschiede der Materie zu con-

8 9 SW IV 160 ff. Das Zitat findet sich in § 91, Zusatz 2, A A 1,10 162, SW IV162. 9 0 SW IV 62. Das Zitat findet sich in A A 1,10 353, SW IV 62. 9 1 SW IV 65. Die Forderung an das dritte Moment der Rekonstruktion, die beiden er­sten als actu in sich zu vereinen, erfüllt der galvanische Prozeß: Der galvanische Prozeß ist der reinste oder der eigentliche Ausdruck des Chemismus. (DMS § 113 Allg. Erläu­terungen 1, A A 1,10 184 f., SW IV 185 f.)

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

Die Konstitution des Geistes

struiren, durch Ableitung jener drei verschiednen Bestimmungen Genüge gethan zu haben (...).« 9 2 (AD §55, A A 1,10 354)

Diese Konstruktion aber war, wie ausgeführt, Rekonstruktion der Ma­terie, welche alle drei Momente potentia enthält .

3.4 Der Organismus

Das Produkt des dynamischen Prozesses wird, so die Logik des Poten-zierungsschemas, zum reellen Faktor oder zum Gegenstand eines er­neuten Potenzierungsschritts, der wiederum als Selbsterkennen zu be­greifen ist: Im ganzen dynamischen Prozeß stand das Licht in Differenz zur Materie. (WS §187, V I 375) Es verhielt sich als das ihr äußerliche ideelle, erkennende Prinzip. Das Gesetztsein von Licht und Schwer­kraft in relativer Totalität, in Schellings Notierung A 2 = (A = B), aber beinhaltet das Reellwerden und das Hinzutreten des Lichts zum Pro­dukt. 9 3 (DMS § 136, A A 1,10 199) Dieses Hinzutreten des Lichts be­zeichnet die Grenze des dynamischen Prozesses und stellt den Über­gang in eine neue Potenz dar ( D M S §94, A A 1,10 166), 9 4 in welcher Licht und Schwerkraft als Formen gesetzt sind, unter welcher die abso­lute Identität existiert. 9 5 (DMS §137, A A 1,10 199 f.) Dieser zunächst recht rätselhafte Ausdruck wird sich in Folge aufklären.

Das Begrenztwerden des prinzipiell unbegrenzbaren ideellen Prinzips provoziert das Wiederauftreten des ideellen Prinzips in einer höheren Potenz, als A 3 . 9 6 (DMS § 137, A A 1,10199) Diese Verhältnisse implizieren auch eine neue Konstellation i m Auftreten der absoluten Identität: War im dynamischen Prozeß die absolute Identi tät als A = B Grund ihrer Existenz als Licht, so ist sie nun in der Totalität des dyna­mischen Prozesses, also als A 2 = (A = B) Grund ihrer Existenz als A 3 . 9 7

(DMS §§142 ff., A A 1,10 201 f.) Wie schon i m Übergang von Materie in den dynamischen Prozeß tritt also an der Grenze des dynamischen Prozesses die absolute Identität in einer neuen Gestalt auf. Hier aber

9 2 SWIV64. 9 3 SWIV200. 9 4 SWIV166. 9 5 SWIV200. 9 6 SWIV200. 9 7 SW IV 202 f.

106 ALBER THESEN Oliver Florig

D e r Organismus

wird die absolute Identität nicht von einem dem reellen Faktor äußer­lichen ideellen Faktor ausgedrückt, sondern zeigt sich als Identität der­jenigen Prinzipien, die den dynamischen Prozeß bestimmten, nämlich von Licht und Schwerkraft. Unterscheidet man beide, so ist jeder wie­der eine Form ihres Auftretens in der Identität. Deswegen kann Schel­ling auch sagen, die Schwerkraft werde als Form des Seins der absolu­ten Identität gesetzt.9 8 ( D M S §137, A A L 1 0 199) Die erwähnte Identität, in welcher sich Licht und Schwerkraft durchdringen, ist der Organismus. 9 9 ( D M S §141 , A A 1,10 201)

N u n könnte man diese Identität verstehen als eine, die dadurch gesetzt ist, daß sich die beiden Prinzipien zu ihr »gleichsam verständigt haben«. ( M V X 110) Dann wäre die Identität lediglich Resultat der durch Licht und Schwerkraft selbst hervorgebrachten Vereinigung die­ser beiden Prinzipien. In der Darstellung wird freilich deutlich, daß der Organismus nicht nur als Resultante des Hinzutreten des Lichts zum Produkt zu verstehen ist, er m u ß vielmehr zugleich als Identität ver­standen werden, die sich selber setzt und die beiden anderen Prinzipien in sich bindet: Im Organismus nämlich, so Schelling, verhält sich die absolute Identität als Ursache des Auftretens ihrer selbst als Identität von Licht und Schwerkraft. 1 0 0 ( D M S § 142, A A 1,10 201) Diese Ursäch­lichkeit bezeichnet Schelling auch als Wirksamkeit oder als Indifferenz­vermögen. Sie geht darauf, Schwerkraft und Licht als Formen ihres Seins zu setzen und zu erhalten. 1 0 1 ( D M S §144, A A 1,10 202) Da sich in ihr die absolute Identität wie in der Schwerkraft als Grund ihrer Ex i ­stenz als Organismus verhält, kann sie Schelling auch als »Schwerkraft der höhern Potenz« bezeichnen. 1 0 2 ( D M S §145, A A 1,10 203 f.) Dabei gibt es freilich einen erheblichen Unterschied zur Schwerkraft i m dyna­mischen Prozeß, nämlich den, daß die Wirksamkeit im Organismus als ideelles Prinzip höherer Ordnung anzusehen ist, eben als A 3 . Schelling definiert Wirksamkeit auch als Identität von Kraft und Tät igkei t . 1 0 3

(DMS §143 , A A 1,10 202) M i t Kraft meint Schelling die Schwerkraft

9 8 SWIV200. 9 9 SWIV202. 100 SWIV202. 1 0 1 SWVI203. 1 0 2 SW IV 204 f. 1 0 3 SWIV203.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 107

Die Konstitution des Geistes

im ursprünglichen Sinn, mit Tätigkeit das L ich t . 1 0 4 Wenn also das, was Kraft und Tätigkeit synthetisiert, als eben diese Identität definiert ist, so ist die Identität als Wirksamkeit Ursache ihrer selbst oder, anders gesagt, diese Identität etabliert sich und stabilisiert sich selbst. Der Or­ganismus ist dem Wesen nach diese Wirksamkeit, die Operationsweise, durch welche der Organismus sich selbst setzt und e rhä l t . 1 0 5

Der Zirkel, daß der Organismus zugleich als das Setzende der Identität von Licht und Schwerkraft und als Resultante des Hinzutre­ten des Lichts zum Produkt des dynamischen Prozesses verstehbar sein soll, kann im Sinne einer reaktiven Spontanei tät aufgelöst werden: das Hinzutreten des Lichts bringt ein Prozessieren hervor, das beide Prin­zipien, Schwerkraft und Licht, sowie die von ihnen etablierten Prozesse in sich aufnimmt und fortsetzt.

Gegenüber dem dynamischen Prozeß verkehrt sich i m Organismus das Verhältnis von Substanz und Akzidenz: War A = B i m dynamischen Prozeß die Substanz, das Substrat, an welchem die ideellen Formen des Seins, d.h. die drei Momente von Magnetismus, Elektrizität und Chemismus darstellbar waren, so ist nun A = B, d. h. die Substanz als Substrat akzidentell, während umgekehrt die Form zur Substanz wi rd . 1 0 6 (DMS §64 u. § 144, A A 1,10 152 u. 202) M i t Form ist hier be­zogen auf unorganische Materie deren Gestaltung, mit Bezug auf den Organismus die Operationsweise gemeint, welche den Organismus ausmacht. Bewegung ist hier eben nichts, das dem Ding von außen widerführe. Die spezifische Bewegung oder Operationsweise, die Wirksamkeit eben, ist dem Organismus vielmehr wesentlich.

Die konkrete Materie hingegen ist im Organismus akzidentell. Sie ist austauschbar und ist Materie nur, insofern sie, wie Schelling im Würzburger System sagt, durchdrungen ist vom Begriff, d.h. vom

1 0 4 Als Kraft bezeichnet Schelling die absolute Identität, »sofern sie unmittelbar Grund von Realität ist«. (DMS §52 , A A 1,10 146, SW IV 145) Die absolute Identität aber »als unmittelbarer Grund der Realität von A und B in dem primum Existens ist Schwer­kraft.« (DMS §54 , A A 1,10 146, SW IV 146) Als Tätigkeit bestimmt Schelling die ab­solute Identität, sofern sie im dynamischen Prozeß nicht Grund von Realität, sondern selbst Realität ist, d. h. sofern sie Licht ist. (DMS § 96, A A 1,10 173, SW IV 174) Wirk­samkeit ist also die Identität von Licht und Schwerkraft. 1 0 5 Im Würzburger System drückt Schelling dies aus, indem er sagt, der Organismus sei Produzierendes und zugleich Produkt. (WS § 194 VI 383) 106 SW IV 152 u. 203.

108 ALBER THESEN Oliver Florig

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D e r Organismus

Licht. (WS § 194, V I 383) Wenn er die Materie als austauschbar be­schreibt, denkt Schelling offensichtlich an einen Stoffwechselprozeß, in welchem die von außen aufgenommene Materie in das Prozessieren eingespeist und diesem anverwandelt w i rd . 1 0 7 Daß Schelling diese Auf­nahme im Würzburger System als Durchdringung der Materie durch das Licht beschreibt, läßt sich mit unserer Interpretation der Wirksam­keit in der Darstellung dann verbinden, wenn man die Wirksamkeit, wie dargelegt, als eine Weise des Prozessierens auffaßt, in der Licht und Schwerkraft zu einem identischen, sich selbst stabilisierenden Pro­zeß vereinigt sind, gleichwohl aber ihren Eigensinn bewahren, und insofern unterscheidbar bleiben. Sie werden, wie Schelling später schreibt, zu Mit te ln des Organismus oder zu Potenzen desselben, mit welchen er »als den seinigen wirkt.« ( M V X 110)

Damit wäre dann auch erklärt, wieso Schelling den Organismus, wie dargelegt, als Identität von Licht und Schwerkraft und eben zu­gleich auch als Identität von Licht und Materie begreifen kann. (WS §187, V I 375 f.) N u r so wird außerdem verständlich, wie Schwerkraft und Licht noch als Formen des Seins der absoluten Identität angespro­chen werden können. Diese Interpretation stärkt zudem die ohnehin naheliegende Vermutung, daß im Organismus selber in der anverwan­delten Materie bzw. in Anverwandlung derselben magnetische, elektri­sche und chemische Prozesse ablaufen, freilich so, daß sie in den Ge­samtprozeß des Organismus eingebunden bleiben und von ihm genutzt werden. Dazu aber m u ß der Organismus die Wirkungsweise der Schwerkraft und des Lichts, wie sie i m dynamischen Prozeß be­schrieben wurden, in sich aufnehmen. Der organische Prozeß etabliert sich also nach unserer Deutung, indem er die Wirkung der Schwerkraft wie des Lichts in sich begreift, damit aber auch die erwähnten magne­tischen, elektrischen und chemischen Prozesse in sein Gesamtprozes­sieren aufnimmt. Anders gesagt, der Organismus als Existierender ist teilweise Grund seiner selbst, insofern er sich nämlich in seiner selbst­bezüglichen Operationsweise selbst fortsetzt, zugleich aber hat er den Grund seiner Existenz nicht vollständig in seiner Gewalt, bleibt er doch auf äußere Bedingungen seiner Existenz angewiesen. Der Organismus kann damit als Vorgestalt des Geistes begriffen werden. Wie im Orga­nismus werden in ihm zwei Prinzipien vereinigt, und zwar so, daß da-

1 0 7 Vgl. Rang 2000. S. 190.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 109

Die Konstitution des Geistes

bei eine sich selbst stabilisierende Selbstbezüglichkeit entsteht. Wie der Geist hat auch der Organismus eine relative Unabhängigkeit gegen­über den Umständen, unter denen er existiert, und kann sie zur Grund­lage seines Auftretens machen.

3.5 Zwischenbilanz: Grundzüge der Naturphilosophie von 1801

Wie dargelegt, gewinnt Schelling 1801 in der Konstruktion der Materie qua Synthesis einer expandierenden (reelles Prinzip) und einer kontra­hierenden Kraft (ideelles Prinzip) durch die Schwerkraft die Materie oder die Schwere. Dieses von Schelling auch als pr imum Existens be­zeichnete Produkt, ist als per se nicht aktuelle Voraussetzung jeder weiteren Gewinnung von Bestimmtheit konzipiert. Diese Entwicklung von Bestimmtheit vollzieht sich i n verschiedenen Potenzierungsschrit-ten, deren erster durch das potenzierte ideelle Prinzip, das Licht, ange­stoßen wird, indem dieses gegen die Begrenzung des ideellen Prinzips in der Materie wirkt und damit auf Aufhebung des Produkts drängt. Dieser Dekonstruktion des Produkts wirkt die Schwerkraft entgegen, welche auf das Sein des Produkts geht und der Gestaltung entgegen­wirkt. In diesem Gegeneinander werden in verschiedenen Schritten die verschiedenen Momente des dynamischen Prozesses und die dem je­weiligen Moment entsprechenden Eigenschaften konstruiert. Jedes Moment kann als Gewinn an Gestaltetheit, Durchsichtigkeit, Idealität verstanden werden, wobei die Entfaltung neuer Eigenschaften jeweils so erfolgt, daß der Grundprozeß dieser Potenz, der Kohäsionsprozeß in jeder Potenz wiederkehrt, er also auch in Termini dieses Prozesses be­schrieben werden kann. Insofern allerdings die ersten beiden Momente erst im dritten aktuell sind, gilt auch das Gegenteil: Sie sind Momente im chemischen Prozeß und können als solche betrachtet werden. 1 0 8

(DMS § 114, A A 1,10 186)

Das Produkt der Rekonstruktion der Materie, so die Logik des Po-tenzierungsschemas, ist wiederum Gegenstand einer weiteren Poten­zierung, in welcher weitere Eigenschaften entwickelt werden. Die Ge­stalt dieser Potenz, der Organismus, ist zu verstehen als ein sich selbst stabilisierendes Prozessieren, das die Prinzipien und Prozesse des

los SWIV187.

110 ALBER THESEN Oliver Florig

Die Naturphi losophie in der Freiheitsschrifi und die Konstitution des Geistes

dynamischen Prozesses in sich bindet und sein eigenes Prozessieren auf der Basis dieser Prozesse etabliert. Der Organismus als Existieren­des existiert also auf Grund und in Aneignung vorgängiger Prozesse.

M i t Blick auf Schellings Grundmodell von Entwicklung kann man im dynamischen Prozeß und in der Etablierung des Organismus in der Tat eine schrittweise und dynamische Entfaltung der im primum Existens angelegten Möglichkeiten erkennen. Allerdings wird, wie in obigem Exkurs ausführlich dargelegt, die Dynamik des Steigerungsprozesses von Schelling selbst immer wieder dementiert. Zum einen nämlich be­tont er, daß die absolute Identität, die sich in dieser Steigerung auf jeder Stufe in anderer Gestalt setzt, an sich nicht aus sich herausgegangen sei . 1 0 9 ( D M S §30, A A L 1 0 129) Z u m anderen unterstreicht Schelling, daß alle Potenzen zumal gesetzt seien, da sie nur gegeneinander Poten­zen seien. Jede für sich nämlich sei absolute Totali tät . 1 1 0 (DMS §42, A A 1,10 135) Diese Negation der Entwicklung tut der inneren Logik der als Entwicklung konzipierten Konstruktion aber keinen Abbruch.

3.6 Die Naturphilosophie in der Freiheitsschrift und die Konstitution des Geistes

3.6.1 Grund und Materie

Die Ausführungen zum naturphilosophischen Teil der Darstellung sol­len dazu dienen, die naturphilosophischen Ausführungen in der Frei­heitsschrift besser zu verstehen. Diese Ausführungen sind, wie schon bemerkt, skizzenhaft und stark metaphorischer Natur. Zwar wirken sie auf einer bildlichen Ebene nur zu einleuchtend, der Gedankengang aber, der hinter den Bildern steht, bleibt weitgehend im Dunkeln. Im Folgenden soll dieses Dunkel soweit wie möglich aufgeklärt werden. Dabei soll insbesondere gezeigt werden, was über das Hervorgehen des Geistes aus der Natur bzw. über die innere Verfassung des Geistes ausgemacht werden kann, wenn man sich diesen Fragen von Schellings Naturphilosophie her nähert .

Folgendes gilt es zu verstehen: Nach Schelling soll der Verstand,

™ sWIV127f. 1 1 0 SW IV 133 f.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 111

Die Konstitution des Geistes

die Liebe, das Licht oder der Universalwille durch Scheidung der in der anfänglichen Natur liegenden Kräfte aus dieser eine Einheit emporhe­ben. (FS VII 361 ff.) Diese Einheit bezeichnet Schelling auch als Licht­blick bzw. Idea. Die Sehnsucht widersetzt sich der Scheidung und wird schrittweise überwunden, so daß je nach Grad der Scheidung unter­schiedene Wesen aus der Natur emporgehoben werden. In diesem Pro­zeß entsteht »zuerst etwas Begreifliches und Einzelnes«. (FS VII 361) Der Prozeß funktioniert des näheren so, daß das ursprünglich dunkle Prinzip in Licht verklärt wird - Schelling spricht hier von Transmuta­tion - ; und zwar indem das (äußere) Licht, das »nach innen gekehrte Licht« in der Natur befreit. 1 1 1 (FS VII 362) Dadurch kommen beide Prinzipien zu einer Form von Einheit, die je nach Naturwesen variiert. Diese Einheit wird einmal als Seele bezeichnet und hat den Charakter eines »lebendige(n) Bandes«. (FS VII 362) A l s emporgehobene Einheit ist bezogen auf den Menschen aber auch der Geist anzusehen. (FS VII 363 f.) A u f ihn als dem Ebenbild Gottes, das sich diesem freiwillig ver­binden kann, zielt der gesamte Naturprozeß, wie Schelling ihn 1809 konzipiert.

Die Deutung der hier zusammengefaßten Grundzüge der Evolu­tion des Geistes aus der Natur mit Hilfe der Schellingschen Naturphi­losophie von 1801 wird stark erleichtert dadurch, daß Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen eben diese Evolution in der Terminolo­gie seiner Naturphilosophie skizziert. Diese Skizze kann man als eine Selbstinterpretation seiner entsprechenden, aber eben metaphorischen Ausführungen von 1809 lesen. 1 1 2 So ist 1810 von einer noch nicht ge­bildeten, also ungestalteten Materie als dem »bewußtlose(n) Theil von Gott« die Rede. (SP VII 435) Das Bewußtlose in Gott werde von Gott

1 1 1 In der von Schellings Sohn vorgenommenen und von Schröter im Nachdruck her­ausgegebenen Werkausgabe steht hier jeweils »nach ihnen gekehrte Licht«. In der Mei­ner-Ausgabe wird »ihnen« durch »innen« ersetzt. (Buchheim 1997 Ed. S. 35) Fuhrmans läßt (Fuhrmans 1964 Ed. S. 76) »ihnen« stehen und verweist in einer Fußnote auf eine Änderung durch Schellings Sohn von 1860, der »innen« statt »ihnen« gesetzt habe. Inhalt wie Grammatik verlangen hier natürlich »innen«. 1 1 2 Allerdings ist zu bemerken, daß Schelling hier in einigen Punkten von seiner Natur­philosophie von 1801 abweicht und sich näher an der Gestalt bewegt, die seine Natur­philosophie in den Folgejahren angenommen hat. Daß wir hier zur Erläuterung der Evolution des Geistes auf die frühere Fassung zurückgreifen und die Skizze von 1810 erläuternd hinzuziehen, rechtfertigt sich daraus, daß Schelling selber 1809 auf die Dar­stellung verweist. Außerdem betreffen die Differenzen nicht die Grundkonzeption.

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J

D i e Naturphi losophie in der Freiheitsschrifi und die Konstitution des Geistes

durch freiwillige Kontraktion gesetzt. Die auch als Selbsteinschrän­kung bezeichnete Kontraktion sei der Anfang der Schöpfung und aller Realität. (SP VII 428 f.) Das Bewußtlose in Gott oder, wie Schelling sagt, das »Dunkle« ist in der Terminologie von 1809 die anfängliche Natur bzw. der Grund in Gott, in dem die Dinge als von Gott geschie­dene werden. (FS VII 358 ff.)

Der Ausdruck »dunkel« meint hier nur bewußtlos und wenig ge­staltet, undifferenziert, und damit insoweit unerkennbar. Erkennbar­keit wie Bewußthei t setzen Scheidung, d.h. Differenzierung voraus. (SP VII 433) Als dunkel wird außerdem dasjenige Prinzip angespro­chen, das der Scheidung bzw. Differenzierung widerstrebt. 1 1 3 Der Aus ­druck »Scheidung« bezeichnet 1809 zunächst die Entfaltung der Kräf­te; gemeint ist, daß das ideelle und das reelle Prinzip in jeder Potenz, ja selbst in den einzelnen Momenten innerhalb einer Potenz, also etwa in der Elektrizität im dynamischen Prozeß, in immer neue und immer komplexere Verhältnisse treten. 1 1 4 Dabei treten freilich auch immer neue Ausprägungen der beiden Grundprinzipien auf. Die Verhältnisse, in welche die beiden Prinzipien eingehen, sind prozessual verfaßt. Da­her kann man auch sagen, daß sich immer komplexere Prozesse auf der Basis weniger komplexer Prozesse etablieren, etwa der Organismus auf dem Grund der i m dynamischen Prozeß ablaufenden Prozesse. Das eben macht die Zunahme von Differenziertheit im Potenzenschema aus. Insofern Scheidung sich als Potenzierung vollzieht, also eben die Etablierung immer komplexerer Prozesse impliziert, meint »Schei­dung« auch den Übergang von einer Potenz in die nächst höhere. Da Schelling Ungestaltetheit als Dunkelheit bezeichnet, kann er Schei­dung auch als »Aufgeben der Dunkelheit« definieren. (FS VII 361) M i t »dunkel« oder »finster« ist also nicht etwa »böse« gemeint oder etwas, das dem nahe käme. Diese Worte drücken, wie gesagt, vielerorts nur das aus, was Schelling in der Darstellung durch das Adjektiv »flüs-

1 1 3 In diesem Sinne spricht Schelling etwa vom »dunkle(n) Band der Schwere«. (FS VII 361) 1 1 4 Marquet versteht den Ausdruck »Scheidung« als Entscheidung im Sinne der Auf­hebung von Ambivalenz, d. h. desjenigen Zustandes, in dem etwas dies werden kann oder jenes. (Marquet 1973. S. 403 f.) Diese Deutung hebt einen Aspekt der Scheidung hervor, der v.a. für die menschliche Entwicklung und Geschichte zentral ist. Die Schei­dungsschritte im Naturprozeß hingegen sind notwendig. In ihm geht es darum, daß sich das zeigt, worauf die Natur zielt: der Mensch.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

Die Konstitution des Geistes

sig« bezeichnen würde: einen Zustand der Ungestaltetheit und Undif­ferenziertheit. 1 1 5

Damit ist aber noch nicht gesagt, daß die Materie bzw. die anfäng­liche Natur in sich auch die Struktur der flüssigen, d. h. ungestalteten und bestimmungslosen Materie von 1801 hat. Die Materie von 1801 war ja, wie dargelegt, als Synthesis einer ideellen Kraft (A) und einer reellen wirkenden Kraft (B) gedacht. Der Ausdruck der Synthesis war A = B. Die synthetisierende Kraft wurde als Schwerkraft bezeichnet. Wenn man nun in Betracht zieht, daß die Schwerkraft in ihrem Ver­hältnis zum Licht als reelles Prinzip bestimmt ist, das entsprechend in Schellings Notierung durch B darzustellen ist, dann kann man das Pro­dukt der Synthesis, die Materie, auch wie folgt schreiben:

B A=B

Das aber ist nach Schelling 1810 der »allgemeine Ausdruck der Natur«, in welcher die Identität von A = B unter den Exponenten B gesetzt ist. 1 1 6 (SP VII 446) Diese Übere ins t immung ist nicht nur eine der No­tierung, sondern auch eine in der Sache: M i t B als Exponent ist, bezo­gen auf die unorganische Natur, diejenige Kraft gemeint, die »alles zwingt und bindet« d.h. die Schwerkraft. 1 1 7 (SP VII 447) Sie sei »die Nacht, das dunkle Princip, ewig vor dem Licht entfliehend, aber durch diese seine Flucht den Schöpfungen des Lichts Halt und Bestand ge­bend.« (SP VII 447) Damit liegt auf der Hand, daß Schelling der Schwerkraft hier die Rolle zuweist, die ihr auch in der Darstellung zu-

1 1 5 Vgl. Hermannis Abwehr einer »Dämonisierung des Grundes«, die in der Literatur häufig zu finden sei. (Hermanni 1994. S. 86 f.) Nur aufgrund der Bedeutung von »dun­kel« als undifferenziert und unbewußt kann Schelling in den Stuttgarter Privatvor­lesungen nicht nur die ungestaltete Materie in Gott, sondern außerdem sowohl die Ver-schlungenheit Gottes in sich in der Indifferenz bzw. im Ungrund als dunkel bezeichnen, wie die von sich her bewußtlose Grundlage der göttlichen und menschlichen »Selbst­bildung«. (SP VII432 f.) 1 1 6 Als Exponent bezeichnet Schelling häufig dasjenige, als das sich etwas zeigt, eben exponiert. Hier bezeichnet es sowohl dasjenige, was in der Natur das Übergewicht hat, als auch die gründende Kraft in der unorganischen Natur. 1 1 7 Im Text ist hier freilich von »Schwere« die Rede, gemeint ist aber die Schwerkraft. Etwas später wird mit »Schwere« das Produkt, d. h. die Materie bezeichnet, während die bindende Kraft als Schwerkraft firmiert. (SP VII 449, vgl auch die Georgiinachschrift S. 148)

114 ALBER THESEN Oliver Bori|

Die Naturphi losophie in der Freiheitsschrifi und die Konstitution des Geistes

kommt: Innerhalb einer bestimmten Potenz fungiert sie als das der Ge­staltung widerstrebende Prinzip, welches das jeweilige Produkt in sei­nem Sein zu erhalten strebt. Zugleich ist aus dem Zitat klar, daß das Licht als das ideelle, evolvierende Prinzip fungiert. Beide Prinzipien interagieren derart, daß die qualitativen Differenzen der Materie und die drei Dimensionen entwickelt werden. 1 1 8 (SP VII447 ff.)

Bezüglich der Freiheitsschrift scheint Schelling freilich in gewisser Weise zwischen Sehnsucht und Eigenwillen zu unterscheiden: Die Sehnsucht ist das Setzende der anfänglichen Natur, das kontraktive Prinzip, welches sich der Scheidung durch das Licht widersetzt. (FS VII 359 ff.) In jedem »Naturwesen« oder jeder »Creatur« aber tritt das dunkle Prinzip als Eigenwille auf, der aber wiederum, sofern er nicht bewußt ist, als bloße Sucht oder Begierde anzusprechen ist. (FS VII 362 f., SP VII 467) Im Begriff des Eigenwillens ist hier ein Zug elimi­niert, den die Schwerkraft wenigstens 1801 noch aufweist: In der Dar­stellung wirkt die Schwerkraft sozusagen gezwungen und entgegen ihrer eigenen Tendenz stabilisierend, während der Eigenwille, wie wir später mit Bezug auf die charaktersetzende Tat des Menschen noch se­hen werden, als Position des Individuums sowohl i n seinem Dasein als auch in seinem Sosein zu verstehen ist . 1 1 9 Er geht ursprünglich und von Anfang an auf die Bejahung des einzelnen oder besser: er ist das Grün­dende des einzelnen.

Diese Differenz zur Schwerkraft liegt letztlich in der Willenhaf-tigkeit der Prinzipien begründet: M i t Kraft ist etwas gedacht, das ab­sichtslos wirkt, die Prinzipien von 1809 aber sind, wenigstens in ihrer Grundform, intentional, auch wenn sie, wie die Sehnsucht, sozusagen nicht wissen, was sie wollen. (FS VII359 f.) Daß die Prinzipien in ihrer Grundform intentional sind, schließt aber nicht aus, daß sie in be­stimmten Potenzen als Kraft auftreten. Auch in der Freiheitsschrift spricht Schelling nicht nur von Wil len, sondern auch von Kraft. (FS VII 361 ff.) M a n mag einwenden, die Verwendung des Ausdruckes Kraft sei hier unspezifisch. Selbst wenn dem so wäre, gilt das nicht für die Stuttgarter Privatvorlesungen, in denen Schelling in der Skizze sei­ner Naturphilosophie den naturphilosophischen Kraftbegriff voraus­setzt. Damit ergibt sich für die Zeit um 1809/10 eine noch genauere

1 1 8 Hier treten einige Differenzen zu Schellings Naturphilosophie von 1801 auf. Auf sie sei hier nicht näher eingegangen. 1 1 9 Vgl. 4.3.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

Die Konstitution des Geistes

Differenzierung derart, daß mit »Sehnsucht« das i m Ganzen des Na­turprozesses wirkende kontrahierende Prinzip bezeichnet ist. Von »Schwerkraft« wäre dann mit Bezug auf die unorganische Natur, von »Eigenwillen« - in einem weiten Sinne, der auch Begierden und A n ­triebe umfaßt - mit Bezug auf alle »Creatur« die Rede, wobei darunter etwa Organismen allgemein oder eben bestimmte Organismen zu ver­stehen wären. In einem engen Sinn wäre, wie noch zu zeigen sein wird, von Eigenwille nur mit Bezug auf bewußte Antriebe, d. h. mit Bezug auf den Geist zu sprechen.

Damit ist ein möglicher Einwand gegen das Unternehmen dieses Kapitels ausgeräumt, der Einwand nämlich, wonach die Willenhaftig-keit, welche den Prinzipien in der Freiheitsschrift zukommt, eine Inter­pretation der naturphilosophischen Skizze mit Hilfe der Naturphiloso­phie von 1801 unmöglich mache. Von Wi l l en i m eigentlichen Sinne ist nämlich nur zum einen in Bezug auf Gott, zum anderen aber in Bezug auf den menschlichen Geist zu sprechen. Eine solche Potenzierung des reellen und des ideellen Prinzips hat Schelling i m Blick, wenn er mit Blick auf frühere Schriften über die i m ideellen Teil der Philosophie herrschende Freiheit schreibt: »In dieser (der Freiheit) wurde behaup­tet, finde sich der letzte potenzirende Akt , wodurch sich die ganze Na­tur in Empfindung, in Intelligenz, endlich in Wi l l en verk läre .« 1 2 0 (FS VII 350) Die hier zu findende Kongruenz zu früheren Phasen des Schellingschen Philosophierens kann die oben aufgezeigte Wende von einem an epistemischen Kategorien orientierten Denken zu einem sol­chen, das seine Grundprinzipien als Wil len faßt, nicht aufheben: Die Wirklichkeit der Welt verdankt sich 1809 einem Entschluß Gottes, ihr empirischer Zustand einem Entschluß des Menschen, nicht wie 1804 dem notwendigen Selbsterkennen Gottes und der Einnahme einer irr­tümlichen Perspektive durch den Menschen.

3.6.2 Seele und Organismus

Al s nächstes ist zu klären, was unter der aus der anfänglichen Natur evolvierten, von Schelling als Seele oder als »lebendige(s) Band« be-

1 2 0 Nach Buchheim verweist Schelling hier auf die Darstellung des dynamischen Pro­zesses und das System des transzendentalen Idealismus von 1800. (Vgl. Buchheim 1997 Ed. S. 104 f.) Zur Willenhaftigkeit des Naturprozesses vgl. Marx 1977. S. 102.

ALBER THESEN Oliver Florig

Die Naturphi losophie in der Freiheitsschrifi und die Konstitution des Geistes

zeichneten Einheit zu verstehen ist. Soviel ist klar: Die Seele ist eine Einheit von Kräften, sowie Einheit des dunklen Prinzips und des Lichts. (FS VII 361 f.) Sie ist Identität in einem anderen Sinne, als es die anfängliche Natur war, in welcher, wie Schelling dies i m ersten Welt­alterdruck für das Analogon der anfänglichen Natur in dieser Schrift ausdrückt, reelles und ideelles Prinzip als »ungetrennte und (...) un-unterscheidbare« gesetzt sind. ( W A I Sehr. 29) Zwar wirken sie aufein­ander, diese Wirkung tritt aber nicht nach außen. Interpretiert man die anfängliche Natur als Materie, ist dies leicht verständlich zu machen: Die Materie wurde von Schelling als Synthesis der ideellen und der reellen Kraft gedacht, in welcher die beiden Kräfte außerdem aufein­ander wirken. Gleichwohl ist diese erste Einheit bestimmungslos und unerkennbar; anders gesagt, sie ist »flüssig« oder »dunkel«. Dagegen wird die aus der Natur durch Evolution emporgehobene Einheit in sich differenziert und erkennbar sein müssen. Sie wird außerdem, wie wir sehen werden, nicht mehr durch die Schwerkraft synthetisiert, sondern m u ß als Verbindung anderer Ar t konstituiert sein.

Erkennbarkeit bzw. eine äußerlich sichtbare Wirkung der beiden Kräfte aufeinander ist erst in Reaktion auf die Wirkung des Lichts ge­geben, welches als ideelles Prinzip gegen die Begrenztheit des ideellen Prinzips im Produkt wirkt oder, wie Schelling es 1809 ausdrückt, als äußeres Licht »das nach innen gekehrte Licht such t« . 1 2 1 ( D M S §60, A A 1,10 151, FS VII 362) Durch die Wirkung des Lichts werden die Kräfte in der Materie geschieden und treten, wie dargelegt, in immer neue Verhältnisse, in denen immer neue Quali täten aktuell werden. In diesem Prozeß wirkt die Schwerkraft stabilisierend: Ihre synthetisie­rende Wirkung tritt in jedem Moment des Prozesses wieder ein und rekonstruiert ein, nun freilich stärker gestaltetes, idealeres Produkt. Damit ist klar, daß Schellings naturphilosophische Ausführungen in der Freiheitsschrift bis zu einem gewissen Punkt im Lichte seiner K o n ­struktion der dem Magnetismus, der Elektrizität und dem Chemismus entsprechenden Quali tä ten verstanden werden können; oder anders­herum: das, was Schelling 1801 als dynamischen Prozeß bezeichnet, läßt sich in den Naturprozeß, wie Schelling ihn 1809 skizziert, als M o ­ment einfügen.

Offen geblieben ist aber, wie Schelling die Entfaltung des in der anfänglichen Natur liegenden Bandes oder der Seele, d. h. die Konsti-

1 2 1 DMS SW IV 151.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 117

D i e Konstitution des Geistes

tution der oben erwähnten entfalteten Einheit denkt. Es liegt nahe, die­ses »lebendige Band« als Organismus oder genauer, als Wirksamkeit zu interpretieren. (FS VII 362) Dafür spricht einmal Schellings Lebens­begriff: Leben beruht auf der Vereinigung entgegengesetzter Kräfte, die zu diesem Leben formiert werden m ü s s e n . 1 2 2 (FS VII 365, 376 f., SP VII 435) Dabei dürfen die Kräfte nicht in einer statischen Einheit zusammengespannt sein, wie in der Materie, sondern müssen in einem Prozeß begriffen sein. (SP VII432) Das nun ist schon i m dynamischen Prozeß der Fall, den Schelling deswegen auch als lebendig charakteri­sieren kann. (SP VII 449) Dennoch wird in den Stuttgarter Privat­vorlesungen der Organismus als das »Leben an sich« bezeichnet. (SP VII451) Andernorts wird das A 3 auch als »Geist des Lebens« angespro­chen. ( M V X110) Diese ausgezeichnete Stellung beruht darauf, daß im Organismus die für das Leben charakteristische Prozessualität wesent­lich geworden ist: Der Organismus existiert und subsistiert nur als sein eigenes Prozessieren.

Damit ist es plausibel, das Band i m Sinne der Wirksamkeit im Or­ganismus zu verstehen, nämlich als sich selbst als Identität von Schwerkraft und Licht etablierendes und stabilisierendes Prozessieren. Erst von diesem Band kann man sagen, daß es von sich selbst her Ar­tikulation, Erkennbarkeit beinhaltet. Das Band i m dynamischen Pro­zeß, die Schwerkraft, hingegen wirkt von sich her aller Artikulation, Gestaltung entgegen. Eben deswegen nennt es Schelling auch dunkel. Er tut dies mit Bezug auf das Beispiel der Pflanze, durch welches er die Scheidung und Vereinigung der Kräfte i m Ganzen des Naturprozesses illustriert: In der Pflanze löse sich »das dunkle Band der Schwere« und es werde »die im geschiedenen Stoff verborgene Einheit entwickelt«. (FS VII361)

W i r hatten gesagt, die gesuchte Einheit werde nicht mehr durch die Schwerkraft synthetisiert, sondern erhalte ihre Identi tät auf andere Weise, nämlich durch die in der Darstellung als Wirksamkeit bezeich­nete Eigentümlichkeit des organischen Prozessierens, sich selbst zu set­zen und zu erhalten. Die Fähigkeit, die eigene Existenz aus sich heraus zu erhalten, begründet für Schelling die Vermutung, für den Organis­mus sei der Tod »keine ursprüngliche Nothwendigkeit« gewesen, denn »das Band der Kräfte, welche das Leben ausmachen, könn te seiner Na­tur nach ebensowohl unauflöslich seyn«. (FS VII 376, SP VII 454)

1 2 2 Vgl. Marx 1977. S. 116 f., siehe auch 2.1.

ALBER THESEN Oliver Florig

Die Naturphi losophie in der Freiheitsschrifi und die Konstitution des Geistes

Schelling scheint hier u.a. auch an die Fähigkeit des Organismus zu denken, eine Störung des Prozessierens wieder zu beheben und die ei­gene materielle Basis durch Assimilation von außen aufgenommener Materie wieder zu ersetzen. Ein »Geschöpf, welches das fehlerhaft Ge­wordene in sich durch eigne Kräfte wieder ergänzt«, scheine, so Schel­ling, »dazu bestimmt, ein Perpetuum mobile zu seyn.« (FS VII 377) Diese Charakteristik des Organismus, sich selbst zu reproduzieren, die Tendenz zur »Continuat ion seiner selbst«, wird von Schelling als Selbstheit oder als egoistische Dimension des Organismus angesehen und entspricht der Kohäsion im dynamischen Prozeß. (WS §204, VI 397 f., SP VII 452) Z u dieser Dimension gehört auch die Fähigkeit des Organismus, »der von außen (...) genommenen Materie (...) das Ge­präge seines Lebens« zu verleihen. (WS §210, V I 403) Folgt man der Unterscheidung zwischen demjenigen Prinzip, das auf die Erhaltung des Produkts geht und der Äuße rung dieses Prinzips, so müß te man sagen, der Eigenwille des Organismus äußer t sich in der Reproduktion wie die Schwerkraft in der Kohäsion. M a n kann annehmen, daß der Selbsterhaltungstrieb, von dem weiter unten die Rede sein wird, die triebhafte Ausgestaltung dieser Dimension im tierischen Organismus darstellt.

3.6.3 Konstitution und Struktur des Geistes

Im Organismus waren Licht und Schwere in ein synthetisches Verhält­nis gesetzt, wobei das Ideale dieser Potenz als das Verhältnissetzende dieser beiden und als das Verhältnis selbst zu verstehen war. Aber die­ses Verhältnis ist sich selbst nicht durchsichtig, d. h. der Organismus ist sich der ihn konstituierenden Prinzipien nicht bewußt . Das ist erst im Geist der Fall, den man mit Kierkegaard auf gut Schellingsch auch als ein Verhältnis bestimmen kann, das sich zu sich selbst ve rhä l t . 1 2 3 (FS VII364)

Wie dieses Verhältnis genau zu beschreiben ist bzw. wie es sich konstituiert, wird von Schelling 1809 leider nicht detailliert dargelegt, so daß wir wieder ausführlich auf die Stuttgarter Privatvorlesungen zurückgreifen müssen. Folgendes können wir dem Text der Freiheits-

1 2 3 Hennigfeld 2001. S. 73.; Kierkegaard, Sören: Die Krankheit zum Tode, in: Gesam­melte Werke. Abt. 24 u. 25. S. 8.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung Ar-

Die Konstitution des Geistes

schrift entnehmen: Der Geist wird als Vollendung der Verklärung oder Transmutation des dunklen Prinzips ins Licht verstanden, in welcher das dunkle Prinzip, der Eigenwille, Träger des Lichts ist, ohne deswegen seinen Eigensinn zu verlieren, »so wie i m durchsichtigen Körper die zur Identität mit dem Licht erhobene Materie (...) nicht aufhört Mate­rie (finsteres Princip) zu s e y n « . 1 2 4 (FS VII 364) Im menschlichen Geist kommt so die schrittweise Scheidung der Kräfte, in welcher die Man­nigfaltigkeit der Naturwesen generiert wird, zu ihrem vorläufigen En­de. 1 2 5 (FS VII 362 f.) In der Einheit mit dem Licht oder Verstand wird der in jedem anderen Naturwesen blind wirkende Eigenwille, von Schelling auch als Sucht oder Begierde bezeichnet, zu einem bewußten Willen, d. h. zu einem Wil len im engeren Sinne. (FS VII 363 f.) Das gilt gleichermaßen für den Universalwillen und den Wil len der Liebe. (FS VII374)

Der Geist verdankt sich also einer graduellen Steigerung von Ge­schiedenheit:

»Es ist offenbar, daß das physische Leben bis zum Menschen fortschreitet, daß eine stetige Folge von Erhebungen und Steigerungen bis zu ihm geht, daß Er der Punkt ist, wo das geistige Leben eigentlich aufgehe«. (SP VII458)

Die graduelle Scheidung gehorcht der Potenzierungslogik. Entspre­chend dieser Logik m u ß der Übergang vom Organismus zum Geist ein erneutes Auftreten des idealen Prinzips beinhalten. In den Stutt­garter Privatvorlesungen wird dieses Prinzip bezogen auf den Organis­mus als A 4 bezeichnet und als dasjenige geistige Prinzip verstanden, welches aus der Natur, d.h. auf der Basis des Organismus ein ihm glei­ches, also den Geist evolviert. 1 2 6 (SP VII454 ff.) Dieses geistige Prinzip

1 2 4 Licht ist hier in einem unspezifischen Sinn als Synonym von Universalwillen oder Verstand gebraucht. In ähnlichem Sinne spricht Schelling in den Stuttgarter Privatvor­lesungen davon, das Reale trete in der Natur schrittweise »aus dem Dunkel ans Licht«, wobei es sich u.a. als Licht im spezifischen Sinn zeigt. (SP VII 454) Die Rede davon, das Reale zeige sich auch als Licht, darf nicht verwundern: Das Licht in der Natur ist im Ganzen des Weltprozesses eben selber der Natur, dem Grund zuzurechnen. Vgl. die Verwendung von Natur in der Darstellung (DMS §145 , A A 1,10 202, SW IV 203 f.) und der Freiheitsschrift (FS VII 358) 1 2 5 Vorläufig ist dieses Ende, weil der Scheidungsprozeß, wie gleich zu zeigen sein wird, auf geistiger Ebene fortgesetzt wird. 1 2 6 Als A 4 wird es nur in Bezug auf den Organismus bezeichnet. In Bezug auf das Ganze der Natur, bezeichnet Schelling es auch als A 2 . Gemeint ist das Ideale im Ganzen der Offenbarung. (SP VII 454 ff.)

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D i e Naturphi losophie in der Fre/heitsschrift und die Konstitut ion des Geistes

verhält sich zum Organismus als seinem Objekt als Subjektives, Erken­nendes. Schelling spricht auch davon, daß es sich als »Erregendes« ver­halte. (SP VII 455) M i t Erregung ist gemeint, daß es auf die Evolution des ihm gleichen, des Geistes, aus der Natur drängt. Damit ist klar, daß das Verhältnis des A 4 zur Natur bzw. zum Organismus nach dem M o ­dell des Verhältnisses von Licht und Schwere und nicht dem des Orga­nismus zum dynamischen Prozeß gedacht werden m u ß . Schelling zu­folge steht das evolvierende geistige Prinzip denn auch nicht nur über der Natur, sondern verhält sich zum Organismus außerdem als Gegen­satz. (SP VII 455) Im Geist nun tritt dieses Prinzip in gewissem Sinne zum Produkt, wird zum internen Prinzip des Geistes, eines freilich, das den individuellen Geist zugleich transzendiert und ihn über sich hinaus verweist.

Zunächst ist zu erläutern, wie der Geist unter Einwirkung des geistigen Prinzips, des Universalwillens aus der Natur evolviert. Dabei gilt es zwei Aspekte zu vereinen: zum einen den Überstieg des Geistes über die Natur, zum anderen die Kontinuität mit der Natur. 1 2 7 Letztere zeigt sich unter anderem darin, daß die niederste Potenz des Geistes, das Ge­müt, durch welches der Geist »in Rapport mit der Natur« steht, be­wußtlose Elemente aufweist; Elemente nämlich wie Lust und Begierde, die tierischer Herkunft s ind. 1 2 8 (SP VII465 ff., FS VII372) Die Begierde ist nach Schelling »Grund jedes besondern Naturlebens«. (FS VII 376) Außerdem kennt Schelling einen »Trieb, sich nicht nur überhaupt, son­dern in diesem bestimmten Daseyn zu erhalten« und versteht ihn als das »Schaffende« jedes Naturwesens. (FS VII376) Begierde und Selbst­erhaltungstrieb sind im tierischen Instinkt als einer Vorstufe des Gei­stes in ein bestimmtes, unveränderliches Verhältnis zum Universalwil­len gesetzt, der durch sie als seinem Werkzeug wirk t . 1 2 9 (SP VII 455 f., FS 372,)

Der eigentliche den Geist gründende Überstieg über die Natur

1 2 7 Vgl. Habermas 1954. S. 282 f. 1 2 8 Für das Zitat siehe SP VII 465. Zu den Potenzen des menschlichen Geistes in den Stuttgarter Privatvorlesungen vgl. Österreich 2002. S. 32 ff. 1 2 9 Durch den Instinkt »handeln sie oder handelt in ihnen das A 3 schon dem geistigen Princip gemäß, als wäre es selbst ein Geistiges«. Das A 4 , das Geistige, ist »der Verstand der Thiere« bzw. »Dens est anima brutorum.« (SP VII 456) Hier zeigt sich der Werk­zeugcharakter des Eigenwillens, der erst im Menschen zur Disposition des Handelnden steht.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 121

Die Konstitution des Geistes

kommt in der Charakterisierung des Geistes als das »natura suä Sey-ende im Menschen« oder als »aus sich selbst brennende Flamme« zum Ausdruck. 1 3 0 (SP VII SP VII 457 u. 466) Ähnlich dem Organismus ist der Geist also als etwas aus sich heraus Existierendes zu begreifen.1 3 1

Die Rückwendung des ideellen Prinzips, das in jedem Potenzierungs-schritt anzusetzen war, verselbständigt sich im Geist wie i m Organis­mus derart, daß sie aus sich heraus existieren, freilich auf der Basis vorgängiger Prozesse. Der Geist ist, wie Schelling ausdrücklich sagt, ein Seiendes, Existierendes, auf der Basis des Verstandlosen. (SP VII 469) Der Überstieg über die Natur kann also nicht schon darin beste­hen, daß der Geist aus sich heraus existiert, das war ja schon im Orga­nismus der Fall, sondern m u ß in der Selbstdurchsichtigkeit des Geistes und der aus ihr resultierenden Freiheit gegenüber den ihn konstituie­renden Prinzipien zu suchen sein. Der sich verselbständigende und die vorgängigen Prozesse okkupierende Rückbezug vollzieht sich nämlich, indem sich das Bewußte vom Unbewußten absetzt und dieses als das seine erkennt, damit aber ins Bewußtsein hebt und sich als Selbst­bewußtsein stabilisiert.

In den Stuttgarter Privatvorlesungen kommt dieser Grundgedan­ke der Entgegensetzung und des Wiedererkennens in der Bewegung der äußeren Offenbarung Gottes zum Ausdruck: »Der Anfang des Be-wußtseyns in ihm«, also in Gott, »ist, daß er sich von sich scheidet, sich selber sich entgegensetzt«. (SP VII 433) Er tut dies, indem er »sich selbst (zum Theil) als erste Potenz, als Bewußtloses« oder als Objekt setzt, von Schelling hier mit (A = B) notiert, und zugleich sich selbst als Subjekt oder als Ideales (A 2 ) expandiert. (SP VII 434) Das Niedere aber wird von Gott selber nur ausgeschlossen, damit er aus diesem das ihm Gleiche emporheben und sich diesem durch das Band der Liebe

1 3 0 Diese Charakterisierung des (menschlichen) Geistes als »aus sich selbst brennen­de^) Flamme« steht zwar in einem Kontext, in dem Schelling die »Sucht zum Seyn« in der niedrigsten, naturhaften Potenz des Geistes erörtert. (SP VII 466) Sie trifft aber den Geist als Ganzen. Schellings Pointe hier ist, daß der Geist gerade als »aus sich Seyendes« nach Sein strebt, d. h. nach etwas, das er sich aneignen bzw. in dem er sich zeigen, manifestieren kann. Als Sucht ist diese Begierde unstillbar. Sie wird stillbar nur durch ein Höheres, die Liebe. Die Liebe Gottes als Motiv der Offenbarung ist übrigens das Analogon der Sucht in Gott, eben der Wille sich zu manifestieren, der freilich nicht aus Mangel geboren ist wie die Sucht, sondern aus neidloser Fülle. 1 3 1 Habermas betont, der Geist sei »Gründung seiner selbst« und sonst nichts. (Haber­mas 1954. S. 284)

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Die Naturphi losophie in der Freiheitsschrifi und die Konstitution des Geistes

verbinden kann. (SP VII434, FS VII 408) Das Verhältnis Gottes zu der durch Kontraktion, Expansion und schrittweiser Scheidung gesetzten Welt ist zugleich eine Bewegung der Spiegelung oder des Sich-objek-tiv-Werdens Gottes in der Welt. (SP VII 425)

Diese Bewegung Gottes in der Schöpfung wird von Schelling sel­ber der »Selbstbildung oder Selbstbewußtwerdung« des Menschen ver­glichen. (SP VII 434) Allerdings kann der wiedererkennende Bezug des Menschen auf sein Verstandloses nicht darin bestehen, daß er als Geist sich auf den aus seinem organischen Leib evolvierten Geist bezöge, sondern bedeutet, daß wir unsere dem Organischen entstammenden Begierden und unbewußten Antriebe, insbesondere den Selbsterhal­tungstrieb, als etwas erkennen, das uns angehört . (SP VII 467) Sehr deutlich drückt Schelling dies im dritten Weltalterdruck aus:

»Es gibt kein Bewußtseyn ohne etwas, das zugleich ausgeschlossen und ange­zogen wird. Das, welches sich bewußt ist, schließt dasjenige aus, dessen es sich bewußt ist, als nicht sich selbst, und muß es doch auch wieder anziehen, eben als das, dessen es sich bewußt ist, als doch sich selbst, nur in anderer Gestalt.« (WA 3 VIII 262)

Dadurch aber verwandeln sich diese unbewußten Antriebe in Eigenwil­len. Schelling spricht von ihm als »bewußte Begierde«, die anders als die dem Unbewußten , dem Gemüt , zuzurechnende »bloße Begierde« dem Geist i m engeren, eigentlichen Sinne, d. h. der mittleren Potenz des Geistes zugehört . (SP VII466 f., vgl. FS VII 363)

In der wiedererkennenden Absetzung vom Verstandlosen werden wir uns aber zugleich eines höheren Prinzips bewußt:

»Von dem Augenblick an, daß wir die zwei Principien in uns gewahr werden, daß wir uns in uns selbst scheiden, uns uns selbst entgegensetzen, uns mit dem besseren Theil von uns selbst über den niedrigeren erheben - von dem Augenblick fängt das Bewußtseyn an, aber eben darum noch nicht volles Bewußtseyn.« 1 3 2 (SP VII 433)

Das höhere Prinzip, dessen wir uns bewußt werden, indem wir uns über uns selbst erheben, ist, so eine durch den Kontext nahegelegte Lesart des Zitats, der sich durch Entgegensetzung etablierende Geist selber. Von ihm sagt Schelling, ganz entsprechend unserer Interpreta-

1 3 2 Hier ist eine Steigerungsbewegung innerhalb des Bewußtseins angedeutet, auf die noch näher einzugehen sein wird. (Vgl. 3.7.4)

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Die Konstitution des Geistes D i e Naturphi losophie in der Freiheitsschrift und die Konstitution des Geistes

tion, er bzw. es, das aus der Natur hervorgegangene A 2 verhalte sich »zu der Natur, in welcher es erweckt wird, wieder als Subjektives zu Objektivem.« (SP VII457)

Diese Lesart gibt lediglich den bereits herausgearbeiteten Zug der Konstitution des Geistes wieder, nämlich den, daß wir Geist sind, in­dem wir uns über das Bewußtlose erheben, die unbewuß ten Antriebe als unsere erkennen und uns i m Erkennen unserer selbst als Geist eta­blieren und stabilisieren. Eine zweite Lesart aber verweist auf ein idea­les Prinzip, ohne welches das Hervortreten des Geistes in der Ent­gegensetzung des Bewußten und des Bewußtlosen gar nicht möglich wäre. Als Geist werden wir uns nämlich auch eines Prinzips bewußt, das noch über dem Geist ist. (SP VII 467ff.) Gemeint ist eben das die Natur übersteigende ideale Prinzip, das A 4 , das eben als das Evolvieren-de des menschlichen Geistes fungiert. Von Schelling wird dieses Prin­zip 1810 abweichend von der Terminologie der Freiheitsschrift auch Seele genannt. Unser Geist hingegen, sofern er sich dieses Prinzips be­wußt ist, wird von Schelling als Verstand bezeichnet. (SP VII467) Dem menschlichen Geist ist die Seele, anders als den Tieren, nicht äußerlich, sondern ist zu verstehen als ein zwar unpersönliches, man könnte auch sagen, überpersönliches Prinzip, das aber eben doch als ein internes Prinzip des menschlichen Geistes anzusehen ist. (SP VII 456, 468 f.) In der Freiheitsschrift unterscheidet Schelling dieses Prinzip nicht eigens. Es entspricht aber dem Universalwillen, bezogen auf den Schelling ter­minologisch nicht zwischen dem Universalwillen, insofern er bewußtes Prinzip des Geistes ist, und dem Universalwillen insofern er den Geist zugleich übersteigt, unterscheidet. Diese Unterscheidung ist 1810 mit »Verstand« und »Seele« bezeichnet.

In den Stuttgarter Privatvorlesungen ist die Seele ein Prinzip des Geistes in einem weiten Sinn, nämlich als höchste Potenz desselben. Zugleich freilich ist sie auf die mittlere Potenz als dem Ort des Bewußt­seins bezogen. (SP VII 468 ff.) Die Konstitution des Geistes vollzieht sich demnach in gewissem Sinne von seinem Zentrum, der mittleren Potenz her, d.h. derjenigen Potenz, welche sich der Begierden als Eigenwille und zugleich des höheren Prinzips bewußt wird. (SP VII 467) Andererseits setzt es die Wirkung des A 4 auf die organisch-leib­liche Basis des Menschen sowie das eigensinnige Wirken der Seele wie der Antriebe, welche der Basis zuzurechen sind, voraus. Der Geist ist somit als reaktive Spontaneität zu verstehen, der die ihn konstituieren­den Prinzipien in sich integriert.

Wi r sind uns der Seele oder des Universalwillens freilich in ande­rer Weise bewußt als dies für unseren Eigenwillen gilt, den wir ja als den unseren begreifen können. Der Universalwille, die Seele ist hin­gegen etwas Unpersönliches, das den Menschen über sich hinaustreibt, ihn wie Schelling dies in den Weltaltern ausdrückt, auffordert, »sich von sich selbst zu scheiden«. (WA 3 III 295) Diese Aufforderung der Seele äußer t sich, so Schelling 1810 auch in einem Handlungsprinzip, das Schelling wir folgt formuliert: »Lasse die Seele in dir handeln, oder handle durchaus als ein heiliger Mann« . Das aber bedeute soviel wie, »handle nicht als persönliches Wesen, sondern ganz unpersönlich, s tö­re ihre Einflüsse in dir selbst nicht durch deine Persönlichkeit«. (SP VII 473) Gemeint ist, daß wir uns nicht durch unseren Eigenwillen zum Handeln bestimmen lassen, sondern durch das Unpersönliche, A l l ­gemeine in uns. 1 3 3 Hier klingt natürlich der kategorische Imperativ an, den Schelling freilich als bloß »formellen Ausdruck« desselben Prinzips betrachtet. (SP VII 473) Bloß formeller Ausdruck ist er inso­fern, als Schellings Handlungsprinzip nicht auf die Verallgemeinerbar-keit der unserem Handeln zugrundeliegenden Maximen verweist, son­dern auf einen von sich her und unmittelbar bestimmten Wil len, dem wir uns beugen sollen. Das Unpersönliche, die Seele, ist von Schelling als Wille, d.h. als Universalwille oder als Liebe, und nicht als prakti­sche, die eigenen Maximen auf ihre Verallgemeinerbarkeit prüfende Vernunft gefaßt. Dementsprechend stellt sich die für Kant zentrale Frage, wie denn »ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungs­grund des Willens sein könne«, erst gar nicht. (KpV V 72) Da das U n ­persönliche Wil le ist, kann Schelling vielmehr ein unmittelbares Wir­ken der Seele i m Handeln, das allerdings eine Entscheidung zum Wirkenlassen durch den jeweiligen Menschen beinhaltet, als Gipfel der Sittlichkeit ins Auge fassen. (SP VII 473) Das Wirkenlassen dieses Höheren ist außerdem zu verstehen als eine Gestalt der Gelassenheit und Freiheit: A l l e innere Zerrissenheit wird in diesem freilich äußerst aktiven Zustand überwunden, da die Liebe sich direkt in Handlungen ausdrückt und die anderen Eigenschaften und Antriebe nicht vernich­tet, sondern einsetzt und zum Tragen bringt. Das Prinzip nämlich, das in uns wirkt, wenn wir in höchstem Sinne sittlich handeln, ist nämlich eben der Repräsentant des Widerspruchslosen, des Freien in uns. Die

133 Tugend versteht Schelling entsprechend als Beziehung der Seele auf Willen und Begierde. (SP VII 472 f.)

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Die Konstitution des Geistes

Bestimmtheit durch dieses Prinzip ist wahre Freiheit. Ein solcher Zu­stand ist empirisch freilich selten und kann in gewissen Sinne als eine Form moralischer Genialität betrachtet werden, in welcher der Han­delnde etwas ihn Übersteigendes als bestimmend erfährt und in diese Bestimmung sozusagen einstimmt. In diesem Sinn spricht Schelling wenig später von Werken eines Künstlers oder eines Philosophen, »von denen man sagen möchte, die Seele habe sie allein ohne Zuthun des Menschen vol lendet .« 1 3 4 (SP VII 473) Menschliche Selbstformierung kann im Verhältnis zur Liebe als B e m ü h u n g darum beschrieben wer­den, dieser als unmittelbar bestimmendem Wi l l en zum Durchbruch zu verhelfen, sich sozusagen der moralischen Genialität anzunähern und diese schließlich auch zu erreichen. Zugleich würden wir dabei insofern persönliche Eigenschaften gewinnen, als wir unsere je individuellen Antriebe und Eigenschaften entwickeln, indem wir sie zu jenem uns übersteigenden, unpersönlichen Prinzip ins Verhältnis setzen.

Indem wir dies tun, erfüllen wir zugleich unsere Rolle als Mitt ler von Welt und Gott bzw. Welt und Geisterwelt. Schelling versteht die Seele nämlich als innergeistige Entsprechung des gött l ichen Bands der Liebe, also desjenigen Bandes, das Gott und Welt verbindet. 1 3 5 Diese Liebe sei das »Wesen der Seele«, die demnach dasjenige Prinzip in uns darstellt, wodurch wir uns Gott verbinden und das Band der Liebe aktualisieren können. (SP VII473) Insofern diese Verwirklichung der Liebe die Voll­endung der menschlichen Selbstbildung und Bewußtwerdung darstellt, antwortet die menschliche Entwicklung auf die eben skizzierte Offen­barung Gottes, in die sie eingebunden ist. Damit kann man sagen, daß die Seele, das A 4 oder der Universalwille i m Aufgehen des Geistes als Aufforderung bewußt wird, als Aufforderung nämlich, die eigene Rolle im Offenbarungsgeschehen zu übernehmen und die eigene Selbstheit als Werkzeug der Liebe bzw. des Universalwillens zu gebrauchen. Die­ses Bewußtwerden der Seele als eines inneren Antriebs, d. h . als Wille, kann man als Vollendung des Hinzutretens des A 4 zum Geist verste-

1 3 4 Dieser unkantische Zug zur moralischen Genialität findet sich schon früher bei Schelling, etwa, wenn er 1804 denjenigen »Zustand der Seele« als eigentlich tugendhaft begreift, »indem sie bloß der innern Nothwendigkeit ihrer Natur gemäß handelt.« (PR VI 55) 1 3 5 Nach den Stuttgarter Privatvorlesungen verbindet sich der Mensch zunächst dem geschöpften A 2 , d. h. der Geisterwelt. Damit aktualisiert er Gott als Liebe von Natur und Geisterwelt, d.h. als A 3 . (SP VII454)

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Die Naturphi losophie in der Freiheitsschrift und die Konstitution des Geistes

hen, das in gewisser Weise mit der Aufnahme des Lichts ins Produkt in der Genese des Organismus verglichen werden kann; in gewisser Weise allerdings nur, da die Seele die höchste Potenz des Geistes darstellt, die diesen freilich zugleich über sich hinaus verweist, während das Licht im Organismus nur als Form der Existenz des eigentlich Existierenden, des Organismus eben, gesetzt war.

M a n mag einwenden, daß sich der Gedankengang hier in einen Zirkel verwickelt. Denn, so kann man fragen, wie soll sich der Mensch der Liebe und seiner Begierden bewußt werden, wenn er noch nicht Geist ist? Nun , die hier vertretene Deutung leugnet ja gerade nicht, daß Eigenwille - i m unspezifischen Sinne - und Universalwille dem Geist vorausgehen. Sie leugnet auch nicht, daß die Konstitution des Geistes einer von diesen Prinzipien getragenen, über den Organismus hinausgehenden Entwicklung bedarf, in welcher beide Prinzipien wirk­sam sind. Sie behauptet lediglich, daß der Geist im eigentlichen und vollen Sinne in der Bewußtwerdung der beiden ihn konstituierenden Prinzipien hervortritt, wobei die beiden Prinzipien erst dadurch im vol­len Sinne Prinzipien des Geistes werden. 1 3 6

Damit ist deutlich, daß die Konstitution des Geistes sinnvoll als Fort­führung der die Naturphilosophie beherrschenden Potenzierungslogik verstanden werden kann. Die ausführliche Interpretation der Evolu­tion des Geistes aus der Natur erlaubt es außerdem, eine Reihe von Theorieelementen, die im zweiten Kapitel eingeführt wurden, besser zu verstehen. Im folgenden Abschnitt sollen einige dieser Elemente näher interpretiert werden. Des weiteren können aus der inneren Ver-faßtheit des Geistes und der Potenzierungslogik Schlußfolgerungen für ein denkbares Model l charakterlicher Selbstformierung gezogen werden.

1 3 6 Die passive, ihrer selbst nicht vollbewußte, eher im Gefühl anzusiedelnde Einheit von Verstand und Wille bezeichnet Schelling später als Seele, die Einheit im klaren Bewußtsein bezeichnet er als Geist. (AS X 289; vgl. hierzu Hennigfeld 2002. S. 11) Der Textstelle liegt freilich ein etwas verändertes Verständnis des Verhältnisses von Wille, Verstand und Geist zugrunde.

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Die Konstitution des Geistes

3.7 Schlußfolgerungen und we i te r führende Bemerkungen

3.7.1 Der interne Dualismus

Z u Beginn des Kapitels hatten wir gesehen, daß Schelling auf das Ver­hältnis von Licht und Schwerkraft verweist, u m den internen Dualis­mus, d.h. die Unterscheidung von Existierendem und Grund zur Existenz in Gott zu erläutern. (FS VII 357 f.) Im Verlauf des Kapitels haben wir diese Unterscheidung in immer neuer Gestalt angetroffen. Im Rückblick auf dieses Kapitel können wir diese Unterscheidung da­her in den verschiedenen Weisen ihres Auftretens noch einmal zu be­trachten und auf diese Weise besser und differenzierter verstehen.

(1) Bezüglich der Ar t und Weise, in der sich Gott selbst Grund sei­ner inneren Existenz ist, ist festzuhalten, daß die Prinzipien von Schwer­kraft und Licht dieses Verhältnis letztlich nur bedingt veranschaulichen können, wenn man aus guten Gründen an der im zweiten Kapitel entfalteten trinitarischen Deutung dieses Verhältnisses festhält. Schwerkraft und Licht sind, wie ausführlich erörtert , Prinzipien in einem Steigerungsprozeß, in welchem Selbstdurchsichtigkeit und Geist schrittweise gewonnen werden. Sie weisen eine unterschiedliche Digni-tät auf und wirken einander entgegen. Das aber ist mit dem Gedanken einer trinitarisch verfaßten Reflexion Gottes in sich nicht vereinbar. Ab­strahiert man von diesem Dignitätsunterschied der Prinzipien und ihrer Rolle in einem Entwicklungsprozeß, so gibt es freilich einen Zug des Verhältnisses von Licht und Schwerkraft, der eine bestimmte Eigen­schaft des Zeugungsverhältnisses Gottes zu sich vorwegnimmt: Schwer­kraft und Licht werden nur gegeneinander wirksam, setzen sich also in gewisser Weise gegenseitig, so wie sich Vater und Sohn wechselseitig als solche, nämlich als Vater und Sohn setzen. (WA 1 Sehr. 72)

(2) Eine dem Verhältnis von Schwerkraft und Licht analoge Wech­selseitigkeit findet sich auch i m Verhältnis Gottes zum Wil len des Grundes oder zur Sehnsucht: Gott wird nur i m Gegensatz gegen ein seiner Offenbarung als Liebe entgegenwirkendes Prinzip äußerlich wirksam bzw. für andere als er selbst sichtbar, wie eben auch dieser Grund nur Grund ist im Gegensatz gegen das ideale Prinzip. Durch diese Wechselseitigkeit kann allerdings das Verhältnis der Unterord­nung des Willens des Grundes nicht aufgehoben werden: Gott braucht zu seiner äußeren Existenz, zu seinem Hervortreten, den Grund. Darin aber ist er das, was eigentlich ist, eben das Existierende, während der

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Schlußfolgerungen und w e i t e r f ü h r e n d e Bemerkungen

Grund in diesem Verhältnis gerade nicht das ist, was im eigentlichen Sinne existiert, sondern eben zu dem wird, wodurch oder auf Basis des­sen dieses Existierende existieren kann. Im Verhältnis von Schwerkraft und Licht ist diese Superiorität insofern präformiert, als das Licht im Unterschied zur Schwerkraft, wie dargelegt, das relativ ideale Prinzip darstellt, welches das Wesen des Absoluten für eine bestimmte Potenz zum Ausdruck bringt. Dabei bleibt das Licht im dynamischen Prozeß dem Produkt äußerlich und ist darin Gott vergleichbar, der die durch den Wil len des Grundes gegründete Welt, in der und der gegenüber er sich offenbart, transzendiert.

Damit hören die Gemeinsamkeiten aber auch schon auf: Hinsicht­lich Gottes Verhältnis zur Welt nämlich ist zu unterscheiden zwischen Gott, (a) sofern er das Ganze des Weltprozesses transzendiert, (b) so­fern er die Welt aus Liebe schöpft, (c) sofern er sich in ihr als Liebe, d.h. als Universalwille zeigt und (d) sofern er als Band von Gott und Welt als Liebe offenbar wird. Eine solche Komplexität weist das Verhältnis von Licht und Schwerkraft nicht auf, zumal sich Gott im Gegensatz zum Licht in einigen Weisen seines Auftretens als Wil le und als han­delnde Person verhält .

(3) Die Unterscheidung von Schwerkraft und Materie kann uns darauf aufmerksam machen, daß Schelling als »Grund« einmal dasje­nige Prinzip bezeichnet, welches in jedem einzelnen Produkt, in jedem Naturwesen das Sein desselben stabilisiert und sich weiterer Gestal­tung oder der Einbindung in einen größeren Zusammenhang, den der Liebe nämlich, widersetzt. Das wäre, wie dargelegt, die Wirkungsweise der Schwerkraft bzw. des Eigenwillens. Zum anderen verwendet er den Ausdruck »Grund« für eine durch Schwerkraft oder Eigenwillen stabi­lisierte Wirklichkeit, die in einem weiteren Entwicklungsschritt als Ba­sis oder Träger fungiert. Im tiefsten Punkt der Entwicklung wäre dies die ungestaltete Materie oder die anfängliche Natur, im höchsten Punkt hingegen das Weltganze, das sich Gott in Liebe verbindet und darin als Basis der Existenz Gottes als Liebe fungiert.

(4) Hutter weist darauf hin, daß die Unterscheidung von Grund von Existenz und Existierendem nicht vollständig sei. Der Grund sei ja Grund zur Existenz, beziehe sich also insofern nicht auf Existieren­des. Es liege nahe, die Existenz als »synthetische Vereinigung von Basis (bzw. Grund) und Existierendem« zu denken. 1 3 7 Dem ist zuzustimmen.

1 3 7 Hutter 2004. S. 75.

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Die Konstitution des Geistes

Allerdings ist zu berücksichtigen, daß das Existierende selbst in zentra­len, paradigmatischen Gestalten des Wirkl ichen als das Organisierende dieser Synthese auftritt. Das ist zuerst i m Organismus der Fall: Der Organismus wird von Schelling als Prozeß gedacht, in dem die Prinzi­pien von Schwerkraft und Licht, nebst den von ihnen bewirkten vor­gängigen Prozessen durch den organischen Prozeß in diesen integriert werden. Insofern stellt der Organismus eine sich selbst setzende Syn­thesis dar. Zugleich ist er zweifellos das, was ist, also das Existierende.

Komplexer ist die Lage im Falle des Geistes. Der Geist ist eine syn­thetische Einheit eines Höheren und eines Niederen und etabliert sich, indem er sich beider bewußt wird, wobei er zu beiden ein unterschied­liches Verhältnis einnimmt: Im Verhältnis zum Bewußtlosen stellt der Geist das Existierende dar. Zugleich gilt, daß i m menschlichen Geist, wenn er der Seele als dem höchsten Prinzip des Geistes folgt, die Liebe das Existierende ist, der Geist im engen Sinne hingegen sich zur Liebe als Grund ihres Auftretens als »ein relativ Nichtseyendes« verhält. (SP VII 467) Nichtsdestoweniger bleibt auch hier der Geist insofern das organisierende Zentrum seiner selbst, als er die beiden Prinzipien in sich selbst vermitteln und in das Wirken des Geistes der Liebe in sich einstimmen m u ß .

3.7.2 Selbständigkeit und realer Begriff der Freiheit

Die Untersuchung der Schellingschen Naturphilosophie und der Evo­lution des Geistes erlauben es außerdem, die Selbständigkeit des Men­schen gegen Gott und den realen Begriff der Freiheit besser zu verste­hen. In der Freiheitsschrift soll, wie ausgeführt, das Gewordensein der Folgen Gottes in einem von ihm unabhängigen Grunde, der Natur nämlich, ihre Selbständigkeit denkbar werden lassen. (FS VII 358 f.) Entsprechend diesem Programm stehen die leibhafte Basis des mensch­lichen Geistes nebst den ihr eigentümlichen Antrieben sowie das ihr entstammende Geistige, der Eigenwille, für die Selbständigkeit gegen­über Gott ein, eine Selbständigkeit, die in der schließlichen Einheit mit Gott auch als Unauflöslichkeit bezeichnet werden kann. (SP VII 458, Clara IX 72 ff.) Dabei ist der Eigenwille, sofern er als geistig geworde­ner Selbsterhaltungstrieb verstehbar ist, das zentrale Element, das un­sere Eigenheit begründet.

Die sich i m menschlichen Geist niederschlagende Stellung zwi-

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Schlußfolgerungen und w e i t e r f ü h r e n d e Bemerkungen

sehen Gott und Natur begründet auch die eigentümliche Freiheit des Menschen:

»Dadurch also, daß der Mensch zwischen dem Nichtseyenden der Natur und dem absolut Seyenden = Gott in der Mitte steht, ist er von beiden frei. Er ist frei von Gott dadurch, daß er eine unabhängige Wurzel in der Natur hat, frei von der Natur dadurch, daß das Göttliche in ihm geweckt ist, das mitten in der Natur über der Natur. (...) Dadurch ist er frei - im menschlichen Sinne - , daß er in den Indifferenzpunkt gestellt ist.« (SP VII 458)

M i t Blick auf die Evolution des Geistes aus der Natur wird deutlich, daß sich die e rwähnte Zwischenstellung in der inneren Organisation des Geistes niederschlägt, dessen erste Potenz die Verbindung zur Na­tur, die dritte aber die Verbindung zu Gott herstellt. Diese Zwischen­stellung des eigentlichen menschlichen Willens, d.h. desjenigen W i l ­lens, der sich aus Eigenwille und Verstand bildet und zwischen den beiden anderen Potenzen vermittelt, begründet die eigentümliche Frei­heit des Menschen. (SP VII467) Eigenwille und Liebe bzw. Universal­wille treten dabei als gegenläufige Handlungsimpulse auf, die eine Ent­scheidung motivieren können. (FS VII374) Der Geist ist frei, der Liebe oder dem Eigenwillen zu folgen. Damit ist der »reale und lebendige Begriff der Freiheit« als »Vermögen des Guten und des Bösen« aus der auch seine Genese als Geist betreffenden Zwischenstellung des Menschen zwischen Natur und Gott gewonnen. 1 3 8 (FS VII352)

3.7.3 Das Böse und die Unruhe des Geistes

In der Einleitung hatten wir zwei Formen der Unruhe unterschieden, die wir nun vor dem Hintergrund der inneren Struktur des Geistes als Folgen des Bösen interpretieren und aufeinander beziehen können. Die innere Struktur des Geistes ist, wie wir gesehen haben, dem Potenzen­schema entsprechend konstituiert. In diesem Schema existiert die je­weils höhere Potenz in Aneignung und Organisation der jeweils nied­rigeren Potenz. Innerhalb des Geistes nun fungiert die Liebe als einheitsstiftendes und organisierendes Zentrum bzw. kann als solches fungieren, wenn der Mensch sich dafür entscheidet. Dabei werden die verschiedene Potenzen des Geistes auf die Liebe hin geordnet, indem

1 3 8 Sturma bezeichnet die Freiheit des Menschen mit Recht als Emergenzphänomen. (Sturma 1995. S. 158)

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Die Konstitution des Geistes

jede Potenz die ihr zukommende Stelle i m Ganzen einnimmt. Schel­ling spricht in diesem Zusammenhang auch von einer »Jakobsleiter himmlischer Kräfte«, die der Mensch in sich herstellen könne. (WA 3 VIII 295 f.) Die ungehinderte Folge der Potenzen, d. h. das ungehinder­te Wirken der höchsten Potenz auf die niedrigeren, ist entsprechend Bedingung der geistigen Gesundheit. (SP VII469)

Diese durch die Liebe gestiftete Einheit wird i m Bösen aufgeho­ben. (FS VII365 f.) Die Aufhebung der Einheit aber kann auf die beiden in der Einleitung unterschiedenen Formen von Unruhe bezogen wer­den, nämlich zum einen auf die Unruhe, die Konsequenz unserer sinn­lichen Begierden ist, zum anderen auf diejenige Form von Unruhe, die im Widerspruch zwischen dem hemmenden und dem auf Entwicklung drängenden Prinzip besteht. Der letztgenannte Widerspruch ist hier zu identifizieren mit dem Gegeneinander von Universal- und Eigenwille. Das Verhältnis dieser beiden Wil len ist, wie dargelegt, nicht notwen­digerweise der eines Widerspruchs: Zwar m u ß der Eigenwille im Gan­zen des Weltprozesses dem Universalwillen entgegenwirken. Im Geist jedoch tritt zu Tage, daß sie funktional auf dasselbe Zie l bezogen sind, nämlich auf die Offenbarung Gottes i n der Al l -Einhei t der Liebe. Diese Übereinst immung im Ziel begründet die Möglichkeit des Menschen, die beiden Wil len so ins Verhältnis zu setzen, daß ihr Widerstreit en­det, und zwar indem sich der Mensch den Universalwillen wirklich zu eigen macht, das Gesollte bejaht. Gegenüber dieser Möglichkeit ist das Böse Trennung der »geistig gewordenen Selbstheit (...) von dem Licht, d.h. (...) Auflösung der in Gott unauflöslichen Pr incipien«. 1 3 9 (FS VII 365) Diese Trennung entsteht durch eine Verabsolutierung des Eigen­willens, der versucht, den Geist seiner Selbsterhaltung unterzuordnen. In dieser falschen Ordnung freilich bleibt der Widerspruch zwischen Eigen- und Universalwille bestehen und macht sich i m Menschen als

1 3 9 Der Ausdruck »Licht« wird hier unspezifisch für »Universalwille« verwendet. Inner­halb der Auslassungszeichen in obigem Zitat steht »da der Geist über dem Licht ist«. Man könnte meinen, in diesem Punkt bestehe eine Differenz zwischen der Freiheits­schrift und den Stuttgarter Privatvorlesungen. Während Schelling nämlich in letzterer die Liebe als höchste Potenz des Geistes charakterisiert, finden sich 1809 die Stellen, in denen Schelling den Geist über dem Licht ansiedelt. (FS VII 365 f., FS VII 404) Der Geist, so könnte man diese Stellen mit Schellings Aussagen in den Stuttarter Privatvor­lesungen vereinbaren, ist nur insofern über dem Universalwillen, als er frei ist, sich über diesen zu erheben. Er steht aber insofern unter dem Willen der Liebe, als er sich diesem unterordnen soll.

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Schlußfolgerungen und w e i t e r f ü h r e n d e Bemerkungen

»innere Stimme seines eignen, in Bezug auf ihn, wie er jetzt ist, bes­seren Wesens« bemerkbar, die ihn zur Umwendung auffordert. (FS VII 389)

Diesem Widerstreit nun folgt die andere, aus unseren Begierden und Antrieben resultierende Unruhe auf dem Fuß. Durch die Verkeh­rung der Ordnung von Universal- und Eigenwille fällt die einigende Funktion, welche ersterer für das Ganze des menschlichen Geistes hat, aus. Der im Bösen unternommene Versuch aber, dem eigenen Leben von den eigenen egoistischen Antrieben her Einheit zu verleihen, läuft darauf hinaus, »aus den voneinander gewichenen Kräften, dem empör­ten Heer der Begierden und Lüste (...) ein eignes und absonderliches Leben zu formiren«. (FS VII 365 f.) Diese Einheit ist, soweit sie über­haupt gelingt, eine Einheit der Natur, d. h. eine, die nur durch das fort­bestehende »erste Band der Kräfte«, den »Grund der Natur«, d.h. das Leben des tierischen Organismus besteht. (FS VII 366, 403) Der Geist ist hier nur Mi t te l der Antriebe, welche der tierischen Basis entstam­men. 1 4 0 Da diese Antriebe aber als geistige nicht mehr in die Einheit des Instinkts mit dem Universalwillen eingebunden sind, kann diese Einheit der Natur allenfalls unvollkommen sein. Eben deswegen ist ein solches Leben als »Gewächs der Unruhe und der Verderbniß« (FS VII 366), bzw. als »Disharmonie« und »Krankheit« zu bezeichnen. (FS VII 370) Damit aber nicht genug. Der Mensch, so Schelling, fühle nämlich »zur selbstischen Begierde sich gleichsam berechtigt«, solange »seine Sehnsucht, sein Verlangen, jene innere Leere, die ihn verzehrt, nicht durch ein höheres Gut erfüllt w i rd .« 1 4 1 (WA 3 VIII 233) Dieses Verlangen aber führt zu einer Entgrenzung und Steigerung unserer Begierden, die nun die Erfüllung gewähren sollen, die nur ein »höheres Gut« zu gewähren vermag. Schelling spricht hier von einem »Hunger der Selbstsucht, die in dem Maß, als sie (...) von der Einheit sich los­sagt, immer dürftiger, armer, aber eben darum begieriger, hungriger, giftiger wird.« (FS VII390)

1 4 0 Umgekehrt macht der Mensch im Guten die aus dem Gemüt stammenden Antriebe direkt zum Werkzeug des Universalwillens. Diese Asymmetrie kommt in der üblichen und durchaus richtigen Formel, wonach der Mensch über die Ordnung der Prinzipien zu bestimmen habe, nicht zum Ausdruck. 1 4 1 Dieses Prinzip ist allgemein und findet nicht nur auf den Menschen seine Anwen­dung, sondern liegt auch der Ordnung der Potenzen zugrunde. (WA 3 VIII 233)

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Die Konstitution des Geistes

3.7.4 Scheidung in der Sphäre des Handelns

Die bisherige Logik des Gedankengangs läßt erwarten, daß die Ver­wirklichung des Bandes der Liebe durch den Menschen gleichfalls schrittweise erfolgt. Für eine solche schrittweise Entwicklung spricht auch Schellings Projekt einer ideellen Reihe oder des, wie Schelling in der Vorrede zur Erstausgabe der Freiheitsschrift sagt, »ideellen Theils der Philosophie«. (FS VII334) Da dieser Teil der Philosophie unter an­derem das menschliche Handeln zum Gegenstand hat, dieses aber ohne Entwicklung, d.h. gänzlich ungeschichtlich, nicht oder nur in einer rudimentären Form denkbar wäre, m u ß Schelling eine schrittweise Annäherung an das Ziel der Geschichte, an die All -Einhei t der Liebe denken. Diese Annäherung m u ß sowohl weltgeschichtlich als auch in-dividualgeschichtlich aufweisbar sein.

Dabei gilt es allerdings einige Besonderheiten einer geschicht­lichen Entwicklung ins Auge zu fassen, welche in das Konzept der Scheidung integriert werden müssen. Eines davon betrifft die Integrier-barkeit der Freiheit in ein systematisches Denken: In der Darstellung hatte Schelling nach eigenem Anspruch more geometrico konstru­iert. 1 4 2 (DMS A A 1,10115) Die einzelnen Momente des Naturprozesses folgten notwendig auf- und auseinander. Die von Schelling vorgenom­mene Integration der Naturphilosophie in die Freiheitsschrift und die Stuttgarter Privatvorlesungen scheint eine entsprechende Notwendig­keit auch in diese Schriften zu implizieren, auch wenn sie als ganze nicht mehr more geometrico konstruiert sind. Für das menschliche Handeln aber kann eine solche Notwendigkeit nicht mehr behauptet werden: Die Scheidung in der Sphäre des Handelns ist als freier Vol l ­zug zu konzipieren, der in der Macht des sich entwickelnden Menschen stehen m u ß . 1 4 3 Bezogen auf den einzelnen Menschen und seine Ent­wicklung, auf die wir uns im folgenden beschränken werden, faßt Schelling diese Freiheit wesentlich als Freiheit, sich von sich selbst zu scheiden oder auf sich selbst zu beharren. Aus der Freiheitlichkeit der

1 4 2 SWIV113. 1 4 3 Für den Gedanken einer in ihren Grundzügen der Potenzierungslogik gehorchenden Offenbarungsgeschichte könnte das zur Konsequenz haben, daß man je nach Entschei­dung des Menschen unterschiedliche Verläufe konzipieren müßte, es sei denn, die Frei­heit des Menschen wäre nur eine Freiheit zu einem dann notwendigen und für die Offenbarung unerläßlichen Bösen. Daß Schelling eine solchen Gedanken in der Frei­heitsschrift zurückweist, haben wir schon gesehen.

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Schlußfolgerungen und w e i t e r f ü h r e n d e Bemerkungen

menschlichen Selbstformierung folgt, daß man mit Schelling unter Fortführung der Potenzierungslogik beschreiben kann, wie diese Schei- | dung von sich selbst in ihren Grundzügen und ihrer Grundrichtung j vollzogen werden m u ß , nicht aber, ob und wie genau der einzelne Mensch diese Logik in seinem Leben verwirklicht. Anders gesagt, die £ Fortsetzung der Potenzierung wird zu einer Aufgabe des Menschen, [ ihre Logik wird normativ. Dieser Gedanke beinhaltet freilich die A b - \ kehr von einem rein konstruktiven Denken: die freie Tat des Menschen kann nicht konstruiert werden. 1 4 4

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Daß Schelling einen Fortgang des Differenzierungsprozesses denkt, auch nachdem »aus dem Bewußtlosen, aus der Tiefe der Materie j heraus Bewußtseyn geweckt und erschaffen ist«, zeigt sich in den Stuttgarter Privatvorlesungen: »mit dem Menschen« werde »noch eine ungeheure Masse von Bewußtlosigkeit auf die höhere Stufe her- ^ aufgebracht«. Diese Masse sei als »Stoff neuer Schöpfungen« anzuse- «• hen. (SP VII 435) Hierbei kann man natürl ich an all das denken, was die Menschheit in einer geschichtlichen Entwicklung hervorbringt, | aber eben auch an das, was in der Entwicklung eines Einzelmenschen jj wirklich werden kann. Eine solche Entwicklung wird von Schelling als * Selbstbewußtwerdung verstanden: Der Mensch schließe »im Proceß -> seiner Selbstbildung oder Selbstbewußtwerdung das Dunkle, Bewußt- "i%

lose in sich von sich« aus, setze es sich entgegen, um »diese Dunkle ? selbst allmählich zur Klarheit zu erheben, es hinaufzubilden zu seinem Bewußten« . 1 4 5 (SP VII 434) Das aber entspricht der Forderung, die Ii' nach Schelling an den Menschen ergeht, nämlich sich von sich selbst zu scheiden, »sich in sich selbst zu steigern - moralisch und intellek- j tuell.« (SP VII436) |

Wie ist diese Steigerung zu verstehen? Daß Schelling hier von \ Steigerung spricht, deutet darauf hin, daß die Selbstbewußtwerdung j bzw. die schrittweise Scheidung in der Tat als eine Bewegung gedacht ist, welche die bisherige Potenzierungslogik in modifizierter Form fort­setzt. Das Bewußtlose m u ß , wenigstens was die Geschichte des einzel­nen Menschen angeht, so verstanden werden, daß es die unserer leib-

1 4 4 Zur notwendigen Offenheit der Tat siehe 4.4.3. 1 4 5 Damit ist deutlich, daß das Niedere im Menschen in der Scheidung keinesfalls dem Vergessen anheim gegeben wird, wie Tilliette meint. Bezogen auf die zeitliche Inter­pretation des Scheidungsaktes spricht Tilliette von einer »liquidation du passe«. (Tilliet­te 1992 Bd. 1. S. 602)

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Die Konstitution des Geistes

haften Basis zuzurechnenden Eigenschaften und Antriebe umfaßt. Ins­besondere zu unseren Antrieben, aber auch zu unserem Körper und seinen Eigenschaften haben wir uns nach Schelling so zu verhalten, daß wir sie als Werkzeuge des Universalwillens einsetzen. »Es ist nicht genug«, so Schelling, »daß im Menschen Kräfte und Fähigkeiten vor­handen sind, er m u ß sie erkennen als die seinigen und nun erst ist es möglich, daß er sie ergreife, sie zur That und Wirkung bringe.« (WA 2 Sehr. 168) Dabei ist eine bewußte, willenhafte Einheit von Universal­willen und unseren Begierden bzw. dem Eigenwillen herzustellen oder, anders gesagt, wir haben unsere Antriebe mit Bezug auf den Univer­salwillen zu einigen und gegebenenfalls zu modifizieren und fort­zuentwickeln. 1 4 6 Das gilt für das Ganze des Lebens, wie auch bezogen auf bestimmte Bereiche oder Ziele. Was gemeint ist, sei an einem ein­fachen Beispiel illustriert: In der Entscheidung dafür, etwa Arz t oder Lehrer zu werden, müssen wir uns bewußt zu bestimmten Eigenschaf­ten, Fähigkeiten und Motivlagen unserer selbst verhalten, diese in Dienst nehmen und ggf. modifizieren. Dabei entwickeln wir neue E i ­genschaften, Fähigkeiten und motivationale Haltungen, die in weiteren Entwicklungsschritten wiederum zum Gegenstand und zur Basis der Fortbestimmung werden können. A u f diese Weise entwickeln wir, was Schelling Charakter nennt, ein »Gepräge« unseres »Thuns und Seyns«. (WA 2 Sehr. 177) Der jeweilige Charakter ist das, was als »be­herrschendes Eins hervortr i t t« . ( W A 2 Sehr. 146) In der Terminologie von Grund und Existierendem kann man sagen, daß der Charakter als das Existierende angesprochen werden kann: Er stellt dasjenige dar, wozu der jeweilige Mensch seine Antriebe, Fähigkeiten und Eigen­schaften sowie die Umstände seines Lebens organisiert hat. Damit ist auch verständlich, warum Schelling sagen kann, daß Persönlichkeit »auf einem dunklen Grunde« ruhe. (FS VII 413) Person sind wir näm­lich eben darin, daß wir unserem Leben ein Gepräge geben. Das aber tun wir nach Schelling, indem wir die Basis unseres Lebens in einem Prozeß der Selbstformierung zu einem bestimmten Auftreten unserer selbst organisieren: »Diejenigen Eigenschaften«, so Schelling, die wir »auf diese Weise (im Proceß)« gewinnen, sind unsere »persönlichen«. (AS X 289) In diesem Zusammenhang erhellend ist die Fassung, die Schelling dem Verhältnis von Individualität, Vernunft und Persönlich-

1 4 6 In diesem Sinne ist Selbstformierung mehr als nur Bewußtwerdung.

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Schlußfolgerungen und w e i t e r f ü h r e n d e Bemerkungen

keit in seiner Niethammer-Rezension gibt. 1 4 7 Gelingende Selbstfor­mierung darf nämlich, so macht Schelling entgegen seinen eigenen, 1804 vertretenen Auffassungen deutlich, keineswegs so verstanden werden, daß wir unsere Individualität aufgeben und uns von unseren sinnlichen Antrieben einfach abwenden. Vielmehr haben wir das A l l ­gemeine mit unserer Individualität ins Verhältnis zu setzen und dabei bestimmte, eben als persönlich zu bezeichnende Eigenschaften zu ent­wickeln. Unter dem Ausdruck »Persönlichkeit« fassen wir nämlich, so Schelling, diejenigen »Tugenden und Eigenschaften«, die wir »in kräf­tiger Verwirklichung der Ideen« zeigen. Dabei bleibt unsere Individua­lität, d.h. unsere spezifischen Eigenschaften, Antriebe und Fähigkeiten in ihrer je eigenen Bestimmtheit erhalten: Sie werden vielmehr zur Persönlichkeit entfaltet. 1 4 8 (NR VII 516 f.)

Wie aber lassen sich die grundsätzliche Entscheidung über Gut oder Böse und die Schritthaftigkeit der Selbstformierung vereinbaren? Bei­de Aspekte sind bei Schelling zu finden; sie sind also in Übereinstim­mung zu bringen, wenn man verstehen wi l l , wie Schelling menschliche Selbstformierung versteht. Das ist möglich, wenn man eine Differen­zierung vornimmt zwischen der auf eine Entscheidung zurückgehen­den Grundorientierung eines Menschen, dem Eigen- oder dem Univer­salwillen zu folgen, und den einzelnen Entscheidungen, in welchen er diese Grundorientierung aktualisiert, konkretisiert und bekräftigt. Jede einzelne Entscheidung, in der wir uns zu unseren Antrieben und Eigenschaften im Hinblick auf eine bestimmte Aufgabe, ein Zie l oder einen bestimmten Lebensbereich aneignend und modifizierend verhal­ten, kann als Wiederholung und Bekräftigung unserer Grundorientie­rung verstanden werden. W i r würden uns dann in jeder solchen Ent­scheidung moralisch steigern, einmal, indem wir unseren Vorsatz

1 4 7 Die Rezension bezieht sich auf Niethammers 1808 in Jena erschienenes Werk »Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungsunter­richts unserer Zeit« und kam im Januar 1809 in der jenaischen Allgemeinen Literatur­zeitung heraus. Sie wurde wohl, wie Shibuya vermutet unmittelbar vor Abfassung der Freiheitsschrift verfaßt. (Shibuya 2006. S. 143 ff.) Shibuya schreibt Niethammers Werk die Rolle zu, den Anstoß zur Neuformulierung des Begriffs der Person bei Schelling gegeben zu haben. (a.a.O. S. 18f.) 1 4 8 Schelling veranschaulicht das Verhältnis des Allgemeinen und der Individualität durch das Bild des Diamanten und des Lichts: Gerade in seiner vollständigen Durch­sichtigkeit und Durchdringung durch das Licht bleibe der Diamant mit »der größten Bestimmtheit und Härte« bestehen. (NR VII 517)

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bekräftigen, zum anderen aber, indem wir unsere Antriebe entspre­chend verändern, so daß uns eine entsprechende Entscheidung künftig leichter fällt.

Hinsichtlich der Ar t und Weise, wie sich unsere Grundorientie­rung in unseren Entscheidungen bezüglich bestimmter Aufgaben, Le­bensbereiche oder Handlungstypen auswirkt bzw. aktualisiert, scheint es sinnvoll, noch eine weitere Unterscheidung einzuführen. Denn die Entscheidung, ob wir etwa diese oder jene berufliche oder familiäre Aufgabe übernehmen, kann wohl kaum gleicher Weise Ausdruck der Gut- oder Bösartigkeit unserer Grundorientierung sein, wie etwa die Frage, ob wir es uns erlauben, Menschen umzubringen. Während näm­lich im zweiten Fall eine entsprechende Entscheidung direkt als böse zu qualifizieren wäre und es keinerlei Möglichkeiten der situativen Abwä­gung geben kann, ist i m ersten Fall eine solche Abwägung durchaus möglich und eine Qualifizierung als böse wäre nur dann gerechtfertigt, wenn die Entscheidung Ausdruck einer entsprechenden Grundorien­tierung und nicht einer situativen Abwägung i m Rahmen einer Orien-tiertheit durch den Universalwillen wäre.

Was gemeint ist, kann man mit Verweis auf Kants Unterschei­dung zwischen unnachlaßlichen bzw. vollkommenen und verdienst­lichen bzw. unvollkommenen Pflichten e r l ä u t e r n . 1 4 9 ( G M S IV 424) Kant selber unterscheidet die beiden Pflichttypen anhand des Kriteri­ums, ob die Maxime, die hinter der entsprechenden Handlung steht, nicht widerspruchsfrei gedacht oder nur nicht widerspruchsfrei gewollt werden kann. (a.a.O.) Diese Unterscheidung ist hier nicht relevant. Interessant hingegen ist eine Eigenschaft der Pflichttypen, die an Kants Beispielen für die beiden Typen von Pflicht zum Vorschein kommen. (GMS IV 421 ff.) Während nämlich das Verbot des Selbstmordes und des Gebens falscher Versprechen (als Beispiele für unnachlaßliche Pflichten) klar definiert ist, kann für das Gebot, seine Talente auszubil­den und Almosen zu geben (als Beispiele für verdienstliche Pflichten), nie klar angegeben werden, was genau gefordert ist. Das aber verweist auf die Notwendigkeit situativen Abwägens und die Möglichkeit, per-

1 4 9 Der Gedanke einer nicht unnachlaßlichen, sondern nur verdienstlichen Pflicht ist natürlich in sich widersprüchlich, meint der Gedanke der Pflicht doch ein unbedingtes Sollen. Dennoch weist dieser Begriff auf eine Aufgabe der Ethik hin, nämlich eine an­gemessene Beschreibung für eben solche Bereiche des Handelns zu liefern, in denen keine strikten Pflichten herrschen, ohne daß sie sich einer ethischen Beurteilung völlig entzögen.

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sönliche Präferenzen zum Tragen zu bringen, etwa in der Entscheidung Arzt zu werden oder Jurist, wenn zu beidem eine entsprechende Bega­bung vorhanden wäre. A l s böse kann man dann mit Schelling nur eine Entscheidung bezeichnen, die auf eine verkehrte Grundorientierung zurückgeht, nicht aber eine solche, die auf eine die Umstände berück­sichtigende Deliberation zurückgeht.

Das bisher skizzierte Model l menschlicher Selbstformierung ist nicht notwendiger Weise als Rückkehr aus dem Bösen zu verstehen, sondern kann auch eine durch und durch gelingende Selbstformierung be­schreiben. Andererseits aber kann mit ihm auch allmähliche mora­lische Besserung des gefallenen Menschen gedacht werden, die freilich eine Grundentscheidung zur Umkehr implizieren muß . Diese Ent­scheidung zur Umkehr würde in den einzelnen Entscheidungen des entsprechenden Menschen wiederholt, sein Vorsatz bekräftigt und sei­ne Antriebe entsprechend modifiziert. 1 5 0

Im Rahmen dieser Verbindung einer Grundorientierung und ein­zelner bekräftigender und konkretisierender Entscheidungen ist das Konzept der Scheidung zu reinterpretieren: Als Scheidung von uns selbst ist dann zum einen die Entscheidung für die Unterordnung des Eigen- unter den Universalwillen zu verstehen, zum anderen bedeutet Scheidung in der konkretisierenden Wiederholung dieser Entschei­dung, an den eigenen bisher entwickelten Eigenschaften, Fähigkeiten, Kräften und Antrieben nicht als dem Eigenen festzuhalten, sondern sie im Dienste eines neuen Entwicklungsschritts oder einer bestimmten Handlung zu organisieren und zu modifizieren. Dabei wird der Begriff der Scheidung sowie der interne Dualismus gegenüber der Naturphi­losophie insofern umgedeutet, als Scheidung dort zunächst als eine Be­wegung gedacht wird, durch welche die Ordnung der Natur generiert wird, nicht, oder wenigstens nicht explizit, als Schritt in der Entwick­lung einzelner, sich in ihrer Entwicklung durchhaltender Subjekte. In der Sphäre des Handelns hingegen wird Scheidung zur Denkfigur, durch welche die Entwicklung eines in seiner Entwicklung identisch bleibenden, menschlichen Subjekts gedacht wird. Dieses Subjekt ist Geist, d. h. es verhält sich bewußt zu dieser Entwicklung, in dessen Ver-

1 5 0 Eine Möglichkeit, das skizzierte Modell hinsichtlich einer solchen Umkehr zu präzi­sieren, bietet Kants Gedanke einer Revolution der Gesinnung und einer entsprechenden Reform der Sinnesart. (Vgl. 4.1.3)

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Die Konstitution des Geistes

lauf es sich immer neu formiert, d. h . auf der Basis bestehender Eigen­schaften neue entwickelt. Der Mensch tut dies, wie ausgeführt, indem er Entscheidungen trifft, Entscheidungen bezüglich seines Auftretens, d.h. auch bezüglich seiner Handlungen. Jeder Schritt dieser Selbstfor­mierung kann als Konkretisierung verstanden werden, und zwar in dem Sinne, daß die im jeweils vorausliegenden Entwicklungsstadium liegenden Möglichkeiten der Fortentwicklung entschieden und immer neue Eigenschaften entwickelt werden. Diese Möglichkeiten sind zu­nächst in dem Sinne allgemein und unkonkret, als sie nicht vollständig bestimmt sind, sondern erst durch ihre Verwirklichung in modifizie­render Aneignung der Gegebenheiten bestimmt werden; sie sind nach Schelling aber auch in einem normativen Sinne allgemein, insofern sie im Sinne einer allgemeinen Entwicklung aufgegeben sind und ich sie begreife als etwas, das ich in konkrete Wirklichkeit zu überführen habe. Zugleich kann man sagen, daß die eigene Grundorientierung in den einzelnen Entscheidungen konkretisiert wird.

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4 Selbstsetzung und Selbstformierung in der Freiheitsschrifi

Die Denkbarkeit menschlicher Selbstformierung wurde in den beiden letzten Kapiteln hinsichtlich zweier Aspekte beleuchtet: Zum einen er­gab sich aus der Potenzierungslogik und entsprechenden Bemerkungen Schellings bezüglich der menschlichen Selbstbildung der Gedanke einer schrittweisen Selbstformierung. Z u m anderen wurde aus der Rolle des Menschen im Weltprozeß einerseits und der Verfaßtheit des menschlichen Geistes als Vermittlung von Universal- und Eigenwillen andererseits eine auf eine klare Alternative zugespitzte Freiheit zum Guten oder zum Bösen entwickelt. Beide Aspekte, so haben wir gesagt, gilt es zu verbinden, um das Ganze des Schellingschen Modells menschlicher Selbstformierung in den Blick zu bekommen. Die Mög­lichkeit einer solchen Verbindung hatten wir in Fortführung schel-lingscher Gedanken skizziert.

Im folgenden ist zu untersuchen, ob bzw. wie Schelling selber die­se beiden Aspekte in der Freiheitsschrift zusammen gedacht hat. Der Ort, an dem diese Verbindung aufzuzeigen ist, ist jene Passage der Freiheitsschrift, in der er in Anlehnung an Kant und Fichte eine außer­zeitliche, intelligible Tat konzipiert, in welcher der Mensch sich selber setzt und hinsichtlich seiner Eigenschaften und der Weise seines Er­scheinens in der zeitlichen, empirischen Wirklichkeit bestimmt. Diese Tat wird in der Freiheitsschrift vor allem zur Beantwortung der Frage nach der Herkunft des Bösen eingeführt und entsprechend als Ent­scheidung zum Guten oder zum Bösen konzipiert, die außerdem hin­sichtlich ihres faktischen Ausgangs als Sündenfall bzw. als Abfall von Gott charakterisiert wird. Es gilt also zu fragen, inwieweit Schelling diese Entscheidung über Gut oder Böse mit dem Gedanken einer schrittweisen Selbstformierung verbindet bzw. verbinden kann.

Die Beantwortung der Frage, wie »im einzelnen Menschen die Entscheidung für Böses oder Gutes vorgehe« (FS VII382), erfolgt un­ter Rückgriff auf den formellen Begriff der Freiheit, den Schelling zu-

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Selbstsetzung und Selbstformierung in der Freiheitsschrifi

vor als zwar zutreffend, aber für die Bestimmung der menschlichen Freiheit als Freiheit zum Guten oder Bösen nicht hinreichend spezifisch eingeklammert hatte. (FS VII 351 f.) Diese Freiheit, deren vollkom­mener, durch den Idealismus gewonnener Begriff Selbständigkeit, Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit von der Zeit beinhaltet, wird also hier wieder zentral. 1 (FS VII 350 f.) Schelling lehnt sich hierbei stark an Kant an. In mancher Hinsicht verfolgt Schelling in der Expo­sition seiner Lehre von der intelligiblen Tat eine Argumentation, die in geraffter Form eine Linie nachzeichnet, die man in der kantischen Phi­losophie von der Kritik der reinen Vernunft über die moralphilosophi­schen Schriften zur Religionsschrift ausmachen kann. In diesem Zusammenhang ist zu fragen, ob die starke Anlehnung an Kant Schel­ling nicht in eine Richtung führt, die der Logik seines Denkens in man­cher Hinsicht widerspricht, bzw. ob nicht bestimmte unreflektiert über­nommene Grundzüge seines bisherigen Denkens einen Anschluß an Kant nahelegen und motivieren, der die Denkbarkeit einer schritt­weisen Selbstformierung erschwert, wenn nicht unmögl ich macht.

4.1 Freiheit, moralische Selbstbestimmung und intelligible Tat bei Kant

Schellings Ausführungen zur menschlichen Selbstsetzung und Selbst­bestimmung beginnen mit einer Diskussion des, wie Schelling sagt, gewöhnlichen Freiheitsbegriffs, an deren Ende das Dik tum steht, erst der Idealismus habe »die Lehre von der Freiheit in dasjenige Gebiet

1 Die Qualifizierung des idealistischen Freiheitsbegriffs als vollkommen zielt auf die Unterscheidung desselben von einem formellen Begriff der Freiheit, der auch mit dem Spinozismus vereinbar ist. Der Gedanke der derivierten Absolutheit kann aber, seiner Verteidigung des Pantheismus zufolge, die Freiheit der Folgen des Absoluten gegenüber dem Absoluten mindestens im Sinne ihrer Unterschiedenheit und Selbständigkeit hin­reichend begründen. (FS VII 338 ff.) Das gelte auch für den Spinozismus, der jedoch sei deswegen Fatalismus, weil er die Folgen Gottes als Dinge in einem kausalmechanischen Zusammenhang begreife. (FS VII349) Der vollkommene Begriff der formellen Freiheit ist also nur dann gegeben, wenn man die Folgen Gottes als Willen begreift bzw. über eine absolute Position gewinnt, und sie aus kausalmechanischen Zusammenhängen her­ausnimmt, ihnen also auch Freiheit im Sinne der Selbstbestimmung und Selbstbejahung zuschreiben kann. Diese Einschätzung der derivierten Absolutheit steht allerdings, wie oben ausgeführt, im Widerspruch zur Selbständigkeitsgarantierenden Rolle, welche die Natur bei der Konstitution einer von Gott unabhängigen Welt spielt. (Vgl. 2.1)

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Freiheit, moral ische Selbstbestimmung und intelligible Tat bei Kant

erhoben, wo sie allein verständlich ist.« (FS VII 383) Daß Schelling an dieser Stelle zunächst Kant i m Blick hat, zeigt sich, wenn Schelling an­gibt, durch welches theoretische Mit te l der Idealismus dies geleistet habe:

»Das intelligible Wesen jedes Dings, und vorzüglich des Menschen, ist die­sem zufolge außer allem Causalzusammenhang, wie außer oder über aller Zeit. Es kann daher nie durch irgend etwas Vorhergehendes bestimmt seyn, indem es selbst vielmehr allem andern, das in ihm ist oder wird, nicht sowohl der Zeit, als dem Begriff nach als absolute Einheit vorangeht, die immer schon ganz und vollendet da seyn muß, damit die einzelne Handlung oder Bestimmung in ihr möglich sey.« (FS VII 383)

Schelling übe rn immt hier die Unterscheidung empirisch/intelligibel, die Kant in der Auflösung der dritten Antinomie für die Lösung des Freiheitsproblems in Anschlag bringt. Dabei kann Kant Freiheit freilich nicht positiv behaupten, sondern nur ihre denkbare Vereinbarkeit mit Notwendigkeit aufzeigen.

In der dritten Antinomie stehen sich die Behauptung einer Kausa­lität durch Freiheit und die Behauptung einer durchgehenden Natur­kausalität gegenüber. Die These der dritten Antinomie besagt des nä­heren, daß die »Erscheinungen der Welt insgesammt« nicht nur aus der »Causalität nach Gesetzen der Natur« erklärt werden können, sondern daß hierzu eine »Causalität durch Freiheit« angenommen werden müs ­se. Die Antithese behauptet demgegenüber, daß »alles in der Welt (...) lediglich nach Gesetzen der Natur« geschehe, also keine Freiheit sei. 2

( K r V B 4 7 2 f . ) Die Vereinbarkeit von Freiheit einerseits und der vollständigen

kausalen Verknüpfung aller Erscheinungen, die für Kant aufgrund sei-

2 Der Beweis der beiden Thesen erfolgt durch die Widerlegung der jeweiligen Gegen­these: Die Antithese sei nicht haltbar, da man, so die Verfechter der These, bei Annahme einer durchgehenden Naturkausalität in einen unendlichen Regreß geriete und damit für kein Geschehen eine »hinreichend a priori bestimmte Ursache« angeben könnte. (KrV B 474) Da dem »Gesetz der Natur« gemäß aber nichts ohne eine solche Ursache geschehe, müsse eine »absolute Spontaneität« angenommen werden, »eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen«. (KrV B 474) Wenn es aber eine solche transzendentale Freiheit gäbe, so der Beweis der Antithese, dann wäre die Kette der Ursachen durchbrochen, wodurch die »Einheit der Erfahrung«, die auf dieser Verkettung der Ursachen beruht, zerstört würde. (KrV B 473, 475) Mit Schelling gesprochen kann man sagen, es würde eine Zufälligkeit eingeführt, welche der Vernunft und der »Einheit des Ganzen« widerspräche. (FS VII 382 f.)

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Selbstsetzung und Selbstformierung in der Freiheitsschrifi

ner Analyse der erfahrungskonstitutiven Rolle des menschlichen Ver­standes feststeht, andererseits, wird möglich durch Rückgriff auf die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich. (KrV B 563 ff.) Da Erscheinungen keine Dinge an sich sind, »so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind.« Dieser Grund bzw. diese »intelligibele Ursache«, eben das Ding an sich, steht außerhalb der Zeit und damit außerhalb des Kausalnexus. 3 ( K r V B 565) Diesem »trans-cendentalen Gegenstande« kann nun neben »der Eigenschaft, dadurch er erscheint, (...) auch eine Causalität« beigelegt werden, die Wirkun­gen in der Welt der Erscheinungen hervorbringt, ohne Erscheinung zu sein. (KrV B 566 f.) Ein solches Vermögen aber schreiben wir weder der unbelebten noch der zwar belebten, aber unvernünf t igen Natur zu, sondern nur dem Menschen als Vernünft igem. Genauer legen wir diese Kausalität nämlich der Vernunft bei. 4 ( K r V B 574 ff.) Die Auflösung der dritten Antinomie erweist allerdings nicht die Wirklichkeit der Freiheit, da es dazu der Erfahrung bedürfte, in welcher Freiheit aber nicht anzutreffen ist. Sie zeigt auch nicht auf, wie Freiheit möglich ist, sondern lediglich, daß sich Naturkausal i tä t und Kausalität aus Freiheit nicht widersprechen. (KrV B 585 f.)

4.1.1 Freiheit als Autonomie und Freiheit zum Guten und zum Bösen

Nach Kant gründet das Interesse an der Rettung der Freiheit in der Morali tät . 5 (KrV B 494, 562) Schelling hingegen geht in der Freiheits­schrift, wie im zweiten Kapitel ausgeführt, zunächst von einem nicht näher spezifizierten »Gefühl« »der Tatsache der Freiheit« aus. (FS VII 336) Er knüpft hier an Jacobi und dessen unmittelbarer Gewißheit der Freiheit an, wi l l aber, i m Gegensatz zu Jacobi, dem jedes Vernunft-

3 Wären die Erscheinungen Dinge an sich, so wäre Freiheit nicht zu retten, dann näm­lich wären auch »Raum und Zeit Formen des Daseins der Dinge an sich selbst« (KrV B 563), so daß die Ursachen mit ihren Folgen stets in einer Zeitreihe stünden. Das Beding­te folgte stets mit Notwendigkeit dem Gesetz gemäß aus dem Bedingenden, welches selber wieder Bedingtes einer anderen, vorhergehenden Ursache wäre. (KrV B 563 f. u. 571 f.; ebenso: KpV V 95 u. 101) 4 Die erscheinenden Wirkungen dieses Vermögens müssen, obgleich wir sie hinsichtlich ihrer intelligiblen Ursache als frei betrachten können, zugleich als durch vorhergehende Erscheinungen vollständig bestimmt angesehen werden können. (KrV B 565 ff.) s Zum praktischen Interesse der Vernunft in den vier Antinomien siehe Hutter 2003. S. 140 ff.

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Freiheit, moral ische Selbstbestimmung und intelligible Tat bei Kant

System auf Fatalismus hinausläuft, eine Rechtfertigung dieses Gefühls innerhalb einer wissenschaftlichen Weltsicht leisten. 6 (FS VII 336 f.) Außerdem macht sich Schelling, wie gesagt, das »Verlangen« zu eigen, »Freiheit über das ganze Universum zu verbreiten«. (FS VII 351). M i t der zweiten Ä u ß e r u n g folgt Schelling nach eigenem Bekunden Fichte, geht aber über diesen hinaus, eben indem er die Freiheit über das ganze Universum, also auch über die Natur verbreiten wi l l . Diese Freiheit ist damit unspezifisch: Es geht um das freie, ichhafte Produzieren, auf welchem, wie dargelegt, die menschliche Freiheit, um die es hier zu tun ist, nach Schelling aufsitzt. Diese spezifisch menschliche Freiheit ist Freiheit zum Guten oder zum Bösen. Sie vor allem gilt es, im Z u ­sammenhang des Wirklichen zu denken. Kant selber rückt eine solche Freiheit erst spät in den Vordergrund, nämlich mit seinem 1792 er­schienenen Aufsatz »Über das radicale Böse in der menschlichen Na­

tur«, der auch das erste Stück der Religionsschrift bildet. Dabei ergibt sich die Notwendigkeit, eine solche Freiheit zu konzipieren aus einem systematischen Problem, das in seinen moralphilosophischen Haupt­werken, der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 und der Kritik der praktischen Vernunft von 1788 noch ungelöst bzw. ledig­lich implizit beantwortet ist. Diese Entwicklung oder Klärung soll im folgenden skizziert werden.

In der Kritik der praktischen Vernunft führt Kant den Zusammenhang von Freiheit und Morali tät näher aus. Als problematisch wird sich da­bei erweisen, daß er an einigen Stellen freie und moralische Selbst­bestimmung identifiziert. 7 Hintergrund dieser Identifikation ist die schon in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten untersuchte Fra­ge, wann ein Wil le gut, d.h. moralisch sei. Gut, so die Antwort, ist ein Wille nicht aufgrund des Inhalts seiner Maximen, sondern nur auf­grund deren Tauglichkeit zum allgemeinen Gesetz, d. h. aufgrund ihrer Form. ( G M S IV 401 f.) W ü r d e die Maxime nämlich durch ihre Materie bestimmt, so unter läge sie vielfältigen empirischen Bedingungen und würde abhängig von den mit der Vorstellung des Willensobjekts ver­bundenen, je anders ausfallenden Lust- oder Unlustgefühlen. (KpV V 27 f.) Abstrahiert man aus diesem Grunde von aller Materie, so bleibt als Bestimmungsgrund des Willens lediglich »die bloße Form einer al l-

6 Jacobi, F. H . : Über die Lehre des Spinoza. Jacobi Werke Bd. 1,1 20 ff. u. 27 ff. 7 Vgl. Schulte 1988. S. 55 ff.

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Selbstsetzung und Selbstformierung in d e r Freiheitsschrifi

gemeinen Gesetzgebung«. (KpV V 27, G M S IV 400 f.) Die damit dem Wil len zukommende Unabhängigkei t von den Erscheinungen (Auto­nomie) und der sie verbindenden Naturkausa l i tä t aber ist »Freiheit im strengsten, d. i . im transcendentalen, Verstände«. (KpV V 29)

Wenn man nun umgekehrt nach dem Gesetz fragt, das einen frei­en Wil len bestimmt, so gelangt man wiederum zur gesetzgebenden Form: Da die Materie eines Gesetzes nämlich immer nur empirisch ge­geben sein kann, frei aber nur ein Wil le ist, der nicht durch Empirisches bestimmt wird, er gleichwohl aber bestimmbar sein m u ß , so bleibt als Bestimmungsgruna nur die Form des Gesetzes. (KpV V 29) Damit ist klar, daß nur ein moralisch bestimmter Wi l l e frei ist und umgekehrt. Praktische Freiheit läßt sich also definieren als Autonomie, d. h. als Un­abhängigkeit von empirischen Antrieben und Bestimmung nur durch das moralische Gesetz. 8 (KpV V 33)

Wenn man aber Freiheit in diesem Sinn als Autonomie definiert, wie ist dann Verantwortlichkeit für einen nicht moralisch bestimmten Willen möglich? Freiheit kann um der Verantwortlichkeit willen keine Freiheit bloß im Guten sein und die Ursache eines nicht moralisch be­stimmten oder bösen Willens nicht bloß in der Sinnlichkeit liegen.9

Entsprechend finden sich auch in der Kritik der praktischen Vernunft zahlreiche Stellen, an denen Verantwortlichkeit und Freiheit des Men­schen zum Guten wie zum Bösen impliziert sind, ohne daß Kant den sich dadurch ergebenden Widerspruch zum Begriff der Freiheit als Be­stimmtheit durch das Sittengesetz, etwa i m Sinne einer expliziten Frei­heit zur Freiheit und zur Unfreiheit, aufgelöst h ä t t e . 1 0 Bezogen auf einen von Kindheit an bösen Menschen beispielsweise erklärt er, dieser sei voll verantwortlich, da alle vorsätzlichen Handlungen auf eine Kau-

8 An dieser Stelle der Untersuchung stellt Kant die Frage, bei welchem von beiden unsere Erkenntnis beginne. Die Freiheit, so die Antwort, kann von uns weder unmittel­bar erkannt werden noch wird sie uns in der Erfahrung gegeben. Das moralische Gesetz hingegen drängt sich unserem Bewußtsein unmittelbar auf. Das Bewußtsein des Sitten­gesetzes führt uns demnach auf das Bewußtsein der Freiheit: Der Mensch, der sich als Sinneswesen als der Naturkausalität unterworfen erkennt, erkennt sich im Praktischen als Ding an sich und als frei. (KpV V 29 f.)

' Entsprechend betont Kant in der Religionsschrift, die Sinnlichkeit könne nicht die Quelle des Bösen sein. (Rel. VI 34 f. u. 58 ff.; ähnlich Schelling: FS VII 371 f.) 1 0 In der Metaphysik der Sitten findet sich eine solche Auf lösung in Gestalt der Unter­scheidung von Willkür und Wille: Der Wille wird dort als Quelle der Gesetze gefaßt und ist a s solche weder frei noch unfrei, die Willkür als das Vermögen, seine Maximen zu wählen, hingegen ist frei. (MS VI 226, 213 f.; vgl. Buchheim 2001: S. 657f.)

ALBER THESEN Oliver Florig

Freiheit, moral ische Selbstbestimmung und intelligible Tat bei Kant

salität zurückzuführen seien, deren Charakter sich in den Handlungen erweise.1 1 (KpV V 99 f.) Dieser intelligible Charakter besteht, wie Kant nicht erst in der Religionsschrift, sondern schon in der Kritik der prak­tischen Vernunft ausführt, in »freiwillig angenommenen (...) Grund­sä tze^ )« . (KpV V 100) Der empirische Charakter des Menschen ist demgegenüber nur als Folge dieses selbstgewählten Charakters zu be­greifen. (KpV V 97 ff.)

Kant rechtfertigt die Einführung eines frei gewählten intelligiblen Charakters als Regel des Freiheitsgebrauchs damit, daß jede Ursache ein »Gesetz ihrer Causalität« haben müsse. (KrV B 567, 579) Durch die Annahme eines solchen intelligiblen Charakters wird es möglich, dem Menschen eine Verantwortlichkeit dafür zuzuschreiben, daß das moralische Gesetz, wie Kant konstatiert, seinen Wil len nie oder wenig­stens nur selten bestimmt. 1 2 ( G M S VI 406 ff.) U m der Verantwortung willen m u ß die faktische Bosheit des Menschen auf einen selbstgege­benen intelligiblen Charakter als Regel unseres Freiheitsgebrauchs zurückgeführt werden. (Rel. VI 25) Eine nur auf Einzelhandlungen be­zogene Freiheit zum Guten und zum Bösen wäre für Kant keine über­zeugende Lösung, implizierte sie doch die von ihm abgelehnte Regel­losigkeit. 1 3

4.1.2 Das radikal Böse und die Natur des Menschen als zurechenbare Tat

Entsprechend richtet Kant seine Aufmerksamkeit 1792 weniger auf die einzelnen bösen Handlungen und die ihnen zugrundeliegenden M a x i ­men, sondern schließt von einzelnen Maximen »auf einen in dem Sub-ject allgemein liegenden Grund aller besondern moralisch=bösen M a ­ximen«. (Rel. V I 20) Diesen Grund nennt Kant »Natur« (Rel. VI 20 ff.),

1 1 Eine Freiheit zum Guten wie zum Bösen ist auch im Beispiel eines von seinem Für­sten zu einer Falschaussage angestifteten Mannes impliziert. (KpV V 30) 1 2 Diese Motivation behauptet Müller für die Lehre vom radikal Bösen der Religions­schrift. (Müller 1844. S. 105 f.) 1 3 Schon in der KrifiJc der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft sind also wesentliche Elemente der in der Religionsschrift entfalteten Lehre vom radikal Bösen vorhanden: ein den empirischen bestimmender noumenaler Charakter und die freie Annahme desselben. Die erwähnten Elemente sind geeignet, das Problem der Ver­antwortlichkeit zu lösen, allerdings um den Preis einer Inkohärenz bezüglich des Frei­heitsbegriffs.

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Selbstsetzung und Selbstformierung in der Freiheitsschrifi

aber auch »Gesinnung« (Rel. VI 25) oder »Hang« (Rel V I 28 ff.). Natur bezeichnet hier nicht das Gegenteil von Kausalität aus Freiheit, son­dern bringt lediglich zum Ausdruck, daß der Grund der Annahme der Einzelmaximen als allen empirischen Handlungen vorausliegend ange­nommen wird. (Rel. V I 20 f.) Da er also als mit der Geburt schon vor­handen angesetzt werden m u ß , wird er auch als »angeboren« bezeich­net. (Rel. V I 21 f.) Der Hang als Grund aller besonderen bösen Maximen m u ß allerdings selber wieder eine Maxime, d. h. »ein Actus der Freiheit sein«, denn läge der Grund nicht i n einer von der Willkür selbst angenommenen Regel, die den Gebrauch der Freiheit bestimmt, also in einer Maxime, sondern in einem Naturtrieb bzw. in einem er­strebten Objekt, dann wäre der Freiheitsgebrauch nicht zurechenbar.14

(Rel. V I 20, 31 f.)

Für den Begriff des Hangs scheint sich daraus jedoch eine Schwie­rigkeit zu ergeben. Versteht man unter einem Hang doch gewöhnlich einen der Tat vorhergehenden »subjectiven Bestimmungsgrund der Willkür«. (Rel. V I 31) Da es aber zwei Ar ten des Freiheitsgebrauchs gibt, läßt sich der Widerspruch aufheben: A l s Tat oder Taten können sowohl die Aufnahme der obersten Maxime in die Willkür als auch die einzelnen, dieser Maxime folgenden Handlungen bezeichnet wer­den. Der Hang zum Bösen ist Tat i m ersten Sinne, ist »peccatum origi-narium« und »zugleich der formale Grund aller gesetzwidrigen That im zweiten Sinne« (»peccatum derivat ivum«). (Rel. V I 31) Die Tat im ersten Sinne ist intelligibel und kann bezüglich der zweiten als Hang bezeichnet werden, die Tat im zweiten Sinne hingegen ist empirisch und innerzeitlich. Die Tat im ersten Sinne ist also deswegen frei, weil sie im Intelligiblen des Menschen fällt und somit nicht den Nötigun­gen, wohl aber, wie wir sehen werden, dem Einfluß der Sinnlichkeit unterliegt. (Rel. V I 31 f.)

Wie dargelegt, ergibt sich die Freiheit zum Guten oder zum Bösen bei Schelling daraus, daß der Mensch mit seiner sinnlich-leiblichen Seite zur Natur gehört, qua Seele und Geist aber die Natur überschreitet,

1 4 Kant behauptet nun an verschiedenen Stellen, daß dieser Hang in allen Menschen ein Hang zum Bösen sei. Dieser müsse in irgendeiner Weise mit der »Menschheit selbst« verbunden sein, obwohl er nicht aus dem Gattungsbegriff folgen könne, da sonst die Freiwilligkeit zerstört würde. (Rel. VI 32; vgl. auch: Rel. VI 21, 25, 30, 38 f.) Für eine Rekonstruktion der kantischen Argumentation, welche die Allgemeinheit des Hangs mit der Freiwilligkeit der Annahme desselben verbindet siehe Buchheim 2001.

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Freiheit, moral ische Selbstbestimmung und intelligible Tat bei Kant

und zwar so, daß das Höchste in ihm, die Seele, als allgemeiner, i m schellingschen Sinn unpersönlicher Wil le in ihm wirksam ist und ihn drängt, sich selbst in dessen Dienst zu stellen. In ähnlicher Weise g rün­det die Freiheit, die i m Hang entschieden ist, auch nach Kant in der j Doppelnatur des Menschen als Sinnen- und Vernunftwesen, wobei g der Ausdruck »Vernunftwesen« auf die gesetzgebende, nicht auf eine f bloß theoretische oder instrumenteile Vernunft verweist. 1 5 (MS VI jj 418) In der Religionsschrift unterscheidet Kant entsprechend drei »ur- | sprünglichen Anlagen zum Guten in der menschlichen Natur«: die jj »Anlage für die Thierheit des Menschen, als eines lebenden«, die A n - jj läge für »die Menschheit desselben, als eines lebenden und zugleich \ vernünftigen« und die Anlage für »seine Persönlichkeit als eines ver- j nünftigen und zugleich der Zurechnung fähigen Wesens.« (Rel. VI 26) j Die zweite Anlage verwirklicht sich in einem instrumentellen Ge- \ brauch der Vernunft. Die dritte Anlage hingegen versteht Kant als \ »Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz, als einer für \ sich hinreichenden Triebfeder der Willkür.« (Rel. V I 27) Diese Emp- j fänglichkeit stellt sozusagen das Einfallstor des Sittengesetzes, also | des Allgemeinen in das menschliche Subjekt dar. Freilich ist die Emp- ; fänglichkeit noch weiter zu differenzieren in die »Empfänglichkeit der * bloßen Achtung für das moralische Gesetz«, von Kant »moralische(s) i Gefühl« genannt, und die Empfänglichkeit für das Gesetz als für sich hinreichender Triebfeder. (Rel. V I 27) Dazu, daß das Gesetz hinrei­chende Triebfeder sei, bedarf es einer Entscheidung des Menschen. 1 6

Diese Entscheidung wiederum ist nur möglich - und nötig - , weil der Mensch eben auch Sinnenwesen ist: Andernfalls nämlich würde das sich uns aufdrängende moralische Gesetz unsere Willkür tatsäch­lich als hinreichende Triebfeder bestimmen. Der Mensch unterliegt aber stets auch den Triebfedern der Sinnlichkeit, die er zusammen mit dem Gesetz in seine Maxime aufnimmt. (Rel. V I 36) Da er aber der Allgemeinheit des Sittengesetzes wegen nicht zugleich moralisch böse und gut sein kann (Rel. V I 24), kann der Unterschied von Gut und Böse nicht von der Materie der Triebfedern herrühren, sondern m u ß in der verschiedenen Ordnung der Triebfedern liegen. In der Tat wird die eine

1 5 Der Mensch, so Kant, ist kein »blos vernünftiges Wesen«, das zwar eine theoretische Vernunft »als Qualität eines lebenden körperlichen Wesens« hätte, aber eben keinen »Einfluß der Vernunft auf den innerlich gesetzgebenden Willen« aufwiese. (MS VI 418) 1 6 Siehe Buchheim 2001. S. 660.

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Selbstsetzung und Selbstformierung in der Freiheitsschrift

zur Bedingung der anderen. (Rel. V I 36) Das Böse besteht also in der Unterordnung des moralischen Gesetzes unter die Triebfedern der Glückseligkeit. Dieses Böse, der Hang also, »ist radical, weil es den Grund aller Maximen verdirbt«. (Rel. V I 37)

Kant thematisiert Selbstbestimmung nicht nur als eine, die sich in der Annahme eines bösen Charakters äußer t , er nimmt außerdem die Möglichkeit einer Wiederherstellung der rechten Ordnung der Maxi­men an. Die Möglichkeit dieser Umwendung wird von Kant damit be­gründet, daß dem Gebot, das sich in unserer Seele Gehör verschaffe, nämlich daß wir besser werden sollen, auch eine Möglichkeit seiner Realisierung entsprechen müsse. (Rel. V I 44 ff.)

Die Wiederherstellung ist nicht Wiedergewinnung einer »verlor­nen Triebfeder zum Guten«, deren wir eben nie verlustig gegangen sind, sondern »Herstellung der Reinigkeit« des moralischen Gesetzes »als für sich zureichende Triebfeder der Bestimmung der Willkür«, also die Lösung des moralischen Gesetzes aus seiner Beiordnung zu ande­ren Triebfedern oder aus seiner Unterordnung unter dieselben. (Rel. VI 46) Wer diese »Reinigkeit in seine Maxime aufn immt«, ist damit noch nicht heilig. Kant unterscheidet nämlich die empirische »Tugend der Legalität« oder »virtus phaenomenon« verstanden als »zur Fertigkeit gewordene(r) feste(r) Vorsatz in Befolgung seiner Pflicht«, die auf einer »allmählige(n) Reform« der Sitten beruht, von der »virtus nou-menon«, der Tugend des intelligiblen Charakters, die nur durch eine »Revolution in der Gesinnung« erreicht werden kann. 1 7 (Rel. VI 47) Wer also die gute Ordnung der Maximen »durch eine einzige unwan­delbare Entschließung« wiederherstellt, ist damit »ein fürs Gute emp­fängliches Subject«, das allerdings eines unendlichen Weges bedarf, um ein der Sinnesart nach guter Mensch zu werden. (Rel. V I 47 f.)

Für Gott, der die »Unendlichkeit des Fortschritts« in eins sieht, ist ein solcher Mensch gut, für den Menschen selber, der die Stärke seiner Maximen nur an ihrer Stärke gegenüber der Sinnlichkeit in der Zeit, d.h. in der Erfahrung, beobachten kann, stellt sich sein Zustand allen­falls als ein unendliches Fortschreiten in der Reform und Befestigung seines Charakters dar. (Rel. VI 48) Obwohl der Mensch seine intelligi-

1 Diese Reform betrifft, wie gesagt, den empirischen Charakter und kann daher auch völlig eigennützig motiviert sein. Kant spricht eben deshalb von Tugend der Legalität, die keinen Rückschluß auf die dahinter stehende Gesinnung zuläßt. (Rel. VI 47)

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Freiheit, moral ische Selbstbestimmung und intelligible Tat bei Kant

ble Denkungsart, sein Herz, nicht kennt, das also mit unserem bewuß­ten Denken nicht identifiziert werden darf, m u ß die moralische Erzie­hung gerade bei dieser ansetzen. (Rel. V I 48) Während sich also i m Blick Gottes auf den intelligiblen Charakter die Charakterwahl als eine zur Verkehrung und nachfolgenden Wiederherstellung der rechten Prinzipien darstellt, stellt sie sich aus Sicht des um Besserung b e m ü h ­ten Menschen, der seinen intelligiblen Charakter nur indirekt und nie mit völliger Sicherheit erkennen kann, als stete Anstrengung zu einer »Umwandlung der Gesinnung«, wie einer Reform der Sinnesart dar. (Rel. VI 51)

Diese kantische Denkfigur erlaubt es offensichtlich, eine schritt­weise moralische Besserung mit dem Gedanken einer grundlegenden Umorientierung zu vereinbaren. Allerdings ist eine schrittweise sich vollziehende menschliche Selbstformierung an dieser Stelle nur als Rückkehr aus dem Bösen denkbar. Es wird zu zeigen sein, wie Schelling diese Denkmöglichkeit aufgreift und integriert - und ob dies im Rah­men der Freiheitsschrift die einzige Möglichkeit bleibt, eine schrittwei­se Entwicklung des Menschen zu denken.

4.1.3 Die Einordnung der Lehre vom radikal Bösen in die Freiheitsschrifi

In der Darstellung der Entwicklung des kantischen Gedankengangs konnten wir einen Übergang von einem zunächst nur formellen Be­griff der Freiheit zu einer Freiheit zum Guten oder zum Bösen verfol­gen. Wie dargelegt, gewinnt der Freiheitsbegriff, dessen Vereinbarkeit mit der durchgängigen Kausalität in der Natur in der Auflösung der dritten Antinomie nachgewiesen wurde, Realität und Konkretion durch das Bewußtsein des Sittengesetzes, das uns die inhaltliche Be­stimmung einer solchen intelligiblen Freiheit lieferte. Die Frage nach der Verantwortung für eine Willensbestimmung, die nicht aus A c h ­tung vor dem Sittengesetz erfolgt, führte uns zur erwähnten Freiheit zum Guten oder zum Bösen. In der Lehre vom radikal Bösen gewann diese Freiheit den Charakter einer freien Entscheidung über die gene­relle Ordnung unserer Triebfedern.

In diesem Punkt liegt eine Anknüpfung an Kant vom schellings­chen Standpunkt aus nahe, geht es bei Schelling doch ebenfalls um eine Entscheidung zwischen zwei möglichen Antrieben, deren einer aus un­serer Sinnlichkeit, dem G e m ü t und seinen Antrieben, der andere aus

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

Selbstsetzung und Selbstformierung in der Freiheitsschrift

einer höheren Quelle stammt bzw. mit dieser identisch ist. Diese Ähn­lichkeit gründet darin, daß der Mensch von Kant wie von Schelling als Doppelwesen verstanden wird: in ihm sind Sinnlichkeit und Vernunft bzw. Gemüt und Seele in ein freies Verhältnis gesetzt.

Schellings Ansatz unterscheidet sich gleichwohl massiv von dem Kants: Zunächst springt ins Auge, daß es bei Schelling nicht nur u m eine Entscheidung über die generelle Ordnung unserer Antriebe geht, sondern um einen Ak t der Selbstsetzung, in welchem neben dem Da­sein des Menschen selbst letztlich sämtliche Eigenschaften des M e n ­schen gesetzt werden, einschließlich der körperlichen. Des weiteren er­geben sich Unterschiede bezüglich der Äußerungsweise des Höheren im Menschen: So ist für Schelling das Allgemeine nicht Sittengesetz, sondern Wille . Dieser Wil le fordert uns bei Schelling, anders als bei Kant, dazu auf, uns in einen Offenbarungszusammenhang einzuord­nen und verweist direkt auf ein personales Gegenüber des Menschen, auf Gott . 1 8 Während es für Kants Absicht, eine Verantwortung des Menschen für seine faktische Bosheit zu denken, völlig ausreicht, die Quellen der zwei Triebfedern zu identifizieren, zwischen denen wir zu entscheiden haben, bindet Schelling die beiden Prinzipien i m M e n ­schen in einen Weltprozeß ein, aus welchem der Geist als beider mäch­tige Entscheidungsinstanz erst evolviert. Die menschliche Freiheit ist Freiheit auf der Basis einer produktiven Natur, und zwar so, daß seine Freiheit als Potenzierung eines freien Produzierens gefaßt ist, i n dem auf einer bestimmten Stufe der Geist als eine Instanz evolviert, die sich zu den Prinzipien, die ihre Selbstproduktion ans toßen und in sie einge­hen, frei zu verhalten in der Lage ist. Für Kant hingegen ist Natur nicht über den Gedanken der Selbstproduktion zu verstehen, sondern als kausalmechanischer Zusammenhang. 1 9 Das schellingsche Verlangen,

1 8 Sicherlich kann man hierin eine Fortführung der Kantischen Postulatenlehre erken­nen, doch geht Kant wesentlich vorsichtiger vor als Schelling: Die Idee Gottes und der Unsterblichkeit der Seele gewinnen bei Kant nur in praktischer Hinsicht objektive Rea­lität, gründen also letztlich in einem moralischen Interesse. Ein dogmatischer Gebrauch dieser Ideen ist damit nicht sanktioniert. (KpV V 132 ff.) Entsprechend gehen die Aus­sagen, die Schelling über die Eingebundenheit des Menschen in den Offenbarungs­zusammenhang trifft, bei weitem über die Grenzen hinaus, die Kant der Vernunft gezo­gen hatte. 1 9 facobs weist darauf hin, daß sich Schelling mit modernen Autoren in seiner Kritik am newtonschen Weltbild einig sei. Dieses Weltbild erlaube es nicht, eigentliche Entwick­lung zu denken. Nach Newton geschehe immer nur dasselbe. Dagegen denke Schelling Natur als Produktivität. (Jacobs 1999. S. 40 ff.)

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Freiheit, moral ische Selbstbestimmung und intelligible Tat bei Kant

der Freiheit »alles analog zu machen, sie über das ganze Universum zu verbreiten« (FS VII 351), ist nicht das Programm Kants. 2 0

Entsprechend zielt Kant auch nicht darauf ab, Freiheit auch in die­sem Sinne als eigentliche Wirklichkeit zu erweisen, daß er, wie Schel­ling, die kausal verfaßte Sinnenwelt auf einen Freiheitsakt zurück­führt, durch den die Welt in eine unvollkommene, uneigentliche Verfassung geraten ist. Zwar ist Kant zufolge die Sinnenwelt Leistung unserer Subjektivität. Diese Leistung ist aber in keiner Weise Folge der intelligiblen Tat. Für Schelling hingegen ist die Sinnenwelt in ihrem gegenwärtigen, nämlich gefallenen Zustand auf die Freiheitstat des Menschen zurückzuführen. 2 1

Eine Fassung dieses Gedankens findet sich, wie ausführlich darge­legt, schon in Philosophie und Religion. In dieser Schrift war die S in­nenwelt als Produkt eines subjektiven Produzierens gefaßt, in welchem das Subjekt für sich eine nichtige und durch empirische Notwendigkeit, d. h. durch Kausalität bestimmte Welt produziert, indem es sich selbst als Endliches unter Endlichem setzt. Abstrakter gesagt, es setzt sich als eingelassen in ein Gefüge von Relationen, in denen es sich selbst und alles andere nur über seinen Ort in diesem Gefüge begreift. Eine dieser Relationen ist die Kausalitätsrelation. Hier steht Schelling eindeutig in der Nachfolge Kants und Fichtes, denen zufolge die relationale Ord­nung der Erfahrungswelt ebenfalls auf eine Leistung des subjektiven Ichs zurückgeht. Die Produktion dieses Gefüges durch und für das end­liche Bewußtsein, setzt nach Schelling aber eine vorgängige Selbst­objektivierung des Absoluten voraus, in welcher dieses in einer Unend­lichkeit von Ideen objektiv wird.

In der Unterscheidung des Ideenkosmos von der empirischen Welt kann man leicht ein Analogon der Unterscheidung einer empirischen und einer intelligiblen Ebene bei Kant erkennen. Kants Lehrstück des

2 0 Damit bleibt er nach Schelling freilich hinter seinen Möglichkeiten zurück: Die Be­stimmung der Dinge an sich über ihre Unabhängigkeit von der Zeit, die Kant in der praktischen Philosophie dann als Freiheit faßt, hätte es ihm nach Schelling ermöglicht, Freiheit als »einzig möglichen positiven Begriff des An-sich auch auf die Dinge über­zutragen.« (FS VII 351 f.) Kant hingegen geht es in der Auflösung der dritten Antinomie lediglich um die Vereinbarkeit von Naturkausalität und Freiheit, wodurch die Möglich­keit der Moralität bzw. der Freiheit als Autonomie gesichert werden soll. 2 1 Nur deswegen kann, wie Hermanni ausführt, die intelligible Tat bei Schelling eine Rolle in der Theodizee spielen: Die freie Tat des Menschen soll für das Übel in der Welt verantwortlich sein. (Hermanni 1994. S. 215 f.)

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 153

Selbstsetzung und Selbstformierung in der Freiheitsschrifi

Hangs zum Bösen freilich läßt sich nicht in diese Fassung der schel­lingschen Philosophie integrieren, weil im Rahmen dieses Denkens die dem Menschen eigentümliche Doppelnatur nicht expliziert wurde und auch nicht expliziert werden konnte. Infolgedessen gelang es Schelling auch nicht, die menschliche Freiheit inhaltlich als Freiheit auch zum Bösen zu bestimmen und das mögliche Mot iv eines Falls qua Selbstverabsolutierung des Menschen zu denken.

Schellings Neuansatz hingegen rückt an diesem Punkt wesentlich näher an Kant heran, indem Schelling die Doppelnatur des Menschen in der dargelegten Weise entfaltet und eine wirkliche Entscheidung denkt, die nicht als primär epistemischer Ak t zu interpretieren ist. Die Genese der endlichen, empirischen Wirklichkeit durch die Freiheitstat des Menschen ist dann auch nicht mehr, in Anlehnung an Fichte, als Tathandlung in dem Sinne zu verstehen, daß ein subjektives Produzie­ren für das Subjekt die endliche, empirische Wirklichkeit produzierte. Vielmehr wird der Naturprozeß durch den Fall seines Ziels beraubt und richtet sich in seinem Produzieren gegen seine eigenen Produkte. 2 2 Da­bei wird keine nichtige Scheinwelt produziert, wohl aber die unvoll­kommene, empirische Welt, die Schelling als krank bzw. als »Ruine« bezeichnet. (FS VII366, Clara IX 30 ff.)

Zur intelligiblen Welt ist innerhalb dieses Ansatzes die u rsprüng­liche, d.h. prälapsarische Schöpfung analog zu setzen. 2 3 Sie ist Voraus­setzung der gefallenen, zeitlich verfaßten Welt, geht ihr aber nicht zeitlich voran, sondern ist ewig. (FS VII 385 ff.) Auch die intelligible Tat, in welcher der Mensch sich selbst bestimmt, fällt als Moment in die ursprüngliche Schöpfung und ist ebenfalls ewig. Das Auftreten des Menschen in der Zeit ist, wie noch näher zu zeigen sein wird, zu ver­stehen als Folge und Ausdruck dieser ursprünglichen, außerzeitl ichen Handlung: »wie der Mensch hier«, also in der empirischen Welt »han­delt, so hat er von Ewigkeit und schon im Anfang der Schöpfung ge­handelt.« (FS VII 387)

2 2 Hermanni weist zurecht darauf hin, die intelligible Tat solle nur den üblen Zustand der Welt extra Deum erklären, nicht die Welt überhaupt, die praeter Deum als Schöp­fung zu verstehen ist. (Hermanni 1994. S. 217f.) 2 3 In dieser Schöpfung ist der formelle Freiheitsbegriff, den Habermas, wenigstens in seiner kantischen Fassung, für in die Freiheitsschrift unintegrierbar hält, für alle Krea­turen erfüllt. (FS VII350 ff.; vgl. Habermas 1954. S. 235) Diese Integration setzt freilich eine Reinterpretation der intelligiblen Welt als ursprüngliche Schöpfung voraus.

154 ALBER THESEN Oliver Florig

Freiheit, moralische Selbstbestimmung und intelligible Tat bei Kant

Die Anlehnung an Kant, so dürfte deutlich geworden sein, ist für Schelling dadurch möglich, daß er den für die Identitätsphilosophie charakteristischen Gegensatz einer ewigen Ideenordnung und einer kausal verfaßten, zeitlichen Erscheinungswelt 1809 in modifizierter Form fortführt . 2 4 Indem Schelling aber diesen Gedanken einer außer­zeitlichen Tat übe rn immt und i m Rahmen seines 1809 manifesten Neuansatzes reinterpretiert, handelt er sich das Problem ein, wie Ent­wicklung ohne Zeit gedacht werden kann. Außerdem ist die Lehre von der intelligiblen Tat bei Kant, an die Schelling sich bei seiner Erörte­rung menschlicher Selbstbestimmung anlehnt, so konzipiert, daß sie eine Verantwortung für moralisch böse Handlungen begründen soll. Die Anlehnung an diese Lehre in die Freiheitsschrift liegt natürl ich in ­sofern nahe, als diese Schrift auch als Theodizee konzipiert und ent­sprechend auf die Frage nach der Herkunft des Bösen fokussiert ist . 2 5

Damit aber droht der Gedanke einer schrittweisen Selbstformierung aus dem Blick zu geraten. Nur in der Übernahme der Verquickung von Revolution der Gesinnung und Reform der Sinnesart wäre eine Anknüpfung an Kant möglich, durch welche eine schrittweise Selbst­formierung denkbar würde. Diese Denkfigur setzt allerdings eine böse Verfassung des Menschen voraus und ist ungeeignet, eine gelingende Selbstformierung zu beschreiben, so daß, hät te man nur dieses Denk­modell zur Verfügung, die böse Verfassung des Menschen zur Bedin­gung seiner charakterlichen Entwicklung würde. Dann aber sieht man sich der Alternative ausgesetzt, entweder das Böse zur Bedingung von Entwicklung zu verharmlosen und im Sinne der felix culpa aufzuwer­ten oder aber ein gelingendes Leben so denken zu müssen, daß es keine wirkliche Entwicklung involviert. Wie Schelling hier votiert, ist im fol­genden zu untersuchen. Dabei gilt es zunächst das Verhältnis von i n -telligiblem Charakter und empirischen Handlungen zu untersuchen.

2 4 Natürlich ist dieser Gegensatz seinerseits schon eine Fortführung der kantischen Un­terscheidung von Erscheinung und Ding an sich. 2 5 Schon Habermas betont den Einfluß der Theodizeeproblematik auf die Grundkon­zeption der Freiheitsschrift. (Habermas 1954. S. 273) Hermanni widmet ihr eine ganze Untersuchung. (Hermanni 1994) Marx sieht es als zentrale Aufgabe der Freiheitsschrift, die menschliche Freiheit angesichts des Bösen neu zu denken. (Marx 1977. S. 109.) Als Hintergrund können auch die oben erwähnten Angriffe Eschenmayers und Schlegels auf Schellings Identitätsphilosohie gelten, die Schelling vorwerfen, die Tugend in sei­nem System nicht zu integrieren bzw. nicht integrieren zu können. (Siehe hierzu Fußn. 42)

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 155

Selbstsetzung und Selbstformierung in der Freiheitsschrifi

4.2 Das intelligible Wesen als Bestimmungsgrund freier Handlungen

Die Notwendigkeit, die Entscheidung über Gut oder Böse i m Intelligi­blen, also auf einer außerzeitl ichen Ebene anzusiedeln, weist Schelling in der Freiheitsschrift dadurch nach, daß er zunächst die Unmöglichkeit der Freiheit in der empirischen Welt aufzeigt. Dabei geht er, wie er­wähnt , vom formellen Begriff der Freiheit aus und untersucht zunächst den von ihm als gewöhnlich qualifizierten Freiheitsbegriff, der die Frei­heit »in ein völlig unbestimmtes Vermögen« setzt, »von zwei contra-dictorisch Entgegengesetzten, ohne bestimmende Gründe, das eine oder das andere zu wollen«. (FS VII382) Für diesen Begriff der Freiheit als Indifferenz spreche zwar die »ursprüngliche Unentschiedenheit des menschlichen Wesens in der Idee«, auf einzelne menschliche Hand­lungen aber könne er nicht sinnvoll angewandt werden. (FS VII 382) Der entscheidende Grund für die Unhaltbarkeit eines solchen Frei­heitsbegriffs besteht offensichtlich in der »Zufälligkeit der einzelnen Handlungen«, die aus ihm folgt. Wer Freiheit so begreift, der kann Handlungen weder in die »Einheit des Ganzen«, also i n den Zusam­menhang des Wirklichen einordnen, noch kann er vernünft ig über sie reden, etwa, indem er Motive angibt oder Regeln, denen die einzelne Handlung folgt. (FS VII382 f.) Schelling fertigt diesen Begriff der Frei­heit treffend ab: »Sich ohne alle bewegenden Gründe für A oder - A entscheiden zu können, wäre, die Wahrheit zu sagen, nur ein Vorrecht, ganz unvernünftig zu handeln«. (FS VII 382)

Einer solchen Willkürfreiheit setzt sich, so Schelling, die von Kant als Prädeterminismus bezeichnete Position zurecht entgegen, »indem sie die empirische Nothwendigkeit aller Handlungen aus dem Grunde behauptet, weil jede derselben durch Vorstellungen oder andere Ur­sachen bestimmt sey, die in einer vergangenen Zeit liegen, und die bei der Handlung selbst nicht mehr in unserer Gewalt stehen.« (FS VII 383)

Man kann fragen, ob sich Schelling dieses Argument zu eigen macht und die empirische Welt wirklich in dieser Weise als determi­niert begreift, oder ob er die referierte Position nur für überlegen hält, weil sie die Zufälligkeit der einzelnen Handlung vermeiden kann. Auf­fälligerweise verwendet Schelling nämlich den Konjunktiv, wenn er beide Positionen des empirischen Indeterminismus und des empiri­schen Determinismus demselben Standpunkt zuordnet und schließt,

ALBER THESEN Oliver Florig

Das intelligible W e s e n als Bestimmungsgrund freier Handlungen

daß »wenn es einmal keinen höheren gäbe, das letzte unleugbar den Vorzug verdiente .« 2 6 (FS VII 383) Daß Schelling dennoch einen empi­rischen Determinismus i m Blick hat, wird sich i m Fortgang der A r g u ­mentation zeigen. 2 7

Als Ertrag der bisherigen Darlegungen kann man festhalten, daß Schelling mit seinem Freiheitsbegriff sowohl die Zufälligkeit der ein­zelnen Handlungen als auch ihre Determiniertheit durch äußere U m ­stände vermeiden m u ß . Das aber kann auf dem Standpunkt, dem sowohl Determinismus als auch Indeterminismus gleicherweise ange­hören, nicht gelingen. (FS VII 383) Dieser Standpunkt wird von Hen­nigfeld mit dem dogmatischen identifiziert. 2 8 Daß der Dogmatismus Freiheit i m vollen Sinne nach Schelling nicht denken kann, ist richtig. Gleichwohl führt Schelling als Gegensatz gegen denjenigen Stand­punkt, der dies nicht kann, eine an Spinozas Freiheitsdefinition ange­lehnte Lösung ins Feld, wonach den beiden streitenden Parteien »jene höhere Nothwendigkeit« unbekannt sei, »die gleichweit entfernt ist von Zufall als Zwang oder äußerem Bestimmtwerden, die vielmehr eine innere, aus dem Wesen des Handelnden quellende Nothwendig­keit i s t .« 2 9 (FS VII 383) Der zu überwindende Standpunkt ist streng genommen also zunächst einer, der die Definition der auf einzelne empirische Handlungen bezogenen Freiheit als »aus dem Wesen des Handelnden quellende Nothwendigkeit« nicht kennt bzw. nicht auf menschliche Handlungen anwenden kann. Das aber gilt für den Dog­matismus in der Tat, und zwar auch für die spinozistische Variante des-

2 6 Vgl. Hennigfeld 2001. S. 96. Habermas hingegen sieht die Einzelhandlung bei Schel­ling doppelt determiniert, einmal durch das intelligible Wesen, und außerdem durch den mechanischen Wirkzusammenhang, in der sie steht. (Habermas 1954. S. 238 f.) 2 7 Die kausale Durchdeterminiertheit der empirischen Welt, also auch unserer Hand­lungen, sofern sie auf ihre Ursache in der Sinnenwelt bezogen werden, ist im Rahmen des kantischen Denkens eine Folge des notwendigen Operierens unserer Subjektivität. In einem Denken, das die empirische Wirklichkeit nicht mehr durch die Verfaßtheit unseres Erkenntnisapparates bestimmt sein läßt, muß die vollständige Determiniertheit also anders verstanden werden. Wie sie von Schelling genau verstanden wird, bleibt allerdings offen. 2 8 Siehe Hennigfeld 2001. S. 96. 2 9 Vgl. Spinoza, Ethik I. Def. VII. Schelling übernimmt nur die zweite Hälfte der Frei-heitsdefnition Spinozas: »Ea res libera dicitur, quae ex sola suae naturae necessitate existit et a se sola ad agendum determinatur«. An dieser Stelle ist außerdem nur vom notwendigen Folgen der einzelnen Handlungen aus dem intelligiblen Wesen die Rede. Daß dieses Wesen sich selber Bestimmung ist, wird erst später verhandelt. (FS VII 384)

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

Selbstsetzung und Selbstformierung in der Freiheitsschrift

selben. Die eben zitierte, an Spinoza angelehnte Freiheitsdefinition gilt bei Spinoza selber nämlich nur für Gott, nicht aber für die Folgen Got­tes, die, wie Schelling bemerkt, als Dinge tot und in einen kausal­mechanischen Zusammenhang eingebunden seien. Dasselbe gelte auch für den Menschen, dessen Wil le von Spinoza gleichfalls als Ding ver­standen werde und infolgedessen ebenfalls als kausal determiniert zu denken sei. (FS VII 349 f.) Die Behauptung einer solchen Freiheit für den Menschen setzt nach Schelling die Leistung des Idealismus voraus, der »die Lehre von der Freiheit in dasjenige Gebiet erhoben« habe, »wo sie allein verständlich ist«. (FS VII 383) Der Gedanke einer aus dem Wesen des Handelnden folgenden Notwendigkeit ist nämlich nur da­durch möglich, daß das »intelligible Wesen jedes Dings, und vorzüglich des Menschen« sowohl »außer allem Causalzusammenhang, wie außer oder über aller Zeit« angesetzt wird. (FS VII383) Wäre das handlungs­bestimmende Wesen eingebunden in die kausalverfaßte, empirische Welt, dann unterläge es dem Kausalzusammenhang und würde durch ihn zum Handeln bestimmt. Dieses Wesen aber kann als intelligibles so gedacht werden, daß es »nie durch irgend etwas Vorhergehendes be­stimmt« ist, »indem es selbst vielmehr allem andern, das in ihm ist, oder wird, nicht sowohl der Zeit, als dem Begriff nach als absolute Ein­heit vorangeht, die immer schon ganz und vollendet da seyn muß, damit die einzelne Handlung oder Bestimmung in ihr möglich sey.« (FS VII383)

Das intelligible Wesen des Menschen ist nach Schelling also unmittel­barer Bestimmungsgrund der einzelnen Handlungen, die aus ihm mit Notwendigkeit und doch frei folgen. (FS VII 384) Bezogen auf die Art und Weise, wie die einzelnen empirischen Handlungen durch das intel­ligible Wesen bestimmt werden, spielt Schelling die Alternative von Indeterminismus und Determinismus erneut durch. 3 0 A u c h hier gilt es, Zufälligkeit zu vermeiden, denn, so Schelling, vom »absolut=Unbe-stimmten zum Bestimmten gibt es aber keinen Uebergang.« (FS VII 384) Damit ist ausgeschlossen, daß »das intelligible Wesen aus purer lauterer Unbestimmtheit heraus ohne allen Grund sich selbst bestim­men sollte«. (FS VII 384) Gemeint ist, daß sich das intelligible Wesen nicht zufällig zu dieser oder jener Handlung entschließt. Es m u ß also in sich schon bestimmt sein. Diese Bestimmung darf sich wiederum kei-

Hermanni 1994. S. 143 ff.

ALBER THESEN Oliver Florig

Das intelligible W e s e n als Bestimmungsgrund freier Handlungen

ner inneren oder äußeren empirischen Notwendigkeit verdanken. (FS VII 384) Dies mit Hilfe eines intelligiblen Wesens als Bestimmungs­grund unserer Handlungen vermeiden zu können, war ja gerade der Verdienst des Idealismus.

Auch hinsichtlich der intelligiblen Bestimmung der einzelnen Handlung ist Schelling also bestrebt, sowohl Determinismus als auch Indeterminismus zu vermeiden. Das gelingt ihm, indem er das Wesen durch seine eigene Natur bestimmt sein läßt. Das Wesen sei ja »kein unbestimmtes Allgemeines, sondern bestimmt das intelligible Wesen dieses Menschen.« (FS VII384) Der Ausdruck »Wesen« meint hier also weder das allgemeine, begrifflich angebbare Wesen einer Klasse von Gegenständen, noch meint er ein pures, unbestimmtes Daseiendes. »Wesen« meint vielmehr die Charakteristik dieses bestimmten M e n ­schen, der von diesem seinem Wesen eben gar nicht zu trennen ist, sondern die Position dieses Wesens ist.

Dieses Wesen fungiert also als Regel der Handlungen, die aus ihm folgen:

»Das intelligible Wesen kann daher, so gewiß es schlechthin frei und absolut handelt, so gewiß nur seiner eignen innern Natur gemäß handeln, oder die Handlung kann aus seinem Innern nur nach dem Gesetz der Identität und mit absoluter Nothwendigkeit folgen, welche allein auch die absolute Freiheit ist«. (FS VII 384)

Erst jetzt, nachdem Schelling klargestellt hat, daß das Wesen die ein­zelne Handlung so bestimmt, daß es selbst dabei als Regel dient, hat Schelling expliziert, inwiefern die zweite Hälfte der Freiheitsdefinition Spinozas auf menschliche Handlungen anwendbar ist. Der Mensch handelt frei; denn »frei ist«, so Schellings Widergabe Spinozas, »was nur den Gesetzen seines eignen Wesens gemäß handelt und von nichts anderem weder in noch außer ihm bestimmt is t .« 3 1 (FS VII 384)

Das intelligible Wesen bei Schelling ähnelt damit dem Hang bei Kant insofern, als beide als Regel und Bestimmungsgrund unseres Handelns fungieren. Eine Differenz besteht darin, daß der Hang bei Kant nur als Grundentschiedenheit hinsichtlich der moralischen Qualität unserer Handlungen zu verstehen ist. Das aber ist bei Schelling zwar »das

3 1 Damit so Schelling, sei das »die Ungereimtheit des Zufälligen der einzelnen Hand­lungen entfernt«, die Schelling auch dann gegeben sieht, wenn man sie als empirischem Zwang unterliegend begreift. (FS VII384 f.)

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 159

Selbstsetzung und Selbstformierung in der Freiheitsschrift

Nächste«, also die naheliegendste Eigenschaft, hinsichtlich der unsere Handlungen durch das intelligible Wesen bestimmt sind, aber eben nicht die einzige. (FS VII 384) Nach Schelling bestimmt der Mensch in der intelligiblen Tat »sogar die Ar t und Beschaffenheit seiner Corpo-risation«. (FS VII387) Schellings Lehre vom intelligiblen Charakter ist damit wesentlich weitgehender als die Kants, dem es eben nur um den Hang als Bestimmung der Ordnung unserer Triebfedern zu tun war. Nach Schelling ist vielmehr das Ganze unseres empirischen Auftretens durch unser intelligibles Wesen bestimmt.

4.3 Das intelligible Wesen als Freiheitsakt

Von Kant kennen wir das Argument, der Hang, der die Bestimmung unserer Willkür leitet, müsse seinerseits als selbstzugezogen, d. h. als Akt der Freiheit begriffen werden, da andernfalls »der Gebrauch oder Mißbrauch der Willkür des Menschen in Ansehung des sittlichen Ge­setzes« nicht mehr zurechenbar wäre. (Rel. V I 21) Schelling folgt Kant auch hier: »Wäre jenes Wesen«, so Schelling, »ein todtes Seyn und in Ansehung des Menschen ein ihm bloß gegebenes, so wäre, da die Handlung aus ihm nur mit Nothwendigkeit folgen kann, die Zurech­nungsfähigkeit und alle Freiheit aufgehoben.« (FS VII 385) Es reicht also nicht aus, daß unser Wesen uns ausmacht, um Zurechenbarkeit zu begründen; es darf zugleich nichts sein, das wir bloß vorfinden, etwa wie einen als vererbt vorgestellten genetischen Code oder durch äußere Umstände zugezogene psychologische Eigenschaften, von denen wir uns also auch distanzieren könnten. Unser Wesen m u ß vielmehr, wie Schelling schon zuvor in einem Vorgriff gesagt hatte, als Position sei­ner selbst verstanden werden (FS VII 384) oder, wie Schelling es jetzt ausdrückt, »das Wesen des Menschen ist wesentlich seine eigne That.« (FS VII385)

Auch bezogen auf diese Tat wi l l Schelling Zufälligkeit vermeiden, indem er Freiheit und Notwendigkeit vereint. Ausgehend von der refe­rierten Lösung des Freiheitsproblems für die Handlungsebene durch die Annahme der inneren Notwendigkeit stellt Schelling die Frage, was denn diese »innere Nothwendigkeit des Wesens selber« sei. In die­sem Punkt m ü ß t e n Notwendigkeit und Freiheit vereinigt werden. (FS VII385) In der Literatur wird diese Vereinigung häufig i m Sinne einer frei gesetzten Notwendigkeit verstanden. Freiheit und Notwendigkeit

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Das intelligible W e s e n als Freiheitsakt

werden also nicht beide auf die Tat der Wesenssetzung selber bezogen, diese ist vielmehr frei, ihr Resultat aber eine selbstgegebene Notwen­digkeit. 3 2 Diese Interpretation ist insofern richtig, als die Tat auch als Selbstbindung des Subjekts zu verstehen ist. Daß die Trennung, die dieser Interpretation zugrundeliegt, aber den Schellingschen Gedanken nicht ganz trifft, tritt zutage, wenn Schelling über die unser Handeln bestimmende innere Notwendigkeit, also über unser Wesen sagt:

»Aber eben jene innere Nothwendigkeit ist selber die Freiheit, das Wesen des Menschen wesentlich seine eigne That; Nothwendigkeit und Freiheit stehen ineinander als Ein Wesen, das nur von verschiedenen Seiten betrachtet als das eine oder andere erscheint, an sich Freiheit, formell Nothwendigkeit ist«. (FS VII 385)

Theunissen ist also zuzustimmen, wenn er die Notwendigkeit ebenfalls als eine frei gesetzte begreift, zugleich aber darauf aufmerksam macht, daß das Wesen nur abstrakt betrachtet von der Tat als Ergebnis dersel­ben getrennt werden kann, konkret aber die Bestimmung das Wesen selber ist. 3 3 Diese Figur ist in einer Philosophie, die nichts als einfach Vorfindliches oder totes Seiendes begreifen wi l l , sondern als Prozeß, Leben, Wollen, nicht erstaunlich. (FS VII 351) Hier kehrt in gewisser Weise wieder, was schon mit Bezug auf den Organismus ausgeführt wurde: Der Organismus ist nicht einfach Produkt, Resultat eines von seinem Ergebnis anders als nur abstrakt trennbaren Prozessierens, son­dern wesentlich eben dieses Prozessieren selber. Diese Figur ist bezo­gen auf moralische relevante Charakterzüge aber auch sachlich richtig: Für einen Wesenszug, den wir nicht wenigstens teilweise selber her­vorbringen oder doch mindestens am Leben erhalten, sind wir in der Tat nicht verantwortlich zu machen. Handlungen, die aus einem sol­chen Wesenszug hervorgehen, können mithin nicht böse genannt werden.

Der eben angestellte Vergleich mit dem Prozessieren des Organis­mus erhellt außerdem einen weiteren Aspekt der intelligiblen Tat. In diesem Prozessieren nämlich werden bestimmte Eigenschaften entwi­ckelt und stabilisiert, und zwar indem der Organismus in bestimmter Ar t und Weise prozessiert. Anders gesagt, die Eigenschaften sind E i -

3 2 Die Deutung der Vereinigung von Freiheit und Notwendigkeit als in Freiheit gesetzte Notwendigkeit wird vertreten von Müller, Portmann und Bracken. (Vgl. Müller 1844. S. 142; Portmann 1966. S. 85 f.; Bracken 1972. S. 55.) 3 3 Siehe Theunissen 1965. S. 187; ähnlich Marx 1977. S. 135.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 161

Selbstsetzung und Selbstformierung in der Freiheitsschrifi

genschaften des Prozesses selber. Über t rägt man dies auf den Akt der Selbstsetzung und Selbstbestimmung des Menschen, so m u ß man sa­gen, daß die Position eines Menschen eben Position dieses so bestimm­ten Menschen ist. Zugleich gilt es aber festzuhalten, daß die Position auch die eines anders bestimmten Menschen hät te sein können, eines Menschen etwa, der hinsichtlich des Verhältnisses von Eigen- oder Universalwille anders entschieden ist, als er es ist. Von der Position, die Schelling als Wollen beschreibt, kann man also sagen, daß das We­sen und seine Eigenschaften mit dem Wollen da sein, sich mit ihm durch ihn und in ihm zum Tragen bringen müssen. (FS VII385)

Die Regelhaftigkeit des Wesens darf also nicht so verstanden werden, daß man von diesem Mensch, der sich mit diesen bestimmten Eigenschaften gesetzt hat, nicht auch hypothetischer Weise sagen könnte, daß er auch derselbe wäre, wenn er sich denn mit anderen Eigenschaften gesetzt hätte; andernfalls nämlich wären die Alternati­ven nicht mehr als Alternativen dieses Menschen denkbar. M a n könnte ihm dann bezogen auf seine moralische Bestimmtheit allenfalls noch vorwerfen, daß er sich zum Bösen entschieden hat, eben weil dies seine faktische, selbstgegebene Verfassung ist, nicht aber, daß er sich nicht zum Guten entschieden hat, denn dann handelte es sich eben nicht mehr um denselben Menschen. Es ist daher sinnvoll, zwischen Selbst­setzung und Selbstbestimmung zu unterscheiden: Selbstsetzung meint das pure Setzen meiner als eigenschaftslos gedachten Existenz; Selbst­bestimmung hingegen meint eben die Bestimmung meiner selbst hin­sichtlich meiner Eigenschaften bzw. der A r t und Weise meines Auftre­tens. Beides ist so zusammen zu denken, daß ich mich i m Setzen meiner selbst stets an bestimmte Eigenschaften binde und sie als meine bejahe. Zugleich erlaubt die Trennung beider Aspekte die Verwahrtheit meiner selbst gegenüber den verschiedenen Möglichkeiten meiner Selbstbestimmung zu denken.

In dieser Position bestimmt sich der Mensch nicht völlig grundlos, insofern der Mensch in der Entscheidung über Gut oder Böse, die als in diese Position integriert gedacht werden m u ß , in Gestalt der beiden als Selbstbewegungsquelle bezeichneten Wil len über mögliche Motive so­wohl für eine Entscheidung zum Guten wie für eine Entscheidung zum Bösen verfügt. Zugleich kann er als in einen geschichtlichen Prozeß eingebunden gedacht werden, der ihn nicht kausal determiniert, der aber gleichwohl die Situation darstellt, auf die er in seiner Selbst­bestimmung reagiert. A n diesem Punkt ist zwischen einer kausalen

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Einfache Selbstbestimmung oder schrittweise Selbstformierung

Determiniertheit der intelligiblen Tat und ihrer Motivlosigkeit zu un­terscheiden. W ü r d e Schelling letzteres annehmen, dann wären nicht nur seine ausführlichen Analysen einer möglichen Motivation zum Guten oder zum Bösen hinfällig, er müß te den Menschen außerdem als völlig geschichtsloses Wesen auffassen, das mit seiner Selbstbestim­mung nicht auf äußere Umstände reagieren kann. Außerdem könnte man dann auch die von Schelling immer wieder abgelehnte Willkür der Selbstbestimmung nicht von der Hand weisen. 3 4 Zwar wäre das Wesen seine eigene Regel, sobald es auftritt; auf die Frage, warum ein Mensch sich so oder so bestimmt hat, könnte er dann aber nur antwor­ten, indem er auf dieses grundlose Wesen verwiese. Es kommt einem diesbezüglich die Antwort in den Sinn, die Kinder bisweilen geben, wenn sie auf eine Frage nach dem Grund ihrer Handlung mit einem schulterzuckenden »Na, weil h a l t . . . « antworten. Eine solche Antwort aber wäre, mit Schellings eigenen Worten gesagt, »ganz unvernünf­tig«. Allerdings ist zuzugeben, daß Schelling bisweilen genau so redet, etwa wenn er 1810 ausführt, daß »von einer Handlung der absoluten Freiheit« kein Grund angegeben werden könne: »sie ist so, weil sie so ist, d. h. sie ist schlechthin und insofern nothwendig .« 3 5 (SP VII 429)

4.4 Einfache Selbstbestimmung oder schrittweise Selbstformierung

Die Unterscheidung von Selbstsetzung und Selbstbestimmung, in wel­cher die Verwahrtheit des sich in seiner Entwicklung identisch bleiben­den Menschen gegen diese Entwicklung gedacht werden soll, eröffnet die Möglichkeit, eine schrittweise Selbstformierung zu denken. Diese Unterscheidung zielt nämlich darauf, eine Identifizierung des M e n ­schen mit seinem bisher entwickelten Charakter zu vermeiden und eine Modifikation desselben denkbar werden zu lassen. Es liegt außer­dem i m Fokus dieser Unterscheidung, die Gefahr des Festhaltens an bestimmten Eigenschaften oder Verhaltensweisen in der Identifikation

3 4 Habermas spricht entsprechend mit Bezug auf die intelligible Tat von einer »poten­zierten Willkür«. (Habermas 1954. S. 239) 3 5 Schelling bezieht sich hier auf die Kontraktion in Gott und die menschliche Charak­tersetzung. (SP VII 429f.) Letztere ist freilich nach Schellings Ausführungen 1811 nicht im vollen Sinne moralisch zu nennen. (Vgl. 5.3)

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 163

Selbstsetzung und Selbstformierung in d e r Freiheitsschrift

meiner selbst mit diesen Eigenschaften namhaft zu machen. Von einem solchen Menschen, »der sich nicht scheiden kann von sich selbst, sich lossagen von allem was ihm geworden«, d. h. von dem, was er faktisch ist und gewonnen hat, sagt Schelling, daß er »keine wahre Vergangen­heit« habe, sondern beständig in ihr lebe, eben weil er das Vergangene stets fortsetze, während der Mensch, der sich von sich selbst scheide, eigentliche Gegenwart gewinne und einer eigentlichen Zukunft ent­gegensehe.3* ( W A 2 Sehr. 119)

Nur, kann man in der Freiheitsschrift eine solche dynamische, schritt­weise Selbstformierung ausmachen oder m u ß man die Tat nicht eher für einen in sich einfachen, monolithischen A k t der Selbstbestimmung halten? Oder anders gefragt, m u ß man Shibuya beipflichten, wenn sie schreibt, Schelling habe die von ihr offensichtlich als monolithisch ver­standene intelligible Tat 1810 durch das Konzept der Selbstbildung er­setzt? 3 7 Daß eine schrittweise Formierung nicht nur in der Logik des schellingschen Denkens Hegt, sondern auch um der Geschichtlichkeit menschlichen Lebens und Handelns willen zu denken ist, wurde bereits dargelegt. Damit ist natürl ich nicht gezeigt, ob Schelling nicht hinter der Logik seines Denkens und den Erfordernissen eines angemessenen Verständnisses menschlichen Handelns zurückbleibt. Zunächst sollen einige Argumente exponiert werden, die auf eine dynamische Perspek­tive hindeuten. Anschließend soll untersucht werden, was gegen eine schrittweise Selbstformierung spricht.

4.4.1 Die problematische Evidenz für eine schrrtt/veise Seibstformierung

(1) Einen ersten Hinweis auf eine schrittweise Entfaltung des M e n ­schen könnte man in Schellings Behandlung der Fichteschen Tathand­lung vermuten: Nachdem Schelling die eben skizzierte Vereinigung von Notwendigkeit und Freiheit in der intelligiblen Tat eingeführt hat, zitiert er Fichte, und zwar offensichtlich zunächst zustimmend:

3 4 Die Rede setzt den Zeirbegriff der Weltalter voraus, deT 1809 noch nicht angesetzt werden kann. Damit aber ist noch nicht gesagt, dag eine solche dynamische Perspektive 1809 ausgeschlossen ist. 3 7 Siehe Shibuya 2005. S. 155. Marquet sieht wenigstens ein Bemühen Scheiiings, die 1809 gedachte Abgeschlossenheit der Tat 1S10/11 wieder zu relativieren. (Marquet 1973. S. 447} H

164 AIBER THESEN Ofiver Hörig

Einfache Selbstbestimmung oder schrittweise Selbstformierung

»Das Ich, sagt Fichte, ist seine eigne That; Bewußtsein ist Selbstsetzen - aber das Ich ist nichts von diesem Verschiedenes, sondern eben das Selbstsetzen selber.« (FS VII 385)

Daß Schelling Fichte bis hierher wenigstens beipflichtet, zeigt sich auch in seinem Vergleich der intelligiblen Tat von Kant und der Tathandlung bei Fichte. Beide fassen die Tat nach Schelling nicht weit genug. W ä h ­rend Kant sich nämlich »zu einer transcendentalen alles menschliche Seyn bestimmenden That in der Theorie nicht erhoben* habe, dann aber »durch bloße treue Beobachtung der Phänomene des sittlichen Urtheils« zur Anerkennung einer solchen Tat gedrungen sah, habe Fichte umgekehrt »den Begriff einer solchen That in der Speculation erfaßt«, ihn aber für die Sittenlehre nicht fruchtbar gemacht. 3 8 (FS VII 388 f.) Schellings Fassung der Tat verbindet also, wie bereits darge­legt, beide Aspekte: Es handelt sich um eine Tat, die das menschliche Sein im Ganzen setzt und bestimmt, und zwar nicht nur, aber eben auch, hinsichtlich des Guten oder des Bösen.

Schelling interpretiert Fichtes Tathandlung 1809 offensichtlich anders als in Philosophie und Religion. Dort nämlich hatte er sie per se als Heraustreten aus dem Absoluten, also als Prinzip des Bösen ver­standen. Dafür gibt es 1809 keine Hinweise: Sofern sie das erläutert, was Schelling mit dem Ak t der Selbstsetzung und Selbstbestimmung im Blick hat, ist sie als zunächst sittlich neutrale Selbsretablierung des individuellen Ichs verstanden, eben weil Individualität und Selbstheit nicht per se das Böse ausmachen. Die Wirklichkeit des Bösen, hängt ja 1809, anders als 1804, nicht davon ab, daß wir uns als Unterschiedene setzen, sondern wie wir uns in dieser Setzung bestimmen. 3 , '

Eine Differenz zu Fichte und einen ersten Hinweis auf eine schrittweise Selbstformierung könnte man in einer Bemerkung Schel-

"=* Fichte habe das Böse lediglich in der »Trägheit der menschlichen N'atur finden* wol­len, nicht also in einer Entscheidung. fFS VII 389; zu Schellings Kritik an Ficht« Lehre vom Bösen vgl. Jacobs 1995. S. 135 ff.) Als Phänomen des sittlichen Urteils, da» Kant zu einer solchen Annahme bewogen habe, sieht Schelling etwa die Zurechnung von Hand­lungen selbst bei einem Menschen, der von Kindheit an einen Hang zum Einen gezeigt habe. fFS VII 386f.) Schelling bezieht sich hier auf eine Stelle in der Kritik der prakti­schen Vernunft. (KpV V 99 f.J » Unter anderem, weil für Schelling 1.804 die Endlichkeit schon das Eöse ist, hat er 1804 keine Verwendung für Kants Lehre vom radikal Bösen. Vielmehr versucht Schelling, die Verwirklichung des Bosen ausschließlich über die Tathandlung zu konzipieren. (Vgl. 1.3)

Sehefitngs Theorie menschlicher Sefbirforrroerung A -

Selbstsetzung und Selbstformierung in der Freiheitsschrift

lings entdecken, die unmittelbar auf die zitierte Stelle folgt, an der Schelling das Bewußtsein mit dem Selbstsetzen identifiziert. Sie lautet:

»Dieses Bewußtseyn aber, inwiefern es bloß als Selbst=Erfassen oder Erken­nen des Ich gedacht wird, ist nicht einmal das Erste, und setzt wie alles bloße Erkennen das eigentliche Seyn schon voraus. Dieses vor dem Erkennen ver-muthete Seyn ist aber kein Seyn, wenn es gleich kein Erkennen ist; es ist reales Selbstsetzen, es ist ein Ur= und Grundwollen, das sich selbst zu etwas macht und der Grund und die Basis aller Wesenheit i s t .« (FS VII 385)

M i t Blick auf Schellings generelle Fichtekritik könn te man vermuten, daß Schelling Fichte hier als jemanden begreift, der das Ich-Bewußt­sein als bloßes Selbsterfassen und nicht als Selbstproduktion denkt, die dann etwa im Sinne einer Geschichte des Selbstbewußtseins zu ver­stehen ist, wie sie Schelling i m System des transzendentalen Idealis­mus entworfen hat. Fichte hät te nach Schelling richtig gesehen, daß das Ich sich selbst setzt, hät te aber übersehen, daß dieses Selbstsetzen mehr sein m u ß als ein bloß reflexiver A k t . 4 0 Entsprechend könnte man an dieser Stelle, gemäß dem schellingschen Gedanken einer schrittwei­sen Evolution des Selbstbewußtseins, eine notwendig gestufte Selbst­setzung und Selbstbestimmung des einzelnen Menschen ansetzen, in welcher ein reales Selbstsetzen als dem Bewußtsein und der bewußten Selbstbestimmung vorausgehendes Moment zu denken ist. Einen Hin­weis auf eine solche schrittweise Entwicklung kann man auch darin erblicken, daß Schelling das »Ur= und Grundwollen« als »Grund und die Basis aller Wesenheit« qualifiziert. Die Rede von Basis aber ist uns aus der Naturphilosophie wohlvertraut und bezeichnet dort etwas, auf dem etwas Höheres in die Existenz tritt, eben die jeweils qua Steige­rung und Scheidung gewonnenen Bestimmungen oder Weisen des Auftretens des einzelnen Menschen.

Freilich gibt es noch eine andere Möglichkeit das obige Zitat zu verstehen. Das bloß ideale Selbsterfassen könn te sich nämlich auch auf das empirische Bewußtsein beziehen, von dem Schelling in folgen­dem Zitat spricht:

»In dem Bewußtseyn, sofern es bloßes Selbsterfassen und nur idealisch ist, kann jene freie That nicht vorkommen, da sie ihm, wie dem Wesen vor­angeht, es erst macht; aber sie ist darum doch keine That, von der dem Men­schen überall kein Bewußtseyn geblieben; indem derjenige, welcher etwa, um

4 0 Shibuya zufolge, wirft Schelling Fichte hier vor, eben keine Selbstbestimmung ge­dacht zu haben. (Shibuya 2005. S. 154)

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eine unrechte Handlung zu entschuldigen, sagt: so bin ich nun einmal, doch sich wohl bewußt ist, daß er durch seine Schuld so ist, so sehr er auch Recht hat, daß es ihm unmöglich gewesen anders zu handeln.« (FS VII386)

Unser Bewußtsein, für den uns notwendig bestimmenden Charakter verantwortlich zu sein, deutet, so ist dieses Zitat zu verstehen, auf eine diesem - empirischen - Bewußtsein selbst vorausliegende Tat. Die Parallele zum vorangehenden Zitat ist so stark, daß man annehmen kann, Schelling verstehe unter dem bloßen Selbsterfassen, von dem im obigen Zitat die Rede ist, eben jenes empirische Bewußtsein, dem ein intelligibles Selbstsetzen vorausgehen müsse. Dieses wäre dann als Wollen zu verstehen. Darüber, ob dieses Selbstsetzen in sich gestuft zu denken ist, wäre hier nichts gesagt. Damit ist der Hinweis, den man aus Schellings Bemerkungen zu diesem Element der Philosophie Fichtes ziehen kann, ausgesprochen zweifelhaft.

Nichtsdestotrotz läge es auf der Linie des Schellingschen Denkens, das Analogon der Tathandlung als in sich schrittweise Entwicklung zu denken, i n welcher die geistige Entwicklung des Menschen auf einer naturalen Entwicklung aufruht. A u f keinen Fall darf man das erwähnte »Ur- und Grundwollen, das sich selbst zu etwas macht« als nur unbe­wußtes Wollen verstehen: Dann nämlich wäre, wie schon angedeutet, diejenigen Instanz, die allein bewußt und damit frei und im vollen Sin­ne verantwortlich über die Ordnung von Universalwillen und Eigen­willen entscheiden kann, in der Entscheidung selber noch gar nicht wirkl ich. 4 1

(2) Aus postlapsarischer Perspektive stellt sich die Frage nach der Möglichkeit einer in sich differenzierten Selbstbestimmung des M e n ­schen vornehmlich als Frage nach der Möglichkeit einer »Umwendung des Menschen vom Bösen zum Guten«. (FS VII 389) Der gefallene Mensch kann nach Schelling nur durch eine »Transmutation« zum Guten gewandelt werden. Diese Transmutation aber ist Folge eines

4 1 Eine Deutung der Möglichkeiten zum Guten oder Bösen als grundsätzliche Möglich­keit des Menschen qua Idee kann keinesfalls als eine Verantwortung begründende Frei­heit verstanden werden. Dazu nämlich m u ß sie als eine Freiheit gedacht werden, in welcher der einzelne Mensch als Geist tatsächlich steht, d.h. als eine solche, in der er sich zu seinen Möglichkeiten bewußt verhält. Daß Schelling das Selbstsetzen nicht als unbewußt versteht, macht die eben zitierte Stelle deutlich. Es handelt sich eben um »keine That, von der dem Menschen überall kein Bewußtseyn geblieben«. Dieses Be­wußtsein zeigt sich darin, daß wir uns auch für Taten, die wir mit dem Verweis auf unseren Charakter zu entschuldigen bestrebt sind, verantwortlich fühlen. (FS VII 386)

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Selbstsetzung und Selbstformierung in d e r Freiheitsschrift

Entschlusses innerhalb der intelligiblen Tat. (FS VII 388 f.) Damit ist klar, daß die intelligible Tat wenigstens in diesem Sinne gestuft sein m u ß und nicht als in sich einfache, monolithische Position begriffen werden darf.

Schelling lehnt sich auch in diesem Punkt an Kant an, und zwar an dessen Lehre von der Revolution der Gesinnung und der Reform der Sinnesart. Dabei besteht nach Schellings eigenem Verständnis ein ge­wisser Unterschied zu Kant, der deutlich wird, wenn Schelling bezogen auf die Situation des gefallenen Menschen erklärt, das rechte Verhält­nis der beiden Wil len lasse sich nicht als »aus Selbstbestimmung her­vorgegangene Sittlichkeit« verstehen. (FS VII 392) Zunächst ist damit gemeint, daß die Prinzipien sich nach Schelling in der Tat zur Einheit fügen, einander also nicht einfach nur über- bzw. untergeordnet wer­den wie bei Kant. Z u m anderen ist damit aber auch darauf angespielt, daß der Mensch nach Schelling »menschliche oder göttliche Hülfe« nö­tig hat, um sich zum Guten wandeln zu können . (FS VII 389) Den Aus­druck göttliche Hilfe kann man im Sinn dessen verstehen, was Schel­ling »göttliche Magie« nennt, nämlich die »unmit te lbare Gegenwart des Seyenden i m Bewußtseyn und der Erkenntn iß« . Hierunter wieder­um ist eine Erkenntnis gemeint, in der wir freiwillig das bejahen, was wir als richtig und notwendig erkennen. (FS VII 391 f.) Unter mensch­licher Hilfe kann man sich das historische Umfeld vorstellen, das uns eben zum Besseren oder Schlechteren beeinflußt. Dieser Differenzen zu Kant zum Trotz darf man aus Schellings Ausführungen keine rein passivische Fassung der menschlichen Umkehr herauslesen und die Differenz zu Kant überbetonen. Z u m einen lehnt nämlich auch Kant den Gedanken einer »höheren Mitwirkung« i m Rahmen der mora­lischen Religion nicht völlig ab, sondern nur ein Verständnis derselben, die einen aktiven Entschluß und ein aktives B e m ü h e n des Menschen um Besserung ausschließt. (Rel. VI 51 f.) Z u m anderen bedarf es, wie erwähnt, auch bei Schelling eines Entschlusses zur Umwendung. (FS VII 389) Ähnlich Kant spricht auch er davon, daß i m Menschen »die innere Stimme seines eignen, in Bezug auf ihn, wie er jetzt ist, bes­seren Wesens, nie aufhört« ihn zur Umkehr aufzufordern. (FS VII389) Wie aber solcher Wandel auf der intelligiblen Ebene zu denken ist, das bleibt auch bei Schelling offen.

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Einfache Selbstbestimmung o d e r schrittweise Selbstformierung

4.4.2 Die fehlende Evidenz für eine in sich einfache Selbstbestimmung

Gegen den Gedanken einer schrittweisen Selbstformierung sprechen, so scheint es, zum einen diejenigen Passagen, an denen der intelligible Charakter als feststehende Regel der Bestimmung unserer Handlun­gen dient. Z u m anderen könnte man durch die Außerzeitlichkeit und Ewigkeit der Tat eine schrittweise Selbstformierung ausgeschlossen se­hen.

(1) Durch die Einführung des intelligiblen Wesens als feststehen­de Regel einzelner Handlungen wird der Eindruck erweckt, das intelli­gible Wesen unterliege keinerlei Wandel. Hier ist etwa die schon zitier­te Stelle zu nennen, an der Schelling erklärt, das intelligible Wesen müsse »immer schon ganz und vollendet da seyn (...), damit die ein­zelne Handlung oder Bestimmung in ihr möglich sey.« (FS VII 383) Daß der Mensch, obwohl er sich hinsichtlich seiner einzelnen Hand­lungen nicht in dem Sinne als frei erkenne, daß er diese oder jene Handlung lassen könne, in diesen Handlungen gleichwohl frei handle, illustriert Schelling am Beispiel von Judas: Sein Verrat sei nicht abzu­wenden gewesen, weder von ihm noch von anderen, dennoch habe er Christus freiwillig verraten. (FS VII 386) Dieses Bewußtsein der Ver­einigung von Freiheit und Notwendigkeit in Bezug auf einzelne Hand­lungen dient Schelling als Beleg für die Angemessenheit seiner Lehre von der intelligiblen Tat an das sittliche Bewußtsein, also an unsere moralischen Intuitionen. Später erklärt Schelling, daß der Mensch »als sittliches Wesen nicht wird, sondern der Natur nach ewig ist.« (FS VII 387 f.)

Bei genauer Lektüre der einschlägigen Stellen zeigt sich aber, daß Schelling einen Wandel des intelligiblen Wesens nicht notwendiger­weise ausschließt. Zunächst ist in Bezug auf das Verhältnis der einzel­nen, empirischen Handlung zum intelligiblen Wesen oder Charakter zu sagen, daß dieses Wesen in Bezug auf diese oder jene bestimmte Handlung als Regel begriffen werden kann, die eben für diese Hand­lung feststeht: Der Mensch kann sich nach Schelling also nicht willkür­lich für diese oder jene Handlung entscheiden. Damit ist aber nicht ge­sagt, daß das Wesen keinem Wandel unterläge. Die erste der zitierten Stellen steht denn auch in einem Kontext, in dem eine Entscheidung für einzelne Handlungen ausgeschlossen werden soll. Die zweite ange­führte Stelle, an der davon die Rede ist, daß das sittliche Wesen in kei­nem Werden begriffen sei, kann entweder ebenfalls auf die einzelne

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Selbstsetzung und Selbstformierung in der Freiheitsschrifi

Handlung bezogen werden, oder man kann sie so interpretieren, daß hier ein Werden in der Zeit ausgeschlossen wird, nicht aber das Werden überhaupt.

(2) Dem Gedanken einer Entwicklung des intelligiblen Charakters scheint aber außerdem der Gedanke der Außerzeitl ichkeit und Ewig­keit der Tat zu widersprechen. Die Tat ist ewig in dem Sinne, daß sie als Moment in die außerzeitliche Schöpfung selber fällt: Die Entschei­dung zum Bösen kann, so Schelling, »nicht in die Zeit fallen; sie fällt außer aller Zeit und daher mit der ersten Schöpfung (wenn gleich als eine von ihr verschiedene That) zusammen.« (FS VII385) Die Tat geht »dem Leben nicht der Zeit nach voran, sondern durch die Zeit (uner­griffen von ihr) hindurch als eine der Natur nach ewige That.« (FS VII 385 f.)

In diesem Zusammenhang stellt sich ein Problem, das schon bei Kant bezogen auf die Annahme einer Revolution der Gesinnung auf­tritt. Wie, so ist zu fragen, läßt sich eine solche - ausdrücklich auf der intelligiblen Ebene angesiedelte - Umwendung mit der Idealität der Zeit vereinbar? 4 2 Dieses Problems wegen hält etwa Müller die Lehre von der Revolution der Gesinnung für nicht haltbar: N u r die Zeit er­laube es, Widersprüchliches von einem Subjekt auszusagen. 4 3 Bruch schlägt demgegenüber vor, auf der intelligiblen Ebene ein Äquivalent der Zeit anzunehmen. 4 4 Daß damit auf dieser ein Übergang angesiedelt wird, verteidigt Bruch mit der Feststellung, man dürfe den »Status nou-menon« nicht kurzschlüssig dem Dauerhaften und Unveränderlichen angleichen. Die Lösung Bruchs läßt sich plausibilisieren durch Verweis auf ein außerzeitliches Nacheinander, das sich in der Zeit darstellen läßt, wie etwa die Notierung einer Schachpartie sich in zeitlich aufein­anderfolgenden Zügen zeigt, wenn sie nachgespielt wird.

A u f die Frage, ob ein solches außerzeitliches Nacheinander tat­sächlich als Geschehen verstanden werden kann, wird noch zurück­zukommen sein. Daß Schelling aber eine außerzeitliche Entwicklung unseres Charakters wenigstens behaupten m u ß , ist schon aus dem Ge­danken einer auf unsere Entscheidung zur Umwendung zurückgehen-

4 2 In der Kritik der reinen Vernunft sagt Kant ausdrücklich, in der Kausalität der Ver­nunft entstehe nichts oder beginne, um eine Wirkung zu verursachen. (KrV B 579 ff., 581) In ihr gebe es kein »Vorher oder Nachher«. (a.a.O. 581) 4 3 Müller 1844. S. 114. Für eine Diskussion des Problems siehe außerdem Bruch 1968. S. 87 ff. 4 4 Bruch 1968. S. 89 f.

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den Transmutation des gefallenen Menschen ersichtlich. Die Denkbar­keit einer außerzeitlichen Entwicklung beansprucht Schelling aber auch schon für die schrittweise Evolution des menschlichen Geistes aus der Natur. Die Tat der menschlichen Selbstsetzung und Selbst­bestimmung fällt als unterschiedenes Moment in dieses Schöpfungs­geschehen, in welches Schelling zweifellos eine Form des Nachein­ander einschreiben m u ß . Daß Schelling etwas derartiges im Sinn hat, kann man in Bezug auf das folgende Zitat zeigen:

»Weil in der Schöpfung der höchste Zusammenklang und nichts so getrennt und nacheinander ist, wie wir es darstellen müssen, sondern im Früheren auch schon das Spätere mitwirkt und alles in Einem magischen Schlage zu­gleich geschieht, so hat der Mensch, der hier entschieden und bestimmt er­scheint, in der ersten Schöpfung sich in bestimmter Gestalt ergriffen, und wird als solcher, der er von Ewigkeit ist, geboren, indem durch jene That sogar die Art und Weise seiner Corporisation bestimmt ist.« (FS VII 387)

Zunächst ist deutlich, daß Schelling hier in einem nicht-zeitlichen Sin­ne Früheres und Späteres unterscheidet, und zwar so, daß das Nach­einander der Darstellung dem Zugleich der Schöpfung nicht genügt . Dieses Zugleich beinhaltet auch eine Ar t Mitwirkung des Späteren i m Früheren. Diese Stelle läßt sich mit Rückgriff auf den §94 der Dcr-stellung verstehen. 4 5 ( D M S A A 1,10 165 f.) Dort w i l l Schelling zeigen, daß die Aktualität des Lichts die Aktualität der Kohäsion voraussetzt und umgekehrt: Das Licht nämlich sei nur gesetzt, sofern A = B ge­setzt sei. N u n war A = B zunächst als völlig ungestaltete, nicht aktuel­le Voraussetzung von Bestimmtheit gedacht. Ihre Aktualität bekommt sie nur als gestaltete Materie, d.h. insofern sie Grund der Existenz des Lichts ist. Das Prinzip der Gestaltung aber ist die Kohäsion. Umge­kehrt existiert das Licht nur mit Bezug auf den Grund seiner Existenz, d.h. gegen die Materie, sofern sie im Prozeß der Kohäsion begriffen ist. 4 6 Existierendes und Grund zur Existenz sind hier also in gewissem Sinne mit einem Schlag gesetzt, nämlich als das, wozu sie gegenein­ander werden. Dabei greift das Spätere, das Licht, in das Frühere, die Materie, als Grund seiner Existenz ein. Die Rede von früher und spä­ter ist hier durchaus angemessen. In einem bestimmten Sinn geht der

4 5 SW IV 165 f. 4 6 Diese Darstellung ist stark verkürzt und läßt insbesondere den Gedanken aus, daß alle Potenzen nur relativ aufeinander Potenzen sind, da jede für sich absolute Totalität wäre. In diesem Sinne bedingen sie sich gegenseitig. (a.a.O.)

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Selbstsetzung und Selbstformierung in der Freiheitsschrifi

Grund dem Existierenden nämlich voraus, und zwar insofern er die in aller Gestaltung vorausgesetzte Grundlage ist, die als solche zunächst noch nicht als Grund gesetzt ist. (a.a. O.) Entsprechendes läßt sich, wie oben dargelegt, für jede Potenz wiederholen. Der Priorität des jeweils Niederen steht die Superiorität des jeweils Höheren gegenüber. (WA 2 Sehr. 181, W A 3 Sehr. 311) In den Stuttgarter Privatvorlesungen und der Weltalterphilosophie wird Schelling diese Ordnung freilich als bloß logische interpretieren, der eine zeitliche Ordnung der Perioden des Werdens entspricht. 4 7 Voraussetzung dafür ist ein neuer Zeit­begriff bzw. eine zeitliche Interpretation der Scheidung. In der Frei­heitsschrift bleibt es für das Schöpfungsgeschehen und die Skizze des Naturprozesses bei dem Gegensatz einer in sich gestuften außerzeitli­chen Ordnung, die gleichwohl als Entwicklung konzipiert ist, und einer mechanischen als Sukzessivität gefaßten Zeit in der gefallenen Welt. Damit ist klar, daß innerhalb der Konzeption der Freiheitsschrift aus der Ewig- und Außerzeitl ichkeit der Tat nichts für ihre innere Struktur folgt.

4.4.3 Die notwendige Offenheit der menschlichen Selbstformierung

Die Problematik einer solchen Konzeption kann man sich an einer wei­teren Anforderung klar machen, die an ein Model l menschlicher Selbstformierung zu stellen ist. Auch wenn man nämlich eine außer­zeitliche, in sich strukturierte, schrittweise Selbstformierung anneh­men könnte, wäre damit noch nicht gedacht, was wir eigentlich wollen, wenn eine wir einen Wandel unseres Charakters als Regel unsere Handlungen denken, nämlich - aus postlapsarischer Perspektive ge­sprochen - eine Möglichkeit, diesen Charakter tatsächlich zu ver­ändern, anstatt eine ewig sich selbst setzende, aber eben sozusagen ex nunc unveränderliche Notierung unseres Lebens bloß nachzuspielen. Das außerzeitliche Nacheinander m ü ß t e dazu als unabgeschlossen und in seinem Ausgang offen verstanden werden. Zugleich müssen wir die in unser empirisches Bewußtsein fallenden Bemühungen um Umkehr und Besserung unserer selbst so auf diesen Wandel beziehen können, daß unserem Interesse an diesen Bemühungen Rechnung ge­tragen wird. Andernfalls können wir zwar einen Wandel denken, es

4 7 Vgl. 5.2.1.2.

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Fazit: D ie Inkonsequenz Schellings in der Freiheitsschrift

handelte sich aber nicht mehr in dem Sinne um einen Wandel unserer selbst, daß wir uns als an ihm beteiligt auffassen könnten. Der von Kant unternommene Versuch, dieses Problem zu lösen, indem er unser Bemühen um eine Besserung unseres Charakters auf eine intelligible Revolution der Gesinnung hin abbildet, wird von Schelling wohl ge­teilt, nicht aber weiter expliziert.

Die zu denkende Offenheit unserer Selbstbestimmung, die man auch in einem als möglich zu denkenden Fall einer gelingenden Selbst­formierung annehmen m u ß , ist Freiheit. W i r sind hier also auf die schon erwähnte Differenz zwischen den notwendigen Scheidungs­schritten i m Naturprozeß und der freien Scheidung in der Sphäre menschlichen Handelns verwiesen. 4 8 In ihr kann man zwar umrißhaft angeben, wie eine gelingende Selbstformierung aussehen m u ß , man kann aber die freien Entscheidungen des sich selbstbestimmenden Menschen nicht a priori konstruieren, sondern m u ß dem Anderssein­können und der Unabgeschlossenheit, die einer freien Entwicklung eigen ist, Rechnung tragen. Eine solche Freiheit und Unabgeschlossen­heit unserer Selbstbestimmung in einen Ak t zu setzen, in dem »alles in Einem magischen Schlage zugleich geschieht« ist zumindest hochgra­dig unplausibel und entspricht in keiner Weise unserem Erleben als handelnde und entscheidende Personen. (FS VII387)

4.5 Fazit: Die Inkonsequenz Schellings in der Freiheitsschrift

Die wenig ergiebigen Erläuterungen des letzten Abschnitts zeigen, daß Schelling das Problem einer schrittweisen Entwicklung des Menschen offensichtlich 1809 nicht wirklich in den Blick bekommen hat, obgleich es in der Konsequenz seines Denkens gelegen hätte. Das hängt zum einen mit der Fokussierung auf die Frage nach der Herkunft des Bösen zusammen, zum anderen mit der Fortführung bestimmter Elemente der Schellingschen Identitätsphilosophie: Zwar hat Schelling zentrale Kategorien seines Denkens so verändert, daß er Personalität, Freiheit und Handeln angemessen denken kann, dabei aber die Unterscheidung einer intelligiblen Welt und einer zeitlich und kausal verfaßten empi­rischen Welt einfach fortgeführt. Diese unkritische Fortführung der

4 8 Vgl. 3.7.4.

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Selbstsetzung und Selbstformierung in der Freiheitsschrifi

identitätsphilosophischen Zweiweltenlehre erlaubt eine starke Anleh­nung an Kant, die wiederum die erwähnte Fokussierung vers tärkt . 4 9

Damit bringt sich Schelling um einen Teil der Früchte, die sein Neuansatz von 1809 tragen könnte. In seiner Konzeption kann Schel­ling eine schrittweise menschliche Selbstformierung entweder auf der intelligiblen Ebene verorten, womit er sich das Problem einhandelt, ein außerzeitliches Geschehen denken zu müssen, das noch dazu als frei und unabgeschlossen zu konzipieren wäre. Oder Schelling m u ß eine solche Selbstformierung ähnlich wie 1804 als B e m ü h u n g um eine Rückkehr aus der empirischen Welt denken. Wenn er dieses Bemühen aber als Ausdruck einer außerzeitl ichen Folge von Entscheidungen denken wi l l , kehrt das Problem der Denkbarkeit einer außerzeitlichen Entwicklung wieder. Die Deutung des schellingschen Gedankens einer Schöpfung, die mit einem Schlag geschehen sein soll, zeigt, daß er sich auch in diesem Punkt noch auf dem Boden der Identitätsphilosophie bewegt.

Ein solcher Gedanke scheint noch einem Denken anzugehören, das Schelling in den Münchner Vorlesungen von 1827 mit deutlichen Worten kritisiert: Über sein System von 1801 behauptet Schelling, da­mals ein »ewiges Geschehen« gedacht zu haben. 5 0 Ein solches Gesche­hen aber, so Schellings Selbstkritik, ist »kein Geschehen«. Alles sei vielmehr »nur in Gedanken vorgegangen«. ( M V X 124f.) Damit faßt Schelling in deutliche Worte, was ihn wohl schon 1810 bewogen hat, eine zeitlose, logische Ordnung von Potenzen vom Hervortreten der­selben als Perioden des Seins zu unterscheiden. 5 1 (SP VII 424, 427 f.)

4 9 Shibuya konstatiert, Schelling habe an dieser Stelle »den Idealismus der Transzen­dentalphilosophie noch nicht vollständig überwinden« können. (Shibuya 2005.158f.) 5 0 Schelling spricht hier mit Bezug auf die »Darstellung des Systems, wie es in der völligen Unabhängigkeit von Fichte hervorgetreten ist.« (MV X 99) Gemeint ist natür­lich die Darstellung von 1801. 5 1 Schelling gewinnt diese Ordnung über eine Analyse des Prinzips der Philosophie als absolute Identität des Realen und des Idealen und über die Explikation der Bedingungen der Wirklichkeit dieses Prinzips. (SP VII 421 ff.) Im Rahmen der Explikation derselben gelangt er zum Gedanken einer logischen Priorität der ersten Potenz, der Natur. (SP VII 427 f.) Die wirkliche Priorität setzt dann ein als Kontraktion gedachtes Handeln voraus, wodurch die Potenzen als Perioden der göttlichen Offenbarung gesetzt sind. (SP VII 428) Dabei ist Schelling freilich insofern inkonsequent als er Zeit nur in die Natur und nicht zwischen den Potenzen ansetzt. (SP VII 430) Zeit wiederum wird hier nicht als Sukzessivität verstanden: »Das Reale in der Zeit«, so Schelling, »sind bloß die verschie­denen Einschränkungen, durch welche ein Wesen geht.« (SP VII431)

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Fazit: D ie Inkonsequenz Schellings in der Freiheitsschrift

Diese Figur weist voraus auf Schellings Weltalterphilosophie und den dort vertretenen Zeitbegriff, in dem Zeit über den Gedanken einer wirklich zu durchlaufenden, schrittweisen Scheidung und nicht pr imär als Sukzessivität begriffen wi rd . 5 2 Im Rahmen dieses Denkens wird zu einer wissenschaftlichen Tugend, was 1809 noch ein Problem der Dar­stellung war: das notwendige Nacheinander, das nun der »Natur alles Geschehens« entspricht. ( W A 3 VIII 208)

Was genau aber ist die Natur alles Geschehens und warum gibt Schelling seiner Potenzenlehre eine zeitliche Interpretation? Die Natur alles Geschehens, an die Schelling erinnern wi l l , liegt darin, daß »alles im Dunkel anfängt, da niemand das Ziel sieht, und nie das einzelne Ereigniß für sich sondern nur die ganze vollständig abgelaufene Bege­benheit verständlich ist.« (WA 3 VIII 208) Dieses Zitat scheint hier zu ­nächst auch auf die für jede wissenschaftliche Darstellung notwendige Bewegung gemünzt zu sein, in der nur das Ganze verständlich ist und die einzelnen Sätze nur eine »örtliche Bedeutung« haben. 5 3 (WA 3 VIII 209) Eine solche Aussage hät te Schelling auch in Bezug auf frühere Gestalten seines Systems bzw. mit Bezug auf die unzeitliche Folge der Potenzen formulieren können: Auch hier wird die Sache nach und nach entfaltet, auch hier haben Sätze nur eine lokale Bedeutung. Im Rah­men eines solchen Denkens aber werden die einzelnen Schritte nur ge­dacht, das Nacheinander ist ein bloß logisches. 5 4 Dem Geschehen aber ist es eigentümlich, daß es geschehen muß , d.h. daß es nicht bloß in Gedanken ablaufen darf. ( M V X 124 f.) Dementsprechend kann »alle Geschichte nicht in der Wirklichkeit bloß, auch in der Erzählung nur erlebt, nicht aber mit einem allgemeinen Begriff gleichsam mitgetheilt werden«. M a n müsse vielmehr »den großen Weg mitwandeln, bei je­dem Moment verweilen, sich ergeben in die Allmählichkeit der Ent­wicklung.« 5 5 (WA 3 VIII 208) Die hier verwendeten Verben sprechen eine eindeutige Sprache: »erleben«, »mitwandeln«, »verweilen«, »sich

5 2 Veto ist also zuzustimmen, wenn er vermutet, Schelling habe Schritt von der Simul­taneität der Potenzen zur ihrer Periodizität in Stuttgart vollzogen. (Veto 1973 Ed. S. 33) 5 3 Diese Formulierung bezieht sich sicher auf den Gedanken eines Systems der Systeme (WA 1 Sehr. 87 ff.) und auf die methodische Devise, wonach die Entwicklung der Gedan­ken der ihres Gegenstandes entsprechen soll, d.h. in ihr soll »die Entwicklung eines lebendigen, wirklichen Wesens«, Gottes nämlich, sich darstellen. (WA 1 Sehr. 3) 5 4 Vgl. Hutters Ausführungen zu Schellings Kritik an einem bloß logischen Grund-Fol­ge-Verhältnis und einem Denken more geometrico. (Hutter 1996. S. 81 ff.) 5 5 Vgl. Hutter 1996. S. 90.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

Selbstsetzung und Selbstformierung in der Freiheitsschrift

ergeben«. Damit ist auf das Deutlichste zum Ausdruck gebracht, daß Wirklichkeit für uns Menschen den Charakter hat, erfahren und gelebt werden zu müssen, daß also auch eine Wissenschaft, die dem genügen wi l l , diesen Charakter aufgreifen m u ß . Für das Denken einer freien Selbstbestimmung des Menschen aber bedeutet dies, daß es bei der Er­fahrung des Menschen ansetzen und den Sinn einer freien Selbstfor­mierung explizieren m u ß . Die Philosophie kann diese Selbstformie­rung zwar in einem metaphysischen Model l explizieren und auf ein Ziel beziehen, aber eben so, daß das Erleben des sich selbst bestimmen­den Menschen dadurch nicht wegerklärt wird.

Der Gedanke eines notwendigen zeitlichen Nacheinanders gilt al­lerdings auch in der Weltalterphilosophie nicht für das innere Leben Gottes. Für Gott selbst behält Schelling vielmehr den Gedanken bei, daß sein Leben als ein immer vollendetes und sich stets vollendendes zu verstehen ist. (WA Fr. Sehr. 199) Entsprechend macht Schelling im dritten Weltalterdruck bezüglich der Folge von Potenzen einen Unter­schied zwischen dem inneren Leben Gottes und allem anderen Leben: In Gott sei die Folge zwar eine wirkliche, sie sei aber nicht in der Zeit vor sich gegangen, sondern in »einem und demselben A k t (dem Ak t der großen Entscheidung)« werde in der Ewigkeit eine Folge gesetzt, wel­che die Zeit in sich als überwundene enthalte. ( W A 3 VIII 261)

Ausgehend von diesem Befund kann man vermuten, daß Schel­ling bei seiner Wende hin zu einer zeitlichen Interpretation der Schei­dung bzw. des Verhältnisses von Grund und Existierendem vor allem die Erfordernisse einer angemessenen philosophischen Würd igung menschlicher Freiheit, menschlichen Handelns und Entscheidens im Blick hatte.5 6 Das wird unterstrichen dadurch, daß Schelling seine Zeit­theorie in den verschiedenen Weltal terentwürfen zunächst über den Verweis auf unsere Erfahrung einführt, Zeit setzen zu können, indem wir uns von unserer Vergangenheit scheiden und sie zur Basis eines neuen, gegenwärtigen Auftretens unserer selbst machen. Gelingendes Leben ist dann nach Schelling ein Leben in permanenter Selbstüber-

5 6 Man kann die hier skizzierte Unterscheidung allerdings, wie Wieland, auch als Lö­sung eines anderen Problems deuten: Innerhalb der Identitätsphilosophie sei Gott ent­weder in der Zeit oder der Naturprozeß sei unzeitlich. In der Weltalterphilosophie ar­beite Schelling an dieser Frage und löse sie vom »Wesen alles Geschehens« her, nämlich »immer schon auf etwas bezogen zu sein (Substanz, Subjekt) was nicht dem Wandel unterworfen ist«. (Wieland 1956. S. 19.)

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Fazit: D i e Inkonsequenz Schellings in der Freiheitsschrift

windung. Diese Andeutung genügt , um deutlich zu machen, daß Schel­ling in den Weltaltern die für die Freiheitsschrift charakteristische Ent­rücktheit der uns eigentlich ausmachenden Tat vermeiden und eine dy­namische Perspektive einer unabgeschlossenen und schrittweisen Selbstformierung öffnen kann.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

5 Menschliche Selbstformierung im ersten Weltalterdruck

5.1 Scheidung als zeitgenerierender A k t

5.1.1 Eigentliche und uneigentliche Vergangenheit und die drei Weltalter

In den ersten beiden Weltalterdrucken von 1811 und 1813 beginnt Schelling das erste mit »Die Vergangenheit« überschriebene Buch der Weltalter, indem er seine »Gedanken (...) über das Organische der Zeit« darlegt, und zwar »nicht in strengwissenschaftlicher, nur in leicht mittheilender Form«. 1 ( W A 1 Sehr. 13) Dabei verbindet Schelling einen Grundr iß seiner nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gegliederten Weltalterphilosophie mit einer Kri t ik an einem bestimm­ten Zeit- und Weltverständnis, in welchem die Zeit als Sukzessivität und die Welt als Kausalzusammenhang verstanden werden. Dieses Verständnis trifft nach Schelling, so wird sich zeigen, in gewisser Weise den Zustand der gegenwärtigen Welt, darf aber nicht verabsolutiert werden. Gegen die Verabsolutierung dieser Auffassung setzt Schelling den Verweis auf eine Verhaltenweise des Menschen, in welcher der Mensch selbst Zeit generiert, indem er sich »von allem was ihm gewor­den«, scheidet, es als vergangen setzt. ( W A 2 Sehr. 119) Dieser Ak t der Zeitstiftung ist zugleich Zeiterfahrung: W i r erfahren Zeit in dieser Weise, indem wir sie stiften. 2 Diese Zeiterfahrung unterscheidet sich

1 Vgl. WA 2 Sehr. 119 ff., W A Fr. 187 ff. Eine Parallelstelle findet sich auch im dritten Weltalterdruck, allerdings nicht am Anfang des ersten Buches: WA 3 VIII 259 ff.

2 Wieland betont die Bedeutung der Zeiterfahrung, die wir im Akt der Scheidung von uns selbst machen, für das Verständnis der Weltalter. (Wieland 1956. S. 8ff., 29ff.) Auf diese Erfahrung habe Schelling eine »allgemeine Ontologie der Dinge zu gründen ver­sucht.« (a.a.O. S. 67) Die Wendung, die Schelling 1810/11 nimmt, indem er unsere Selbstformierung zeitlich interpretiert, hat den großen Vorteil, die Schwierigkeit, eine außerzeitliche Entwicklung denken zu müssen, zu vermeiden und unserem Erleben nä­her zu sein.

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Scheidung als zeitgenerierender A k t

damit massiv von einem bloß passiven Zeiterleben, das dem skizzierten Verständnis der Zeit als Sukzessivität entspricht: In diesem Erleben er­scheint Zeit als eine äußere Macht, die uns bestimmt.

Schellings Vorgehensweise hat einen bestimmten argumentativen und didaktischen Sinn. Z u m einen entspricht sie der oben skizzierten Abkehr von einem konstruierenden Denken, das die Erfahrung einer freien Selbstformierung nicht wirklich angemessen explizieren kann. Zum anderen geht es aber darum, eine Weltdeutung zu rechtfertigen, indem sie als unserer Erfahrung angemessen erwiesen wird. Genauer gesagt, geht es darum, den Gedanken einer Folge von Weltaltern zu rechtfertigen, in welcher die gegenwärtige, empirische Welt, die durch das kritisierte Zeitverständnis in ihren Grundzügen getroffen wird, nur als ein Weltalter aufgefaßt wird, dessen Herkunft und Zukunft jenseits dieser Welt liegen. Z u diesem Zweck macht er auf die erwähnte Ver­haltensweise und Erfahrung aufmerksam, in welcher wir unser Leben von innen her transzendieren, indem wir die Wiederholung des Im­mergleichen für unser Leben teilweise überwinden. Warum rechtfer­tigt der Verweis auf diese Zeiterfahrung die Annahme einer jenseitigen Herkunft und Zukunft der Welt? Nun , im ersten Weltalterdruck findet sich an späterer Stelle eine »Genealogie der Zeit«, in der das Organi­sche der Zeit in einen ontotheologischen Rahmen eingebunden wird . 3

(WA 1 Sehr. 73 ff.) Im Rahmen dieser Einbettung des zeitstiftenden Aktes und unserer Zeiterfahrung wird deutlich, daß das Überschreiten der kritisierten Form empirischer Zeit von innen heraus als Bezugnah­me auf ein Ziel zu verstehen ist, das jenseits dieser Welt liegt und in welchem die empirische Zeit als Ganze überwunden ist. Des weiteren wird deutlich, daß diese Bewegung auf einer Vergangenheit aufruht, die ebenfalls außerhalb der gegenwärtigen Welt anzusiedeln ist. Die Einbettung des zeitgenerierenden Aktes der Scheidung von uns selbst in einen ontotheologischen Rahmen wird noch zu betrachten sein. Hier sollen zunächst die von Schelling 1811 und 1813 zu Beginn des ersten Buchs der Weltalter »in leicht mittheilender Form« dargelegten Ge-

3 Zu Beginn des ersten Weltalterdruck ist es Schellings Absicht, »die Geschichte der Entwicklung des Urwesens (...) zu beschreiben und zwar anfangend von seinem ersten noch unaufgeschlossenen Zustand, der vorweltlichen Zeit.« (WA 1 Sehr. 10) Nachdem er dann auf die Methode des Menschlichnehmens zu sprechen gekommen ist, erwähnt er die Notwendigkeit einer Rechtfertigung dieses Vorhabens und beginnt mit einer Kri­tik des mechanistischen Denkens, um dann die eigentliche Vergangenheit einzuführen. (a.a.O. S. 10f.)

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Menschliche Selbstformierung im ersten Weltalterdruck

danken über die Zeit erläutert und der Grundgedanke der Weltalter­philosophie eingeführt werden. Dabei bietet es sich an, mit folgendem Zitat zu beginnen, das Schelling selbst an den Anfang seiner entspre­chenden Ausführungen stellt:

»Wie wenige kennen eigentliche Vergangenheit! Ohne kräftige, durch Schei­dung von sich selbst entstandene, Gegenwart gibt es keine. Der Mensch, der sich seiner Vergangenheit nicht entgegenzusetzen fähig ist, hat keine, oder vielmehr er kommt nie aus ihr heraus, lebt beständig in ihr.« (WA 1 Sehr. 11)

Der Gegensatz, der in diesem Zitat zum Ausdruck kommt, besteht zwi­schen einer Vergangenheit, in der wir leben und einer solchen, die wir haben, d.h. die wir aktiv als Vergangenheit gesetzt haben. Die meisten Menschen aber, so Schelling, »scheinen überhaupt von keiner Vergan­genheit zu wissen, als der, welche sich in jedem verfl ießenden Augen­blick durch eben diesen vergrößert , und die offenbar selbst noch nicht vergangen, d.h. von der Gegenwart geschieden ist.« ( W A 1 Sehr. 11) Diese uneigentliche Vergangenheit, in der wir fortleben, anstatt sie zu haben, die also nicht durch uns von dem geschieden ist, was wir als Gegenwart gesetzt haben, entspricht einem Zeitbegriff, der die Zeit als Sukzessivität faßt. Eine als Sukzessivität verstandene Zeit nämlich ist dadurch charakterisiert, daß sie sich »in jedem Augenblick durch eben diesen vergrößert , selbst noch wird, nicht ist.« ( W A 2 Sehr. 119) Sie ist deswegen stets i m Werden begriffen, weil Zeit i n dieser Auffas­sung »durch ein stetiges Verfließen der Zeit=Theile in einander her­vorgebracht wird.« ( W A 2 Sehr. 119) Im Rahmen philosophischer Zeit­theorien findet diese Zeitauffassung ihren Ausdruck i n einem mechanistischen Weltbild (WA 1 Sehr. 10 f.), aber auch i n Theorien von der Zeit als »Vorstellungsweise« bzw. als »bloßes Getriebe unserer Gedanken (...), das aufhörte, wenn wir nicht mehr Tage zähl ten und Stunden.« (WA 2 Sehr. 121 f.) Etwas qualitativ Neues kann es i m Rah­men eines solchen Zeitverständnisses nicht geben: Das Vergangene wiederholt sich vielmehr ständig und wuchert fort in eine Zukunft, die sich in nichts von ihr unterscheidet.

Damit ist hier schon deutlich, daß diejenige Zeitauffassung, die in einem solchen Zeitbegriff zum Ausdruck kommt, einer bestimmten Lebensweise sowie einer bestimmten Zeit- bzw. Selbsterfahrung des Menschen entspricht, in welcher der Mensch über seine Vergangenheit nicht hinauskommt. Von der Freiheitsschrift her kann man diese Le­bensweise - und entsprechende philosophische Positionen - als Verfal-

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Scheidung als zeitgenerierender A k t

lenheit an die gefallene Welt verstehen. Die kritisierte Auffassung von Welt und Zeit wiederum entspricht eben jener Situation, in welche sich der Mensch, sowohl Philosophie und Religion als auch der Freiheits­schrift zufolge, durch seinen Abfall selbst gebracht hat: Die gefallene Welt ist dort kausalmechanisch verfaßt und zeitlich i m Sinne einer als Sukzessivität verstandenen Zeit . 4

Die lähmende und fatalistische Grundstimmung, die einem diese Situation verabsolutierenden Zeit- und Weltverständnis eigen ist, macht Schelling äußerst deutlich, indem er ein »altes Buch« zitiert. In diesem Buch finden wir »auf die Frage, was ist's das gewesen ist?«, die Antwort, »Ebendas, was hernach seyn wird«, und auf die Frage, »was ist's das hernach seyn wird?«, antwortet es uns, »Ebendas, was auch zuvor gewesen ist«. ( W A Fr. 192) Diese Antwort müßte , so Schelling spitz, »diejenigen völlig zufrieden« stellen, »welche die Welt als eine vorwärts u. rückwärts ins Endlose verlaufende Kette von Ursachen u. Wirkungen ansehen.« Daß diese Antwort aber noch nicht alles sein kann, deutet nach Schelling auch das zitierte Buch schon durch das Diktum an, »es geschehe nichts neues unter der Sonne«. 5 (WA Fr. 192) Denn auch wenn diese Antwort richtig wäre, so Schelling, träfe sie doch nur auf das zu, was unter der Sonne passiere, d. h. es träfe nur auf diese Welt und auf diese Zeit zu, die eben dann nur eine große Zeit wäre, die ihre Vergangenheit und Zukunft außer sich hätte. ( W A Fr. 192)

Damit hat Schelling die Grundkonzeption seiner Weltalterphi­losophie umrissen: Die Gegenwart, in der wir leben, verweist in einer noch aufzuklärenden Weise auf eine vorweltliche Vergangenheit und eine nachweltliche Zukunft. Sehr deutlich ist Schelling an diesem

4 Nach Wieland hat Schelling vor 1804 stets Zeit als Sukzessivität, als »unumkehrbare Jetztfolge« verstanden. Mit »Grund und Existenz« habe Schelling 1809 den zwei polaren Grundkräften, die er schon seit den Ideen zu einer Philosophie der Natur in Ansatz gebracht habe, einen »ins Zeitliche gewendeten Sinn« gegeben. (Wieland 1956. S. 16) Wieland ist darin zuzustimmen, daß die Prinzipien von Grund und Existierendem im­mer dann zeitlich zu interpretieren sind, wenn sie in einem wirklichen Entscheiden und Handeln gründen und nicht als Strukturmomente einer logischen Ordnung verstanden werden sollen. Allerdings hat Schelling dies 1809 noch nicht gesehen und in seiner Lehre von der intelligiblen Tat die Entgegensetzung von empirischer, kausalmecha­nischer Sukzession und zeitloser Schöpfung fortgeführt, die schon seine Identitätsphi­losophie gekennzeichnet hat. 5 Vgl. Prediger 1,9: »Was geschehen ist, eben das wird hernach sein. Was man getan hat, eben das tut man hernach wieder, und es geschieht nichts Neues unter der Sonne.«

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

Menschliche Selbstformierung im ersten Weltalterdruck

Punkt in einem von Schröter publizierten Vorentwurf. In diesem soge­nannten »Ersten Conzeptblatt« findet sich folgendes Zitat:

»Die Zeit dieser Welt ist nur Eine große Zeit, die in sich keine wahre Ver­gangenheit noch eigentliche Zukunft hat; die aber ebendarum diese zum Ganzen der Zeit gehörigen Zeiten außer sich voraussetzt.« (WA Fr. 188)

Kurz zuvor hatte Schelling die drei Weltalter, Vergangenheit, Gegen­wart und Zukunft, mit der Bemerkung eingeführt, es gelte das Urwe-sen nicht nur als das Eine zu erkennen, man müsse es auch »nach jenen drey Abtheilungen« betrachten. Denn es sei »Eins, als das Eine und als das Viele, oder als das, was war, was ist und was seyn wird.« (WA Fr. 187) Damit liegt es nahe, die drei Abteilungen als Selbstvermittlung des Einen durch die Vielheit hindurch zu verstehen, wie sie Schelling 1806 als Voraussetzung der Offenbarung des Absoluten skizziert hatte. Das wird i m folgenden Abschnitt zu klären sein. Einstweilen sei darauf aufmerksam gemacht, daß Schelling nur in dem gerade zitierten, nicht zur Veröffentlichung bestimmten Entwurf die Aussage, diese Welt sei nur eine große Zeit, in der nichts Neues passiere, i m Indikativ formu­liert, sie sich also eindeutig zu eigen macht. In den ersten beiden Welt­alterdrucken hingegen verwendet Schelling in diesem Zusammenhang den Konjunktiv. 6 ( W A 1 Sehr. 11, W A 2 Sehr. 120) In welchem Sinne diese Rede nach Schelling zutrifft, wird unten erörter t werden. Sie darf aber auf keinen Fall die Möglichkeit einer Transzendenz dieser Zeit von innen heraus, wie wir sie in einem A k t der Scheidung von uns selbst setzen können, ausschließen. Diese Notwendigkeit, einen Raum für einen solchen Ak t der Selbstüberwindung zu lassen, ist vielleicht der Grund für die Vorsicht, die Schelling an dieser Stelle in den ursprüng­lich zur Veröffentlichung bestimmten ersten beiden Weltalterdrucken übt.

Bislang wurde die eigentliche Zeit nur über den Ak t der Schei­dung von uns selbst eingeführt. Inwiefern Schellings Zeittheorie orga­nisch ist bzw. einen Organismus von Zeiten involviert, ist ebenfalls of­fen geblieben. Bevor darauf einzugehen sein wird, soll i m folgenden zunächst der Ak t der Scheidung von uns selbst näher untersucht wer­den.

6 Genauso W A Fr. 192.

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Scheidung als zeitgenerierender A k t

5.1.2 Schrittweise Scheidung und Zukunft

Wie schon deutlich geworden ist, spricht Schelling in den Weltalter­drucken von »Scheidung«, um denjenigen Ak t zu bezeichnen, durch welchen der Mensch sich selbst eine eigentliche Vergangenheit ge­winnt. ( W A 1 Sehr. 11) Zunächst ist zu klären, ob dieser Begriff als Fortführung desjenigen Konzepts von Scheidung zu verstehen ist, das oben mit Blick auf die naturphilosophische Potenzenlehre und im Zusammenhang mit Schellings Ausführungen zur Konstitution des Geistes interpretiert worden ist. Im Rahmen dieser Interpretation hat­ten wir einen Entschluß über unsere Grundorientierung hinsichtlich der Alternative, uns durch den Eigen- oder den Universalwillen leiten zu lassen, unterschieden von dem Gedanken einer schrittweisen Selbst­formierung, durch die wir unter anderem den in den Stuttgarter Privatvorlesungen geäußerten Gedanken einer prozessualen Selbst­bewußtwerdung sinnvoll deuten konnten. 7 M i t Bezug auf diese Stellen hatten wir argumentiert, daß wir uns i m Prozeß einer schrittweisen Selbstformierung zu unseren dem Gemüt zugehörigen Antrieben und den anderen unserer tierischen Basis entspringenden Eigenschaften an­eignend verhalten, indem wir sie mit Bezug auf unsere Grundorientie­rung und einzelne Ziele, die wir uns aus dieser Orientierung heraus gesetzt haben, modifizieren und in Dienst nehmen.

Dieser Grundgedanke ist, wie zu zeigen sein wird, im ersten Welt­alterdruck in überzeugender Weise expliziert und in eine Gesamtdeu­tung der Wirklichkeit eingefügt. Zunächst führt Schelling die Schei­dung, wie dargelegt, in den Eingangspassagen des ersten Buchs der ersten beiden Weltalterdrucke als zeitgenerierenden Ak t ein, in dem die Fortsetzung des Immergleichen, die Sukzession, überwunden wird. Wenn man, wie Schelling, davon ausgeht, daß unsere Eigenschaften und unsere Orientierung unser Leben und Handeln bestimmen, dann m u ß eine Überwindung dessen, was unser Leben bisher ausgemacht hat, auf alle Fälle eine Veränderung unserer selbst hinsichtlich unserer Eigenschaften und Antriebe beinhalten.

Daß die Scheidung als zeitgenerierender Akt , ebenso wie die Scheidung vor 1811, in der Tat auf die Frage fokussiert ist, ob wir un-

7 Vgl. 3.7.4. Die entsprechenden Stellen in den Stuttgarter Privatvorlesungen finden sich unter SP VII434 ff.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung Ar"

Menschliche Selbstformierung im ersten Weitalterdruck

sere Eigenschaften und Antriebe zum Werkzeug des Universalwillens machen oder nicht, zeigt das folgende Zitat:

»Wie Gott, so wird der Mensch nur durch die Scheidung von seinem Seyn in die höchste Selbstgegenwärtigkeit und Geistigkeit erhöht. Frey ist nur der, dem sein ganzes Seyn bloßes Werkzeug geworden ist. Alles, was noch in der Ungeschiedenheit lebt und so weit es noch in ihr lebt, lebt in der Vergangen­heit. Dem, der sich der Scheidung in sich widersetzt, erscheint die Zeit als strenge, ernste Nothwendigkeit. Für die aber, die, in immerwährender Selbst­überwindung begriffen, nicht nach dem sehen, was hinter ihnen, sondern was vor ihnen ist, wird ihre Macht unfühlbar. Liebe dringt in die Zukunft, denn nur der Liebe wegen wird die Vergangenheit aufgegeben.« (WA 1 Sehr. 84f.)

M i t Sein bezeichnet Schelling ab 1810 generell den Grund, aber auch spezifischer die Natur im Weltprozeß und die naturale Seite des Men­schen. Diese naturale Seite und die ihr entstammenden Antriebe sind also als Werkzeug zu setzen. M i t Bezug auf die Konstitution des Gei­stes und die Scheidung in der Sphäre des Handelns hatten wir gesehen, daß wir uns als Geist zu unseren zunächst bewußtlosen Antrieben an­eignend verhalten, indem wir sie zunächst als unsere erkennen und dann in die Einheit unseres Lebens zu integrieren suchen, und zwar -im Fall des Gelingens - indem wir sie der Liebe unterordnen. 8 Die E i ­genschaften, Fähigkeiten und Motivlagen, die wir in dieser Aneignung gewonnen haben, dürfen nie zum Selbstzweck werden, sondern bleiben bezogen auf die Ausrichtung am Universalwillen. Die Entscheidung zur Scheidung von uns selbst impliziert, wie Schelling betont, daß wir uns von allem, was uns geworden ist, lossagen. ( W A 2 Sehr. 119)

Das Prinzip, das den Menschen dazu antreibt, sich von sich selbst zu scheiden, ist nach wie vor die Liebe bzw. der Universalwille. Der Universalität desselben wegen ist klar, daß hier eine Entscheidung über Gut oder Böse angesprochen ist, die in ihrer Radikalität der Grundent­scheidung, die wir i n der Freiheitsschrift konzipiert fanden, entspricht. Diese Entscheidung kann durchaus den Charakter eines Entschlusses annehmen, durch welchen ein Mensch »sein sittliches Leben (...) mit­ten in der Zeit wie von vorn« beginnt. (Erlangen IX 218) Zugleich macht das gerade angeführte Zitat aber auch deutlich, daß die Selbst­überwindung, von der hier die Rede ist, einen dynamischen Aspekt hat, der Punktuali tät in gewissem Sinne ausschließt und der eine Deutung

8 Vgl. 3.7.4.

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Scheidung als zeitgenerierender A k t

der Scheidung als schrittweise Selbstformierung impliziert, eine Deu­tung also, die tatsächlich unserem Erleben entspricht. Das Zitat enthält in diesem Zusammenhang verschiedene Elemente, die zu interpretie­ren sind:

(1) Offensichtlich denkt Schelling die Zeit als etwas, das uns widerfahren und uns als »strenge, ernste Nothwendigkeit« entgegen­treten kann. Hier könnte man an die Zeit als Wiederholung des Immer­gleichen denken, die eben für den, der nur in ihr lebt, als äußere Macht erscheint, von der sich aber derjenige befreien kann, der sich selbst überwindet. Das ist sicher richtig. Diesem Gedanken ist aber außerdem noch ein anderer Sinn abzugewinnen, der eine andere Zeit- und Ge­schichtsauffassung impliziert: Schelling nimmt nämlich offensichtlich an, daß der Weltprozeß eine bestimmte Richtung aufweist und jeweils neue Anforderungen an uns stellt. Das deutet sich schon an, wenn er bemerkt, daß auch diejenigen beständig in der Vergangenheit leben, »welche immer die Vergangenheit zurückwünschen, die nicht fortwol­len, indeß alles vorwärts geht«. ( W A 1 Sehr. 11) Offensichtlich ist die Geschichte nicht etwas, von dem wir uns einfach nur zu scheiden ha­ben. In ihr sind zu bestimmten Zeiten bestimmte Handlungen und Entscheidungen gefordert, in denen wir auf diese äußere Geschichte reagieren und sie gestalten. Entsprechend kritisiert Schelling diejeni­gen, »die durch ohnmächtiges Lob der vergangenen Zeiten wie durch kraftloses Schelten der Gegenwart beweisen, daß sie in dieser nichts zu wirken vermögen.« ( W A 1 Sehr. 11) Schelling meint offensichtlich, daß diejenigen, die sich in sich selbst nicht zu überwinden vermögen, auch in der äußeren Geschichte kraftlos bleiben und auch den Fortgang der Zeit nicht mitvollziehen und gestalten können. Die geforderte Reak­tion beinhaltet die immer wiederholte Scheidung des Menschen von den Umständen, in denen er lebt und den Eigenschaften, die diesen Umständen entsprechen, so daß unsere Selbstbestimmung schon durch ihre Eingebundenheit in äußere Umstände eine geschichtliche Dimen­sion bekommt.

A n späterer Stelle wird außerdem deutlich, daß Schelling die Ge­schichte als gerichtet und in sich organisch geordnet versteht, sie also wohl auch 1811 als Offenbarungsgeschichte konzipiert. Diese innere Gerichtetheit der Geschichte drückt er mit einem Bibelzitat aus: Be­stimmte Züge der geschichtlichen Wirklichkeit »beweisen (...), daß al­les seine Zeit hat, daß die Zeit nicht ein äußeres, wildes, unorganisches, sondern ein inneres im Großen wie i m Kleinen, immer ganzes und or-

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Menschliche Selbstformierung im ersten Weltalterdruck

ganisches Princip is t .« 9 ( W A 1 Sehr. 84) Wie diese organische Ordnung der Geschichte mit dem von Schelling nach 1811 offensichtlich zu­gleich verteidigten Gedanken, wonach die empirische Welt gefallen und durch Sukzessivität und schlechte, d. h. nicht organische, sondern empirische Notwendigkeit gekennzeichnet ist, zusammenpaßt , ist schwer zu sehen. 1 0 A u f alle Fälle könnte hier ein weiterer Grund für die oben bemerkte Vorsicht Schellings liegen, die dieser bezüglich der Charakterisierung dieser Welt als eines durch Sukzessivität bestimm­ten Weltalters übt.

Der e rwähnten Gerichtetheit der Geschichte entspricht nach Schelling ein in uns selbst liegendes zeiterzeugendes Prinzip, dem wir folgen müssen, soll unser Leben gelingen. Auch durch diesen Gedan­ken ist also eine schrittweise Selbstformierung des Menschen impli­ziert:

»Das Geheimniß alles gesunden und tüchtigen Lebens besteht unstreitig dar-inn, sich die Zeit nie äußerlich werden zu lassen und mit dem Zeiterzeugen­den Princip in sich selber nie in Zwiespalt zu kommen. Denn der selbst Innige wird von der Zeit getragen; der äußerliche trägt sie, oder nach dem bekannten Wort, den Wollenden führt, den Nichtwollenden zieht sie.« (WA 1 Sehr. 84)

M i t dem zeiterzeugenden Prinzip ist die Liebe gemeint, die ja als auf Entwicklung drängendes Prinzip fungiert.

(2) Damit ist auch schon angeklungen, wie Schelling das Verhält­nis des in Scheidung von sich selbst begriffenen Menschen zur Zukunft denkt. 1 1 Die Scheidung nämlich zielt auf »höchste Selbstgegenwärtig-keit« (WA 1 Sehr. 84), wie wir das schon für die Stuttgarter Privatvor-

' Das Bibelzitat entstammt dem Buch Prediger Salomon. (Prediger 3,1) Als Beispiel für die Züge, die uns von der organischen Geordnetheit der Zeit überzeugen sollen, können folgende Sätze dienen: »Wie oft verlangt oder erfleht menschliche Ungeduld einen be­schleunigten Gang der Weltentwicklung, indeß der allein Weise zögert, und die Welt das ganze Maß der Schmerzen tragen läßt, ehe die versöhnende Geburt erfolgt! Lange Zeitalter hindurch fühlen ganze Völker sich unwohl und doch kraftlos, ihr Schicksal zu ändern, in eine bessere Zeit durchzubrechen. (...) Was läßt lange Zeiten hindurch ge­wisse Eigenschaften, Talente oder Bestrebungen des Geistes todtenähnlich schlummern, bis sie, wie durch einen plötzlichen Frühling geweckt, aus diesem Winterschlaf erwa­chen (...).« (WA 1 Sehr. 84) 1 0 Vgl. 5.2.2. 1 1 Das Verhältnis zur Zukunft kann, wie Wieland richtig bemerkt, natürlich nicht so verstanden werden, daß wir uns im zeitstiftenden Akt von der Zukunft scheiden. Den Zukunftsbezug in der Scheidung denkt auch Wieland im Sinne einer Offenheit für »jedes künftige Sich-entschließen«. (Wieland 1956. S. 40)

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Scheidung als zeitgenerierender A k t

lesungen dargelegt hatten, nämlich auf eine bewußte und vollständige Aneignung aller Eigenschaften, Antriebe und Fähigkeiten des M e n ­schen im Dienst des Universalwillens. Der oben zitierte Gedanke eines einmaligen und sozusagen isolier- und identifizierbaren Entschlusses des Menschen zur Neugründung seiner sittlichen Existenz drückt da­mit die Grundintention jedes einzelnen Entschlusses aus, in welchem wir dem zur Entwicklung drängenden Prinzip folgen und uns von uns selbst scheiden: Jeder einzelne Ak t ist Scheidung aus Liebe und geht auf die vollständige Scheidung von uns selbst und die Aneignung und In-dienstnahme des ganzen Menschen in der Unterordnung unter den Universalwillen. Dieses Ziel aber kann nach Schelling nicht unmittel­bar erreicht werden. Es kommt nach Schelling vielmehr darauf an, dem zeitzeugenden Prinzip in uns, der Liebe, die uns zur Entwicklung treibt, je und je zu folgen und uns von dem, was wir bisher erreicht haben, immer wieder zu scheiden. Hier ist unschwer die dem Grundmodell von Entwicklung eigene Schritthaftigkeit zu erkennen. Der gerade zitierte Entschluß, sein Leben neu zu beginnen, verhält sich zu dieser Schritthaftigkeit so, daß er, auch wenn man ihn im Sinne einer Revo­lution der Gesinnung oder einer Neugeburt denken und isolieren kann, als Entschluß zu immer wiederholter Selbstüberwindung zu verstehen, in welcher er immer wieder zu aktualisieren und zu bewähren ist.

Dabei ist, so kann man wenigstens annehmen, das Zie l zwar for­mell eindeutig, zugleich ist aber prinzipiell offen, was mit diesem Zie l inhaltlich denn genau gemeint sein soll: Die Grundentscheidung zur Scheidung von uns selbst, durch welche ein Horizont » immerwähren­der Selbstüberwindung« eröffnet wird ( W A 1 Sehr. 85), läßt uns nicht oder nicht notwendigerweise dieses oder jenes konkrete Ziel ins Auge fassen. Der Zukunftsbezug ist vielmehr über das Gesagte hinaus ge­kennzeichnet dadurch, daß der Mensch, der sich von sich selbst schei­det, »einer eigentlichen Zukunft entgegensieht«. (WA 2 Sehr. 119.) Das Entgegensehen bezeichnet die Offenheit bezüglich dessen, was von ihm gefordert ist und in welche Richtung er sich entwickeln soll. Diese Offenheit kommt auch darin zum Ausdruck, daß es ihm »leicht wird (...), etwas vor sich zu bringen«. ( W A Fr. 202)

Nach dieser Untersuchung der Scheidung des Menschen von sich selbst soll i m folgenden die Einbindung dieser Scheidung in das göttliche Le­ben bzw. in den Weltprozeß untersucht werden. Dabei wird sich außer­dem zeigen, daß die qua Scheidung vollzogene Entwicklung des M e n -

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Menschliche Selbstformierung im ersten Weltalterdruck

sehen Analogien zum göttlichen Leben aufweist. Daher wird in einem weiteren Schritt die menschliche Selbstformierung nochmals mit Blick auf diese Analogie zu erör tern sein.

5.2 Das System der Weltalter

Sowohl in Bezug auf Philosophie und Religion als auch i n Bezug auf die Freiheitsschrift kann man eine außerempir ische Ebene aufzeigen, auf der Schelling die Bedingungen des Weltprozesses und der in den Weltprozeß eingebundenen menschlichen Entwicklung ansetzt. Diese Ebene wird von Schelling 1804 als Selbstobjektivierung Gottes im Kos­mos der Ideen und 1809 als Momente des göttlichen Lebens vor der Schöpfung beschrieben. Während für Philosophie und Religion zu konstatieren war, daß die eigentliche Entwicklung die qua Fall gesetzte zeitliche, empirische und nichtige Welt voraussetzt, bestand für die Freiheitsschrift die Notwendigkeit, eine Entwicklung i m Intelligiblen anzusetzen. Diese Notwendigkeit wird im Rahmen der Weltalterphi­losophie durch die bereits angedeutete Zeittheorie aufgebrochen, und zwar, indem Schelling das Konzept der Scheidung als zeitgenerierend interpretiert und eine eigentliche, durchlebte Entwicklung von einer bloß ideellen Ordnung des möglicherweise Wirklichen unterscheidet.

Die Voraussetzungen von Entwicklung werden, wie schon in der Freiheitsschrift, i m außerwelt l ichen Leben Gottes angesiedelt und von Schelling nun unter der Überschrift »Die Vergangenheit« verhandelt, während die Entwicklung selbst in die Gegenwart fällt . 1 2 Diese Ent­wicklung ist auf eine Zukunft gerichtet, in welcher der Widerspruch, der die Entwicklung vorantreibt, geschlichtet und die entfaltete Wirk­lichkeit mit Gott vermittelt ist. Die Bezeichnungen »Vergangenheit«, »Gegenwart« und »Zukunft« können freilich in die Irre führen: Was etwa unter »Vergangenheit« entfaltet wird, sind die e rwähnten Vor­aussetzungen der Zeitlichkeit und des Zeitlichen, die nur in Bezug auf die Gegenwart als vergangen bezeichnet werden können. Dasselbe gilt

1 2 Die Philosophie, die vor allem »die Herkunft und die ersten Ursachen der Dinge zu erkennen strebt«, beschäftige sich eben mit der vorweltlichen Zeit. (WA Fr. Sehr. 189) Hier ist deutlich, daß die Beschäftigung mit der Vergangenheit dieselbe Funktion hat wie die aus Philosophie und Religion bekannte Lehre vom Absoluten und der Herkunft der Dinge. (PR VI 17) Wie Schelling das Absolute und die Herkunft der Dinge kon­zipiert, hat sich allerdings massiv verändert.

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für die Zukunft, die auch nur aus Sicht der Gegenwart Zukunft ist. Die Zeit selbst hebt nämlich erst mit dem Weltalter der Gegenwart an, und zwar, indem sie die erwähnten, zunächst ewigen Bedingungen von Ent­wicklung als vergangen setzt. Das Gesagte gilt freilich nicht für alle Voraussetzungen von Entwicklung: Schelling führt i m ersten Buch der Weltalter auch eine Voraussetzung von Entwicklung ein, die Lau­terkeit, die nie zur Vergangenheit werden kann und die deswegen zwar zum Vorweltlichen, nicht aber zum Vergangenen gehör t . 1 3 (WA Fr. 208)

Im folgenden soll diese Skizze ausgefüllt und die einzelnen M o ­mente des göttlichen Lebens sowohl vor als auch im Durchgang durch die Welt entfaltet werden. 1 4 Hinsichtlich des göttlichen Lebens werden sich große Übereins t immungen zur Freiheitsschrift ergeben. Die ein­zelnen Momente dieses Lebens werden von Schelling nun allerdings in Beziehung auf Zeitlichkeit interpretiert. Ähnlich wie in der Freiheits­schrift gilt, es Gott, sofern er diesem Durchgang unterworfen ist, zu unterscheiden von Gott selbst. Anschließend soll Schellings Theorie einer organischen Weltzeit betrachtet werden.

5.2.1 Die Momente des göttlichen Lebens

In der folgenden stark verkürzenden Wiedergabe der einzelnen M o ­mente des göttlichen Lebens soll versucht werden, die aus dem Psycho­logischen genommenen Ausdrücke Schellings so weit wie möglich zu

1 3 Insofern die Zukunft als aufhebende Vermittlung der Zeit mit der Ewigkeit zu ver­stehen ist, kann man mit Tilliette sagen, daß Vergangenheit und Zukunft transzendent seien. (Tilliette 1992. Bd. 1. S. 599) 1 4 Der erste Weltalterdruck enthält anders als die beiden anderen Drucke neben der Vergangenheit und der erwähnten Antizipation der Zukunft auch Ausführungen zur Gegenwart. Die beiden folgenden Weltalterdrucke begnügen sich mit der Entfaltung der Voraussetzung der Schöpfung und der Schilderung des Entschlusses zur Schöpfung. Den verschiedenen Zeitaltern entsprechen verschiedene Erkenntnisweisen: Die Zukunft insbesondere kann nur geahndet werden. (Vgl. die zu Beginn aller Weltalterdrucke wie­derholte Unterscheidung von Wissen, Erkennen und Ahndung: W A 1 Sehr. 3, W A 2 Sehr. 111, W A 3 VIII199) Die Ahndung kann als kontrollierte Antizipation verstanden werden: Diejenigen Elemente, die sich bei der Erklärung der Gegenwart bewährt haben, werden in die Zukunft fortgeschrieben. Umgekehrt wird diese Fortschreibung bestätigt dadurch, daß sich die Gegenwart mit Hilfe der als vergangen bezeichneten Elemente einerseits und der antizipierten Zukunft andererseits verstehen läßt.

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Menschliche Selbstformierung im ersten Weltakerdruck

vermeiden und die einzelnen Momente der »Vergangenheit« als Expli­kation der logischen Voraussetzungen von Entwicklung zu begreifen. 1 5

Insbesondere die Übergänge von einem Moment zum nächsten werden von Schelling allerdings häufig so konzipiert, daß eine Übersetzung der psychologischen Terminologie i m skizzierten Sinne nicht oder nur schwer möglich ist. N u n könnte man mit Recht sagen, daß die Verwen­dung psychologischer Termini der Methode des Menschlichnehmens entspricht. Sie wären dann keine Metaphern, Plausibilisierungen oder ähnliches, sondern gerade das Tragende der Entwicklung. Dennoch soll im folgenden soweit wie möglich versucht werden, ohne diese Ar t des Menschlichnehmens auszukommen und den Anthropomorphismus auf das zu beschränken, was wir i m zweiten Kapitel als Schellings M e ­thode expliziert hatten, d. h. auf die Anwendung des internen Dualis­mus auf die verschiedenen Bereiche des Wirk l ichen . 1 6

5.2.i.x Die Lauterkeit

Dieses Moment, das von Schelling auch als »Wille, der nichts will«, bezeichnet wird, entspricht dem Ungrund in der Freiheitsschrift, d.h. dem Moment, das allem Gegensatz vorausliegt. 1 7 ( W A 1 Sehr. 15) Ge­genüber der Freiheitsschrift, in welcher Schelling den Ungrund nur über eine Abkoppelung von allem Gegensatz definiert, nimmt Schel­ling in den Weltaltern eine nähere Bestimmung des Ungrundes vor, indem er eine Verneinung bzw. Bejahung, die sich auf das Innere be­zieht, unterscheidet von einer Verneinung bzw. Bejahung, die sich auf das Äußere bezieht: Eine Verneinung bezogen auf das Äuße re sei i m höchsten Sinne Bejahung des Inneren. Das Höchste sei in dem Sinne vollkommen eigenschaftslos, daß es keine Eigenschaften habe, an de­nen es faßlich würde. In sich aber sei es »höchste Wesentlichkeit«. ( W A 1 Sehr. 15) A n anderer Stelle sagt Schelling, es sei alles. Damit ist aber nicht gemeint, daß es als solches in sich differenziert und damit

1 5 Daß Schelling für die einzelnen Momente vor Beginn des Weltprozesses davon spricht, er erkläre alles aus Wundern, drückt aus, daß hier kein Moment auf das Wirken eines anderen rückführbar ist. (Brito 1987. S. 205) Eben deswegen ist in der zeitlichen Interpretation auch alles ewig. Die Erzählung gibt hier also keine Geschichte, keine Genese wieder. 1 6 Zu Schellings vorsichtiger Einführung und Verteidigung des Anthropomorphismus vgl. 2.2. 1 7 In dieser Bezeichnung stimmen alle Weltalterfragmente überein. Vgl. auch W A 2 Sehr. 131 ff., WA 3 VIII 234 ff.

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Das System der Weltal ter

für sich offenbar wäre, sondern nur, daß es die Kraft zu allem habe und alles beherrsche. ( W A 2 Sehr. 133 f.)

M i t diesen zwei Charakterisierungen, nämlich Kraft zu allem zu haben und alles zu beherrschen, wird auf den Fortgang und den A b ­schluß des Systementwurfs angespielt. Das, was hier nur als Lauterkeit zu bezeichnen ist, tritt i m folgenden auch in anderen Gestalten auf, die aus ihm möglich sein müssen. (WA Fr. 208 f.) Zugleich ist es wichtig zu sehen, daß die Lauterkeit in aller Entwicklung zwar wirkt, zugleich aber aller Entwicklung enthoben ist. Sie wirkt, wie einleitend analy­siert, als das Widerspruchslose, das in aller Entwicklung als durchwir­kende Einheit und Ziel vorausgesetzt ist. Diese Einheit ist »das A und das O, der Anfang und das Ende« des Weltprozesses.1 8 (WA 2 Sehr. 134) Aus der Freiheitsschrift kennen wir diese Figur bereits: der von aller Entwicklung freie Ungrund zeigt sich der Schöpfung gegenüber als »die allgemeine, gegen alles gleiche und doch von nichts ergriffene Einheit«, als Liebe. (FS VII 408)

Daß die Lauterkeit in ihrer Reinheit in kein Geschehen verwickelt wird, obgleich sie als das Angestrebte in allem Geschehen präsent ist, impliziert im Rahmen der Weltalterphilosophie, die Entwicklung zeit­lich denkt, daß die Lauterkeit die Ewigkeit ist. (WA 1 Sehr. 75) Ihre von der Zeit unergriffene Anwesenheit in der Zeit drückt Schelling aus, i n ­dem er sagt, sie sei, »was in aller Zeit über der Zeit ist.« (WA 2 Sehr. 134) Eine nähere Bestimmung der Ewigkeit verweist auf das folgende Moment: Die Lauterkeit ist, so Schelling, »nicht einmal als das Ewige anzusehen, indem sie vielmehr die Ewigkeit selber ist.« (WA 1 Sehr. 75) Damit soll ausgedrückt werden, daß die Lauterkeit zwar Voraussetzung einer zeitlichen, durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft struk­turierten Entwicklung ist, aber so, daß sie in keiner Weise in ein zeit­liches Verhältnis eingehen kann. 1 9 Das gilt für das folgende, von Schel­ling als »das Ewige« bezeichnete Moment, wie zu zeigen sein wird, nicht. In ihm sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bereits i n ­sofern vorhanden, als in ihm die Wirklichkeit der Dimensionen der Zeit negiert wird, d.h. sie sind in ihm gleichzeitig oder eingewickelt.

1 8 Keinesfalls darf sie aber mit dem Ersten, Mittleren und Letzten innerhalb des Welt­prozesses identifiziert werden, obgleich sie auch das ist, was in diesen drei Gestalten ihrer selbst das Eine ist. (WA Fr. Sehr. 208 f.) Das Letzte ist hier also auch nicht die Lauterkeit selbst, sondern die Vermittlung des Weltprozesses mit der Lauterkeit. 1 9 Sie hat Schelling im Sinn, wenn er sagt: »Nicht alles Vorweltliche kann darum auch zum Vergangenen gerechnet werden.« (WA Fr. 208)

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 191

Menschliche Selbstformierung im ersten Weltalterdruck

( W A 1 Sehr. 75) Zugleich kann dieses Moment in gewissem Sinne als vergangen gesetzt werden. Darauf wird noch einzugehen sein.

5.2.1.2 Die Kontraktion und das erste Wirkliche

Die äußere Verwirklichung der Liebe erfordert, wie dargelegt, zum einen ein ihr entgegenwirkendes Prinzip, zum anderen aber eine durch dieses Prinzip gesetzte, zu differenzierende Grundlage von Entwick­lung. In der Freiheitsschrift wurde diese Voraussetzung in der Figur der Sehnsucht expliziert, die außerdem als das Setzende der anfäng­lichen Natur als der ersten Grundlage der äußeren Offenbarung Gottes fungiert. Im ersten Weltalterdruck wird dieses Prinzip als verneinen­der, zusammenziehender oder kontrahierender Wil le bezeichnet, der sich in der Lauterkeit erzeugt. Dabei tritt er mit der Lauterkeit oder der Liebe in ein zweifaches Verhältnis, das Schelling durch einen Ver­gleich mit dem menschlichen G e m ü t und einem sich in diesem erzeu­genden Wil len erläutert: Der kontrahierende Wil le erzeugt sich im Ge­m ü t und wird insofern »von ihm umfangen und gehalten.« (WA 1 Sehr. 22) Der Wil le erzeugt sich im G e m ü t aber nicht als etwas frem­des, sondern stellt eine Weise des Auftretens desselben dar: Die Lauter­keit selbst verhält sich in diesem Wil len als zusammenziehend. (WA 1 Sehr. 22, 60) Zugleich kann man sagen, daß das G e m ü t durch diesen Antrieb seiner selbst okkupiert und gebunden ist. ( W A 1 Sehr. 22, 60) In diesem ersten Aspekt des Verhaltens der Lauterkeit oder der Liebe in der Kontraktion verhält sich die Liebe als latentes Subjekt, der zusam­menziehende Wil le als das äußere, wirksame Objekt, wobei mit Objekt hier die äußere Bestimmung des Subjekts gemeint ist. M i t Subjekt ist hier das bezeichnet, was eigentlich ist, sich aber nicht als dieses zeigt, eben weil es sich hier durch das bestimmen läßt, i n dessen Organisati­on und Bestimmung es sich normalerweise zeigt. A l s Subjekt bezeich­net Schelling nämlich in der Regel das Existierende, das sich zeigt, i n ­dem es seinen Grund zum Medium seines Auftretens macht.

Im zweiten Verhältnis liegen die Dinge anders: Dieses Verhältnis bringt zum Ausdruck, daß der Wil le , der das G e m ü t bindet, die Existenz, das Hervortreten der Liebe wi l l . Insofern ist der Wil le zur Existenz als das, was er ist, nämlich als Subjekt, auf die Liebe als dem in der Verneinung eigentlich angezielten Objekt gerichtet. In diesem zweiten Verhältnis fungiert der verneinende Wil le also als das wirken­de Subjekt, eben als dasjenige, das auf Realisierung der Liebe zielt. In beiden Momenten aber ist der verneinende Wil le das Wirkende, der

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Das System der Weltal ter

zugleich als Band zwischen beiden Momenten eintritt. Das qua Kon­traktion gesetzte Produkt bezeichnet Schelling als das erste Wirkliche oder als erstes Existierendes. In ihm ist die Lauterkeit als Liebe insofern seiend, als sie etwas anderem entgegensteht. (WA 1 Sehr. 22, 60) Die beiden hier entfalteten Verhältnisse werden von Schelling als das Sei­ende und das Sein bezeichnet. 2 0

Daß Kontraktion und erstes Wirkliches Voraussetzungen von Entwick­lung sind, faßt Schelling in dem Diktum: »Alle Entwickelung setzt Ein-wickelung voraus.« (WA 1 Sehr. 23) Einige Zeilen später fährt er fort: »Alles Seyn ist Contraction und die zusammenziehende Grundkraft die eigentliche Original= und Wurzelkraft der Natur.« (WA 1 Sehr. 23 f.) M i t der anfänglichen Natur und dem primum Existens, das Schel­ling in der Darstellung als Grundlage des Naturprozesses konzipiert, hat das erste Wirkliche die völlige äußere Wirkungslosigkeit gemein, in welcher freilich zwei einander entgegenwirkende Prinzipien ver­einigt sind. Das begründet die Funktion des ersten Wirklichen als Grundlage, Ermöglichendes von Entwicklung: Das primum Existens, wie Schelling es 1801 denkt, enthält die Möglichkeit aller Potenzen, eben weil in ihm, so die oben vertretene Interpretation, das reelle Pr in­zip mit dem ideellen Prinzip synthetisiert ist, und zwar so, daß das ide­elle Prinzip dieses erste Produkt wie auch die folgenden Synthesen des reellen und des ideellen Prinzips transzendiert. Aus ihm können die verschiedenen Stationen der Entwicklung von Bestimmtheit entfaltet werden.

Die Möglichkeit der Entwicklung einer in sich gestuften, sich steigern­den Wirklichkeit im primum Existens interpretiert Schelling 1811 als Gleichzeitigkeit, Simultaneität:

»Dieselben Kräfte, deren Zumalseyn und Zusammenwirken das innere Leben ausmacht, sind es auch, welche nach einander hervortretend als die Principien des äußerlich sich entwickelnden Lebens und seiner auf einanderfolgenden Perioden erscheinen. Dieselben Stufen, die sich in der Simultaneität als Po­tenzen des Seyns betrachten lassen, erscheinen in der Succession als die Peri­oden des Werdens und der Entwicklung.« (WA 1 Sehr. 24f.)

2 0 Zu den Verhältnissen im primum Existens vgl. Marquet 1973. S. 453 f.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

Menschliche Selbstformierung im ersten Weltalterdruck

Damit ist schon hier deutlich, daß Schelling, anders als noch 1809, das wirkliche, zeitliche - und, wie zu zeigen sein wird, zeitgenerierende -Geschehen von einer unzeitlichen Ordnung von Möglichkeiten unter­scheidet. M i t den Potenzen, die als Perioden des Werdens hervortreten, sind hier zum einen die in der inneren Struktur des pr imum Existens zu unterscheidenden Verhältnisse von Liebe und kontrahierender Kraft, also Seiendes und Sein gemeint. Z u m anderen aber denkt Schel­ling ein zeitliches Verhältnis des hier Gleichzeitigen auch zwischen den beiden Prinzipien, die im ersten Wirkl ichen ins Verhältnis gesetzt sind und Seiendes und Sein konstituieren, also zwischen Liebe und kontra­hierender Kraft, und das sowohl innerhalb des Seienden als auch inner­halb des Seins. Damit sind auch innerhalb der beiden Prozesse, in de­nen Seiendes und Sein zu Geisterwelt und Natur entfaltet werden, Steigerungen anzusetzen, wie Schelling sie in seiner Naturphilosophie konzipiert hat und die in sich auch eine Ordnung von Potenzen aufwei­sen. 2 1 (WA 1 Sehr. 58 ff.)

5.2.1.3 Die Weisheit

Das nächste Moment macht diese Ordnung sichtbar. 2 2 U m dieses M o ­ment zu verstehen, m u ß man sich vor Augen führen, daß die beiden Prinzipien letztlich auf dasselbe gehen, nämlich auf eine äußere Offen­barung Gottes: Der kontrahierende Wil le ist der Wi l l e Gottes zur Existenz; die Liebe, als die sich das ursprüngliche Wesen gegenüber die­sem Wil len erweist, zeigt sich an späterer Stelle ebenfalls als das Beja­hende seiner äußeren Offenbarung. In dieser äußeren Offenbarung

2 1 Für den Naturprozeß etwa deutet Schelling eine magnetische Periode der Erde an, von der sie in die elektrische übergegangen sei. (WA 1 Sehr. 25) 2 2 Sein Sinn könnte darin liegen, eine Blindheit der Entwicklung zu vermeiden: Um die Entwicklung als bewußte Schöpfung denken zu können, m u ß Schelling einen Moment der Reflexivität oder des Selbsterkennens Gottes denken. Dieses Moment wurde in der Freiheitsschrift über die innere Reflexion Gottes gewonnen. Im ersten Weltalterdruck konzipiert Schelling den Spiegel, in dem Gott sich erblickt, als Weisheit. Allerdings ist zu konstatieren, daß Schelling die Weisheit nicht in diesem Sinne nutzt: Die Freiheit Gottes, sich der Schöpfung der Welt zu verschließen, tritt erst später, nämlich mit der Zeugung ein und ist nicht der Lauterkeit zuzuschreiben, sondern dem Vater. (Vgl. 5.3) Habermas sieht hier eine Aufgabe der Absolutheit Gottes zugunsten seiner Geschicht­lichkeit, die er dann aber schon mit dem zweiten Weltalterdruck zugunsten seiner Ab­solutheit verabschiedet habe. (Habermas 1954. S. 372 ff.) Habermas ist entgegenzuhal­ten, daß man, insofern Gott als Lauterkeit und als Weisheit jenseits des Weltprozesses bleibt, auch 1811 nicht von einem Aufgehen Gottes in der Geschichte sprechen kann.

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Das System der Weltalter

sind beide Wil len in ihrem Gegeneinander notwendige Prinzipien einer schrittweisen Entwicklung und können sich deswegen durchaus einig werden und zusammenwirken. 2 3 ( W A 1 Sehr. 58 f.) Diese Einigkeit bei­der Prinzipien äußer t sich in der Weisheit derart, daß die verschiedenen möglichen Konstellationen, in welche beide Prinzipien treten können, durchgespielt werden, und zwar so, daß keine Konstellation dauert, sondern immer wieder in die Einheit des ersten Wirklichen zurück­genommen wird. Schelling spricht hier von einem »Wechselspiel« von Lauterkeit und zusammenziehender Kraft und der »mit sich selbst gleichsam spielende(n) Thätigkeit des contrahirenden Princips«, das al­so nicht als starres Band zu verstehen ist. ( W A 1 Sehr. 30)

Hier verleiht Schelling den beiden Prinzipien eine Spontaneität, die nur noch mit psychologischem Vokabular, nicht mehr aber mit dem Begriffsapparat der Naturphilosophie beschreibbar ist, obgleich Schelling ja auch hier am Begriff der Potenz festhält. Die Konstellatio­nen sind entsprechend als Sichtbarmachung und tentative Verwirk­lichung der schon i m primum Existens liegenden Potenzen zu verste­hen, die hier als bloße Möglichkeiten, Vorformen gedacht sind, in denen Gott alles erblickt, »was einst seyn sollte«. (WA 1 Sehr. 31) Schelling bezeichnet sie als »Ur=Bilder« und vergleicht sie mit den pla­tonischen Ideen, die entsprechend Schellings Grundkonzeption nicht als »bloße Verstandeswesen« zu deuten sind, da sie »nicht ohne alles Physische gedacht werden« können. (WA 1 Sehr. 31)

$.2.1.4 Die Rotation

Im nächsten Moment tritt ein weiterer Zug der beiden Prinzipien her­vor, der sich wiederum aus ihrer Funktion für die äußere Offenbarung Gottes und die Denkbarkeit von Entwicklung ergibt: Beide nämlich sind zur Existenz Gottes notwendig. Diese Notwendigkeit drückt sich in ihrer Äquipollenz aus: Beide können gleichermaßen beanspruchen, wirkend zu sein, ja die Wirklichkeit des einen fordert die Wirklichkeit des anderen. ( W A 2 Sehr. 174) Soll also nur eines der entgegengesetz­ten Prinzipien wirkend sein, so folgt aus der Äquipollenz der Wider-

2 3 Das Zusammenwirken der beiden Willen, von dem an der zitierten Stelle (WA 1 Sehr. 58 f.) die Rede ist, gehört freilich einem anderen Moment an, nämlich dem der tatsäch­lichen Entwicklung. Die Einigkeit der Prinzipien zeigt sich aber schon hier, nämlich darin, daß sie gemeinsam die Möglichkeiten, d. h. die Urbilder des Wirklichen, konsti­tuieren.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung

Menschliche Selbstformierung im ersten Weltalterdruck

spruch der Prinzipien. ( W A 3 VIII 340) Dieses »Verhältnis des Wider­spruchs« ist zu lösen durch das »Verhältnis des Grundes«, d.h. das eine Prinzip m u ß zum Grund des anderen werden bzw. beide müssen in ver­schiedenen Potenzen als wirkend und damit in ein zeitliches Verhältnis gesetzt sein. ( W A 2 Sehr. 174 f.) Diese Lösung freilich ist hier noch nicht in Sicht. 2 4

Das gegenwärtige Moment entfaltet vielmehr den Widerspruch, und zwar von der Situation her, in welche die Liebe i m ersten Wirk­lichen gebunden ist und zunächst auch gebunden sein m u ß . Im ersten Wirklichen aber ist die Liebe latent, obgleich sie doch als das eigentlich Existierende gesetzt sein soll: Sie ist dasjenige, auf dessen Verwirk­lichung die »Absicht der Offenbarung« ziel t . 2 5 ( W A 1 Sehr. 54) Von sich selbst her aber kann die Liebe nicht wirksam sein, sie m u ß viel­mehr in ein Verhältnis zu einem ihr entgegenwirkenden Wil len ge­bracht sein, und zwar durch diesen Wil len selbst. Da sie aber in diesem Verhältnis, wie gesagt, nicht das Existierende ist, m u ß die Lauterkeit die Einheit des ersten Wirklichen aufbrechen und sowohl aus dem er­sten oben skizzierten Verhältnis, dem Seienden, ausgehen als auch aus dem zweiten, dem Sein. ( W A 1 Sehr. 34) Der Widerspruch ist damit präziser gefaßt, nämlich als Widerspruch zwischen der Forderung, »daß das Existirende sich scheiden und doch zugleich existirend, d.i . Eins bleiben sollte.« ( W A 1 Sehr. 55)

Die Unerläßlichkeit beider Voraussetzungen der Wirksamkeit der Liebe, die in den beiden Bewegungen ausgedrückt ist, spiegelt sich in einem Wechsel, einem sich immer mehr steigernden Streit zwischen Expansion und Kontraktion, den Schelling auch als Rotation be­schreibt. ( W A 1 Sehr. 35 ff.) Die Bewegung der Lauterkeit oder Liebe bewirkt die Expansion oder Scheidung der Kräfte. Die kontrahierende Kraft wiederum verteidigt die notwendige Voraussetzung der Existenz der Liebe, nämlich ihren notwendigen Zusammenhang mit einem ihr entgegenwirkenden Prinzip, d. h. diese Kraft m u ß u m der Existenz der

2 4 Vergauwen verkürzt und verzerrt die gesamte Gedankenentwicklung, wenn er das erste Wirkliche daraus hervorgehen läßt, daß sich der Wille zur Existenz zum Grund und Subjekt der Liebe mache. (Vergauwen 1975. S. 200) Daß der verneinende Wille letztlich auf die Existenz der Liebe zielt, ist ganz richtig, daß dabei unter anderem das erste Wirkliche gesetzt wird, ist auch richtig, nur bedarf es eben einer Reihe von Zwi­schenschritten, bis dieses Verhältnis erreicht ist. 2 5 Andernfalls könnte sie hier als Grund des kontrahierenden Willens dienen und das Verhältnis des Grundes wäre bereits erreicht.

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Das System der Weltal ter

Liebe willen dieser Expansion entgegenwirken und das erste Wirkliche in seinem Sein behaupten. 2 6 ( W A 1 Sehr. 34 f.)

In der Expansion wird durch die Scheidung der Kräfte eine innere Zeit gesetzt, die freilich immer wieder zurückgenommen, »durch neue Contraction, durch Simultaneität bezwungen« wird. (WA 1 Sehr. 77) Diese Zeit findet keinen Anfang, der Anfang bliebe, und hebt also i m ­mer wieder von neuem an.

$.2.1.5 Zeugung, Entwicklung und die Einheit im Geist

Wie der Streit geschlichtet und eine Entwicklung begonnen werden kann, die nicht wieder zurückgenommen wird, wurde schon angedeu­tet, nämlich indem die Prinzipien in ein Verhältnis treten, in dem das eine dem anderen als Grund seines Auftretens, seiner Existenz, dient: Die Liebe als scheidendes Prinzip und das kontraktive Prinzip müssen also ein entsprechendes Verhältnis annehmen. (WA 2 Sehr. 174 f.) Schelling löst diese Forderung in einer komplexen Weise auf. Dabei geht er von der oben zitierten Forderung aus, wonach »das Existirende sich scheiden und doch zugleich existirend, d. i . Eins bleiben sollte,« oder anders gesagt, »die Zweyhei t« , d.h. die Scheidung, »soll seyn, und die Einheit nichtsdestoweniger bestehen.« (WA 1 Sehr. 55) Diese Forderung läßt sich nur erfüllen, »wenn das einende Princip eben da­durch, daß es in sich bliebe, das scheidende Princip setzte, und eben dadurch, daß es das aufschließende Princip setzte, in sich selbst als zu­sammenziehendes bestünde.« ( W A 1 Sehr. 55) Diese Setzung der Liebe kann keine Setzung sein, durch die etwas außer Gott gesetzt würde, d. h. »Gott m ü ß t e sich in ihm nur verdoppeln, es müßte nur eine ande­re, zwar von der des Existirenden, aber nicht von ihm selbst verschie­dene Persönlichkeit Gottes seyn.« ( W A 1 Sehr. 55) Dabei bliebe Gott als Existierender in seiner Ganzheit, d. h. Gott als Existierender müß te die zweite, selbständige Persönlichkeit seiner selbst zeugen, denn ein »Setzen eines andern außer sich, wobey das Setzende in seiner Ganz-

2 6 Insofern entfaltet die Rotation gerade einen Widerspruch, der um der Existenz der Liebe willen besteht. Wenn Schwarz also für die Weltalter behauptet, Schelling habe den »gleichsam »natürlichen« (Anführungsstriche im Original, O. F.) Vorrang« des idealen Prinzips aufgeben, so kann das allenfalls in dem Sinne gelten, daß sich dieser Vorrang nicht von selbst behauptet, sondern durch eine Tat in entschiedene Wirklichkeit zu überführen ist. (Schwarz 1935. S. 128) Gemeint ist die Zeugung der zweiten Persön­lichkeit und der Entschluß der Wirkung dieser Persönlichkeit zu folgen. (Vgl. 5.2.1.5 und 5.3)

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 197

Menschliche Selbstformierung im ersten Weltalterdruck.

heit bleibt, ist (...) Z e u g u n g . « 2 7 ( W A 1 Sehr. 56) Die zweite Persönlich­keit Gottes wird von Schelling als Sohn bezeichnet, der durch den Va­ter, genauer aber durch die zusammenziehende Urkraft, gezeugt wird, also durch diejenige Kraft, die das Existierende gründe t und in seinem Sein zu bewahren sucht. ( W A 1 Sehr. 58)

Im Zeugungsverhäl tnis zeigt sich die Angewiesenheit der Liebe auf diese Kraft darin, daß sie durch diese Kraft als unabhängiges und wirksames Prinzip gesetzt wird, denn »die reine Lauterkeit für sich, vermag weder zu zeugen noch zu schaffen; dazu bedurfte sie der zu­sammenziehenden als der allein wirkende und zeugenden Kraft«. ( W A 1 Sehr. 58) Wenn die Liebe aber als unabhängig gesetzt ist, braucht sie die zusammenziehende Kraft nicht mehr aufzuheben, ja sie darf sie nicht aufheben, eben weil ihre Existenz als eines unabhän­gigen Prinzips auf die Zeugung angewiesen ist, die deswegen »ewig fortwirken« m u ß , damit »ewig der Sohn aus dem Vater gezeugt und ewig die väterliche Kraft durch den Sohn entfaltet werde«. ( W A 1 Sehr. 58) Diese Entfaltung aber beinhaltet eine schrittweise Überwindung der väterlichen Kraft, die in Bezug auf den Sohn als vergangen, d. h. als relativ nichtseiend, gesetzt wird, so daß das oben geforderte, im Satz des Grundes ausgedrückte Verhältnis verwirklicht ist . 2 8 ( W A 1 Sehr. 58 f.)

Während der Vater als die Einheit der Potenzen anzusehen ist, insofern sie durch den Sohn differenziert und entfaltet wird, ist der Sohn als dieses differenzierende Prinzip zu verstehen. Der Geist wiederum wird von Schelling als bewußte und entfaltete Einheit der beiden Potenzen verstanden. ( W A 1 Sehr. 66 f.) Die beiden Potenzen des Vaters, Seien­des und Sein, werden also durch das in der Schöpfung wirkende Wort, den Sohn geschieden und zu zwei Welten entfaltet, nämlich zu Natur und Geisterwelt. ( W A 1 Sehr. 61 f.) Dabei wird der zusammenziehende Wil le in beiden Momenten schrittweise zu immer größerer Differen­ziertheit überwunden oder, wie Schelling sich ausdrückt, als vergangen gesetzt. ( W A 1 Sehr. 62 ff.) Daß Schelling hier immer noch seine natur­philosophische Potenzenlogik im Sinn hat, in welcher sich die einzel-

2 7 Zur Verwendung des Ausdrucks »Zeugung« vgl. Marquet 1973. S. 460. 2 8 Der Satz des Grundes, der den Widerstreit löst, ist also hier nicht auf das Verhältnis von Vater und Sohn anzuwenden, sondern auf das Verhältnis von Sohn und väterlicher Kraft.

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Das System der Weltal ter

nen Potenzen durch das quantitative Verhältnis der beiden Prinzipien unterscheiden, zeigt sich darin, daß sich auch 1811 »alle Dinge der Ar t nach nur durch den Grad unterscheiden, in welchem das bejahende Princip in ihnen entwickelt und aus dem Nichtseyenden erhoben ist«. (WA 1 Sehr. 86) Die »allmählige Überwindung« der väterlichen Kraft ist also »Eins mit der successiven Hervorbringung der Dinge nach A b ­theilungen, Stufen und Unterschieden, wobey wiederum nothwendig das Niedere dem Höheren vorangeht.« (WA 1 Sehr. 86) Dieser Prozeß schreitet in beiden Potenzen, d. h. in Natur und Geisterwelt fort, bis in beiden die Liebe das allein Existierende, die Verneinung jeweils nur ihr Träger ist. Die Einheit beider ist dann eine freiwillige und bewußte Ein­heit Selbständiger, eben Liebe, und insofern die genaue Umkehrung der durch den verneinenden Wi l l en gesetzten Einheit des ersten Wirk ­lichen. 2 9 (WA 1 Sehr. 64) Die differenzierende Wirkung der Liebe, wel­che die beiden Welten voneinander und in sich scheidet, ist damit Vor­aussetzung der Aktualisierung der Liebe als Verbindung dieser beiden Welten. 3 0 ( W A 1 Sehr. 60 f., 64 f.)

In einem anderen Sinne begreift Schelling die Einheit von Seien­dem und Sein, wie gesagt, zugleich als Geist. Das hängt damit zusam­men, daß sich die beiden Welten als Subjekt und Objekt verhalten, die ihre Einheit i m Geist haben. Insofern findet sich hier äußerlich ver­wirklicht, was die reine Lauterkeit in sich - und unbewußt - war, näm­lich eben die Einheit von Subjekt und Objekt. (WA 1 Sehr. 67) Hier aber ist die Einheit der wirklichen Entgegensetzung wegen eine be­wußte Einheit, d. h. eine solche, die sich als Einheit von Subjekt und Objekt, Geisterwelt und Natur erkennt und damit über beide erhebt. 3 1

Schelling bezeichnet diesen Geist als absolut, weil er sich sowohl über das Seiende als auch über das Sein erhebt und darin zu einer selbstän­digen Person Gottes wird. Er unterscheidet sich darin vom Geist, sofern

2 9 Das Band im ersten Wirklichen war die Selbstheit, das Band in der Vollendung des Weltprozesses hingegen ist die Liebe. Das zweite Verhältnis muß eben das zweite sein, denn »der Natur nach ist die Vereinigung durch Selbstheit die erste u. anfängliche, indem ein jedes Wesen erst für sich selbst, als ein eignes besonders daseyn muß, um etwas aus sich zu entwickeln, das höher ist denn es selbst.« (WA Fr. Sehr. 240) Dieses Höhere, die in beiden existierende Liebe, ist zugleich das Verbindende beider. 3 0 Diese Vermittlung ist, wie schon in den Stuttgarter Privatvorlesungen, die Aufgabe des Menschen. (WA 3 VIII 261) 3 1 In den Stuttgarter Privatvorlesungen hat Schelling einen ähnlichen Gedanken, wenn er sagt, daß Gott in der Einheit von A (Geisterwelt) und B (Natur) »ein Objekt, einen Spiegel« habe. (SP VII425)

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Menschliche Selbstformierung im ersten Weltalterdruck

er auf der Basis von Natur existiert, d. h . sowohl von der Geisterwelt als auch, wie noch zu zeigen sein wird, vom menschlichen Geist. (WA 1 Sehr. 67)

Damit denkt Schelling 1811 eine innerweltliche Trinität, in welcher die göttlichen Personen in einem dynamischen Verhältnis stehen und aus­einander hervorgehen. Dabei sollen sie freilich in ihrem Verhältnis un­tereinander nicht der Zeit unterliegen. Schelling verweist hier auf die »gewöhnlichen Bestimmungen der christlichen Lehre, daß die Ord­nung der Personen in Gott keine Ordnung der Zeitfolge, noch selbst der Unterordnung sey.« Damit aber sei ein anderes Folgeverhältnis nicht ausgeschlossen. ( W A 1 Sehr. 72) Für das Verhältnis von Vater und Sohn weist Schelling darauf hin, daß der Vater nur Vater ist, in­dem er den Sohn zeugt, so daß das Verhältnis ein wechselseitiges und unzeitliches ist. Schelling zitiert in diesem Zusammenhang eine »den Alchemisten bekannte Rede: des Sohnes Sohn ist der des Sohnes Vater war.« ( W A 1 Sehr. 59) Diese Zeugung wie die scheidende Wirkung des Sohnes sind zeitbegleitende, nicht aber dem Zeitverlauf unterliegende Bewegungen in Gott, durch welche beständig Zeit generiert wird . 3 2

Ähnliches gilt für den Geist, der in der Gegenwart, also während der Entwicklung der Welt, noch nicht objektiv gesetzt ist, aber als latent schon vorhandenes Ziel des Weltprozesses diesen strukturiert. (WA 1 Sehr. 82, 86 f.) Die Bewegungsweisen der drei Personen sind also zeit­generierend und durchwirken den Weltprozeß. Insofern sind sie un­zeitlich und stehen auch unter einander in keinem zeitlichen Verhält­nis. Hier ist bezogen auf die Wirkungsweise des Vaters noch zu unterscheiden zwischen dem Vater, inwiefern er den Sohn zeugt, und der väterlichen Kraft, inwiefern sie im Weltprozeß überwunden wird. Unzeitlichkeit kann man hier nur für die Zeugung behaupten.

Außerdem sind die drei Personen, mit Ausnahme des Sohnes, in anderer Weise zeitlich: So unterscheidet Schelling zwar bezogen auf den Vater zwischen der väterlichen Kraft, die nach und nach überwun­den wird, und dem Vater selbst, der durch den Sohn und im Sohn schrittweise entfaltet werde, ohne aber übe rwunden oder als vergangen gesetzt zu werden. 3 3 ( W A 1 Sehr. 59, 72) Damit ist der Vater aber inso­fern in einem zeitlichen Prozeß begriffen, als er in diesem Prozeß

Die Schöpfung ist, wie Wieland bemerkt, creatio continua. (Wieland 1956. S. 86 f.) Entsprechend schließt Schelling auch ein Potenzverhältnis zwischen den göttlichen

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Das System der Wel ta l ter

einem Wandel unterliegt, ja dieser Wandel ist übe rhaup t erst die Zeit. Für den Geist gilt außerdem, daß seine objektive Wirklichkeit in der Vollendung der Scheidung zukünftig ist. Damit kann für die innerwelt­liche Trinität die Unzeitlichkeit der drei göt t l ichen Personen nur auf ihre jeweilige Wirkungsweise bezogen werden. Anders kann es sich mit der außerweltl ichen Trinität verhalten, die von Schelling 1811 al­lerdings nicht behandelt wird . Sie ist i n der Weltalterphilosophie bzw. in der Zeit, in der Schelling an den Weltalterfragmenten arbeitet, frei­lich thematisch präsent: A u c h dort erörter t Schelling wiederholt die spezifische A r t und Weise, in der Gott sich selbst Grund ist, und zwar in sich und unabhängig von der Wel t . 3 4 Zugleich ist in der Figur der Weisheit wenigstens so etwas wie eine innere Differenziertheit und Durchsichtigkeit Gottes gedacht, wodurch eine Blindheit Gottes vor Er­schaffung der Welt vermieden und die von der Kosmogonie u n a b h ä n ­gige Bewußtheit Gottes gerettet ist.

5.2.2 Die organische Weltzeit

Die zeitliche bzw. zeitbezogene Interpretation der verschiedenen M o ­mente des göttlichen Lebens wird von Schelling i n einem eigenen A b ­schnitt des ersten Weltalterdrucks eingehend behandelt. ( W A 1 Sehr. 73 ff.) Vieles, was Schelling dort ausführt , wurde mit Bezug auf die einzelnen Momente des gött l ichen Lebens bereits angesprochen. Im folgenden soll Schellings Zeittheorie bezogen auf die zeitliche Entwick­lung Gottes näher erörter t werden. Dabei kann auf das eingangs skiz­zierte Grundmodell von Entwicklung verwiesen werden: Die alle Ent­wicklung durchwirkende Einheit wird 1811 als Lauterkeit bezeichnet und als Ewigkeit charakterisiert, während die väterliche, kontrahieren­de Kraft als das Prinzip, welches die Entwicklung hemmt, zu verstehen war. Der Sohn ist das auf Entwicklung drängende Prinzip. Wie schon i n seiner Naturphilosophie und i n der Freiheitsschrift denkt Schelling 1811 außerdem einen nach außen völlig unbestimmten Grund von Entwicklung, der in dieser entfaltet wird, wobei das die Entwicklung hemmende Prinzip den jeweiligen Stand der Entwicklung stabilisiert,

Personen aus. (WA 1 Sehr. 72 f.) Diese Stelle zeigt, daß man eben nicht wie Brito sagen kann, der Vater sei »la force de la premiere unite«. (Brito 1987. S. 203) 3 4 Vgl. WA Fr. Sehr. 199 und Denkmal VIII 71.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 201

Menschliche Selbstformierung im ersten Weltatterdruck

während das auf Entwicklung drängende Prinzip immer neue Entwick­lungsschritte anstößt, in denen das, was bisher das Existierende war zum Grund der Existenz eines höher geordneten Existierenden wird. A b 1810 wird dieses Verhältnis zeitlich interpretiert. A l s vergangen wird das apostrophiert, was Grund der Existenz des Höheren ist, also was relativ auf dieses nichtseiend ist. Das erste Vergangene, so könnte man mit Schelling sagen, ist die Verschlossenheit des ersten Wirk­lichen und in eins damit die Rotation. 3 5

Wie schon in Schellings Naturphilosophie und in der Freiheits­schrift ist das erste Wirkliche kein Schritt in der Entwicklung, sondern lediglich Voraussetzung von Entwicklung, die i m ersten Moment der­selben schon überwunden ist: Der Grund ist jeweils organisierter, an­geeigneter Grund. Damit wird verständlich, warum Schelling sagen kann, daß die Zeit durch ihren Mittelpunkt, die Gegenwart nämlich, gesetzt und von ihm her entfaltet werde. ( W A 1 Sehr. 79) Die Zeit be­ginnt, indem etwas in sich zunächst Unzeitliches, die vollständige Ver­schlossenheit des ersten Wirklichen, unmittelbar als vergangen gesetzt wird. A u f diese Weise bricht die Zeit aus der Ewigkeit hervor. 3 6 (WA 1 Sehr. 78 f.)

Der Gesamtprozeß zielt, wie dargelegt, auf eine vollständige Verwirk­lichung der Liebe und entfaltet die i m anfänglichen Grund bzw. im er­sten Wirklichen liegenden Möglichkeiten. Die vollständige Scheidung ist in jedem Scheidungsschritt als Zukunft präsent, und zwar zunächst insofern, als in jedem Scheidungsschritt der immer neu auftretende Gegensatz der beiden Prinzipien überwunden werden soll. Das, worauf jeder zeitsetzende Scheidungsschritt geht, ist damit die Überwindung des zeitgenerierenden Widerspruchs. Das, was i m jeweiligen Entwick­lungsschritt als seiend oder existierend gesetzt ist, ist jeweils Gegen­wart, während das, worauf sich dieses Gegenwärt ige etabliert, wie ge-

3 5 Zur Vergangenheit der Rotation siehe WA 1 Sehr. 53. 3 6 Schelling beansprucht, auf diese Weise die Schwierigkeit, einen Anfang der Zeit zu denken, gelöst zu haben, der im Rahmen eines mechanischen Denkens unlösbar bleiben muß. Jeder Anfang der Zeit setzt nämlich »eine schon gewesene Zeit« voraus. (WA 1 Sehr. 79) In einem mechanischen Denken m u ß diese Zeit ihrerseits »als wirklich ver­flossen gedacht werden«. Damit aber setzt sie ihrerseits eine bereits verflossene Zeit voraus, so daß man nie zu einem Anfang der Zeit gelangt. In Schellings Zeittheorie hingegen wird die Verschlossenheit des ersten Wirklichen »gleich als Vergangenheit (als absolute Gewesenheit) ausgeschieden.« (WA 1 Sehr. 79)

202 ALBER THESEN Oliver Florig

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Das System der Weltal ter

sagt, als Vergangenheit gesetzt ist. Damit sind in jedem Scheidungs­schritt, d.h. in jeder Zeit, alle drei Dimensionen der Zeit anwesend: die Zeit ist »in jedem Augenblick ganze Zeit, d.h. Vergangenheit, Ge­genwart und Zukunft« sind in jedem Augenblick zumal. ( W A 1 Sehr. 80)

Das gilt nach Schelling aber noch in anderer Weise: Die Zukunft ist nämlich nicht nur, wie dargelegt, qua angezielter, endgültiger Über­windung des Widerspruches präsent. Schelling konzipiert den Welt­prozeß nämlich so, daß in ihm die i m ersten Wirklichen simultan ge­setzten Potenzen schrittweise hervortreten. ( W A 1 Sehr. 24 f., 81 u. 87) Als ganze oder als »absolute Zeit« bezeichnet Schelling dann auch die zukünftige, erfüllte oder letzte Zeit, in welcher alle Potenzen wirklich, die Entwicklung abgeschlossen ist. ( W A 1 Sehr. 81, 87) Nach Schelling sind in jedem Scheidungsschritt diese erfüllte Zeit und damit auch alle künftigen Scheidungsschritte als Zukunft gesetzt.3 7 Entsprechend faßt er den Gedanken, daß jede einzelne Zeit die ganze Zeit ist, dann auch so, daß jede einzelne Zeit nicht nur strukturell, sondern auch inhaltlich dasselbe enthält . Jede einzelne unterscheidet sich von den anderen Zei­ten nur danach, »daß sie zum Theil als vergangen setzt, was diese als gegenwärtig, und zum Theil als gegenwärtig, was jene noch als zu­künftig setzte«. (WA 1 Sehr. 81) Eben deswegen kann Schelling seine Zeittheorie auch als organisch begreifen: Jeder Moment setzt die Idee des Ganzen voraus. Ein »solches Verhältniß des Einzelnen zu einem Ganzen, bey welchem jenes zu seiner Wirklichkeit dieses schon als vor­handen in der Idee voraussetzt«, ist organisch. (WA 1 Sehr. 81)

Das Ganze, das hier vorausgesetzt ist, ist eben die Vollendung der Entwicklung, die fortschreitet, »bis die ganze, alles befassende, der Ewigkeit gleiche, Zeit in einem Wesen entwickelt worden«. ( W A 1 Sehr. 87) M i t diesem Wesen ist, bezogen auf die Natur, der Mensch gemeint, in welchem die Natur in »Berührung mit dem Geistigen« zur Ruhe kommt. (WA 3 VIII 260 f.) Im gesamten Weltprozeß ist diese Beruhigung durch die Vermittlung von Natur und Geisterwelt durch

3 7 Hier scheint eine Differenz zur menschlichen Scheidung von sich selbst zu bestehen: Mit Bezug auf die Scheidung des Menschen von sich hatten wir die Anwesenheit der Zukunft als in jedem Scheidungsschritt mitgemeinte, aber nicht vollständig erreichte Selbstdurchsichtigkeit und Indienstnahme der eigenen Antriebe, Fähigkeiten und Eigenschaften gedeutet, wobei wir außerdem vermutet hatten, daß die inhaltliche Kon­kretisierung der so angezielten Zukunft offen bleibt. Für den Weltprozeß gibt es diese Offenheit nach Schelling nicht.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 203

Menschliche Selbstformierung im ersten We/toterdruck

den Menschen bedingt, die wiederum voraussetzt, daß auch in der Gei­sterwelt die Liebe das Herrschende geworden ist. ( W A 1 Sehr. 65 f., W A Fr. Sehr. 263) Darauf wird noch näher einzugehen sein. Warum aber ist die »alles befassende Zeit«, also die Zeit, in der alle Stufen des Welt­prozesses durchlaufen und alles Mögliche wirklich ist, der Ewigkeit gleich? Nun, in dieser Vollendung ist der Widerspruch, der die Zeit generiert, zu einem Ende gekommen, weil das Zie l des Weltprozesses, die äußere Offenbarung Gottes als Geist und als Liebe im Sinne einer Verbindung Selbständiger, wirklich geworden ist. Damit ist äußerlich wirklich, was Gott innerlich ist, so daß die Verbindung von Geisterwelt und Natur auch die Welt mit Gott verbindet. 3 8 In der Vollendung des Weltprozesses tritt in einem gewissen Sinne Simultanei tät ein, in der, wie Schelling sich recht blumig ausdrückt, die »Früchte verschiedener Zeiten in Einer Zeit zusammen leben .« 3 9 ( W A 1 Sehr. 87) Diese Simul­taneität kann die Ordnung der Zeiten in sich nicht aufheben: Jede Zeit enthält die vorangegangenen Zeiten vielmehr als Werkzeug und Ver­gangenheit in sich. Was aber fortfällt, ist die Zukunft, d. h. das weitere Fortschreiten. In der Vollendung der Zeit ist damit etwas verwirklicht, was in der Ordnung der Potenzen logisch schon vorweggenommen war, nämlich eine vollständige Ordnung, die man von Anfang bis Ende überschauen kann. Die Aktuali tät der Zeit setzt also das Durchlaufen der Zeit, die »Allmählichkeit der Entwicklung«, voraus und besteht nur, solange diese Allmählichkeit durchschritten wird. ( W A 3 VIII208)

3 8 Eine solche Ewigkeit enthält die Zeit als unterworfene in sich. (WA 3 VIII260) Dabei darf in Gott, sofern er die Ewigkeit selbst ist, freilich kein Wandel gesetzt sein. Sonst wäre Gott, sofern er die Ewigkeit selbst ist, nämlich doch in ein Verhältnis zur Zeit gesetzt. Das aber schließt Schelling explizit aus. (WA Fr. Sehr. 209) Damit ist klar, daß dieses Verhältnis zur Ewigkeit ein Verhältnis von Seiten der Welt ist, die sich zur Ewig­keit als das ihr Unterworfene verhält. Das schließt nicht aus, daß sich Gott zur Welt als Liebe, nämlich als Fülle verhält: Auch diese Fülle ist ja eine, die der Welt nicht bedarf. 3 9 Wenn Schelling davon spricht, daß die verschiedenen Früchte »in concentrischer Stellung, wie Blätter und Werkzeuge einer und der nämlichen Blüthe, um Einen Mittel­punkt versammelt sind« (WA 1 Sehr. 87), so scheint dies die Stufenfolge der Zeiten und ihrer Früchte aufzuheben. Was mit diesem Bild gesagt sein soll, ist jedenfalls schwer zu sehen. Man könnte meinen, daß das, was etwa in Bezug auf den Menschen und das Ganze des Weltprozesses Werkzeug, Vergangenheit ist, das organische Leben etwa, in sich eine Offenbarung der Fülle ist und insofern auch als selbständige »Frucht« fort­besteht.

ALBER THESEN Oliver Florig

Das System der Welta l ter

Der hier skizzierte Gedanke einer Steigerung innerhalb der Gegenwart scheint denjenigen Stellen in den Weltaltern, in denen die Gegenwart als durch mechanische Zeit charakterisierte Zeit, die eben deswegen in sich nur eine Zeit ist, massiv zu widersprechen. Die beiden Gedanken kann man nur vereinbaren, indem man die als Sukzessivität zu fassen­de Zeit als Folge eines Falls versteht. 4 0 Schelling läge damit in diesem Punkt auf der Linie, die er schon 1804,1809 und auch im Dialog Clara vertreten hat. 4 1 (Clara IX 29 ff.) Wie schon i m zweiten Kapitel darge­legt, denkt Schelling dort eine durch den Fall gesetzte Hemmung des Fortwachsens der produktiven Natur in die Geisterwelt. Ein solches Übergehen der Natur in die Geisterwelt hat Schelling auch in den Weltalterfragmenten konzipiert. (WA Fr. Sehr. 253) Die durch den Fall verursachte Hemmung führt dazu, daß die Natur ihre Produkte immer wieder zerstört und immer wieder von vorne zu produzieren beginnt. Die Folge ist die von Schelling immer wieder beschriebene uneigentli­che Zeitlichkeit einer steten Wiederkehr des Gleichen. Erst eine durch den Fall geprägte Wirklichkeit wird also von jener Zeit- und Welt­erfahrung getroffen, die durch die Wiederholung des Immergleichen gekennzeichnet ist. Aber auch hier gilt, wie oben dargelegt, daß der Mensch sich selbst überwinden und seinem Leben eine neue Richtung geben kann, die zwar erst nach seinem Tod vollendet wird, die er aber schon jetzt in der Scheidung von sich selbst einleiten kann. (SP VII 474 ff.) Die eingangs skizzierte Fassung der Scheidung als Scheidung von der Sukzessivität ist dann an den Fall gebunden, während eine denkbare gelingende Selbstformierung ohne Sukzessivität auskäme.

4 0 Die Notwendigkeit, einen Fall in die Weltalterphilosophie aufzunehmen, sieht auch Habermas, der zu Recht bemerkt, daß Schelling diesen deswegen nicht behandelt habe, weil der Fall nicht ins erste Buch der Weltalter gehöre. (Habermas 1954. S. 368) Nach Iber ist die menschliche Geschichte in der Weltalterphilosophie durch den Fall gesetzt. Sie repräsentiere das Zeitalter der Gegenwart. (Iber 1999. S. 213 f.) Die Aufgabe der Weltalter sieht er in der »Kritik der Negativität des gegenwärtigen Zeitalters durch die Konstruktion einer höheren Geschichte des Absoluten«, (a. a. 0.214) 4 1 Vgl. 2.3.5.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 205

Menschliche Selbstformierung im ersten Weltalterdruck

5.3 Menschliche Selbstformierung in Analogie zum gött l ichen Leben

In Schellings Denken ab 1809 erläutern sich menschliches und gött­liches Leben wechselseitig. 4 2 Insbesondere i m ersten Weltalterdruck finden sich zahlreiche Stellen, an denen Schelling entsprechende Ver­gleiche anstellt, die freilich in der Regel der Er läuterung des göttlichen Lebens dienen sollen. Z u m anderen findet sich i m ersten Weltalter­druck wenigstens eine längere Passage, in der über weite Strecken die sittliche Entwicklung des Menschen i m Vordergrund steht, ohne daß Gottes Entwicklung jedoch aus dem Blick geriete. Dieser Textabschnitt soll i m folgenden vor allem interpretiert werden. Dabei soll gelegent­lich auf Stellen zurückgegriffen werden, an denen Schelling das gött­liche und das menschliche Leben vergleicht. Nicht alle Momente des göttlichen Lebens, für die Schelling solche Analogien herstellt, sollen dabei berücksichtigt werden, sondern nur die, die nöt ig sind, u m Schel­lings Theorie menschlicher Selbstformierung, wie sie in der Weltalter­philosophie zur Vollendung kommt, herauszuarbeiten.

Das erste Moment, das man mit Schelling in der menschlichen Ent­wicklung identifizieren kann, entspricht der Kontraktion, d. h. der Set­zung des ersten Wirklichen:

»Die Contraction des ersten wirkenden Willens, durch welche die uranfäng­liche Lauterkeit sich selber mit Einem Seyn überkleidet, ist mit der uner­gründlichen That in Vergleich zu setzen, wodurch das menschliche Wesen sich vor aller einzelnen oder zeitlichen Handlung zu einem innerlich be­stimmten Wesen zusammenzieht, oder sich das gibt, was wir Charakter in ihm nennen.« (WA 1 Sehr. 93)

Der Ausdruck »Charakter« sowie die Bemerkung, der Charakter liege den zeitlichen Handlungen voraus, erinnert stark an Kants Lehre vom intelligiblen Charakter und Schellings Rezeption derselben in der Frei­heitsschrift. Liest man etwas weiter, scheint diese Nähe noch größer zu werden:

»Ich glaube, daß nicht leicht jemand annehmen wird, er selbst oder irgend ein Mensch habe sich seinen Charakter gewählt; und dennoch unterläßt keiner, ihm die aus seinem Charakter folgende Handlung als eine freye zuzurechnen.

4 2 Vgl. 2.2.

206 ALBER THESEN Oliver Florig

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Menschliche Selbstformierung in Analogie zum göt t l ichen Leben

Hier erkennt also jeder eine Freyheit an, die in sich Nothwendigkeit, nicht Freyheit in jenem späteren Sinne ist, die nur da stattfindet, w o Gegensatz ist.« (WA 1 Sehr. 93)

Der entsprechende Charakter fungiert, wie das aus der Freiheitsschrift bekannte intelligible Wesen, als Regel von Handlungen. In der Ableh­nung einer Wahl des Charakters wird die Kri t ik am Gedanken der W i l l ­kür- oder Wahlfreiheit wiederholt. Dabei scheint Schelling die oben diskutierte Frage, ob wir in unserer Selbstbestimmung Gründe berück­sichtigen oder nicht, zugunsten einer völligen Grundlosigkeit der Cha­raktersetzung zu entscheiden. Das jedenfalls folgt, wenn man die Parallelstelle von 1810 heranzieht, an der es über die als Kontraktion gedachte Charaktersetzung heißt: »(. . .) von einer Handlung der abso­luten Freiheit läßt sich kein weiterer Grund angeben; sie ist so, weil sie so ist, d. h. sie ist schlechthin und insofern nothwendig .« 4 3 (SP VII429) M i t Blick auf die eben genannten Zitate scheint auch klar zu sein, daß diese Charaktersetzung in sich einfach ist und keinerlei Entwicklung in sich schließt, denn wie sonst sollte sie allen Gegensatz ausschließen.

Aber eben im Zusammenhang mit dem Ausschluß allen Gegensatzes steht der Verweis auf eine »Freyheit in jenem späteren Sinne«. ( W A 1 Sehr. 93) In dieser Bemerkung scheint eine Bruchstelle auf, die ein an­deres Bild entstehen läßt. M i t Blick auf die Kontraktion in Gott war auch nichts anderes zu vermuten, denn diese setzt ja zunächst nur eine nach außen völlig unwirksame Einheit, in welcher »noch alles unge­trennt beisammen ist, was sich hernach einzeln aus ihm evolvirt«, wie es in den Stuttgarter Privatvorlesungen über das qua Kontraktion ge­setzte Bewußtlose in Gott wie im Menschen heißt. (SP VII432) In die­ser Schrift folgt nun eine Scheidung, in welcher Gott bzw. der Mensch sich mit seinem Bewußtsein über sein Bewußtloses erhebt. (SP VII 432 ff.) Die 1810 sehr deutliche Analogie zwischen menschlicher und göttlicher Entwicklung trägt auch 1811. Der Charakter, so Schelling, ist »nur der ewige Grund, den der Wil le sich selbst macht, damit der andere aus dem ersten gezeugte Wil le einen Gegenstand habe, den er aufschließe und zu immer höherer Gestaltung entwickele.« ( W A 1 Sehr. 94) M i t dem zweiten Wil len ist, wie in der göttlichen Offenba-

4 3 Im ersten Weltaltdruck charakterisiert Schelling so eine Handlung, die aus dem »Un­grund der Ewigkeit« hervorbricht, meint damit aber eine einzelne grundlose Handlung. (WA 1 Sehr. 93)

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A -

Menschliche Selbstformierung im ersten Weltalterdruck

rung in der Welt, die Liebe gemeint, welche das erste Wirkliche schritt­weise aufschließt und entfaltet.

Diese zweite Persönlichkeit, wie Schelling mit Bezug auf Gott sagt, oder das zweite Ich, schafft erst die oben schon angedeutete »Freyheit in jenem späteren Sinne« ( W A 1 Sehr. 93), d.h. die eigent­liche, moralische Freiheit, die ja, wie erläutert , Geistigkeit zur Voraus­setzung hat. ( W A 1 Sehr. 97 ff.) Der kontrahierende Wil le ist nach Schelling nämlich nur insofern frei, »inwiefern ein Wesen auch in dem, daß es heftig einer Sache begehrt, frey heißen kann«. ( W A 1 Sehr. 97) Die Freiheit, die innerlich Notwendigkeit ist und von der man in der Freiheitsschrift annehmen konnte, daß sie sich in einem einfachen, motivlosen Setzungsakt vollendet habe, ist also keine Freiheit im vol­len Sinn. Frei i m eigentlichen Sinn sind wir, und das war nach der oben vertretenen Deutung auch schon für die Freiheitsschrift der Fall, erst, indem wir uns zu unserem Charakter verhalten und ihn in einen be­w u ß t angenommenen verwandeln. 4 4 Erst in diesem Prozeß der Ent­wicklung unseres Charakters entsteht der eigentliche, d. h. manifeste Charakter, mit dem wir uns nach außen zeigen. Im zweiten Weltalter­druck kann Schelling entsprechend nicht nur die ursprüngliche, unent-faltete Bestimmtheit unserer selbst Charakter nennen, sondern auch das »Gepräge« eines Menschen, »die Eigenthümlichkeit seines Thuns und Seyns«, kurz den Menschen sofern er Person ist. ( W A 2 Sehr. 177)

Die Verortung eigentlicher Freiheit in unserem bewußten Umgang mit unseren Antrieben und dem Gepräge, das wir uns im Umgang mit ihnen nach außen geben, scheint freilich den oben zitierten Äuße run ­gen Schellings zuwider zu laufen. Dort hatte Schelling ja eine Verant­wortung für unseren Charakter behauptet, nicht insofern wir uns zu ihm frei verhalten, sondern insofern er auf einen grundlosen Setzungs­akt zurückgeht. ( W A 1 Sehr. 93, SP VII430) N u n nimmt Schelling ganz offensichtlich auch an, daß unsere Charaktersetzung i m eben skizzier­ten Sinne zurechenbar ist, d. h. wir haben eine erste Setzung unserer selbst zu denken, in der wir uns schon als innerlich bestimmtes Wesen setzen; innerlich, weil in dieser gedachten Charaktersetzung keine manifeste Bestimmtheit, sondern lediglich der nach außen bestim-

4 4 Es ist also verkürzend zu sagen, Schelling habe 1810 den Gedanken der Selbstsetzung aufgegeben und durch das Konzept der Selbstbildung ersetzt. (Shibuya 2005. S. 155) Die Selbstsetzung ist vielmehr Voraussetzung der Selbstbildung.

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Menschl iche Selbstformierung in Analogie zum göt t l i chen Leben

mungslose Grund von Entwicklung gesetzt wird. Dieser Grund ist of­fensichtlich als innerlich hinsichtlich möglicher Charakteristika des Menschen schon bestimmt gedacht. Gemeint sind wohl diejenigen A n ­triebe, Eigenschaften und Fähigkeiten, die im Verlauf unserer Entwick­lung zum Vorschein kommen, so daß wir uns zu ihnen verhalten kön­nen. Dabei können wir sie aber nicht, und das ist der Sinn des Gedankens der Charaktersetzung, als etwas Fremdes begreifen. Sie sind vielmehr unsere Antriebe, die wir auf einer vorreflexiven Ebene bejahen.

Dieser Charakter aber, und hier kommt die zweite Freiheit ins Spiel, ist, wie dargelegt, als Charakter erst in einem Prozeß der Entfal­tung unserer selbst sichtbar, d. h. dann, wenn wir uns zu ihm verhalten und in Beziehung zu den Forderungen des Universalwillens setzen. Hier fällt die eigentlich moralische Entscheidung, ob wir unsere Eigen­schaften und Antriebe durch den Universalwillen in Dienst nehmen lassen und uns von ihnen als dem, was wir sind, scheiden oder nicht. Ein »der Verirrung ausgesetztes Wesen, wie der Mensch ist,« kann »dieses andre Ich, anstatt es in sich wirken zu lassen, zum Mi t t e l für seine Zwecke« machen. ( W A 1 Sehr. 97) Hier also taucht erst in einem eigentlichen Sinne die Freiheit zum Guten und zum Bösen auf. Schel­ling kann auf diese Weise der Intuition Rechnung tragen, daß wir uns auch für Antriebe, die wir durchaus nicht bewußt gewollt haben, ver­antwortlich fühlen und sie als Impulse unserer selbst betrachten, daß wir aber andererseits der Meinung sind, erst dann eigentlich frei zu sein, wenn sie uns bewußt sind. Problematisch ist hingegen, wenn das­selbe für Begabungen oder ähnliches, ja gar für körperliche oder geisti­ge Defekte gilt, die wir nicht für zurechenbar halten würden und zu denen wir uns nicht in derselben Weise frei verhalten können, wie etwa zu unseren Antrieben - vorausgesetzt, diese sind nicht übermächtig.

Das zweite Ich oder die Liebe, die im Menschen als scheidendes Prinzip wirkt, entspricht dem A 4 oder der Seele, wie wir sie aus den Stuttgarter Privatvorlesungen kennen. Die Wirkung der Seele bewirkt in der K o n ­stitution des Geistes die Scheidung und Entgegensetzung des Bewußt ­losen und des Bewußten im Menschen und drängt uns zugleich, uns von dem Niederen in uns, das uns bewußt geworden ist, zu scheiden. 4 5

Schellings Ausführungen i m ersten Weltalterdruck entsprechen die­sem Grundgedanken: »Die Wirkung des andern Ichs ist die Scheidung

4 5 Vgl. 3.6.3.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung

Menschliche Selbstformierung im ersten Weltalterdruck

des ersten, wodurch es als Seyendes befreyt wird von seinem Seyn und in's Geistige gesteigert.« (WA 1 Sehr. 98) Diese Scheidung ist mit Blick auf die Scheidung von Natur und Geisterwelt im Menschen und mit Blick auf die Stuttgarter Privatvorlesungen als Scheidung von Geist bzw. Bewußtsein und der naturalen, körperlichen Seite des Menschen zu verstehen. In dieser Scheidung, die beständig vollzogen und in der die zusammenziehende Kraft beständig überwunden werden muß , kann das erste Ich »im Akt der Scheidung selbst entweder sich ihr hin­geben, oder die ihm gewordene Freyheit zum Mit te l für sich machen ( . . . ) - und diese Möglichkeit ist es, auf welcher endlich die moralische Freyheit beruht.« ( W A 1 Sehr. 98) Der Mensch, insofern er Geist ist, ist sich der in ihm schon vorhandenen, zusammenziehenden Kraft als Eigenwille bewußt, zugleich ist »ein anderer Wil le ihm angemuthet« . (WA 1 Sehr. 101)

Was gefordert ist, ist der beständig zu wiederholende Entschluß, sich der Scheidung hinzugeben. Diese passive Redeweise darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Hingabe die aktive Entgegen­setzung gegen die eigenen Antriebe und Eigenschaften beinhaltet. Der ursprüngliche Charakter ist, wie Schelling sich ausdrückt, »zu immer höherer Gestaltung« zu entwickeln, ohne daß der Eigenwille und der ursprüngliche Charakter als Träger der Persönlichkeit jemals aufgeho­ben würden. (WA 1 Sehr. 84) Der Charakter ist vielmehr schrittweise so zu formieren, daß der Mensch das gewinnt, was Schelling hier »Mit-theilsamkeit« nennt. Gemeint ist, daß der Mensch Eigenschaften ent­wickelt, durch welche er sich anderen verbinden kann und durch wel­che er kenntlich wird als derjenige, zu dem er sich gemacht hat. (WA 1 Sehr. 84) Insofern diese Entwicklung schrittweise erfolgt, in jedem Schritt aber ein beständiges Nachgeben gegen die auf Scheidung drän­gende Kraft involviert ist, ist hier die geforderte Vereinigung einer schrittweisen Selbstformierung mit dem Gedanken einer Grundent­scheidung über Gut oder Böse so vereinigt, daß letztere in jeder einzel­nen Scheidung immer mitvollzogen wird. Der Mensch lebt, wenn sein Leben gelingt, in » immerwährender Selbs tüberwindung«. 4 6 ( W A 1

4 6 Schwarz denkt die Überwindung der Sukzessivität als Entscheidung dazu, sich selbst als »Träger einer weiterführenden Entwicklung zu machen«, also als Entscheidung dazu, eine Geschichte ins Werk zu setzen. (Schwarz 1935. S. 132 f.) Dieser Gedanke ist zutref­fend. Allerdings wird er von Schwarz völlig falsch an die zu interpretierenden Elemente des schellingschen Textes angeschlossen. Schwarz übersieht nämlich in diesem Zusam­menhang die Rolle der Scheidung und identifiziert die Überwindung der Sukzessivität

ALBER THESEN Oliver Florig

Menschliche Selbstformierung in Analogie zum göt t l ichen Leben

Sehr. 85) Der Eigenwille ist dabei so zu denken, daß er jeden Entwick­lungsschritt stabilisiert. Damit hat er die Tendenz, am einmal erreich­ten festzuhalten. Es gilt, den Eigenwillen also immer erneut zu über­winden. Dabei streben wir, dem eingangs dargelegten Model l von Entwicklung zufolge, nach einem Zustand der Widerspruchslosigkeit, der sich aber nicht als Aufhebung von Differenz und Gestaltung reali­siert, sondern als ganz vom Universalwillen bestimmtes Leben, in dem alle anderen Aspekte unserer selbst nur Mit te l desselben sind. A u f die­sen Zustand »zielt alles, darnach sehnt sich alles.« (WA 3 Sehr. 235)

Die einleitend aufgeworfene Frage nach der Möglichkeit einer norma­tiven Theorie menschlicher Selbstformierung, die eine klare mora­lische Grundentscheidung mit einem modifizierenden Umgang mit uns selber verbindet, wurde i m ersten Weltalterdruck klar beantwortet. Zugleich gelingt es Schelling, menschliche Selbstformierung i m Aus ­gang von einer bestimmten Zeiterfahrung zu denken, und diese so aus­zulegen, daß das Streben nach Ewigkeit als der Sinn der einschlägigen Erfahrung deutlich und im Rahmen einer Metaphysik expliziert wird. In jedem Entschluß, in dem wir uns im moralischen Sinne selbst über­winden, beziehen wir uns nach Schelling auf eine Instanz, die jenseits der empirischen Welt liegt. Zugleich bestimmen wir unser Auftreten in eben dieser empirischen Welt und verwirklichen etwas in ihr, das wir von unserem Bezug auf ein transzendentes Ziel her als etwas begreifen, das wir realisieren sollen.

fälschlich mit einem Akt der Selbstergreifung, also wohl mit der anfänglichen Kontrak­tion.

A - 211 Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung

Schlußbemerkung

Daß es möglich und fruchtbar ist, die in Schellings Philosophie mehr oder minder latent vorhandene Theorie menschlicher Selbstformie­rung zu explizieren und von ihr her verschiedene Theoriestücke sinn­voll zu deuten, dürfte hinreichend deutlich geworden sein. Wie darge­legt, gewinnt Schelling i m Zusammenhang mit der Entwicklung dieser Theorie zwischen 1804 und 1811 eine Denkweise, welche die Würde und die Bedeutung des Einzelnen, Individuellen betonen kann, ohne es in seiner Endlichkeit zu verabsolutieren. Gegenüber einem Denken, das den Menschen mit seiner Endlichkeit identifiziert, hatte Schelling stets die sich unter anderem i m Wissen, in der Kunst und i m sittliche Handeln realisierende Transzendenz der bloßen Endlichkeit betont. Wie in den ersten beiden Kapitel dieser Arbeit dargelegt, gelangt er aber erst langsam zu einem Denken, das die gegenteilige Gefahr, das Individuelle für nichtig zu halten, wirksam vermeiden kann. Wer Indi­vidualität wie Schelling in seinen identi tätsphilosophischen Schriften für Schein hält, m u ß auch sich selbst als individuelles Wesen für nich­tig erklären. Ferner liegt es nahe, sich auch zu dem feindlich zu stellen, was einen an die individuelle Existenz zu binden scheint, zur eigenen Sinnlichkeit nämlich. Wie wir sehen konnten, gelingt es Schelling nach 1809, beide Aspekte der menschlichen Existenz zu vermitteln, indem er das Individuelle, Leibhafte, Sinnliche zur notwendigen Grundlage der Selbstüberschreitung des Menschen macht.

M a n könnte freilich einwenden, daß Schelling damit immer noch Gefahr laufe, unsere Individualität als bloßes Mi t te l des durch uns rea­lisierten Allgemeinen zu funktionalisieren. Zwar komme der einzelne Mensch Schelling zufolge gerade i n der Realisierung der Liebe zu sei­ner Erfüllung, dennoch werde er eben dadurch zu einem bloßen Agen­ten des Allgemeinen. Dieses Bild aber übersieht , daß Schelling zufolge die persönlichen Eigenschaften und Anlagen in der Verwirklichung der Liebe gerade entfaltet werden. Das von der Liebe Geforderte oder bes-

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S c h l u ß b e m e r k u n g

ser Gewollte ist nie etwas bloß Allgemeines, dem gegenüber wir zu letztlich austauschbaren, indifferenten Trägern würden. Es ist vielmehr Realisierung unserer individuellen Fähigkeiten i m Einklang mit dem Überindividuellen in uns. Obendrein ist diese Realisierung nicht nur als objektive Vollendung des Menschen zu verstehen, sondern auch als subjektiv empfundene Glückseligkeit. Die beiden in der Einleitung erwähnten Motive, aus denen heraus wir an unserer Selbstformierung Anteil nehmen, das Interesse an unserer Sittlichkeit und das Interesse an unserem subjektiven Glück, stimmen überein.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 213

Literatur

Siglenverzeichnis

Schelling wird soweit m ö g l i c h nach der von der Schelling-Kommission der Baye­rischen Akademie der Wissenschaften besorgten Ausgabe zitiert. Wo dies nicht mög l i ch ist, findet die durch Schellings Sohn K. F. A . Schelling herausgegebene Werkausgabe (Sämtl iche Werke. Stuttgart 1856-61) Verwendung. In beiden Fäl­len wird erst ein Sigle für das jeweilige Werk, dann die Band- und schl ießl ich die Seitenzahl angegeben. Wenn aus der Akademie-Ausgabe zitiert wird, wird in einer Fußnote auf die Sohnesausgabe verwiesen. Kant wird grundsätz l ich aus der Akademie-Ausgabe zitiert. Dabei wird ebenfalls ein Sigle, Band- und Seitenzahl angegeben. Im folgenden Siglenverzeichnis wird der Autor nur genannt, wenn es sich nicht um Schelling handelt.

A D Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses oder die Kate­gorien der Physik

Aphorismen Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie A S Anthropologisches Schema Begriff Über den wahren Begriff der Naturphilosophie und die richtige

Art ihre Probleme aufzu lösen Briefe Philosophische Briefe über Domatismus und Kriticismus Bruno Bruno oder über das gött l iche und natürl iche Princip der Dinge Clara Clara oder über den Zusammenhang der Natur mit der Geister­

welt Darlegung Darlegung des wahren Verhäl tn i sses der Naturphilosophie zur

verbesserten Fichteschen Lehre Denkmal Denkmal der Schrift von den gö t t l i chen Dingen D M S Darstellung meines Systems der Philosophie Erlangen Erlanger Vorträge FS Uber das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusam­

m e n h ä n g e n d e n G e g e n s t ä n d e FD Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie G M S Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten K r V Kant: Kritik der reinen Vernunft Konstruktion Über die Konstruktion in der Philosophie KpV Kant: Kritik der praktischen Vernunft

214 ALBER THESEN Oliver Hörig

1

Literatur

K U Kant: Kritik der Urteilskraft M A Kant: Metaphysische A n f a n g s g r ü n d e der Naturwissenschaft Methode Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums M V Zur Geschichte der neueren Philosophie. M ü n c h n e r Vorlesungen N R Niethammer-Rezension PdK Philosophie der Kunst PR Philosophie und Religion Propädeutik Propädeutik der Philosophie SP Stuttgarter Privatvorlesungen StI System des transzendentalen Idealismus Übergang Eschenmayer: Die Philosophie in ihrem Uebergang zur Nichtphi-

losophie Verhältnis Über das Verhältnis der Naturphilosophie zur Philosophie über­

haupt W A 1 Die Weltalter - Erstes Buch - Druck I W A 2 Die Weltalter - Erstes Buch - Druck II W A 3 Die Weltalter. Buchstück W A Fr. Entwürfe und Fragmente zum Ersten und zum Zweiten Buch der

Weltalter (Schröter: Nachlaßband) WS System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie ins­

besondere (Würzburger System)

Schriften Schellings

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Sämmtliche Werke. Hg. von K. F. A . Schel­ling, I. Abteilung Bde. 1-10, II. Abteilung Bde. 1-4. Stuttgart und Augsburg 1856-1861 (= S W I-XIV)

- Schellings Werke. Hg. von Manfred Schröter. Nachdruck in der Werkausgabe von K. F. A . Schelling in neuer Reihenfolge, Hauptbde 1-6 u. Ergänzungsbde 1-6. M ü n c h e n 1927-1954.

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- Historisch-Kritische Ausgabe. Im Auftrag der Schelling-Kommission der Baye­rischen Akademie der Wissenschaften hg. von Hans Michael Baumgartner, W i l ­helm G. Jacobs, Hermann Krings, Hermann Zeltner, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff.

- Stuttgarter Privatvorlesungen. Version inedite, accompagnee du texte des Oeuvres, publiee, prefacee et annotee par Miklas Veto. Torino 1973.

- Über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. Mit Einleitung und Anmerkungen hg. von Horst Fuhrmans. Stuttgart 1964.

- Über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. Mit Einleitung, Anmerkungen und Kommentar hg. von Thomas Buchheim. Hamburg 1997.

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 215

Literatur

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216 ALBER. THESEN Oliver Florig

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Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 219

Register

Abfall 31-32, 34, 40-43, 72-76, 141, 154, 181, 205 vgl. Absonderung

Absolutheit 27-29 - , derivierte 30, 41, 50-52 Absonderung 22, 32, 88 Ahndung 62 All-Einheit 73, 76-77, 89, 132, 134 Angst des Lebens 73 Anschauung, intellektuelle 25-27,

34 Anthropomorphismus 19, 57-63,190

vgl. Menschlichnehmen Antinomie, dritte 143 Äquipol lenz 195 Aristoteles 11,20

Böse 30, 43-44, 70, 74-76, 131-133, 141

- , bei Kant 146-151,165

Charakter 11, 49, 63,136, 206-210 - , empirischer bei Kant 147 - , intelligibler bei Kant 147,150 - , intelligibler bei Schelling 160,

169

Chemismus 96,105, 117

Dogmatismus 157

Dualismus, interner 52-57, 60-62, 83, 89,128-130,139

Elektrizität 96,104 Entwicklung, Grundmodell von 13-17,

80, 94,111,187, 201, 211

Erregung des Eigenwillens 74,104 erstes Wirkliches vgl. primäre Existenz Eschenmayer 21, 26-29, 37, 58, 94-95,

99 Ethik 21, 35 Ewigkeit 16,189,191, 201-204, 211

felix culpa 43, 75 f., 155 Fichte 31-32, 37, 83 f., 141, 145, 153-

154,164-166 Freiheit - , als Indifferenz 73, 156 - , bei Kant 142-151 - , formeller Begriff der 52,141-142,

156 - , Gottes 64 - , menschliche 49-50,131, 145 - , realer Begriff der 56, 130 - w a h r e 30, 36, 125 f. - , zum Guten und zum Bösen 30, 43,

56, 72 f., 131, 208-209

Gegenwart 180,188-189, 202 Geist - , gött l icher 68,198-200 - , menschlicher 56, 63, 73,123-127,

130 Geisterwelt 62, 71,126,194,198-199,

203-205 Gelassenheit 12-15, 38, 44, 47, 81,

125 Geschichte 34, 42, 74-77, 134, 175,

185-186 Glaube 21, 26, 37 Glückseligkeit 20, 36, 213

Schellings Theorie menschlicher Selbstformierung A - 221

Register

Hegel 27 Hilfe, göttl iche 168

Ichheit 32-33, 84, 103 Idealismus 142, 158-159 Idee 27-29, 70,195 - , des Absoluten 24, 27 Identität - , absolute 83, 86-87 - , als Differenzlosigkeit 41, 45-47, 78,

86,190 - , relationale 17, 35, 41, 44-45, 52-53,

79 - , Selbsterkennen der 24, 41

Jacobi 27, 35, 51-52, 54, 58, 88, 144

Kant 37, 94,125,138,141-156,159, 165, 168,170,173

Kierkegaard 76,119 Kohäsion 100,102-104,119,171 Konstruktion 92 Kontraktion 113,123,174, 192-193,

196, 206-207

Lauterkeit 189-193,195-196, 198, 201

Leben 55, 62,118 Liebe 35, 41, 47, 77, 79,125-126,131-

132 - , Weisen ihres Auftretens 63-66

Magnetismus 96, 102, 108,117 Menschlichnehmen 66, 190

vgl. Anthropomorphismus

Newton 152

Organismus 103,106-111,118-120, 122, 127,130

Pantheismus 27, 35, 50-57 Personalität 60-63,136, 208 - , Gottes 54, 58, 69 Piaton 11, 20, 37-39

Potenzierung 91-92, 95,101,110,113 135

primum Existens 98, 110-111,192-195, 202

Progreß, unendlicher 16, 37-38

Reform der Sinnesart 150-151, 155, 168

Revolution der Gesinnung 150, 155, 168,170,173,187

Rotation 195-197, 202

Scheidung 112-113,120,134-135,139, 172, 176, 182-187, 185-187,196-197, 201-202, 205, 209-210

Schlegel, Friedrich 27, 35 Schöpfung 54, 64-65, 69, 76, 113,154,

174,194 Seele 112,116-117,124-127,130,148,

209 Sehnsucht 26, 66, 68-70, 112,

115 Selbstheit 31, 36, 38, 70, 74,103,119,

126,132,165,199 - , Steigerung der 17 Selbstüberwindung 17, 176-177,182,

184, 187, 210 Simultaneität 175, 193, 197, 204 Sittlichkeit 34, 36-37, 39,125,

168 Sollizitation 73 Spinoza 36-37, 51, 56, 58, 64,

157-159 Sucht 16,115,120,122 Sukzessivität 42, 172,174,178-181,

186, 205

Tat, intelligible - , bei Kant 148 - , bei Schelling 141-142,154,160-161 - , ihre Ewigkeit 170 Tathandlung 31, 154,164-165, 167 Theodizee 153,155 Transmutation 112,120, 167 Trinität 68,128, 200-201 Triplizität 97, 99

222 ALBER THESEN Oliver Florig

Register

Ungrund 47, 78-79 Unruhe 12-13, 81, 131-133

Vergangenheit 178-182, 203 - , als Weltalter 188-189 Vermittlung - , der differenten Wirklichkeit mit dem

Einen 46-47 - , der Welt mit Gott 17, 65, 71-74 - , von Natur und Geisterwelt 203-204 Vernunft 25-26, 86 Vernunfterkenntnis 23, 33, 38, 92

Weisheit 69, 194-195, 201 Widerspruchslose 15-16, 61, 78,191

Zeit - , als Sukzessivität 178-180, 205 - , ganze 203 - , organische 202-203 - , und Trinität 200 Zeugung 46, 54, 68, 197-198, 200 Zukunft 62, 179-181, 184,186-189,

191, 202-204 Zweiweltenlehre 22, 174

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