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S194 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000 Proximale Radiusfrakturen Unfallhergang Radiusköpfchenfrakturen entstehen in der Regel durch indirekte Gewalteinwir- kung beim Sturz auf die Hand bei im Ellbogen gestrecktem Arm, wobei die Stauchung des Radiusköpfchens gegen das Capitulum humeri je nach Winkel- grad und Ausmaß der einwirkenden Kraft eine Fraktur des Radiusköpfchens oder -halses hervorrufen kann [1]. Klassifikation Die am meisten verwendete Mason- Klassifikation [16] wurde von McKee u. Jupiter [18] modifiziert und hat sich im klinischen Alltag weitgehend durchge- setzt (Abb. 1). Die gemeinsame Grup- pierung von Hals- und Köpfchenfraktu- ren des Radius ist aufgrund der ver- gleichbaren Behandlungsprinzipien und auch des zu erwartenden funktionellen Ergebnisses gerechtfertigt. Therapeutische Grundsätze Mason-I-Frakturen Diese nicht dislozierten Frakturen, häu- fig auch als “stabile Frakturen” bezeich- net, werden von der Mehrzahl der Auto- ren rein funktionell mit frühem Beginn der physiotherapeutischen Beübung be- handelt. Nur vereinzelt finden sich Be- richte über die operative Behandlung von Mason-I-Frakturen. Eine entlasten- de Gelenkpunktion kann bei ausgepräg- Trauma Berufskrankh 2000 · 2 [Suppl 2]: S194–S198 © Springer-Verlag 2000 Obere Extremitäten Christoph Josten · Jan Korner Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie,Universität Leipzig Frakturen und Luxationen am proximalen Unterarm Prof. Dr. C. Josten Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Universität Leipzig, Liebigstraße 22, 04103 Leipzig (Tel.: 0341-9717300, Fax: 0341-9717309) Zusammenfassung Das Ellbogengelenk ist aufgrund seiner zen- tralen Lage aus funktionellen Gesichtspunk- ten als das bedeutendste Gelenk der oberen Extremität anzusehen. Knöcherne und liga- mentäre Verletzungen im Bereich des proxi- malen Unterarms konfrontieren den behan- delnden Arzt mit einer Anzahl von diagnosti- schen und therapeutischen Problemen. Post- traumatische Zustände am Ellbogengelenk, die mit chronischer Schmerzsymtomatik und Bewegungseinschränkungen einhergehen, mindern zwangsläufig die Gebrauchsfähig- keit des gesamten Arms. Es besteht heute kaum noch ein Zweifel daran, dass in der Mehrzahl der Fälle eine primäre definitive osteosynthetische Versorgung mit exakter Rekonstruktion der Gelenkfläche für ein be- friedigendes Resultat ebenso unverzichtbar ist wie ein frühzeitiger Beginn physiothera- peutischer Übungsmaßnahmen. Mit zuneh- mendem Verständnis der anatomischen und biomechanischen Besonderheiten des proxi- malen Unterarms vollzog sich in den letzten Dekaden ein entscheidender Wandel der therapeutischen Grundsätze, deren aktueller Stand in der vorliegenden Arbeit unter Be- rücksichtigung der relevanten Literatur vor- gestellt wird. Schlüsselwörter Fraktur · Luxation · Radiusköpfchen · Olekranon · Processus coronoideus · Behandlung Abb. 1 m Einteilung der Radiusköpfchen- und -halsfrakturen nach einer von McKee u. Jupiter [18] modifizierten Klassifikation von Mason [16] Typ 1 Typ 2 Typ 3

Frakturen und Luxationen am proximalen Unterarm

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Page 1: Frakturen und Luxationen am proximalen Unterarm

S194 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000

Proximale Radiusfrakturen

Unfallhergang

Radiusköpfchenfrakturen entstehen inder Regel durch indirekte Gewalteinwir-kung beim Sturz auf die Hand bei imEllbogen gestrecktem Arm, wobei dieStauchung des Radiusköpfchens gegendas Capitulum humeri je nach Winkel-grad und Ausmaß der einwirkendenKraft eine Fraktur des Radiusköpfchensoder -halses hervorrufen kann [1].

Klassifikation

Die am meisten verwendete Mason-Klassifikation [16] wurde von McKee u.Jupiter [18] modifiziert und hat sich imklinischen Alltag weitgehend durchge-setzt (Abb. 1). Die gemeinsame Grup-pierung von Hals- und Köpfchenfraktu-ren des Radius ist aufgrund der ver-gleichbaren Behandlungsprinzipien undauch des zu erwartenden funktionellenErgebnisses gerechtfertigt.

Therapeutische Grundsätze

Mason-I-Frakturen

Diese nicht dislozierten Frakturen, häu-fig auch als “stabile Frakturen” bezeich-net, werden von der Mehrzahl der Auto-ren rein funktionell mit frühem Beginnder physiotherapeutischen Beübung be-handelt. Nur vereinzelt finden sich Be-richte über die operative Behandlungvon Mason-I-Frakturen. Eine entlasten-de Gelenkpunktion kann bei ausgepräg-

Trauma Berufskrankh2000 · 2 [Suppl 2]: S194–S198 © Springer-Verlag 2000 Obere Extremitäten

Christoph Josten · Jan KornerKlinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Universität Leipzig

Frakturen und Luxationen am proximalen Unterarm

Prof. Dr. C. JostenKlinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie,Universität Leipzig, Liebigstraße 22,04103 Leipzig(Tel.: 0341-9717300, Fax: 0341-9717309)

Zusammenfassung

Das Ellbogengelenk ist aufgrund seiner zen-tralen Lage aus funktionellen Gesichtspunk-ten als das bedeutendste Gelenk der oberenExtremität anzusehen. Knöcherne und liga-mentäre Verletzungen im Bereich des proxi-malen Unterarms konfrontieren den behan-delnden Arzt mit einer Anzahl von diagnosti-schen und therapeutischen Problemen. Post-traumatische Zustände am Ellbogengelenk,die mit chronischer Schmerzsymtomatik undBewegungseinschränkungen einhergehen,mindern zwangsläufig die Gebrauchsfähig-keit des gesamten Arms. Es besteht heutekaum noch ein Zweifel daran, dass in derMehrzahl der Fälle eine primäre definitiveosteosynthetische Versorgung mit exakterRekonstruktion der Gelenkfläche für ein be-friedigendes Resultat ebenso unverzichtbarist wie ein frühzeitiger Beginn physiothera-peutischer Übungsmaßnahmen. Mit zuneh-mendem Verständnis der anatomischen undbiomechanischen Besonderheiten des proxi-malen Unterarms vollzog sich in den letztenDekaden ein entscheidender Wandel dertherapeutischen Grundsätze, deren aktuellerStand in der vorliegenden Arbeit unter Be-rücksichtigung der relevanten Literatur vor-gestellt wird.

Schlüsselwörter

Fraktur · Luxation · Radiusköpfchen · Olekranon · Processus coronoideus · Behandlung

Abb. 1 m Einteilung der Radiusköpfchen- und -halsfrakturen nach einer von McKee u. Jupiter[18] modifizierten Klassifikation von Mason[16]

Typ 1

Typ 2

Typ 3

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Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000 S195

ten schmerzbedingten Bewegungsein-schränkungen für die Realisierung derfrühfunktionellen Behandlung hilfreichsein. Indikation zur entlastenden Ge-lenkpunktion sind ein positives Fat-pad-sign sowie ein sonographisch nach-gewiesener Gelenkerguss [12] in Kombi-nation mit ausgeprägten schmerzhaftenBewegungseinschränkungen. Unbefrie-digende Ergebnisse nach Mason-1-Frak-turen werden jedoch in bis zu 13% derFälle beschrieben. Eine mögliche Ursa-che hierfür könnten die von Hotchkiss[10] im Rahmen der operativen Versor-gung der Mason-1-Frakturen beobach-teten osteochondralen Läsionen sein,die der radiologischen Diagnostik ver-borgen bleiben.

Seit der Arbeit vom Mason u. Shut-kin [17] wird nahezu unumstritten diefunktionelle Therapie mit frühzeitigenBewegungsübungen als die Therapie derWahl angesehen. Trotz der Möglichkeitder sekundären Dislokation des Frag-ments kann ein „gutes“ bzw.„sehr gutes“Ergebnis in über 80% der Fälle erwartetwerden. Es wird davon ausgegangen,dass durch Bewegungsübungen mini-male Gelenkinkongruenzen ausgegli-chen werden und einer frühzeitigenKapsel-Band-Schrumpfung vorbeugendentgegengewirkt wird [20].

Mason-II-Frakturen

Bei den dislozierten, partiell intraarti-kulären Frakturen werden gute Ergeb-nisse sowohl nach konservativer als auchnach operativer Therapie durch Frag-ment- oder Köpfchenresektion bzw.ORIF (primäre offene Reposition undinterne Stabilisierun) beschrieben, ohnedass dies bisher durch prospektive, ran-domisierte Studien mit statistischerAussagekraft belegt ist. Eine frühzeitigefunktionelle Behandlung ohne Exzisionunabhängig vom Grad der Dislokationbzw. Zertrümmerung wurde u. a. vonWeseley et al. [28] empfohlen. AndereAutoren gingen davon aus, dass Mason-II-Frakturen unverzüglich durch Exzisi-on des Fragments behandelt werdensollten. Die Indikation zur offenen Re-position und internen Fixation (am gün-stigsten durch AO-Minischräubchen oderresorbierbare Pins) sollte sehr sorgfältiggestellt werden. In der Literatur herrschtEinigkeit über die Notwendigkeit deroperativen Versorgung von Mason-II-Frakturen, wenn nach Gelenkpunktion

und Injektion eines Lokalanästhetikumsweiterhin eine mechanische Blockadefortbesteht. In einer älteren Studie vonCarstam [6] wurden in etwa 80% derFälle akzeptable Ergebnisse nach Resek-tion des Fragments erreicht. Durch einegenerell durchgeführte offene Repositi-on und interne Stabilisierung der Ma-son-II-Frakturen erreichten King et al.[13] in 100% der Fälle „gute“ und „sehrgute“ Ergebnisse. Jedoch scheint auf-grund der möglichen operationsbeding-ten Komplikationen und operations-technischen Möglichkeiten eine Indika-tionsbegrenzung auf solche Verlet-zungsformen sinnvoll, bei denen dasFragment > 1/3 der Gelenkfläche und > 2 mm disloziert ist [20]. Die in der Li-teratur [8] beschriebene Plattenosteo-synthese devitalisiert das Radiusköpf-chen durch Periostschädigung und istnicht empfehlenswert. Auch dislozierteRadiushalsfrakturen vom Typ Mason IIsollten beim Erwachsenen generell ope-rativ versorgt werden. Dies kann nebenden bereits erwähnten Osteosynthese-verfahren durch eine indirekte intrame-dulläre Aufrichtung des Radiusköpf-chens von distal erfolgen.

Mason-III-Frakturen

Verglichen mit den Frakturen vom Typ Iund II lässt sich feststellen, dass das zuerwartende Ergebnis nach Mason-III-Frakturen seltener „sehr gut“ oder „gut“ist. Morrey [20] führte dies auf den grö-ßeren Grad der Zertrümmerung sowieauf eine damit verbundene anspruchs-vollere Behandlung zurück. Eine primä-re Köpfchenresektion ist bei fehlendenBegleitverletzungen die Therapie derWahl. Bei valgisierenden Traumen, diedas Radiusköpfchen stauchen und dasulnare Kollateralband dehnen, kommtes häufig zu einer Kombination aus Ra-diusköpfchenfraktur und ulnarer Kolla-teralbandläsion. Zu einer vermehrtenValgusinstabilität kommt es jedoch erst,wenn zusätzlich eine Ruptur oder Insuf-fizienz des medialen Kollateralbandsvorliegen. Es muss also gefordert wer-den, dass bei Patienten mit Mason-III-Fraktur und klinischen Zeichen einerValgusinstabilität eine suffiziente Re-konstruktion des medialen Kapsel-Band-Apparats vorgenommen wird. Ist diesnicht möglich, sollte primär eine Köpf-chenprothese implantiert werden, umeine verbleibende Valgusinstabilität zu

C. Josten · J. Korner

Fractures and dislocations of the proximal forearm

Abstract

Because of its central location, the elbowjoint is considered the most important jointwithin the upper extremity from the view-point of function.Trauma to osseous and lig-amentous structures of the proximal forearmconfronts trauma surgeons and orthopedicspecialists with numerous diagnostic andtherapeutic challenges. Conditions followingelbow trauma are often accompanied bychronic pain and diminished range of mo-tion, leading to functional deficits of the en-tire arm.There is now practically no doubtthat primary osteosynthesis, anatomicaljoint reconstruction and early onset of func-tional treatment are essential for a good final outcome.With our expanding knowl-edge of the anatomical and biomechanicalcondtions in the proximal lower arm in thelast few decades the basic principles of ther-apy have also changed, and current stan-dards of treatment for proximal forearmtrauma are presented in this paper with ref-erence to the relevant literature.

Keywords

Fracture · Dislocation · Radial head · Olecra-non · Coronoid process · Therapy

Trauma Berufskrankh2000 · 2 [Suppl 2]: S194–S198 © Springer-Verlag 2000

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vermeiden. Häufige Folge der Resektionsind die Zunahme des Tragewinkels so-wie eine Radialdeviation der Handdurch eine Radiusmigration nach proxi-mal. Bei intakter Membrana interosseasind die daraus folgenden funktionellenDefizite gering [21].

Erst in jüngster Literatur wurde, ei-ne strenge Indikationsstellung voraus-gesetzt, von zumeist guten und befriedi-genden Ergebnissen nach Implantationeiner Radiusköpfchenprothese berichtet[29]. Obsolet ist die Implantation von Si-likonprothesen, da sie weder den biolo-gischen noch den biomechanischen An-forderungen genügen. Eine operativeRekonstruktion des Radiusköpfchensbei Mason-III-Fraktur ist aufgrund derhohen Osteonekrosegefahr nicht sinn-voll.

Proximale Ulnafrakturen

Unfallhergang

In der Mehrzahl der Fälle führt ein di-rektes Trauma zur Olekranonfraktur.Le-diglich in etwa jedem 10. Fall ist ein in-direktes Trauma Verletzungsursache.

Klassifikation

Die AO-Klassifikation der proximalenUlna- und Radiusfrakturen konnte sichnicht durchsetzen. Sie ist schwer repro-duzierbar und bietet keine klassifikati-onsbezogenen Therapiekonzepte. Eineim angelsächsischen Sprachraum weitverbreitete und in Europa zunehmendakzeptierte Klassifikation wurde vonSchatzker [26] entwickelt (Abb. 2). Erbezog in seine Klassifikation mechani-sche Überlegungen des Frakturtyps undsich daraus ergebende Notwendigkeitenfür eine interne Stabilisierung ein. Eineeigene Gruppe stellen nach seiner Klas-sifikation die Olekranonfrakturen dar,die in Kombination mit einer Luxationauftreten, da sie therapeutisch am an-spruchsvollsten und prognostisch amungünstigsten sind.

Die Klassifikation der Frakturendes Proc. coronoideus erfolgt nach Re-gan u. Morrey [23] (Abb. 3). Diese stellteine leicht nachvollziehbare und dahergebräuchliche Einteilung dar. Entspre-chend der Größe des Fragments und desresultierenden Ausmaßes der Instabi-lität gegen Translationsstress könnentherapeutische Empfehlungen abgege-

ben und prognostische Aussagen ge-macht werden.

Therapeutische Grundsätze

Olekranon

Durch die Erfahrungen aus der Litera-tur lässt sich die Betrachtung der Zug-gurtungsosteosynthese als das Stan-dardoperationsverfahren für Olekranon-frakturen nicht kritiklos aufrechterhal-ten, da insbesondere bei komplizierte-ren Frakturformen (Typ B und D) durchPlattenosteosynthese bessere funktio-nelle Ergebnisse erreicht werden. Typ-A-Frakturen sind ein typisches Indika-tionsgebiet für die Zuggurtungsosteo-synthese. Bei Frakturen vom Typ B undD, also mit Einbruch der Gelenkfläche,berichteten Simpson et al. [27] bei plat-tenosteosynthetisch versorgten Mehr-fragmentfrakturen des Olekranons über73% „gute“ und „sehr gute“ Resultate.Vergleichbar gute Resultate nach platten-osteosynthetischer Versorgung von in-traartikulären Mehrfragmentbrüchendes Olekranons erreichten König et al.[14]. Eine Spongiosaplastik zur Abstüt-zung des aufgerichteten Fragments isthierbei vorteilhaft. Auch scheint für dieoperative Versorgung der Typ-E-Fraktu-ren die Plattenosteosynthese geeignetergegenüber der Zuggurtungsosteosyn-these. Wie in den Untersuchungen vonHume u. Wiss [11] gezeigt wurde, sindfür Frakturen vom Typ E die Platteno-steosynthesen signifikant stabiler und

weisen eine geringere Komplikationsra-te auf.

Insgesamt haben Olekranonfraktu-ren eine günstige Prognose. Unter Beach-tung der auf der Grundlage der Arbeits-gemeinschaft Osteosynthese erarbeite-ten standardisierten Operationsverfah-ren ist in der Mehrzahl der Fälle mit „gu-ten“ und „sehr guten“ Ergebnissen zurechnen. Die primäre konservative Thera-pie sollte nach unserer Meinung lediglichden primär nicht dislozierten Fraktur-formen oder den Patienten mit schlech-tem Allgemeinzustand vorbehalten blei-ben. Die im amerikanischen Sprachraumhäufiger zitierte Olekranektomie ist le-diglich als Rückzugsmöglichkeit beinicht rekonstruierbarer Zertrümme-rung des Olekranons akzeptabel.

S196 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000

Obere Extremitäten

Abb. 2 m Klassifikation der Olekranonfrakturen nach Schatzker [26], Typ A Querfraktur, Typ B Quer-fraktur mit Impaktion der Gelenkfläche, Typ C Schrägfraktur proximal, Typ D Mehrfragmentbruch,Typ E Schrägfraktur distal, Typ F Olekranonfraktur im Rahmen einer Luxationsfraktur

A B C

D E F

Abb. 3 m Klassifikation der Frakturen des Pro-cessus coronoideus nach Regan u. Morrey [24],Typ I Avulsion der Spitze, Typ II Fragmentgröße< 50% des Coronoids, Typ III Fragmentgröße > 50% des Coronoids

III

III

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Coronoid

Wie in biomechanischen und klinischenUntersuchungen bewiesen wurde, ist derProcessus coronoideus für die Stabilitätdes Ellbogengelenks von entscheidenderBedeutung [22]. Entsprechend derGröße des Fragments und dem damitverbundenen Grad der Instabilität klas-sifizierten Regan u. Morrey [23] 3 Frak-turtypen (Abb. 3). Auf der Grundlagedieser Klassifikation sind für das Errei-chen einer Übungsstabilität die offeneReposition und interne Stabilisierungfür solche Frakturen anzustreben, dieaufgrund der Größe des Fragments kei-ne Primärstabilität im Ellbogen gewäh-ren. Dies betrifft in der Regel alle Frak-turen vom Typ 3 sowie instabile Fraktu-ren vom Typ 2. Cage et al. [5] fanden inihren Untersuchungen, dass basisnaheFrakturen des Coronoids zum einen auf-grund des fehlenden ventralen knö-chernen Widerlagers und zum anderendurch die traumatische Desinsertion desM. brachialis und der ventralen Kapselals instabil anzusehen sind und eineroperativen Stabilisierung bedürfen. Dieskann durch transossäre Refixation vondorsal oder ventrale Schraubenosteo-synthese erfolgen. Frakturen vom Typ 1,also Avulsionen der Spitze, werden nichtoperativ versorgt. Eine im Rahmen deroperativen Versorgung der Begleitfrak-turen (z. B. Radiusköpfchen) durchge-führte Exzision des Fragments erscheintjedoch sinnvoll, um die Gefahr verblei-bender Beugedefizite zu minimieren.

Luxationen und Luxationsfrakturen

Unfallhergang

Ellbogenluxationen mit oder ohne knö-cherne Begleitverletzungen stellen mitetwa 20% aller Luxationen nach derSchulterluxation die zweithäufigste Ge-lenkverrenkung dar. 80–90% der Luxa-tionen oder Luxationsfrakturen erfolgennach dorsoradial und dorsal. Die imRahmen von Luxationsfrakturen häu-figsten knöchernen Läsionen betreffendas Radiusköpfchen sowie den Proc.coronoideus. Bereits von Lorenz Böhler[4] wurde ausführlich über begleitendeFrakturen bei Luxationen des Ellbogen-gelenks berichtet. In seinem Patienten-gut wiesen 20% der Patienten mit Luxa-tionsfrakturen Frakturen des Radius-

köpfchens und 10% der Patienten Frak-turen des Proc. coronoideus auf. Die Er-klärung hierfür findet sich in den bio-mechanischen Untersuchungen vonAmis u. Miller [1], die feststellten, dassbei einer indirekt auf das Ellbogenge-lenk einwirkenden Kraft und einer Beu-gung im Ellbogengelenk von bis zu 35°Radiusköpfchen und Proc. coronoideusbevorzugt frakturieren. Als das zurLuxation führende Trauma wird in derRegel ein Sturz auf die ausgestreckteHand angesehen [3].

Klassifikation

Die Einteilung der Luxationsfrakturenerfolgt entsprechend der zugrunde lie-genden Frakturen sowie der Luxations-richtung. Da Frakturen des Radiusköpf-chens oder -halses, des Olekranons so-wie des Proc. coronoideus in Kombina-tion mit einer Luxation nahezu aus-nahmslos eine schwerere Weichteilschä-digung aufweisen als isolierte Frakturen,sind Luxationsfrakturen als komplexeFrakturen und damit als eigene Entitätanzusehen.

Therapeutische Grundsätze

Die Reposition von Luxationsfrakturenwird in der Mehrzahl der Fälle in Nar-kose oder Analgosedierung durchge-führt. Eine Reposition unter Leitungs-anästhesie wird nicht empfohlen, da eindurch das Repositionsmanöver hervor-gerufener Nervenschaden leicht überse-hen werden kann. Bezüglich der Repo-sitionstechnik wurden in der Literaturvielfältige Methoden beschrieben,wobeiallen Techniken ein longitudinaler Zugsowie eine anteriore Translation gemeinsind. Die Notwendigkeit zur offenen Re-position und internen Fixation der Frag-mente besteht bei postrepositionell ver-bleibender Instabilität. Ist eine Luxationprimär nicht geschlossen reponierbar,muss von einer Weichteilinterpositionausgegangen und offen reponiert wer-den. Im Gegensatz zu den isoliertenLuxationen, die lediglich in bis zu 2,2%der Fälle zu chronischen Instabilitätenführen und aus diesem Grund konser-vativ bzw. frühfunktionell behandeltwerden können, erfordern Luxations-frakturen des Ellbogengelenks überwie-gend eine operative Stabilisierung, umeine verbleibende Instabilität zu ver-meiden [22].

Monteggia-Frakturen

Monteggia-Frakturen, die eine Kombi-nation aus proximaler Ulnafraktur mitRadiusköpfchenluxation repräsentieren[19], stellen eine eigene Entität unter denVerletzungen des proximalen Unter-arms dar. Sie haben bei primärer offenerReposition und interner Stabilisierungder proximalen Ulnafraktur insgesamteine günstigere Prognose als die Luxati-onsfrakturen des Ellbogengelenks.

Unfallhergang

Als mögliche Unfallursachen werden inder Literatur indirekte und direkte Ge-walteinwirkungen auf den Unterarmbzw. das Ellbogengelenk angesehen.

Klassifikation

Eine hilfreiche Einteilung der Monteg-gia-Frakturen wurde von Bado [2] ent-wickelt. Jedoch werden in dieser Klassi-fikation weitere, wesentlich komplexereproximale Ulnafrakturen in Kombinati-on mit einer Radiusköpfchenluxationnicht berücksichtigt. Diese werden all-gemein als Monteggia-like-lesions be-zeichnet.

Therapeutische Grundsätze

Die Monteggia-Fraktur wird durchprimäre offene Reposition und interneStabilisierung (ORIF) des Ulnaschaftsdurch Plattenosteosynthese versorgt.Dieses Verfahren wird von den meistenAutoren der aktuelleren Literatur als dasVerfahren der Wahl angesehen. Hennigu. von Kroge [9] berichteten über 85%„gute“ und „sehr gute“ Ergebnisse. DiePrognose der Monteggia-like-lesions istaufgrund ihrer Komplexität und meistausgeprägteren ossären und Weichteil-verletzungen, verglichen mit der klassi-schen Monteggia-Fraktur, ungünstiger.

Essex-Lopresti-Verletzung

Eine seltene, aber häufig überseheneKombinationsverletzung ist das gleich-zeitige Vorliegen einer Radiusköpfchen-fraktur (meist Mason III) mit Rupturder Membrana interossea sowie einerSprengung des distalen Radioulnarge-lenks. Ursache hierfür ist eine longitudi-nale Krafteinwirkung auf den gesamtenRadius durch Sturz auf die ausgestreck-

Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000 S197

Page 5: Frakturen und Luxationen am proximalen Unterarm

te Hand. Durch die initiale Radiusköpf-chentrümmerfraktur kommt es zu einerTranslationsverschiebung des Radiusnach proximal und einer Zerreißung dereinem Translationsstress entgegenwir-kenden Bandstrukturen, also der Mem-brana interossea sowie des distalen Ra-dioulnargelenks [7]. Nach Radiusköpf-chenresektion ist mit einer symptoma-tischen Radiusmigration nach proximal,einer Radialdeviation der Hand undfunktionellen Einschränkungen im dis-talen Radioulnargelenk sowie dem Ra-diokarpalgelenk zu rechnen.Aus diesemGrund ist bei diesem Verletzungsbild diealleinige Radiusköpfchenresektion nichtgerechtfertigt. Vielmehr sollte hierbeiprimär eine Köpfchenprothese implan-tiert werden.

Scores zur Objektivierung der Ergebnisse

Scoresysteme stellen heutzutage einewesentliche Entscheidungshilfe in derUnfallchirurgie dar und erlauben ver-gleichende Aussagen über Patienten mitähnlichen Verletzungsmustern [25]. DieBeurteilung der funktionellen Ergebnis-se nach Verletzungen des Ellbogenge-lenks ist schwierig und unterliegt häu-fig subjektiven Kriterien des Patientenund des Untersuchers [24]. Bereits exis-tierende Scores berücksichtigen entwe-der subjektive Kriterien zu stark, schlie-ßen radiologische Befunde aus der Be-wertung aus oder sind lediglich zur Eva-luierung einer speziellen Verletzungs-form geeignet. In unserer Klinik hat sichzur Objektivierung der Ergebnisse nachVerletzungen der Ellbogenregion derLeipziger Ellbogenscore [15] bewährt.Hierbei wurde eine Schwerpunktverla-gerung zugunsten objektivierbarer kli-nischer und radiologischer Befunde vor-genommen (zusammen 75 von 100Punkten), ohne subjektive Kriterien zuvernachlässigen.

Resümee

Frakturen und Luxationen am proxima-len Unterarm erfordern zur optimalenVersorgung sowie zur Vermeidung po-sttraumatischer funktioneller Defizitedie genaue Kenntnis der anatomischenund biomechanischen Besonderheiten.Hilfreich bei der Therapieentscheidung sind gut nachvollziehbare Klassifikatio-nen der einzelnen Verletzungstypen. Sie

erlauben in der Mehrzahl der Fälle einestandardisierte Vorgehensweise. Bei iso-lierten oder kombinierten Frakturen desproximalen Radius und der Ulna ist dieBeurteilung der begleitenden Weichteil-verletzungen ebenso entscheidend wiebei offensichtlichen Kapsel-Band-Schä-den im Rahmen von Luxationsfraktu-ren. Bei adäquatem klassifikationsbezo-genem Therapiekonzept ist in den mei-sten Fällen ein gutes Resultat erreichbar.Kurze Immobilisationszeiten und eineexakte Reposition der gelenkbildendenAnteile sind hierfür Grundvorausset-zungen. Zur Objektivierung der erreich-ten Ergebnisse ist die Anwendung einesallgemeinen Ellbogenscores hilfreich.

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S198 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000

Obere Extremitäten