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Frank Deppe. Wolfgang Müller. Bernd Riexinger 78 institut für sozial-ökologische wirtschaftsforschung münchen e.V. Die Krise und die Lähmung der Gewerkschaften Schutzgebühr: 3,50 Euro Sonderteil: China – Krise und Gewerkschaften

Frank Deppe. Wolfgang Müller. Bernd Riexinger … · an dem die Märkte nicht mehr funktionieren". Dagegen stimmt der Chef der US-Notenbank, Ben Bernanke, die USA auf das Ende der

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Page 1: Frank Deppe. Wolfgang Müller. Bernd Riexinger … · an dem die Märkte nicht mehr funktionieren". Dagegen stimmt der Chef der US-Notenbank, Ben Bernanke, die USA auf das Ende der

Frank Deppe. Wolfgang Müller. Bernd Riexinger

78institut für sozial-ökologische wirtschaftsforschung münchen e.V.

Die Kriseund die Lähmung der

Gewerkschaften

Schutzgebühr: 3,50Euro

Sonderteil:

China – Krise und

Gewerkschaften

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Impressumisw-report 78, September 2009Publikationsreihe isw-report: ISSN 1614-9289

Herausgeber:isw – institut für sozial-ökologische wirtschaftsforschung e.V.Johann-von-Werth-Str. 3, 80639 MünchenTel. 089/130041 Fax: 089/168 94 [email protected]: Sparda Bank MünchenKonto-Nr. 98 34 20 (BLZ 700 905 00)

Autoren:Frank Deppe, Bernd Riexinger, Wolfgang Müller

Endredaktion:Conrad Schuhler (verantwortlich im Sinne des Presserechts)

Titelblattgrafik und Karikaturen: Bernd BückingLayout: Monika Ziehaus

Schutzgebühr: 3,50 EUR

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit vorheriger Genehmigung des isw e.V.

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Inhalt

Editorial ..................................................................................................................................... 2

FRANK DEPPE

Die "Große Krise" und die Gewerkschaften ............................................................................. 3

BERND RIEXINGER

Krisenproteste – "Für eine gewerkschaftliche Neuorientierung" ......................................... 20

WOLFGANG MÜLLER

Weltwirtschaftskrise und Chinas Gewerkschaften .............................................................. 28

Die Autoren ............................................................................................................................. 39

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editorial

Als die herrschenden Kapitalfraktionen den "Fordismus", den so genannten"Sozialstaat" bestatteten, lautete die von der britischen PremierministerinThatcher propagierte Losung "TINA – There Is No Alternative". Zur Kürzungder Sozialleistungen, zur Kastrierung der Gewerkschaften, zum Regime desNeoliberalismus gäbe es keine Alternative. Nun, inmitten der Pleite des neo-liberalen Modells, gilt TINA II: Zur Rettung der maladen oder bankrottenUnternehmen gäbe es keine Alternative als deren Freikauf durch Milliardenund Abermilliarden Steuergelder. Es gilt die Maxime: Privatisierung der Ge-winne, Sozialisierung der Verluste.

Tatsächlich kommt es in der "Großen Krise" unserer Tage zu einer Neuvermes-sung des Verhältnisses von Ökonomie und Politik, von Kapital und Arbeit,ohne dass die abhängig Beschäftigten und ihre Organisationen bislang ver-sucht hätten, aus ihrer Rolle als "subaltern" herauszukommen.

Worauf, fragt Frank Deppe am Beispiel Deutschlands, ist diese Lähmung derGewerkschaften zurückzuführen und wie kann sie überwunden werden? Ersieht neben "objektiven" gesellschaftlichen Faktoren der Schwächung der Ge-werkschaften auch entscheidende strategische Defizite. Nicht zuletzt werdees angesichts der "Rückkehr des Staates" für die Gewerkschaften noch funda-mentaler, ihre Interessenvertretung mit dem politischen Kampf zu verbinden.

Bernd Riexinger prüft das konkrete Vorgehen der deutschen Gewerkschaftenin der Krise. Die Vorstellung, es gäbe gemeinsame Interessen von Kapital undArbeit, um aus der Krise heraus zu kommen, weist er zurück. Er vermisst diegrundlegende Kritik an der verhängnisvollen Funktionslogik des Kapitalismus.Würden die Gewerkschaften eine solche Kritik entwickeln und verbreiten,würde sich ihr Ansehen bei den Beschäftigten und ihre Schlagkraft erhöhen.Die Gewerkschaften müssten sich neu aufstellen und ihre Kampf- und Akti-onsformen erweitern. Angesichts der Politisierung der Gewerkschaftsarbeitgehöre in ihren Mittelpunkt der Kampf um das politische Streikrecht.

Einem speziellen Thema widmet sich Wolfgang Müller: der Rolle der chinesi-schen Gewerkschaften in der Krise. Die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewe-gung in China stehe an einem Wendepunkt. Der bislang funktionierende"Gesellschaftsvertrag" sei in Frage gestellt. Den gewaltigen Reichtum bei den(relativ) wenigen oben habe man hingenommen, solange es allen, auchdenen unten, besser ging. Nun sei erstmals seit sechs Jahren die Arbeitslosig-keit gestiegen. Dies beschleunige den Transformationsprozess der chinesi-schen Gewerkschaften, weg von einem Umsetzungsorgan für Regierungsebe-nen und Unternehmensleitungen, hin zu einer zunehmend eigenständigenVertretung der Beschäftigten. In diesem Zusammenhang erörtert Müller auchdas große Problem der gewerkschaftlichen Organisierung des gewaltigenBlocks der Wanderarbeiter.

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Frank Deppe

Die "Große Krise" und die Gewerkschaften

1. Die schlimmsten sozialen Folgen derKrise stehen noch bevor – die Gewerkschaftenmüssen raus aus ihrer "Passivitätskrise"

Das Jahr 2009 zeichnet sich in Deutschland durch einziemlich paradoxes Nebeneinander von zwei Erfah-rungswelten aus. Auf der einen Seite wird die öffent-liche Debatte seit 2008 durch die globale Finanz- undWirtschaftskrise bestimmt, die den "Exportweltmeis-ter" BRD besonders hart trifft. Auf der anderen Seitewerden die Exponenten der regierenden Parteien – imVorfeld der Bundestags- und anderer Wahlen – nichtmüde, die Bürgerinnen und Bürger zu beruhigen. DieBundesregierung – so die Botschaft – sorge mit ihremKonjunkturprogramm, mit den Stützungsmaßnah-men für die Finanzmärkte, aber auch mit der Verlän-gerung der Kurzarbeitergeldregelung und durch diesog. "Abwrackprämie" dafür, dass die Wirkungen derKrise abgefedert werden. Gleichzeitig verkünden dieStatistiker, dass die "Konsumlaune" der Deutschennach wie vor ungebrochen sei. Die Wirtschaftsfor-schungsinstitute berichten von der Verbesserung desWirtschaftsklimaindexes und schließen daraus auf einabsehbares Ende der Krise. Ihnen steht freilich derChor jener – eher pessimistischen – Stimmen gegen-über, die die Risiken weiterer Einbrüche im Finanz-sektor, beim Wachstum und auf dem Arbeitsmarktvor Augen haben und die eher eine langfristige Stag-nation prognostizieren1.

Im Süden der Republik, dort, wo in der Metall- undElektroindustrie – d.h. auch im Bereich der Automo-bilindustrie und ihren Zulieferern – die bislang höch-sten Exportquoten erreicht waren, wird der Einbruchim Auftragseingang und in der Produktion besondersdramatisch erlebt. Die großen Automobilkonzerne(Daimler und Porsche) signalisieren "rote Zahlen". Nacheiner aktuellen Untersuchung der IG Metall zur Wirt-schafts- und Beschäftigungsentwicklung ihres Orga-nisationsbereichs2 sind im Jahresvergleich (Mai 2009gegenüber Mai 2008) die Produktion in der Metall-und Elektroindustrie um knapp ein Viertel (-23,6 %)und die Auftragseingänge um nahezu ein Drittel(-31,3 %) eingebrochen. Ohne den steilen Anstieg

der Kurzarbeit innerhalb von vier Monaten auf730.000 (in dieser Branche, insgesamt auf 1,2 Mio.)wäre die Arbeitslosigkeit um 240.000 angestiegen.

Funktionäre und Betriebsräte der IG Metall berichtenvon zunehmenden Insolvenzfällen (trotz Kurzarbeit)und auch der Chef des Arbeitgeberverbandes, Kanne-gießer, kündigt an, dass trotz der Kurzarbeit baldEntlassungen anstehen. Davon sind auch Betriebe be-troffen, die noch vor einem Jahr hohe Prämien für dieAnwerbung von Fachkräften zahlten. Beim Übergangin die Insolvenz und die (nicht immer folgende) Be-triebsschließung offenbart sich dann die Schwächeder Belegschaften, der Betriebsräte und der Gewerk-schaften. Sie werden mit dem sozialen Abstieg in dieArbeitslosigkeit (und Hartz IV) konfrontiert und müs-sen erkennen, dass die Kraft der Gewerkschaftenüberhaupt nicht ausreicht, um stabile Beschäftigungs-verhältnisse, d.h. eine sichere soziale Existenz, durch-zusetzen. Diese Erfahrung ist nicht neu; denn seitMitte der 70er Jahre bewegte sich die Arbeitslosig-keit über einer Million; in verschiedenen Branchen(Bergbau, Bauindustrie, Textil- und Stahlindustrie) wur-de die Erfahrung vorgegeben, dass die betrieblicheund gewerkschaftliche Kampfkraft nicht ausreicht,um Betriebsschließungen und das Ansteigen der Ar-beitslosigkeit zu verhindern. Im Osten der Republikreagieren die Menschen oftmals gelassener (aberauch zynischer) auf die jüngsten Krisenerfahrungen;denn sie können mit Recht darauf hinweisen, dass siedie Erfahrung eines rapiden Entindustrialisierungs-prozesses (mit all seinen sozialen Folgen) in den 90erJahren bereits gemacht haben.

Die Meinungsumfragen reflektieren diese gespalteneRealitätsbewältigung. Bei den Umfragen zeigt sicheine erstaunliche Differenz zwischen der Einschät-zung der persönlichen Betroffenheit und der gesell-schaftlichen und politischen Bewertung der Krise.Nur 8 Prozent der Befragten (ZDF-Politbarometer vom27. März 2009) bewerteten die wirtschaftliche Ent-wicklung mit gut, 47 Prozent mit schlecht; aber: 43Prozent stuften ihre persönliche Situation mit gutund nur 14 Prozent mit schlecht ein. Überall wächstfreilich die Sorge, dass sich dies bald ändern könnte.Im April waren schon 76 % der Meinung, dass der

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1) Matthias Graf von Krockow, persönlich haftender Gesellschafter von Sal. Oppenheimer, der größten deutschen Privatbank in Köln, bevorzugt von extremreichen Privatanlegern, reagierte (im Interview mit dem ’Handelsblatt’ vom 8.7.2009) auf die Frage nach der Zukunft der Finanzmärkte außerordentlichpessimistisch: "Wir sind auf einer Achterbahnfahrt nach unten. Die Lichter, die wir sehen, sind nur die Lichter, die in Richtung weiter nach unten zeigen.Es gibt keine positiven Signale, die wir ernsthaft als Bodenbildung deuten könnten. Wir erleben eine Zeit, in der die Prämissen für Theorien wegfallen,Theorien für eine volle Funktionsfähigkeit der Märkte sind Makulatur. Die Selbstheilungskräfte der Märkte sind Makulatur, wenn sie einen Punkt erreichen,an dem die Märkte nicht mehr funktionieren". Dagegen stimmt der Chef der US-Notenbank, Ben Bernanke, die USA auf das Ende der Krise ein (SZ vom22. Juli 2009).

2) Ulrich Eckelmann: Projektionen für die wirtschaftliche Entwicklung und die damit einhergehenden Beschäftigungsrisiken, Frankfurt a.M., 15. Juli 2009.

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schlimmste Teil der Krise noch bevorstehe. Auf jedenFall lässt sich ziemlich sicher prognostizieren, dass1. diese Krise nicht schnell überwunden wird und –wenn nicht ein weiterer Absturz bzw. Kollaps (wie imWinterhalbjahr) folgt – das Wachstum sich über meh-rere Jahre auf einem niedrigen Niveau bewegen dürf-te, 2. die Arbeitslosigkeit ab der zweiten Jahreshälftedeutlich steigen wird, und dass 3. schon nach derBundestagswahl die politischen Debatten von den"tiefen Löchern in den Sozialkassen und den öffentli-chen Etats"3 bestimmt werden.

Im folgenden soll daher gefragt werden, ob und wiedie Gewerkschaften in Deutschland auf diese Krisen-konstellation strategisch vorbereitet sind. Die Krisewird dabei in den Zusammenhang langfristiger Ent-wicklungstendenzen des globalen Kapitalismus ge-stellt. Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftkrisewird als das Ergebnis einer seit den 70er Jahren im-mer deutlicher zutage tretenden strukturellen Über-akkumulation von Kapital und der Herausbildung desFinanzmarktkapitalismus (eines spekulativen Schul-denregimes) als Antwort auf die Krise des fordisti-schen Akkumulationsregimes begriffen. Die tiefgrei-fenden (ökonomischen, gesellschaftlichen und politi-schen) Veränderungen im letzten Viertel des 20. Jahr-hunderts haben die gewerkschaftliche wie die politi-sche Linke – vor allem die sozialistische und kommu-nistische Arbeiterbewegung – substantiell geschwächt.Die gegenwärtige Krise – so die leitende Fragestel-lung – könnte diesen Niedergang der traditionellengewerkschaftlichen und politischen Linken noch be-

schleunigen, sofern diese sich darauf reduziert, inkorporatistischen Systemen der Zusammenarbeit mitdem Kapital (vor allem auf der Ebene einzelner Un-ternehmen) und dem Staat (bzw. mit regierendenParteien) die relativen Privilegien ihrer (noch tarifver-traglich und sozialrechtlich geschützten, aber dochdeutlich schrumpfenden) "Kern-Klientel" zu verteidi-gen und gleichzeitig Bestandsgarantien für die Orga-nisation zu erwirken. Die Krise kann aber auch zurÜberwindung jener strategischen Lähmung führen,die durch die Schwächung der Gewerkschaften inden vergangenen Jahrzehnten und durch die korpo-ratistischen Bindungen in Systeme des "Co-Manage-ment" ("Wettbewerbskorporatismus") verstärkt wur-de. Bei den eigenen Mitgliedern – wie im Milieu derArbeiterklasse und der Subalternen insgesamt – wür-de dies zu einer Überwindung jener "Passivitätskrise"(Richard Sennett) beitragen, die als Folge von Angstund sozialer Unsicherheit, aber auch als Folge vonpolitischer Desorientierung dazu führt, dass die Op-fer die Krise gleichsam fatalistisch und subaltern,ohne nennenswerten Widerstand, über sich ergehenlassen.

2. Die "Große Krise"markiert eine Zäsur in Weltwirtschaft und -politik

Krisen charakterisieren die Entwicklungsgeschichteder kapitalistischen Wirtschaft seit ihren Anfängen.Das "allgemeine Produktionsgesetz des Kapitals" istdie Bedingung der "Überproduktion" (MEW 26,2: 535).Der Widerspruch zwischen Produktion und Markt,zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte undden Produktionsverhältnissen, die wachsenden Pro-bleme der Kapitalverwertung (Profitrate), verschaffensich periodisch in den Krisen einen Ausdruck.4 Dieseerscheinen als "Überakkumulation" von Kapital, dasnicht verwertet wird, und als "Überfluss" von Men-schen, die nicht als Lohnarbeiter gebraucht, also"freigesetzt" werden. Krisen haben insofern – im Rah-men der kapitalistischen Logik – eine "Reinigungs-funktion", weil sie in dem Maße überwunden wer-den, wie überschüssiges Kapital vernichtet und durchden Druck der "Reservearmee" die kollektive (gewerk-schaftliche) Interessenvertretung der Lohnarbeiter –

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3) Birgit Marschall u.a., Schlechte Aussichten. Dossier sieben magere Jahre, in: Financial Times Deutschland, 24.7.2009.4) "Überproduktion von Kapital heißt nie etwas anderes als Überproduktion von Produktionsmitteln – Arbeits- und Lebensmitteln –-, die als Kapital fungieren

können, d.h. zur Ausbeutung der Arbeit zu einem gegebenen Exploitationsgrad angewandt werden können; indem das Fallen dieses Exploitationsgradesunter einen bestimmten Punkt Störungen und Stockungen der kapitalistischen Produktionsprozesses, Krisen, Zerstörung von Kapital hervorruft. Es ist keinWiderspruch, dass diese Überproduktion von Kapital begleitet ist von einer mehr oder minder großen relativen Überbevölkerung. Die selben Umstände,die die Produktivkraft der Arbeit erhöht, die Massen der Warenproduktion vermehrt, die Märkte ausgedehnt, die Akkumulation des Kapitals, sowohl derMasse wie dem Wert nach, beschleunigt und die Profitrate gesenkt haben, die selben Umstände haben eine relative Überbevölkerung erzeugt underzeugen sie beständig, eine Überbevölkerung von Arbeitern, die vom überschüssigen Kapital nicht angewandt wird wegen des niedrigenExploitationsgrades der Arbeit, zu dem sie allein angewandt werden könnte, oder wenigsten wegen der niederen Profitrate, die sie bei gegebenemExploitationsgrad abwerfen würde". Karl Marx, Das Kapital. Dritter Band, MEW 25, Berlin 1964, S. 266. In den "Grundrissen" (Berlin 1953, S. 636) schreibtMarx: "Hence the highest development of productive power together with the greatest expansion of existing wealth will coincide with the depreciation ofcapital, degradation of the labourer, and a most straightened exhaustion of its vital powers. These contradictions lead to explosions, cataclysms, crises, inwhich by momentaneous suspension of labour and annihilation of a great portion of capital the latter is violently reduced to the point, where ut can goon. Diese Widersprüche, of course, führen zu Explosionen, Krisen, worin momentane Aufhebung aller Arbeit und Vernichtung von großem Teil desKapitals es gewaltsam wieder auf den Punkt zurückführen, worin es is enabled fully employing its productive powers without committing suicide. Yet,these regularely recurring catastrophes lead to their repetition on a higher scale, and finally to its violent overthrow".

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mit der Folge von Lohnsenkungen – geschwächtwird. In der Geschichte des Kapitalismus wird dieArtikulation dieses grundlegenden Widerspruchs je-doch durch eine Vielzahl historisch-konkreter Um-stände geprägt und modifiziert. Dabei spielen dieKräfteverhältnisse zwischen den Klassen – auf der na-tionalen und der internationalen Ebene – sowie dieDynamik des Klassenkampfes in der Krise eine zentra-le Rolle für deren politische Wirkungen. Da das Kapi-tal stets im Weltmarktzusammenhang akkumuliert,kommen in "den allgemeinen Weltmarktkrisen ... alleWidersprüche der bürgerlichen Produktion ... kollek-tiv zum Eklat, in den besonderen Krisen (dem Inhaltund der Ausdehnung nach besonderen) nur zer-streut, isoliert, einseitig".5

Der bisherige Verlauf der gegenwärtigen Krise deutetdarauf hin, dass es sich um eine "große Krise" han-delt. Zu den "großen Krisen" des 20. Jahrhunderts ge-hörte die Weltwirtschaftskrise nach 1929, die gleich-sam im Scheitelpunkt des "dreißigjährigen Krieges"zwischen 1914 und 1945 stand.6 Zumal in Deutsch-land war die Machtübertragung an den Faschismusund die Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges aucheine Antwort des herrschenden Blocks nicht nur aufdie Niederlage des deutschen Imperialismus im er-sten Weltkrieg, sondern auch auf die Weltwirt-schaftskrise. In den 70er Jahren beendeten die Krisendas sog. "Goldene Zeitalter" des Nachkriegskapitalis-mus und beschleunigten den Übergang vom "Fordis-

mus" zum Finanzmarktkapitalismus.7 "Kleine Krisen"sind mit den zyklischen, konjunkturellen Abschwün-gen verbunden, die die "Überhitzung" der Boompha-se ausgleichen. Merkmal der "großen Krisen" ist nichtallein deren Dramatik (Absturz der Wachstumsraten,Anstieg der Arbeitslosigkeit). Sie bilden zugleich eineZäsur in der gesellschaftlichen und politischen Ent-wicklung der Weltwirtschaft und auch der Weltpoli-tik. Das Verhältnis von Markt und Staat, von Ökono-mie und Politik wird neu "vermessen", neu justiert. Inwelcher Richtung diese "Neuvermessung" verläuft,hängt vom Kräfteverhältnis zwischen den Klassen,zwischen Kapital und Arbeit, hängt vom Resultat dersozialen und politischen Kämpfe, oft auch vom Er-gebnis der Kriege ab, die in der Geschichte in letzterInstanz durch Große Krisen ausgelöst werden. In den"großen Krisen" gerät eine – für eine ganze Epochebzw. Formation des Kapitalismus charakteristische –Wechselbeziehung zwischen Akkumulation und Re-gulation an ihre Grenzen. Dabei stehen dann "auchdie Formen gesellschaftlicher Reproduktion (Abbauund Umbau des Sozialstaates, die Austauschbezie-hungen zwischen Kapital und Arbeit) ... zur Dispositi-on". Die "große Krise" ist also eine "Restrukturierungs-krise, die dem kapitalistischen System neue Entwick-lungsperspektiven zu eröffnen vermag. Dabei bein-haltet sie stets auch die Möglichkeit alternativer Op-tionen bis hin zur Systemüberwindung, d.h. demBruch mit den Basisinstitutionen kapitalistischer Öko-nomie. Beide Lösungsperspektiven sind in der großenKrise immer angelegt, welche sich gerade dadurchals eine historisch offene Situation erweist".8

Wodurch zeichnet sich die gegenwärtige Krise als eine "große" Krise aus?

1. Der Finanzmarktkapitalismus, der sich seit den70er Jahren durch die Liberalisierung der Finanz-märkte sowie die Politik der Privatisierung, Deregulie-rung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes als herr-schende Kapitalismusformation global durchgesetzthat, konnte die Probleme der Überakkumulation undStagnation in der Realökonomie (vor allem das gerin-ge Wachstum und die Beschäftigungskrise) nicht lö-sen.9 Statt dessen erzeugte er gewaltige spekulative

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5) Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW, 26.2, Berlin 1967, S. 535.6) Vgl. dazu Frank Deppe, Politisches Denken zwischen den Weltkriegen, Band 2: Politisches Denken im 20. Jahrhundert, Hamburg 2003, S. 118 ff.7) Joachim Hirsch: Weltwirtschaftskrise 2.0 oder Zusammenbruch des neoliberalen Finanzkapitalismus, in: www.links-netz.de) hat die Geschichte der

"großen Krisen" und der Abfolge der verschiedenen Formationen des Kapitalismus folgendermaßen skizziert: "Von der großen Depression in den 70erJahren des 19. Jahrhunderts bis zur ersten Weltwirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts dauerte es über 50 Jahre. Der darauf folgende Fordismus währte bisMitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, also nur noch knapp 5 Jahrzehnte. Auf seine Krise folgte die als Globalisierung bezeichnete Etablierung desneoliberalen Finanzkapitalismus, auch Postfordismus genannt. Der ist, etwa dreißig Jahre später, ebenfalls am Ende und wieder verschieben sich damit dieglobalen ökonomischen und politischen Machtverhältnisse ... Beim neoliberalen Finanzkapitalismus handelt es sich durchaus um eine eigene historischeFormation des Kapitalismus, die auch eine spezifische Krisendynamik aufweist. Die aktuelle Krise unterscheidet sich ganz wesentlich von der desFordismus oder auch der der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts ... Die Art und Weise, wie die Krise des Fordismus (seit den 70er Jahren) bewältigtwurde, hat also die Wurzeln dafür gelegt, dass der globale Kapitalismus heute knapp vor dem Zusammenbruch steht".

8) Kurt Hübner/Michael Stanger, ’Kleine’ und ’große’ Krisen – Thesen zur Interpretation der ökonomischen Stagnationstendenzen seit Mitte der 70er Jahre,in: Prokla u.a., Kontroversen zur Krisentheorie, Hamburg 1986, S. 68–75, hier S. 69.

9) In den USA vertritt vor allem der Wirtschaftshistoriker Robert Brenner (Boom & Bubble. Die USA in der Weltwirtschaft, Hamburg 2002) die These, "dassfür die absehbare Zukunft weder eine definitive Überwindung des langen Abschwungs (seit 1973) noch die Vermeidung einer sich weiter vertiefendenStagnation ... erwartet werden kann" (ebd. S. 294). In Deutschland hat sich u.a. der Ökonom Karl Georg Zinn (u.a. Jenseits der Marktmythen.Wirtschaftskrisen: Ursachen und Auswege, Hamburg 1997) mit den langfristig wirkenden Stagnations- und Krisentendenzen im Kapitalismus beschäftigt.

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Blasen und Schuldenberge. Jetzt ist das sog. "Dollar-Wall-Street-Regime" (verbunden mit der weltpoliti-schen Führungs- bzw. Polizistenrolle der USA nachdem Ende des Kalten Krieges) – ökonomisch und po-litisch (durch die gescheiterte Politik des George W.Bush) gleichsam an die Wand gefahren. Nach wie vorbleibt offen, ob es dem neuen Präsidenten BarackObama gelingt, hier eine Wende einzuleiten.

2. Die Finanzkrise trifft mit einer Wachstums- undÜberakkumulationskrise zusammen (besonders deut-lich in der Automobilindustrie) – in vielen Bereichengibt es Überkapazitäten, Übersättigung der Märkte.Gleichzeitig wurde durch die neoliberale Politik dieBinnennachfrage systematisch beschränkt: durch diesinkende Lohnquote, durch die Umverteilung von un-ten nach oben. Die Polarisierung der Einkommen undVermögen – und in diesem Zusammenhang auch dieZunahme der Armut – war eine weitere Folge derneoliberalen Politik.

3. Gegenwärtig verschränken sich verschiedene Kri-senprozesse, die auch eine eigene Logik haben. De-ren Bearbeitung bzw. Lösung bedarf gewaltiger An-strengungen. Im Vordergrund steht dabei die globaleUmweltkrise und das Problem des Klimawandels. DerBericht der UNO "menschliche Entwicklung 2007/8"(Human Development Report) konstatiert für denÜbergang ins 21. Jahrhundert eine dramatische "Kri-se, die Gegenwart und Zukunft miteinander verbin-det. Diese Krise ist der Klimawandel. Noch lässt siesich abwenden...". – aber nur, wenn gewaltige Res-sourcen mobilisiert werden, um Emissionen zu verrin-gern und um neue (erneuerbare) Energiequellen zunutzen.10 Der Klimawandel bedroht die Lebensbedin-gungen der Menschen an der Peripherie stärker als inden Metropolen; in Verbindung mit der sog. Lebens-mittelkrise, d.h. rapide steigenden Preisen für land-wirtschaftliche Produkte und Grundnahrungsmittelwie Soja, Weizen, Mais, Reis. Dabei entsteht ein ex-plosives Gemisch: soziale Unruhen wegen steigenderLebensmittelpreise (was schließlich Zunahme vonHunger bedeutet) gab es bereits in Mexiko, Ägypten,Indonesien und Haiti.

4. Wenn die historisch-politische Spezifik der gegen-wärtigen Krisenkonstellation erfasst werden soll,müssen auch die gewaltigen Veränderungen in derWeltwirtschaft und der Weltpolitik in Betracht gezo-gen werden. Nach dem Ende des Kalten Krieges be-finden wir uns in einer Epoche, in der um "neue Welt-ordnungen" im 21. Jahrhundert gerungen wird. Eineder zentralen Fragen betrifft die Rolle der USA. Gehtdas "amerikanische Jahrhundert" definitiv zu Ende?11

Verschieben sich die wirtschaftlichen und politischenMachtzentren nach Ostasien und in den pazifischenRaum? Wie werden die sog. "BRIC-Staaten" (Brasilien,Russland, Indien, China) die Krise bewältigen? Wel-che Konflikte zwischen den Großmächten werdensich daraus entwickeln? Werden sie dem klassischenMuster der zwischenimperialistischen Konkurrenzver-hältnisse und Machtkämpfe folgen? Wie werden sich– als Reaktion auf diese Verschiebungen, vor allemauf den relativen Machtverlust der USA – die Bezie-hungen im atlantischen Raum entwickeln? Die Ant-worten auf solche Fragen, die erst in der Zukunft klarwerden, haben auf jeden Fall Rückwirkungen für dieEntwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft und Politikim eigenen Lande – auch für die Stellung der Ge-werkschaften und die Lage der Lohnabhängigen unddes Prekariats.

John Gray (Professor für European Thought an derLondon School of Economics), unter Thatcher einführender intellektueller Kopf des Konservatismus inGroßbritannien, inzwischen scharfer Kritiker des Neo-liberalismus, hebt die weltpolitischen Dimensionender gegenwärtigen Krisenkonstellation hervor: "Unse-re Aufmerksamkeit mag derzeit auf die kollabieren-den Finanzmärkte gerichtet sein. Doch der Aufruhr,den wir erleben, ist mehr als eine Finanzkrise, egal,wie groß sie auch sein mag. Was gerade geschieht,ist eine historische geopolitische Wende. ... Man er-kennt das schon allein daran, wie die Macht der USAin ihrem eigenen Hinterhof (in Lateinamerika, F.D.)untergraben wird ... Auf globaler Ebene wird Ameri-kas Schwäche noch deutlicher. Mit der Verstaatli-chung zentraler Teile ihres Finanzwesens haben die

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"Die Krise der entwickelten Industriegesellschaften ist kein Betriebsunfall. Der normale Konjunkturabschwung zu Beginn der 90er Jahre eröffnete denlangfristigen Stagnationstendenzen den Weg an die Oberfläche und verstärkte zugleich die Überproduktionsprozesse. Erst einmal virulent geworden, sinddie Stagnationstendenzen nicht mehr mit herkömmlicher Wirtschaftspolitik unwirksam zu machen" (ebd. S. 35).

10) Der "Bericht" der UNO "Über die menschliche Entwicklung 2007/2008" Human Development Report) konstatiert für den Übergang ins 21. Jahrhunderteine dramatische "Krise..., die Gegenwart und Zukunft miteinander verbindet. Diese Krise ist der Klimawandel. Noch lässt sie sich abwenden – aber nichtmehr lange. Der Welt bleibt nicht einmal ein Jahrzehnt, um das Ruder herumzuwerfen... Der Klimawandel ist das alles überragende Problem dermenschlichen Entwicklung in unserer Generation. ... Der Klimawandel droht die Freiheiten der Menschen auszuhöhlen und ihre Wahlmöglichkeiteneinzuschränken. Aus das Prinzip der Aufklärung, dass durch das Voranschreiten der Menschen die Zukunft besser aussehen wird als die Vergangenheit,wird dadurch in Frage gestellt ... In der Welt von heute sind es in erster Linie die Armen, die unter dem Klimawandel zu leiden haben. Morgen aber wirdsich die ganze Menschheit den Gefahren gegenübersehen, die die globale Erwärmung mit sich bringt. Der rasche Anstieg von Treibhausgasen in derErdatmosphäre ändert die Klimaprognose für künftige Generationen grundlegend. Wir bewegen uns langsam aber sicher auf Kipp-Punkte’ zu. Damitwerden unberechenbare, nicht-lineare Ereignisse – beispielweise ein beschleunigter Zusammenbruch der großen Eisschilde der Welt – bezeichnet, diewiederum Umweltkatastrophen auslösen können, durch die sich die menschlichen Siedlungsstrukturen wandeln und die Lebensfähigkeit vonVolkswirtschaften geschwächt wird. Unsere Generation wird die Folgen vielleicht nicht mehr miterleben. Doch unsere Kinder und Kindeskinder werdenkeine andere Wahl haben, als damit zu leben. Umgehendes Handeln ist angesagt, um schon heute gegen Armut und Ungleichheit vorzugehen, aberauch die Gefahr künftiger Katastrophen abwenden zu können".

11) Der in Baltimore/USA lehrende Soziologe Giovanni Arrighi (der leider am 19. Juni 2009 verstorben ist) hat in seinen letzten Arbeiten diesenHegemoniezyklus, den Niedergang der US-Hegemonie und den Aufstieg Ostasiens (mit dem Zentrum der VR China) in den Mittelpunkt gestellt: G.Arrighi, The Long Twentieth Century. Money, Power, and the Origins of our times, London/New York 1994; ders. Adam Smith in Beijing. Lineages of theTwenty-First Century, London/New York 2007; ders. The Winding Paths of Capital. Interview with David Harvey, in: New Left Review 56, March/April2009, S. 61– 94.

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Vereinigten Staaten ihr Credo der freien Märkteselbst zerstört. Eine ganze Regierungsform mitsamtihrer Ökonomie ist kollabiert. Die Folgen werden soweitreichend sein wie beim Untergang der Sowjet-union." (in: Süddeutsche Zeitung vom Oktober 2008).

Auch der 92 Jahre alte Eric Hobsbawm – der großarti-ge marxistische Gesellschaftshistoriker des 19. und20. Jahrhunderts, der in der großen Krise des Kapita-lismus nach 1929 Mitglied der kommunistischen Be-wegung wurde – geht im Interview mit dem Stern(13.5.2009) auf die Dramatik der gegenwärtigen Kri-se ein und schließt dabei auch die Möglichkeiten be-vorstehender Katastrophen und Kriege nicht aus: "Al-les ist möglich. Inflation, Deflation, Hyperinflation.Wie reagieren die Menschen, wenn alle Sicherheitenverschwinden, sie aus ihrem Leben hinausgeworfen,ihre Lebensentwürfe brutal zerstört werden? Meinegeschichtliche Erfahrung sagt mir, dass wir uns – ichkann das nicht ausschließen – auf eine Tragödie zubewegen. Es wird Blut fließen, mehr als das, viel Blut,das Leid der Menschen wird zunehmen, auch dieZahl der Flüchtlinge. Und noch etwas möchte ichnicht ausschließen: einen Krieg, der dann zum Welt-krieg werden würde – zwischen den USA und China".

Die gegenwärtige Krise trifft auf gesellschaftliche,politische, kulturelle Verhältnisse, die – in den ver-gangenen 25 Jahren im Zeichen der Herrschaft desNeoliberalismus und Finanzkapitalismus – einem tief-greifenden Wandel unterzogen wurden: Veränderun-gen in der Sozial- und Klassenstruktur, der Rückgangder Industriearbeiterschaft, die Zunahme der Dienst-leistungstätigkeiten und vor allem der sog. "Prekari-tät" (ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse), dieMassenarbeitslosigkeit als Dauerproblem, die tiefeKrise, durch die die Gewerkschaften in vielen Ländern

seit den 80er Jahren hindurchgegangen sind, der Zu-sammenbruch des Sozialismus/Kommunismus in vie-len Teilen der Welt, eine ebenso tiefgreifende Verän-derung der Kräfteverhältnisse zwischen Kapital undArbeit in den entwickelten kapitalistischen Staaten –auch in Deutschland (wo noch die Folgeprobleme derdeutschen Einheit hinzukommen). Schließlich auchVeränderungen im politischen System und der politi-schen Kultur: die Wahlbeteiligung geht zurück, dieParteien und Gewerkschaften verlieren Mitglieder,der Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust der "po-litischen Klasse", das Interesse an der Politik geht –vor allem bei jüngeren Menschen – zurück.12 DieseKrise der Demokratie wurde schon vor dem Einbruchder Großen Krise seit 2008 thematisiert – allerdingsohne große Resonanz bei den Gewerkschaften.13

Jetzt spitzen sich unter dem Eindruck der weitverbrei-teten Angst und Unsicherheit solche Fragen natürlichzu.

Der Neoliberalismus ist ideologisch gescheitert; dieThese, dass der Markt alles besser als der Staat zuregeln vermag, ist gründlich desavouiert. Dennochsind diejenigen Eliten in Wirtschaft, Wissenschaft undPolitik, die die Ideologie der Deregulierung und Priva-tisierung vertreten, in Wirtschaft und Politik durchge-setzt und davon auch materiell profitiert haben, nachwie vor an der Macht – und, so zeichnet sich immerdeutlicher ab, sie managen auch die Politik der Krisen-bewältigung und Restrukturierung. Auch bei den be-vorstehenden Wahlen wird sich (nicht nur in Deutsch-land, sondern in Europa insgesamt) an dieser Kon-stellation wahrscheinlich wenig ändern. Gleichwohlverweist die Vielzahl der offenen Fragen, die jetzt –meist mit eher pessimistischen Zukunftsprognosenverbunden – angesprochen werden, zunächst einmaldarauf, dass – wie in allen großen Krisen – bei einerFortsetzung der wirtschaftlichen Stagnationstenden-zen und der Zuspitzung der sozialen und ökologi-schen Probleme (Arbeitsmarkt, Armut, Folgen der Kli-makatastrophe) mit einer Transformation der für denFinanzmarktkapitalismus charakteristischen Formender Akkumulation und Regulation zu rechnen ist.

Mit anderen Worten: als Ausgangspunkt aller strate-gischen Überlegungen von politischen und gesell-schaftlichen Akteuren sollte erkannt werden, dass wiruns in einer nach verschiedenen Seiten bzw. Richtun-gen hin offenen geschichtlichen Situation befinden.Diese Offenheit bezieht sich sowohl auf die Möglich-keit des Aufschwungs eines rechten (rassistischenund nationalistischen) Populismus sowie auf dieMöglichkeit eines autoritären Kapitalismus, der dieformalen Verfassungsregeln der repräsentativen De-

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12) Eine neuere Studie (Ernst Hillenbrand, Zwischen alten Rezepten und neuen Herausforderungen: die europäische Linke muss sich neu orientieren,Friedrich-Ebert-Stiftung, Internationale Politikanalyse, Berlin 2007) stützt sich auf die Ergebnisse einer internationalen Gallup-Befragung. "Hinter demGlaubwürdigkeitsverlust der politischen Parteien vollzieht sich ein noch tiefer gehender Prozess der schleichenden Delegitimierung des politischen Systems(der Demokratie, F.D.) insgesamt, dessen demokratisch-partizipativer Gehalt von erschreckend vielen Menschen zunehmend bezweifelt wird ... Nur 30Prozent der Briten, 28 Prozent der Italiener, 21 Prozent der Franzosen und erschütternde 18 Prozent der Deutschen beantworteten die Frage, ob das Land’entsprechend dem Willen des Volkes’ regiert werde, mit ’Ja’".

13) Vgl. dazu Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt/Main 2008; Frank Deppe/Horst Schmitthenner/Hans-Jürgen Urban, Hrsg., Notstand der Demokratie.,Auf dem Weg in einen autoritären Kapitalismus? Hamburg 2008.

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mokratie beibehält, aber gleichzeitig über den Marktund den Ausbau der Kompetenzen der staatlichenExekutivapparate für gesellschaftliche und politischeStabilität im Interesse der Wirtschaft sorgt.

Vielleicht stehen wir aber auch an der Schwelle einerweiteren "großen Transformation" (Polanyi) – zu einerÖffnung nach links, d.h. zu Verhältnissen, die durcheine "Wiederaneignung des öffentlichen Raumes"charakterisiert sind. Die Produktivkraftentwicklungermöglicht dabei eine Neuverteilung des Reichtumsund der Arbeitszeit – und die ökologische Transfor-mation (Reduzierung der Emissionen, Umstieg auf er-neuerbare Energien und Umbau der Automobilgesell-schaft) unterliegt dabei weder den Maximen der Pro-fitproduktion noch den Regeln des (durch den Profitgesteuerten) Wettbewerbs. Nancy Fraser hat in ei-nem brillanten Aufsatz über "Feminismus und Kapita-lismus" gerade darauf aufmerksam gemacht, dass –wenn die Hypothese von der "Großen Transformati-on" zutrifft – "die Gestalt der Nachfolgegesellschaft inden kommenden Jahren Gegenstand heftiger Ausein-andersetzungen sein" wird. Eine "Neue Frauenbewe-gung" – so fordert sie – sollte "offensiv für eine Lebens-weise eintreten, die nicht mehr vorrangig um Lohnar-beit kreist und nicht-warenförmige Tätigkeiten auf-wertet, darunter auch, aber nicht nur, Betreuungs-und Sorgearbeit".14 Diese Maxime sollte auch von an-deren Sozialbewegungen aufgegriffen werden!

Politische Akteure, ihre Führungsgruppen und Intel-lektuelle, die ihre Analyse der gegenwärtigen Hand-lungskonstellationen in der Krise nicht mit der Re-flexion möglicher (bzw. wahrscheinlicher und auchwünschbarer) Transformationsperspektiven im Resul-tat der Krise verbinden, verharren in einem begriffslo-sen Pragmatismus, zementieren die "strategische Läh-mung" ihrer Organisationen und tragen damit (natür-lich unbewusst) zur Stärkung des Gegners und zurBeschleunigung des Machtverfalls der eigenen Orga-nisation bei. Das Interesse der Organisation an sichselbst – seit Robert Michels ("Soziologie des Parteiwe-sens", 1911) als wichtiger Faktor bei den politischenEntscheidungen von Führungsgruppen bekannt – istdurchaus legitim; denn wer eine Organisation führt,muss sich stets auch der Verantwortung bewusstsein, dass er diese mit seinen Entscheidungen nichtleichtfertig in Gefahr bringt. Dennoch – es gab undgibt immer wieder historische Situationen in der Ge-schichte der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung,in denen der Primat des Organisationsinteresses denVerzicht auf eine Konfrontation mit den sozialen undpolitischen Gegnern bedeutete. Damit wurde (nichtnur in der Weltwirtschaftskrise nach 1929) die Arbei-terklasse quasi "entwaffnet" und der Weg zu folgen-schweren Niederlagen eröffnet.

3. Der Machtverlust der Gewerkschaften und die Defizite ihrer Strategie

Die Weltwirtschaftskrise trifft den "Exportweltmeister"Deutschland besonders hart. Seit 2000 gehen zweiDrittel des realen Wirtschaftswachstum auf die Expor-te zurück; 20 % der Beschäftigten arbeiten für denExport. Im Jahre 2008 betrug der Anteil der Exporteam BIP 48 % (im Vergleich: China: 36,3 %; Großbri-tannien: 27,5; Japan 17,4 und USA 13,0 %). In derAutomobilindustrie z.B. sank der Anteil der Exportevon 40 % (2008) auf 15 % (2009), im gleichen Zeit-raum gingen Kapazitätsauslastung und Produktion indieser Leitbranche der deutschen Industrie um ca.30 % zurück. Die Exportorientierung der deutschenIndustrie – vielfach als Qualitätsmerkmal der deut-schen Wirtschaft gefeiert – erweist sich in Zeiten ei-nes weltweiten Nachfrageeinbruchs als deren "Achil-lesferse"; denn nunmehr werden Branchen und Indus-trieunternehmen sowie relativ privilegierte (aber zu-gleich gewerkschaftlich hoch organisierte) Beleg-schaften getroffen, die bisher eher zu den Gewinnernder "Globalisierung" gezählt wurden.

Die Orientierung auf den Export und die Wettbe-werbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf den glo-balen Märkten war die wichtigste Triebkraft für denUmbau des alten "Modell Deutschland", das in den70er Jahren – mit seinem hohen Industrie- und Ex-portanteil, qualifizierten Facharbeitern, einer auf In-flationsverhinderung ausgerichteten Geldpolitik derBundesbank, einer sozialpartnerschaftlichen Aner-kennung starker Gewerkschaften und des Systemsder betrieblichen Mitbestimmung – von der Sozialde-mokratie als möglicher Exportartikel (in der Europäi-schen Gemeinschaft) gepriesen wurde. Nach SteffenLehndorff wurde "ausgerecht eines der Flaggschiffeder ’koordinierten Marktwirtschaft’ in Europa (das"deutsche Modell") unter dem Dauerbeschuss neoli-beral inspirierter Debatten und ’Reformen’ in seinemCharakter grundlegend verändert. Es hat seine ange-stammte Identität der Übertragung von wirtschaftli-chem in sozialen Erfolg verloren. In Kombination mitdem bislang nur punktuell überwundenen Konserva-tismus im deutschen Wohlfahrtsstaat und Familien-modell ergibt sich eine toxische Mischung, die dieEntwicklung und Nutzung gesellschaftlichen Arbeits-vermögens in erheblichem Maße behindert ... Die Au-tomobilindustrie und der Maschinenbau mögen inder Vergangenheit für das deutsche Modell in seinerGesamtheit gestanden haben, aber heute tun sie diesnicht mehr. Heute wird die Wirklichkeit des deut-schen Modells eher dadurch charakterisiert, was die-se beiden Vorzeigebranchen vom ’Rest’ der Wirtschaftund des Beschäftigungsmodells unterscheidet".15 Vor

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14) Nancy Fraser, Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 8/2009, S. 43–57, hier S. 54und 56.

15) Steffen Lehndorff (Hrsg.), Abriss, Umbau, Renovierung? Studien zum Wandel des deutschen Kapitalismusmodells, Hamburg 2009, S. 13/14.Marburg2009, S. 134.

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allem nach der deutschen Vereinigung in den 90erJahren wurde der "Standort Deutschland" einer "Radi-kalkur" unterzogen: "dazu gehören die Begrenzungder Masseneinkommen, die Einschränkung sozial-staatlicher Leistungen, die Deregulierung des Arbeits-marktes, der Vorrang betrieblicher Regelungen vorFlächentarifverträgen oder die Senkung der Staats-quote ... Zur vorherrschenden Orientierung (der do-minierenden Akteure in Politik, Medien und Interes-senverbänden) wurde es, die Schwächung der we-sentlichen Säulen (des deutschen Modells) – insbe-sondere des Sozialstaates und des Systems der Flä-chentarifverträge – zur Voraussetzung eines Wieder-erstarkens der wirtschaftlichen Dynamik und der Er-höhung der Beschäftigung zu erklären".16 Der Würz-burger Ökonom Peter Bofinger sprach 2008 von ei-nem "Jahrzehnt der Entstaatlichung". Die herrschendePolitik zeichnete sich in diesem Zeitraum durch dieKombination von "Ressourcenentzug" und "Kompe-tenzentzug" aus. Tempo und Umfang, die diese Ent-staatlichung in Deutschland innerhalb weniger Jahreangenommen hat, sind in Europa einmalig.17

Was aber bedeutete dieser Umbau bzw. Abriss des"Modell Deutschland" für die "industriellen Beziehun-gen" und die Gewerkschaften? Die Kapitalseite hatvielfach die traditionelle "Konfliktpartnerschaft" auf-gekündigt, sie nutzt den "Zugewinn an Macht aufdem Arbeitsmarkt (als Folge der Massenarbeitslosig-keit) für ein dezentralisiertes ’concession bargaining’... Die Gewerkschaften haben demgegenüber viel vonihrem früheren Status einer Gestaltungsmacht verlo-

ren und beschränken sich immer mehr auf die Vertei-digung bestehender Arbeitsstandards".18 Die IGBCE(als drittgrößte Industriegewerkschaft) setzt ihren ex-trem sozialpartnerschaftlichen Kurs fort und hofftnach wie vor darauf, vom Arbeitgeberverband, aberauch von den Regierungsparteien belohnt zu wer-den. Für die IG Metall ist die Automobilindustrie nachwie vor ihre "Vorzeigebranche" (mit einem Organisati-onsgrad von über 50 %). Dennoch ist gerade hier derDruck des globalen Wettbewerbs und der Standort-konkurrenz besonders groß. Den Betriebsrätenkommt eine immer wichtigere – und durchaus ambi-valente – Funktion im Rahmen einer aufgewertetenBetriebspolitik zu, die sich keineswegs in eine gestei-gerte Macht der Organisation umsetzt. Die GBR-Vor-sitzenden der Großbetriebe der Automobilindustriewerden vielmehr zu den Machtzentren der IG Metall– regional und national. Probleme der betrieblichen Beschäftigungssicherungüberlagern mehr und mehr die Alltagspraxis von Be-triebsräten. In anderen Branchen und Bereichen – vorallem im Osten – wurde die IG Metall durch die Erosi-on der Flächentarifverträge und die geschwundeneVerhandlungsmacht der Arbeitgeberverbände ge-schwächt.19 Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.dihat nicht nur mit den internen Problemen einer Fusi-on von fünf vormals selbständigen Einzelgewerk-schaften zu tun, sondern wird mit einer enormenFragmentierung der Problemlagen und Interessen derBeschäftigten des tertiären Sektors, in dem Niedrig-lohn und prekäre Beschäftigung am weitesten ver-breitet sind, konfrontiert.20 Während in den prospe-rierenden Exportindustrien in den vergangenen bei-den Jahren z.T. deutliche Lohnsteigerungen durchge-setzt werden konnten, leidet der öffentliche Dienst,aber auch der Einzelhandel unter der Knappheit deröffentlichen Kassen und der Schwäche der Binnen-nachfrage. Zumal der öffentliche Dienst, der einst"Hort stabiler Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehun-gen" (und von starken Personalräten bei Post, Bahnund ÖD) war, "wird unter den Vorzeichen der Haus-haltssanierung und Privatisierung zu einem Faktorder Destabilisierung".21

Die Krise der Gewerkschaften, die für zahlreiche Staa-ten des entwickelten Kapitalismus in Nordamerikaund Europa für die Zeit nach 1980 konstatiert wird,22

manifestiert sich in der Erosion gewerkschaftlicher

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16) Ebd. S. 28.17) Peter Bofinger, Das Jahrzehnt der Entstaatlichung, in: WSI-Mitteilungen, Heft 7/2008, S. 351–357; vgl. auch Lehndorff, a.a.O., S. 198.18) Lehndorff, a.a.O., S. 33.19) "Von 1990 bis 2006 ist der Organisationsgrad der Arbeitgeberverbände nach Beschäftigten in Westdeutschland um mehr als 16 Prozentpunkte auf

nunmehr 56,5 % zurückgegangen; in Ostdeutschland fiel der Organisationsgrad zwischen 1991 und 2006 gar um mehr als 48 Prozentpunkte auf noch17,4 %". Thomas Haipeter, Erosion der industriellen Beziehungen? Die Folgen der Globalisierung für Tarifsystem und Mitbestimmung in der deutschenAutomobilindustrie, in: Lehndorff, a.a.O., S. 47– 80, hier S. 66.

20) Neben den drei großen gibt es – im DGB – noch die fünf "kleinen’" Gewerkschaften: IG Bau, Gewerkschaft NGG, Transnet, GEW und GdP (Polizei). Ineinigen dieser Verbände wird intern über den Anschluss an eine der großen Gewerkschaften diskutiert. Der wichtigste Grund für solche Überlegungen ista) der Druck der finanziellen Situation als Folge sinkender Mitgliederzahlen, und b) die Überlegung, dass – mit der Organisationsmacht einer großenGewerkschaft im Rücken – die Durchsetzungsfähigkeit gesteigert werden könnte. Das Beispiel von ver.di bewirkt allerdings nicht unbedingt Enthusiasmus.

21) Lehndorff, a.a.O., S. 33.22) Vgl. u.a. Andrew Martin/George Ross u.a., The Brave New World of European Labor. European Trade Unions at the Millenium, New York/Oxford 1999;

Richard Hyman, Understanding European Trade Unions. Between Markets, Class and Society, London 2001; Jeremy Waddington/Reiner Hoffmann

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Verhandlungs- und Durchsetzungsmacht. Diese Kriserealisiert sich als Machtverlust23 auf Seiten der Ge-werkschaften – d.h. das Kräfteverhältnis zwischenKapital und Arbeit verschiebt sich deutlich zugunstender Unternehmerinteressen und der politischen Kräf-te, die die neoliberale Restrukturierung des Kapitalis-mus ins Werk setzen: Ihre Organisationsmacht schwindet mit sinkendenMitgliederzahlen24 und einer geringen Mobilisierungs-fähigkeit bei tarifpolitischen, aber auch gesellschafts-politischen Auseinandersetzungen; die Streikaktivitäthat sich seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts (inden meisten europäischen Staaten und den USA)deutlich verringert.

Ihre strukturelle Macht bezieht sich auf die Fähig-keit, im Bereich der Tarifpolitik (Löhne, Arbeitsbedin-gungen) gesamtwirtschaftlich oder gesellschaftspoli-tisch wirksam zu werden – der Rückgang der Binnen-nachfrage, das Absinken der Lohnquote, die Heraus-bildung eines Niedriglohnsektors etc. sind daher auchAusdruck eines Machtverlustes der Gewerkschaften.

Schließlich verfügen die Gewerkschaften auch überinstitutionelle Macht. Diese wirkt über das Systemder industriellen Beziehungen und des kollektiven Ar-beitsrechtes (im Zentrum steht dabei das Betriebsver-fassungsgesetz und das Mitbestimmungsgesetz). Ob-wohl der rechtliche Rahmen in Deutschland (von derkonservativ-liberalen Regierung Helmut Kohl) seit den80er Jahren nicht substanziell verändert wurde, sinddie "organisierten Arbeitsbeziehungen selbst in denSog einer wettbewerbsorientierten Restrukturierunggeraten. Noch innerhalb der Hülle formal intakter In-stitutionen hat sich der Inhalt kollektiver Arbeitsbe-ziehungen seit Mitte der 1990er Jahre grundlegendgeändert".25 Die "neue Landnahme" (Klaus Dörre) cha-rakterisiert die Transformation dieser Institutionen, diezunehmend unter den Druck der Interessen und Ge-winnmaximierungsstrategien (z.B. "Shareholder-Value")des Finanzmarktkapitalismus geraten sind

Wie haben die Gewerkschaften auf diesen Machtverlust reagiert?

Die Organisationsstruktur der deutschen Gewerk-schaften hat sich in den vergangenen 25 Jahrengrundlegend verändert. Die 16 Einzelgewerkschaftenhaben sich durch Fusionen auf 8 reduziert, von de-nen 3 Großgewerkschaften (IG Metall, ver.di, IGBCE)weiterhin einen Sog auf die kleineren Gewerkschaf-

ten (vgl. Fußnote 20) ausüben. Das Prinzip der Indus-triegewerkschaft als Branchengewerkschaft ("ein Be-trieb – eine Gewerkschaft"), das nach 1945 als wichti-ger Bestandteil der Neugründung begriffen wordenwar, ist durch die Fusionen zu Verbänden, die vieleBranchen und Beschäftigungsbereiche umschließen,außer Kraft gesetzt. Vor allem die Fusion von fünfEinzelgewerkschaften zur Vereinigten Dienstleistungs-gewerkschaft ver.di hat einen völlig neuen Typus vonGewerkschaften geschaffen, der allerdings seit derver.di-Gründung im Jahre 2000 mehr als 20 % seinerMitglieder (von 3 Millionen auf 2,3 Millionen im Jah-re 2005) verloren hat. Konkurrierende Standesorgani-sationen (wie die Gewerkschaft der Lokführer, dieFluglotsen oder die Ärzte des Marburger Bundes)nutzen die Schwäche von DGB-Gewerkschaften aus,indem sie durch – gelegentlich militante – Streikak-tionen verbesserte Entlohnung, Einstufungen usw.durchsetzen konnten. Damit wurde z.T. das negativeImage der Großgewerkschaft – als eines eher unbe-weglichen Tankers, der von seinen Binnenproblemenzusätzlich gelähmt wird – verstärkt, während auchLinke z.B. von der kleinen, beweglichen, frechenLokführergewerkschaft (die freilich ansonsten voll-ständig dem Typus einer konservativen berufständi-schen Organisation zuzurechnen ist) zu schwärmenbegannen.

Der DGB – 1949 als das Dach der Gewerkschaftengründet – war von Anfang an vor allem gegenüberden großen Gewerkschaften relativ schwach; denn inden Kernbereichen der Interessenvertretung (Tarifpo-litik, betriebliche Interessenvertretung) sind die Ein-zelgewerkschaften autonom. Dazu sind sie finanziellselbständig, d.h. der DGB hängt von der Bereitschaftder (großen) Gewerkschaften ab, ihn zu finanzieren.Während der DGB (oft auch durch starke Vorsitzendewie Hans Böckler) in den gesellschaftspolitischen Re-formdebatten (in den frühen 50er Jahren, aber auchin den 70er Jahren) eine wichtige Rolle spielte, hat erseitdem sukzessive an Bedeutung und Einfluss verlo-ren. Zum 60. Jahrestag seiner Gründung beklagenehemalige Mitarbeiter das "lange Sterben der Ein-heitsgewerkschaft DGB".26

Auf der politisch-strategischen Ebene haben dieGewerkschaften mit einer Aufwertung der betriebli-chen Interessenvertretung, damit einer Aufwertungder Betriebsräte, auf die Erosion ihrer organisatori-schen und strukturellen Macht reagiert. Die Tarifpoli-tik (für die im "dualen System" der Interessenvertre-

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(Hrsg.), Zwischen Kontinuität und Modernisierung. Gewerkschaftliche Herausforderungen in Europa, Münster 2001.23) Zum Machtbegriff und seiner Bedeutung für die Analyse langfristiger Entwicklungstrends der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung vgl. Beverly Silver,

Forces of Labor. Workers’ Movements and Globalization since 1870, Cambridge 2003.24) Zwischen 1991 und 2006 haben die DGB-Gewerkschaften (von 11,8 auf 6,8 Millionen) ein Drittel ihrer Mitglieder verloren; der Organisationsgrad ging im

gleichen Zeitraum von 34,8 auf ca. 20 % zurück (vgl. Ulrich Brinkmann u.a., Strategic Unionism. Aus der Krise zur Erneuerung?, Wiesbaden 2008, S. 34).25) Brinkmann u.a., S. 30/31.26) Für Eberhard Fehrmann (Death of a Clown. Vom langen Sterben der Einheitsgewerkschaft DGB, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, 6/2009) ist "der

Weg des DGB zu einem Briefkopf-DGB mit angeschlossener Rechtsberatung ... ebenso vorgezeichnet wie weitere Zusammenschlüsse derGewerkschaftsverbände, denen es trotz ihrer Fusionen nicht gelungen ist, das Gefälle zwischen großen und kleinen Verbänden einzuebnen und zivileModalitäten eines zwischengewerkschaftlichen Ausgleichs zu praktizieren. Dies wird irgendwann in eine Phase münden, in der der DGB als passiverGmbH-Mantel die Form liefert, in der sich die drei oder vier noch existierenden Verbände in einer außerordentlichen Notlage zu einer AllgemeinenEinheitsgewerkschaft zusammenschließen" (S. 40/41).

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tung die Gewerkschaft zuständig ist) und die gesell-schaftspolitische Ebene wurden dagegen abgewer-tet. In den 90er wurden "Bündnisse für Arbeit" propa-giert, die auf der tarifpolitischen Ebene die Zurück-haltung der Gewerkschaften bei Lohnforderungen be-inhalteten, die durch die Zusagen der Arbeitgeber fürBeschäftigungssicherung gleichsam belohnt werdensollten. Die Politik der "Standortsicherung" ("Wettbe-werbskorporatismus") verlagerte freilich auch die In-halte der Interessenvertretung: "In den Betrieben wirdnun vor allem über das Maß an Beschäftigungs-, Ein-kommens- und Statusunsicherheit verhandelt, das denArbeitern und Angestellten zugemutet werden soll".27

Indem sich die Gewerkschaften mehr und mehr aufdie Betriebe ("Bastionen") konzentrieren, in denen sienoch gut organisiert sind, verstärken sie die Defizite,gewerkschaftlicher Organisation in anderen Berei-chen. Die personale Ausdünnung der Apparate alsFolge der Mitgliederverluste und der geringeren Ein-nahmen (vor allem beim DGB, aber auch bei denmeisten Einzelgewerkschaften) hat dazu geführt,dass die betriebliche Betreuung, die Arbeit "in derFläche" (z.B. durch DGB-Ortskartelle), politische Inter-ventionen der Gewerkschaften auf der kommunalenund Landesebene (z.B. bei der Bildungspolitik oderbei der Privatisierung von öffentlichem Eigentum) zu-rückgenommen werden mussten. Gleichzeitig wurdedie Bildungsarbeit abgebaut, der Anteil politischer(und kapitalismuskritischer) Bildung zurückgefahren,die Personengruppenarbeit (Jugend, Frauen, Ange-stellte etc.), bei der der DGB zeitweilig eine wichtigeRolle spielte, eingeschränkt. Das führt u.a. dazu, dassdie Gewerkschaften gerade in den Bereichen, in de-nen die Transformationsprozesse zum Finanzmarkt-kapitalismus und die Widersprüche der neuen Forma-tion am deutlichsten zum Ausdruck kommen, nurschwach Fuß zu fassen vermochten. Das betrifft wei-tere Bereiche des privaten Dienstleistungssektors (mitdem Kern der Banken, Versicherungen und Finanzin-stitutionen), aber auch die IT-Branche. Auf der ande-ren Seite ist mit dem Niedriglohnsektor und der Zu-nahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse die Her-ausbildung eines Dienstleistungsproletariats verbun-den, das sich überwiegend aus Frauen sowie aus Mi-grantInnen zusammensetzt, die für die Gewerkschaf-ten nur sehr schwer zu erreichen sind.

Schließlich wird dieser Machtverlust auch durch dieProzesse der Internationalisierung kapitalistischer Pro-duktion und der Finanzmärkte verstärkt. In den wich-

tigsten Börsen der Welt, in den Rating-Agenturenoder in den Bankhäusern der globalen Finanzzentrenspielen Gewerkschaften überhaupt keine Rolle. Beiden sog. institutionellen Anlegern (z.B. Pensions-fonds) hingegen, die zu wichtigen Akteuren des Ca-sino-Kapitalismus gehören, tauchen gelegentlich Pen-sionsfonds US-amerikanischer Gewerkschaften auf;über die Beteiligung deutscher Gewerkschaften andem Aufbau einer betrieblichen Säule der Altersi-cherung werden diese ebenfalls in die spekulativenSpiele der globalen Finanzmärkte einbezogen.

Bei den Transnationalen Konzernen verweisen die Ge-werkschaften gerne auf die Einrichtung von Eurobe-triebsräten bzw. von Weltbetriebsausschüssen, in de-nen – z.B. bei den deutschen Automobilkonzernenwie VW oder Daimler – auch die IG Metall und ihreBetriebsräte eine wichtige Rolle spielen. Dennoch zei-gen die zahlreichen Studien, die in den letzten Jahrenz.B. zu den Eurobetriebsräten angefertigt wurden,dass von einem Machtgewinn der Gewerkschaftenauf der internationalen Ebene oder gar dem Ausbaueines Systems transnationaler Gegenmacht nicht dieRede sein kann.28 Oftmals verstehen die Betriebsräteder Muttergesellschaft ihre Aufgabe dahingehend,dass sie den "Kollegen" aus Betrieben anderer Staaten(z.B. in Spanien oder in Tschechien) klar machen,dass sie weniger streiken sollen und sich dafür mehrin Prozesse der kontinuierlichen Verbesserung derProduktivität einzubringen hätten. Der Fall des VW-Vorstandmitgliedes Peter Hartz und seines Betriebs-ratsvorsitzenden Klaus Volkert (beide IG Metall undVertraute des früheren SPD-Kanzlers Gerhard Schrö-der) hat freilich dargelegt, dass diese Rolle deutscherBetriebsräte, die sich als Co-Manager verstehen, ei-

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27) Brinkmann u.a., a.a.O. S. 31.28) Klassenanalysen müssen berücksichtigen, wie sich im Zuge der Globalisierung die Machtbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit (die üblicherweise auf

der Eben des Nationalstaates betrachtet werden) verändert haben. Die herrschende Klasse hat sich auf jeden Fall internationalisiert: die Spitzenkräfte derFinanzmarktakteure und -institutionen, die Manager der Transnationalen Konzerne, das Spitzenpersonal der internationalen Organisationen und dieSpitzen der politischen Klasse in den wichtigsten kapitalistischen Staaten, dazu Mainstream-Wissenschaftler, Künstler sowie Sportler und Größen derPop-Musik bilden die Spitze der transnational herrschenden Klasse; sie werden gelegentlich auch als die "Davos-People" (Weltwirtschaftsforum)bezeichnet; vgl. David Rothkopf, Die Super-Klasse. Die Welt der internationalen Machtelite, München 2008. Die Arbeiterklasse hingegen – die seit dem"Kommunistischen Manifest" (1848) den Internationalismus propagiert hatte – ist auf der internationalen Ebene (etwa durch die Weltgewerkschaftsbündeoder durch Belegschaftsvertretungen in Transnationalen Konzernen) machtpolitisch deutlich schwächer präsent. Vielfach tendieren die Opfer bzw. dieVerlierer der "Globalisierung" zu nationalistischen bzw. rassistischen Reaktionen auf den Internationalisierungsprozess. Darin reflektiert sich aber letztlichihre Schwäche – aber auch die Schwäche politischer Organisationen, die den Internationalismus (als Antikapitalismus bzw. als Antiimperialismus) in denKöpfen und der Alltagskultur der Lohnabhängigen lebendig erhalten.

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nen relativ hohen Preis hat, der wiederum seinerseitsdurch die Macht der IG Metall vor Ort, d.h. durch denerreichten Organisationsgrad im Betrieb und durchdie Mobilisierungsfähigkeit der Belegschaft in tarif-politischen Fragen bestimmt wird. Auch die Rolle desPorsche BR-Vorsitzenden Uwe Hück, der wie ein Va-sall seines Feudalherren Wiedekind agierte, ist nichtallein psychologisch zu interpretieren. Sie wird eben-falls nur verständlich im Kontext der starken Positionder Gewerkschaften im Betrieb (hoher Organisations-grad, eine Verwaltungsstelle und Bezirksleitung derIG Metall, die die Belegschaft in tarifpolitischen Aus-einandersetzungen zu mobilisieren versteht). DasAusmaß von Mitteln, die für die Integration von Be-legschaftsvertretern für die Unternehmenszweckeeingesetzt werden, entspricht demnach nach wie vorder Macht, die die Gewerkschaft in solchen Betriebenrepräsentiert. Solche Einzelfälle, die auch auf derEbene der Niederlassungen deutscher Konzerne z.B.in Brasilien (Sao Paulo) oder Südafrika zur Geltungkommen können, bilden freilich die Ausnahme, undsind in der Regel sehr eng an sozialpartnerschaftlichorientierte Betriebsstrategien geknüpft.29

4. Die Gewerkschaften müssen ihre Interessenvertretung mit dem politischen Kampf verbinden

Wenn es zutrifft, dass sich mit dem Finanzmarktkapi-talismus seit Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhun-derts eine neue Formation des Kapitalismus durchge-setzt hat, die die für die sog. "Golden-Age-Periode"der Nachkriegszeit charakteristische Formation desfordistischen Kapitalismus abgelöst hat, dann zwin-gen die Veränderungen der Gewerkschaften, die wirim vorangehenden Abschnitt analysiert haben, auchzu der Schlussfolgerung, dass sich der Typus der "for-distischen Industriegewerkschaft" (zentriert um dieZentren der fordistischen Massenproduktion) zwarnicht (wie die IG Metall zeigt) vollständig aufgelöst

hat, aber doch im Zusammenhang der Gesamtent-wicklung der Gewerkschaften nicht länger als derendominanter Typus gelten kann. Im Grunde genom-men geht es darum, gewerkschaftliche Interessenver-tretung, Organisations- und Kampfbedingungen neuzu definieren und praktisch anzueignen.30 Auch diemarxistische Gewerkschaftsanalyse ist dabei heraus-gefordert, ihr Konzept der Klassengewerkschaft bzw.der Klassenautonomie (als Prinzip gewerkschaftlichenHandels) kritisch zu überdenken. Der entscheidendePunkt betrifft die Problematik der sozialen Ungleich-heit, d.h. der Klassenanalyse des gegenwärtigen Ka-pitalismus, die – nach einer langen Periode des Be-schweigens im herrschenden Wissenschaftsbetrieb –in den letzen Jahren wieder mehr Aufmerksamkeitauf sich gezogen hat.31

Die Durchsetzung des Finanzmarktkapitalismus hat –auf der Basis einer enormen Produktivkraftsteigerungim Gefolge der "mikroelektronischen Revolution" – zueiner Abwertung des klassischen industriellen Kernsder Arbeiterklasse (in den Kapitalmetropolen) ge-führt; dabei spielt auch die Verlagerung industriellerProduktion in die "Schwellenländer" eine wichtigeRolle. Dort (z.B. in Südkorea, Südafrika und in Brasili-en) haben sich in diesem Zusammenhang Kämpfeum die Anerkennung von Gewerkschaften sowie umdie Demokratie vollzogen.32 Gleichzeitig hat sich dieLohnarbeit im Dienstleistungssektor ausgeweitet –wobei der größte Zuwachs an Beschäftigung nicht inden oberen Segmenten qualifizierter Tätigkeiten, imBereich der Banken, Versicherungen, Unternehmens-beratung, Werbung etc., sondern in den unterenSegmenten des Arbeitsmarktes (Einzelhandel, Hotel-und Gaststättengewerbe, persönliche Dienstleistun-gen etc.) stattgefunden hat. In diesen Segmentennimmt der Anteil prekärer – nicht standardisierter –Arbeitsverhältnisse zu. Dies betrifft sowohl Teile derindustriellen Arbeiterklasse und der lohnabhängigenMittelschichten, die über die Arbeitslosigkeit auf denWeg des sozialen Absturzes geraten, als auch solche"Prekarier", die phasenweise zwischen Arbeitslosigkeit(und Hartz IV) und ungeschützten Tätigkeiten pen-

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29) Bei einer genaueren Analyse dieser Problematik wäre selbstverständlich auch auf die Bedeutung der Vertretung der DGB-Gewerkschaften auf dereuropäischen Ebene – in den Institutionen der EU bzw. durch den EGB oder die europäischen Branchengewerkschaften (wie der EMB) einzugehen. In denfrühen 90er Jahren brach eine regelrechte Euphorie hinsichtlich der möglichen Beeinflussung der EU-Sozialpolitik durch die Gewerkschaften aus. DieHans-Böckler-Stiftung des DGB stellte viel Geld für Forschungen in diesem Bereich zur Verfügung. Jacques Delors (Präsident der EU-Kommission bis 1992)hatte den Gewerkschaften des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) versprochen, dass der Binnenmarkt – also die Marktintegration –- auf jeden Falldurch eine Sozialintegration flankiert werden müsse. Schließlich gab die Richtlinie über die Eurobetriebsräte einen zusätzlichen Anstoß. Inzwischen sindauch auf diesem Felde manche Illusionen verflogen. Zuletzt haben die Urteile des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), die die Freiheiten desBinnenmarktes über soziale Grundrechte (wie das Streikrecht) stellen, Kritik an der neoliberalen Ausrichtung der europäischen Politik provoziert. Vgl. dazuu.a. Hans-Jürgen Urban, Den EU-Prozess neu programmieren, in: Die Mitbestimmung, 3/2009, S. 28–32, sowie Martin Höpner, Integration durchUsurpation – Thesen zur Radikalisierung der Binnenmarktintegration, in: WSI-Mitteilungen, 8/2009, S. 407–415.

30) In der Geschichte der Gewerkschaftsbewegung gab es immer wieder Perioden, in denen auf der einen Seite traditionale Organisationen (z.B. von weißen,männlichen Facharbeitern in den USA) zu eher konservativ-ständischen Verbänden erstarrten, während aus den Kämpfen und der Selbstorganisation vonneuen Gruppen der Lohnabhängigen (z.B. der ungelernten Massenarbeiter in der Automobilindustrie in den 30er Jahren) auch ein "New Unionism"hervorging. Entscheidend war dabei stets a) spontaner Druck (und Kampfbereitschaft) von unten und b) Führungskräfte, denen die Sackgassen bewusstwaren, in die die ständischen Verbände mit ihrer sozialpartnerschaftlichen bzw. korporatistischen "Philosophie" geraten waren. Voraussetzung für denUntergang der "alten" Gewerkschaften war in der Regel, dass ihre Instrumente der Politik nicht mehr griffen und sie deshalb nur noch partielle Erfolge (füreine kleine Schicht von "Arbeiteraristokraten") bei der Interessenvertretung vorweisen konnten (in den USA hatte diese Tendenz – zusammen mit derBedeutung der Closed Shops – auch die Ausweitung der Korruption und das Eindringen krimineller Elemente in die Gewerkschaftsorganisation erleichtert).

31) Vgl. dazu u.a. Klaus Dörre, Neubildung von gesellschaftlichen Klassen. Zur Aktualität des Klassenbegriffs, in: Joachim Bischoff u.a., Klassen und sozialeBewegungen, Hamburg 2003, S. 18– 32; Sebastian Herkommer, Ausgrenzung und Ungleichheit. Thesen zum neuen Charakter unsererKlassengesellschaft, in: Roland Anhorn u.a. (Hrsg.), Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit, Wiesbaden 2005 (2. Auflage), S. 63–82.

32) Der derzeitige Staatspräsident von Brasilien, Luiz Ignácio Lula da Silva, war der Führer in diesen Kämpfen, aus denen auch die Arbeiterpartei (PT) und dieCUT-Gewerkschaften hervorgegangen sind. Vgl. auch Beverly Silver, Forces of Labor, a.a.O., S. 54 ff.

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deln. Schließlich nimmt der "Bodensatz" jener rapidezu, die die "Position der Überzähligen" einnehmen,d.h. die sich "in einer Art gesellschaftlichen ’no man’sland’ herumtreiben", also dauerhaft vom Zugang zurLohnarbeit ferngehalten sind.33

Diese Fragmentierung einer Klassenerfahrung, diedurchaus auf die (Beziehung zur) Zentralität vonLohnarbeit gebaut ist, blockiert immer mehr die Defi-nition und Artikulation gemeinsamer, allgemeinerKlasseninteressen. Die Spaltungen beziehen sich al-lerdings nicht allein auf die zunehmende Differenzie-rung und Spreizung zwischen den verschiedenenGruppen der LohnarbeiterInnen, die sich im Lohnni-veau, der Qualifikation, der Sicherheit des Arbeitspro-zesses, der Lebensweise und Kultur ausdrückt unddabei verschiedene Milieus (in der Lohnarbeit) gegen-einander abgrenzt.34 Die Spaltungslinien in der Ar-beitswelt selbst "in wachsende Prekarität und subjek-tivierte Arbeit"35 bedeutet zugleich, wie Dieter Sauerbetont, dass zumindest gegenwärtig eine einheitlicheArbeitspolitik à la anti-tayloristische Humanisierungimmer problematischer wird. Sie bricht sich mit einerdifferenzierten Arbeitslandschaft, "in der sich vorfor-distische und tayloristische, aber eben auch postfor-distische Problemstellungen mischen".36

Natürlich sind Spaltungen und Fragmentierungenvon Klassenerfahrung nicht neu; sie durchziehen diegesamte Geschichte des Kapitalismus und der Arbei-terbewegung.37 Politik bedeutet stets die Aggregati-on unterschiedlicher – individueller und fraktioneller– Interessen innerhalb der Klasse – mit anderen Wor-ten: der Repräsentanz einer spezifischen Beziehungvon besonderen und allgemeinen Interessen der Klas-se. Für die Herrschaftsinteressen der Bourgeoisie, de-ren Mitglieder ebenfalls individuelle, konkurrierendeInteressen haben, kommt dem kapitalistischen Staatdie Aufgabe zu, diese Vermittlung zu leisten. Den-noch hat die Fragmentierung im Übergang ins 21.Jahrhundert in den Kapitalmetropolen eine neueQualität angenommen, die gerade diese Notwendig-keit der Aggregation betrifft:

"Die Krise der Repräsentation"38 resultiert nicht al-lein daraus, dass der gewerkschaftliche Organisations-grad deutlich gesunken ist (auf etwa 20 %). Der An-spruch der Einheitsgewerkschaft, die Lohnabhängi-gen in ihrer Gesamtheit zu repräsentieren, ist ebensodeutlich eingeschränkt.39 Außerdem entspricht dassoziale Profil der Mitglieder der DGB-Gewerkschaften(nach Berufstätigkeit und Qualifikation, Betriebs-größen, Alter, Geschlecht, Nationalität usw.) immerweniger der sozialen Realität. Obwohl bei Angestell-ten, Frauen, IT-Kräften, Jugendlichen, MigrantInnenund "Prekariern" in den letzten Jahren viele neue Mit-glieder gewonnen wurden, entspricht deren Anteilan den Gewerkschaftsmitgliedern – im Verhältnis zuden Arbeitern der industriellen Großbetriebe, den Be-schäftigten in bestimmten Sektoren des öffentlichenDienstes, zu älteren Lohnabhängigen und zu Rent-nern – noch längst nicht ihrem Anteil an der Gesamt-heit der Beschäftigten.

Angesichts der Fragmentierung der Arbeits- undBeschäftigungsverhältnisse und – daraus resultierend– der sozialen Interessen wird es immer schwieriger,die allgemeinen und einheitlichen Interessen derKlasse (soweit sie überhaupt durch die Gewerkschaftwahrgenommen werden können) zu artikulieren undzu repräsentieren. Auf der einen Seite nehmen die"weißen Flecken" auf der sozialen Landkarte (Arbeits-markt) zu, die Arbeitsverhältnisse (und Reprodukti-

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33) Klaus Dörre, Die Wiederkehr der Unsicherheit – Konsequenzen für die Arbeitspolitik, in: Richard Detje u. a. (Hrsg.), Arbeitspolitik kontrovers, Hamburg2005, S. 73–103, hier S. 74.

34) Vgl. Michael Vester, Soziale Milieus in Bewegung, in: ders. u.a., Die neuen Arbeitnehmer, Hamburg 2007, S. 31–51.35) Im "Bruch mit tayloristischen Rationalisierungsprinzipien ... wird wieder verstärkt Arbeitskraft nicht nur als Objekt, sondern gerade als Subjekt adressiert".

Dieter Sauer, Paradigmenwechsel in der Arbeitspolitik, in Richard Detje u.a., a.a.O., S. 54–72, hier S. 56.36) Ebd.37) Vgl. Frank Deppe, Einheit und Spaltung der Arbeiterklasse. Überlegungen zu einer politischen Geschichte der Arbeiterbewegung, Marburg 1981. Nikos

Poulantzas (Politische Macht und gesellschaftliche Klasen, Frankfurt/Main 1975, S. 275/6) hatte (im Anschluss an Marx und Lenin) die Funktion derpolitischen Partei darin bestimmt, "die revolutionäre politische Einheit dieser Klasse herzustellen, die permanent im individuellen, lokalen, partiellen undvereinzelten ökonomischen Kampf befangen ist".

38) Vgl. dazu Ulrich Brinkmann u.a., a.a.O., S. 33 ff.39) Mit der Gründung der Einheitsgewerkschaft verband sich – als Ergebnis der Erfahrung des Faschismus und der Niederlage der deutschen

Arbeiterbewegung im Jahre 1933 – nach 1945 auch der Anspruch, die Spaltung zwischen den weltanschaulich-politischen Richtungsgewerkschaften(christlich, sozialdemokratisch, kommunistisch) zu überwinden. In der Zeit des Kalten Krieges bestand dieser Anspruch fort, obwohl die Kommunisten ausdem Apparat ausgeschaltet waren und die "Christen" aus der CDU/CSU nur eine sehr kleine Minderheit bildeten. Die DGB-Gewerkschaften waren in den50er und 60er Jahren de facto sozialdemokratische Richtungsgewerkschaften; als in den 70er Jahren dieses Monopol zu bröckeln schien, begann soforteine Kampagne gegen die sog. "kommunistische Unterwanderung" der Gewerkschaften. Heute ist das Bewusstsein von der politischen Bedeutung derEinheitsgewerkschaft weitgehend verloren gegangen; die Linken in den Gewerkschaften haben freilich gute Gründe, die Prinzipien derEinheitsgewerkschaften und ihrer parteipolitischen Unabhängigkeit zu verteidigen.

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onsbedingungen) erkennen lassen, die weder durchTarifverträge noch durch Sozialgesetze – im Extrem-fall durch die Staatsangehörigkeit – geschützt sind.Die traditionellen Instrumente gewerkschaftlicher In-teressenvertretung – Tarifpolitik, betriebliche Interes-senvertretung auf der Basis des BetrVG, arbeitsrecht-licher Schutz und sozialpolitische Lobbyarbeit – grei-fen in den prekären und marginalen Sektoren desArbeitsmarktes nicht mehr.

Auf der anderen Seite haben sich in den letzten Jah-ren die Segmentierungen zwischen den großen Berei-chen Produktion (verarbeitendes Gewerbe/Grund-stoffindustrien sowie unternehmensbezogene Dienst-leistungen wie Forschung, Finanzdienstleistungen),Konsum/Verteilung (Handel, Verkehrswesen, Nach-richtenübermittlung, Hotels und Gaststätten) sowieVorsorge (öffentliche Verwaltung, Erziehung, Ge-sundheits- und Sozialwesen, Entsorgung) verstärkt.40

Die Produktion ist auf den Export ausgerichtet; anden Erfolgen partizipieren auch die Beschäftigtenund die Gewerkschaften, sofern sie sich – als Co-Ma-nager – an den Strategien der Verschlankung undKostenreduzierung (als Voraussetzung für die Ver-besserung der globalen Wettbewerbsfähigkeit) betei-ligen. Der Konsumsektor leidet unter der schwachenBinnennachfrage und der "Vorsorgesektor" leidet un-ter der neoliberalen Politik der "Entstaatlichung". Die-se Unterschiede bekommt vor allem die Dienstleis-tungsgewerkschaft ver.di zu spüren, die demzufolge– sowohl bei der Entlohnung, als auch bei der Ar-beitszeit – deutlich schlechtere Regelungen erkämp-fen und verteidigen muss als z.B. die IG Metall in derAutomobilindustrie.41

Die zahlreichen Streiks, die in den letzten Jahren imOrganisationsbereich von ver.di stattgefunden haben(zuletzt die Erzieherinnen und die Pflegekräfte), sind(übrigens nicht nur in Deutschland) Vorboten sozialerund politischer Konflikte (denn Erzieherinnen undPflegekräfte sind in der Regel beim Staat oder beiden Kommunen beschäftigt), die in der Zukunft fürdie Entwicklung der Löhne und der Arbeitsbedingun-gen, für die industriellen Beziehungen und die Ent-wicklung von Gegenmacht (gegenüber Staat und Ka-pital), damit von Wirtschaftsdemokratie, und schließ-lich für die Entwicklung der Gewerkschaften in denhochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften im-mer lebenswichtiger werden. Schon heute gehören ineinigen Ländern die Gewerkschaften der Lehrer unddes Universitätspersonals, der ErzieherInnen, desPflegepersonals im Bereich der Altenpflege und desGesundheitswesens, der angestellten Ärzte usw. zuden streikfreudigsten Gruppen innerhalb der Lohnar-beiterschaft.

Diese Fragmentierung lässt deutlich erkennen,dass die Aufgabe der Organisation nicht nur darinbestehen kann, die partiellen Interessen von Beleg-schaften oder Beschäftigtengruppen wahrzunehmen,sondern diese Interessenvertretung mit dem Kampfauf der politischen Ebene zu verbinden. Die Schran-ken der Tarifpolitik erzwingen geradezu den Einsatzz.B. für einen gesetzlich geregelten Mindestlohn.Auch in anderen Bereichen (beim Arbeitslosengeldund in der Sozialfürsorge, Alterssicherung/Rente, Ge-sundheitsschutz, aber auch im System der Bildung,Aus- und Weiterbildung) sind staatliche Interventio-nen gefordert, die Mindestbedingungen und Schutzfür Menschen zu gewährleisten, die durch die tradi-tionellen Instrumente gewerkschaftlicher Politik nichtmehr erreicht werden. Angesichts des Absinkens derLohnquote in den vergangenen Jahren, der Privatisie-rung öffentlicher Dienstleistungen und in den sozia-len Sicherungssystemen, aber auch angesichts dersteuerlichen Entlastung der Besserverdienenden ist esimmer wichtiger geworden, dass die Gewerkschaf-ten, die traditionell über ihre Lohnpolitik die Primär-verteilung beeinflussen, auch auf der Ebene der Se-kundärverteilung Macht und Einfluss gewinnen. Da-bei geht es einerseits um die Prioritäten der Vertei-lung (Sozialpolitik/Infrastruktur statt Militärausgabenund Bankensanierung); anderseits geht es um die Ein-nahmen des Staates, d.h. um die Steuerpolitik und de-ren zentrale Bedeutung für soziale Gerechtigkeit.

Auf diesem Gebiet wird die Artikulation eines einheit-lichen Standpunktes bzw. Interesses durch zwei gra-vierende Veränderungen beeinträchtigt:

a) Der DGB ist als Dachorganisation zu schwach, umdiese Aufgabe erfolgreich wahrzunehmen. Es gab Pe-rioden harter gesellschaftspolitischer Auseinanderset-zungen – zum Beispiel Anfang der 50er Jahre um dasMitbestimmungs- und Betriebsverfassungsgesetz oderin den frühen 70er Jahren, in der Zeit der "Reformpo-litik" (z.B. Bildungsreform, Humanisierung der Arbeit,Mitbestimmung) –, in denen der DGB diese Aufgabeder Repräsentanz von politischen Positionen der ge-samten Gewerkschaftsbewegung wahrgenommenund damit in den politischen und sozialen Auseinan-dersetzungen eine wichtige politische Rolle spielte.42

Die großen Einzelgewerkschaften vertreten jedochoftmals bei den politischen Forderungen unterschied-liche Positionen; auf der Ebene des DGB werdendann Kompromissformulierungen gesucht, die dieKonfrontation mit den Regierenden (und den sie tra-genden Parteien) möglichst entschärfen. Vor allemdie "alte IG Chemie" – heute IGBCE – besteht darauf,sozialpartnerschaftliche Kooperation nicht zu gefähr-den. Mit der Fusion zu den Großgewerkschaften hat

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40) Vgl. Steffen Lehndorff u.a., a.a.O., S. 23.41) In den von Steffen Lehndorff herausgegebenen Studien zum Wandel des deutschen Kapitalismusmodells (a.a.O.) finden sich Einzelstudien zur

Entwicklung der Beschäftigung und der industriellen Beziehungen in verschiedenen Branchen (Automobilindustrie, Einzelhandel, Bauwirtschaft,Altenpflege und öffentlicher Personennahverkehr), in denen diese Unterschiede sehr deutlich herausgearbeitet werden.

42) Die Konstruktion des DGB waren allerdings von Anfang an so angelegt, dass er diese Rolle niemals gegen den Willen der großen Einzelgewerkschaften(besonders der IG Metall) wahrnehmen konnte.

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diese "Blockadepolitik" innerhalb des DGB auf jedenFall an Bedeutung gewonnen. Gleichzeitig ist z.B.durch aus Aufgehen der IG Medien in ver.di die At-traktivität einer kleinen Gewerkschaft verblasst, diedurch ihre kritischen und radikalen Standpunkte,aber auch durch das Format ihrer Führungskräfteund die Intelligenz vieler Betriebsräte (aus der altenDruckindustrie) in die gesamte Gewerkschaftsbewe-gung auszustrahlen vermochte.

b) Die Geschichte der Arbeiterbewegung war seitder Gründung der II. Internationale (1889) durch eine"Säulenstruktur" gekennzeichnet, die zugleich eineArbeitsteilung zwischen den "Säulen" bedeutete: dieGewerkschaft war für die Verbesserung der Arbeits-und Lebensbedingungen der Lohnarbeiter in der Wirt-schaft, die Partei für die Durchsetzung von Demokra-tie und Sozialreformen im Parlament zuständig. Dierevolutionären Kräfte (die Anarchosyndikalisten eben-so wie die Leninisten) lehnten diese Form der "Ar-beitsteilung" ab; sie stritten sich oftmals über die Rol-le und Aufgaben der Gewerkschaften im Prozess derRevolution – sie erkannten die Notwendigkeiten desgewerkschaftlichen Kampfes, die Schranken des "reinökonomischen" Kampfes sollten jedoch – so die Kom-munisten der 3. Internationale – durch die politischeFührungsfunktion der Partei überwunden werden.Nach 1945 haben in Westeuropa die sozialdemokra-tisch/sozialistischen Parteien (in einigen Ländern wieItalien und Frankreich auch die kommunistischenMassenparteien) im wesentlichen die Funktion derpolitisch-parlamentarischen Repräsentanz der Ge-werkschaften übernommen.43 Erst in den 70er Jahrengab es deutliche Bestrebungen auf Seiten der Ge-werkschaften, sich von dem Führungsanspruch politi-scher Parteien zu lösen und in den Auseinanderset-zungen um gesellschaftspolitische Reformen als au-tonome Kräfte zu agieren.44 Seit den 80er Jahren hatsich diese Beziehungsstruktur zunehmend aufgelöst.Die Transformation der großen sozialdemokratischenParteien (New Labour, SPD, PSOE, PS u.a.) zur euro-päischen "Marktsozialdemokratie"45 war von einer Dis-tanzierung gegenüber den alten Bündnispartnern(wie insgesamt der "alten" proletarischen Basis derPartei) geprägt; als Regierungsparteien gerieten sieimmer mehr in z.T. offene Konflikte mit relevantenTeilen der Gewerkschaftsbewegung ihres Landes.46

Die kommunistischen Massenparteien gerieten seitden späten 70er Jahren in den Sog einer Abwärtsbe-wegung; der Zusammenbruch der staatssozialisti-schen Systeme um die Sowjetunion versetzte ihnengleichsam den "Todesstoß". Damit zerbrach aber eine

Bindung, die für die Durchsetzung (oder überhauptnur Wahrnehmung) gewerkschaftlicher Forderungenauf der politischen Ebene von außerordentlicher Be-deutung ist; denn die Unterstützung gewerkschaftli-cher Forderungen im Bundestag durch die Linksparteireicht natürlich längst nicht aus, um diese mehrheits-fähig zu machen. Die Kehrseite der Autonomie be-steht also darin, dass die Gewerkschaften, in ihrem"Kerngeschäft" geschwächt, nun auch im politischenRaum ihre traditionellen Bündnispartner und damitEinflussmöglichkeiten (von den Parlamenten bis zuden Regierungsapparaten, z.B. im Arbeits- und So-zialministerium) verlieren. Damit geht ein Macht- undAnsehensverlust in den Verhandlungen der Tarifpar-teien, insgesamt in der Öffentlichkeit und in den Me-dien, einher. Ob dieser Verlust durch neue Initiativen zur politi-schen Anpassung an die herrschenden Parteien wie-der ausgeglichen werden kann, mag bezweifelt wer-den; denn in den gewandelten Beziehungen zu denpolitischen Parteien reflektieren sich – in letzter In-stanz – jene sozialökonomischen Strukturveränderun-gen und die Hegemoniekonstellation des Neolibera-lismus, die mit dem Übergang in die Formation desglobalen Finanzmarktkapitalismus die Stellung derGewerkschaften im System des entwickelten Kapita-lismus geschwächt haben. Die "große Krise" seit 2008kommt nicht wie ein Naturereignis aus dem Nichts,sondern sie hat sich in diesen Strukturen des Finanz-marktkapitalismus quasi gesetzmäßig entwickelt; abersie trifft nunmehr auf Strukturen und Verhältnisse,die in den vergangenen Jahrzehnten durch das Re-gime des Neoliberalismus grundlegend umstruktu-riert worden sind. Ein Ausweg aus dieser Konstellati-on dürfte nur im Gefolge von Prozessen möglich sein,die (auch als Reaktion auf die Krise) gewerkschaftli-che Interessenvertretung als soziale Bewegung – imBündnis mit anderen sozialen und politischen Kräften– erneuern.

5. Wie die "strategische Lähmung" der Gewerkschaften überwunden werden kann

In den letzten Jahren vor dem "Einbruch" der Krise(seit 2007/08) gab es Anzeichen für eine Revitalisie-rung der Gewerkschaften. Die z.T. dramatischen Mit-gliederverluste wurden in einigen Ländern gestoppt.In fast allen europäischen Staaten gab es seit demEnde der 90er Jahre Generalstreiks, die sich gegen

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43) Dort, wo es christliche Richtungsgewerkschaften gab, haben die christdemokratischen "Volksparteien" diese Aufgabe übernommen; in derEinheitsgewerkschaft des DGB wurden die "Christen" immer wieder in Führungsfunktionen berücksichtigt – auch deshalb, weil der "Arbeitnehmerflügel" inder CDU/CSU bei der Durchsetzung von Gesetzesvorhaben (wie z.B. der Mitbestimmung oder der Rentenreform) ein notwendiger Koalitionspartner desDGB und der SPD war.

44) Vgl. dazu u.a. Frank Deppe, Autonomie und Integration. Materialien zur Gewerkschaftsanalyse, Marburg 1979.45) Vgl. Oliver Nachtwey, Marktsozialdemokratie. Die Transformation von SPD und Labour Party, Wiesbaden 2009.46) Der Sozialdemokrat Gerhard Schröder, der als Bundeskanzler mit seiner Agenda 2010 die Gewerkschaften zu Massendemonstrationen gegen die

Bundesregierung aufbrachte, bezeichnete in seiner Autobiographie – im Zusammenhang der Agenda 2010 – die Vorsitzenden der beiden größtenDGB-Gewerkschaften, Jürgen Peters (IG Metall) und Frank Bsirske (ver.di), als seine ärgsten politischen Gegner.

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die neoliberale Politik – im Bereich Renten, Gesund-heit, Bildung, Arbeitsmarkt – richteten. Bei Mei-nungsumfragen zeigte sich, dass das negative Bild,das die Gewerkschaften in den 90er Jahren abgaben,einem Meinungstrend gewichen ist, der angesichtsder anhaltenden Beschäftigungskrise, der Polarisie-rung von arm und reich, der Wahrnehmung einerGerechtigkeitslücke und der alles durchdringendensozialen Unsicherheit und des Glaubwürdigkeitsverlus-tes der politischen Klasse die Notwendigkeit starkerGewerkschaften anerkennt, auch wenn sich darausnicht unmittelbar ein Ansteigen der Mitgliederzahlenableiten lässt. Die relativen Erfolge der Linkspartei(mit Oskar Lafontaine und Gregor Gysi, aber auch mitder öffentlichen Unterstützung durch zahlreiche Ge-werkschafter) sind dagegen schon Ausdruck dieserUnzufriedenheit auf der politischen Ebene. Viele Ge-werkschafterInnen haben sich seit Seattle (1999) undPorto Alegre (2001) an den Treffen und den Aktiviti-täten der globalisierungskritischen Bewegung undvon attac beteiligt. Auf der europäischen Ebene gabes eine enge Kooperation zwischen Gewerkschafternund sozialen Bewegungen im Kampf gegen die sog."Dienstleistungsrichtlinie" (Bolkestein) sowie gegenden Lissabon-Vertrag.

Auch die Kritik an der "Strategieunfähigkeit" weiterTeile der Gewerkschaften darf nicht darüber hinweg-täuschen, dass auch organisatorisch geschwächteGewerkschaften die wichtigste Organisationsformder kollektiven sozialökonomischen Interessen derLohnarbeiter bleiben. Zumal in Zeiten der Krise kön-nen sie zu Trägern massiver sozialer Proteste werden,die auf einen Politikwechsel zielen. Trotz der schein-baren Lähmung von Führungsgruppen seit 2008 gabes auch in Deutschland Massendemonstrationen ge-gen die Abwälzung der Krisenlasten auf die Arbeit-nehmer (28. März und 16. Mai 2009); der "Kapitalis-mus-Kongress" des DGB im Mai 2009 war Ausdruckder Tatsache, dass die Wucht der Krise und die weitverbreitete Unsicherheit, aber auch die Unruhe beiden Belegschaften in den Betrieben und in der eige-nen Mitgliedschaft Druck auf die Führung ausgeübthaben, sich einer Fragestellung punktuell zu öffnen,die sie seit Jahrzehnten systematisch verdrängt hat.

Angesichts der herrschenden Ideologie, aber auchangesichts der vielfältigen Krisen des "realen Sozialis-mus" waren viele der Meinung aufgesessen, dass eszum Kapitalismus bzw. im Kapitalismus nur die Alter-native zwischen "sozialer Marktwirtschaft" (= gutesLeben) und "Marktradikalismus" (= Krise) gebe. Jetzterzwingt die Krise zumindest eine partielle Öffnungdes Horizontes von notwendigen Veränderungen im

und zum Kapitalismus.47 Immerhin beginnt auch un-ter Intellektuellen und Literaten eine solche Debatteund "Klimaveränderung", die schon im renommiertenSuhrkamp-Verlag angekommen ist.48 Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, wa-rum die Protagonisten des Neoliberalismus (seitHayek) die Gewerkschaften immer als ihre Hauptgeg-ner betrachten und innerhalb des "Arbeitgeberlagers"stets eine harte Fraktion den Konflikt mit den Ge-werkschaften sucht – ihr Idealbild des Kapitalismusund der freie Märkte lässt keine Gewerkschaftenmehr zu. Allerdings bilden sie – zumal in Deutschland– immer noch eine Minderheit gegenüber jener Kapi-talfraktion, die die Fahne der Sozialpartnerschafthochhält, weil sie sich im System der industriellenBeziehungen auf Planungssicherheit verlassen kön-nen und zugleich die Integrations- und Disziplinie-rungsfunktion der Gewerkschaften gegenüber mögli-chen Revolten von unten anerkennen wollen.

Angesichts der günstigen Konjunktur in den Jahrenzwischen 2006 und 2008 haben die Gewerkschaftenzudem an Ansehen gewonnen, weil sie in den Tarif-auseinandersetzungen relativ günstige Lohnabschlüssedurchsetzen konnten und die Arbeitslosigkeit deut-

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47) Bernd Riexiger (Perspektiven des Protestes, in: Sozialismus, 7-8/2009, S. 35 ff.), Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart, bemerkt mit Recht:"Kapitalismuskritische Erklärungen der Krise drängen die Gewerkschaften nicht in die Rolle von Sektierern und Revolutionsromantikern. Eine grundlegendeKritik an der Logik von Profitwirtschaft, Konkurrenz, freien Märkten und der Unterordnung der Menschen unter die Zwänge der Kapitalverwertung würdeden gewerkschaftlichen Positionen eine größere Schlagkraft verleihen. Zumindest eine fundierte Kritik am finanzgesteuerten Kapitalismus können wir vonden Gewerkschaften erwarten, ohne dass dabei die Illusion genährt wird, dass die sogenannte soziale Marktwirtschaft (als Gegenentwurf zumSozialismus) wieder auferstehen wird" (S. 37).

48) Vgl. z.B. die Schrift von Dietmar Dath, Maschinenwinter, Frankfurt/Main 2008; im Herbst 2009 erscheint – ebenfalls im Suhrkamp-Verlag – eine Schriftder Jenaer Soziologen Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa mit dem Titel: Soziologie – Kapitalismus – Kritik.

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lich zurückging (womit stets auch eine gewisse Ent-spannung bei den Staatshaushalten sowie den Kas-sen der BfA und der Sozialkassen verbunden ist).Gleichzeitig gab es neue Initiativen, um die Gewerk-schaftsarbeit zu revitalisieren und neue Mitglieder zugewinnen. Die Organizing-Kampagnen49 in verschie-denen Gewerkschaften sind unter dem engen Ge-sichtspunkt ihrer technischen Organisierung und dertatsächlichen Ergebnisse bei der Mitgliederentwick-lung keineswegs uneingeschränkt positiv zu bewer-ten. Die Erfahrungen der "Erneuerung" in anderenLändern (z.B. in den USA) sind nur begrenzt nachDeutschland übertragbar,50 und oftmals überwiegt imApparat doch eine eher technokratische Variante derImage- und Mitgliederwerbung, die eher auf die In-strumentarien der Werbe- und Medienberater zähltals auf die Kraft eines erneuernden "social movementunionism".

Dennoch öffnet sich mit den Organizing-Kampagnender Horizont gewerkschaftlicher Strategiereflexion zuden neuen Herausforderungen, die mit den großenUmwälzungen der vergangenen Jahrzehnte (vgl. Ab-schnitte 2. und 3.) und der daraus resultierendenSchwächung und Krise der fordistischen Massenge-werkschaft verbunden sind. Auf der einen Seite stehtdabei die Frage der Beteiligung der Mitglieder in denBetrieben an der Politik der Organisation im Mittel-punkt. Diese Neu-Akzentuierung der Politik schließt(namentlich bei der IG Metall) mehr oder wenigerdeutlich das Eingeständnis ein, dass der "Wettbe-werbskorporatismus" (Co-Management für Standort-sicherung und "Beschäftigungspakte") der 90er Jahregescheitert ist. Auf der anderen Seite öffnet sich dasOrganizing-Konzept gerade zu denjenigen Sektorender Wirtschaft, des Arbeitsmarktes und der Beschäfti-gung, die schon stärker durch Zonen der Prekaritätdurchdrungen sind und in denen die traditionellenInstrumente gewerkschaftlicher Politik nur schwachgreifen bzw. zuerst einmal (z.B. durch die Einrichtungeines Betriebsrates oder die Anerkennung des Tarif-vertrages) durchgesetzt werden müssen. ErfolgreicheOrganizing-Kampagnen sind auch ein Beispiel fürjene strategische Flexibilität, die im Prozess der Er-neuerung gewerkschaftlicher Organisation und Inte-ressenvertretung gefordert ist.

Erfolge verlangen die Hinwendung zu Sektoren ohneorganisierte Arbeitsbeziehungen mit Beschäftigten-gruppen, die zu den klassischen Gewerkschaften dermännlichen Facharbeiter keine Beziehung haben.Außerdem verlangt die Arbeit Bündnisbeziehungenmit sozialen und politischen Bewegungen (z.B. gegenDiskriminierung, gegen Rassismus) außerhalb der Ar-beitssphäre. Strategische Flexibilität bedeutet also die

Anerkennung der Vielfalt von Ansätzen gewerk-schaftlicher Organisierung und Interessenvertretung.Diese Vielfalt wiederum spiegelt die reale Fragmen-tierung und Spaltung von Klassenerfahrung im ge-genwärtigen Kapitalismus.

Wenn wir diese Überlegungen auf die internationaleEbene projizieren, so gewinnt sie zusätzlich Plausibili-tät; denn gerade in Ländern, in denen das Niveau derVerrechtlichung der Arbeitsbeziehungen längst nichtso hoch ist wie in Deutschland, gewinnen diese An-sätze zunehmend an Bedeutung. Kämpfe um Aner-kennung, Aufstände ("riots") in den Slums, Wider-stand (indigener Bevölkerungsgruppen wie in Peru)gegen Umweltzerstörung, Landbesetzungsbewegungvon enteigneten Bauern und andere Formen sozialerBewegungen entwickeln sich neben den klassischenFormen gewerkschaftlicher und politischen Interes-senvertretung in der Tradition der sozialistischen undkommunistischen Arbeiterbewegung.

Eine zuverlässige Bilanz der Organizing-Kampagnenund ihrer Kosten (bei IG Metall und ver.di) wird erstin der Zukunft erstellt werden können. Allerdings istzu befürchten, dass noch im Verlaufe des Jahres2009 – insbesondere nach der Bundestagswahl imSeptember – Wirkungen der Krise zu verarbeitensind, die ihrerseits die Gewerkschaften mit ganz neu-en Herausforderungen konfrontieren. Auf jeden Fallist ein Anschnellen der Arbeitslosigkeit bis 2010 (aufca. 5 Millionen) zu erwarten, wobei besonders derOrganisationsbereich der IG Metall betroffen seinwird (Metall- und Elektroindustrie). Daher muss dieIG Metall damit rechnen, dass die Anstrengungen derOrganizing-Kampagne schnell durch sinkende Mit-gliederzahlen (als Folge der Arbeitslosigkeit) zunichtegemacht werden. Der damit einhergehende Schwundan Mitgliedsbeiträgen dürfte die Handlungsfähigkeitder Organisation zusätzlich einschränken. Darüberhinaus wird nach der Bundestagswahl deutlich wer-den, dass bei geringerem Wachstum die Verteilungs-spielräume enger und damit heftiger umkämpft wer-den, dass aber gleichzeitig die Staatsverschuldungenorm angestiegen ist und die öffentlichen Kassen(der Kommunen, der Landesregierungen, der Bun-desregierung und der Sozialkassen) leer sind. Unter-nehmer und Regierungen werden dann darauf hin-weisen, dass es nichts mehr zu verteilen gibt, dassnur Verzicht (auf Lohn, auf sichere Arbeitsplätze; auffreie Zeit) und die Erhöhung der von der Arbeiterklas-se zu tragenden Kosten (für Gesundheit, Bildung undAusbildung, soziale Sicherungen, aber auch die Zins-zahlungen für die Staatschulden etc.) der einzigeWeg sind, um "gemeinsam" die Lasten der Krise zuschultern und diese zu überwinden. Dieses Nega-

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49) Vgl. dazu Juri Hälker/Clausius Vellay (Hrsg.), Union Renewal – Gewerkschaften in Veränderung, Düsseldorf 2006; Peter Bremme u.a. (Hrsg.), Never workalone. Organizing – ein Zukunftsmodell für Gewerkschaften, Hamburg 2007; Ulrich Brinkmann u.a., Strategic Unionism..., a.a.O., S. 71 ff.: Detlev Wetzelu.a., Organizing. Die mitgliederorientierte Offensivstrategie für die IG Metall. 8 Thesen zur Erneuerung der Gewerkschaftsarbeit, unveröffentl. Papier,Frankfurt 2008.

50) Vgl. den bemerkenswerten Beitrag von Britta Rehder, Revitalisierung der Gewerkschaften? Die Grundlagen amerikanischer Organisationserfolge und ihreÜbertragbarkeit auf deutsche Verhältnisse, in: Berliner Journal für Soziologie, 18. Jg., 2008, Heft 3, S. 432–456.

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tivszenario würde den Druck erhöhen, "Betriebsge-meinschaften" (zwischen Unternehmer/Management,Belegschaften, Betriebsräten und Gewerkschaft) mitdem Ziel des Überlebens zu bilden oder auf der na-tionalen Ebene zu den alten Formen der sozialpart-nerschaftlichen bzw. korporatistischen Regulierung(von der "Konzertierten Aktion" zu den "Bündnissenfür Arbeit") zurückzukehren.

Falls darüber jedoch keine sanfte Abfederung der Kri-senfolgen auf die Lohnarbeiter mehr möglich ist undgleichzeitig deutlich wird, dass der Staat Milliardenneuer Schulden aufgehäuft hat, um die Banken undeinzelne Unternehmen zu retten, während inzwi-schen die Banken zum "business as usual" (inklusiveder Vergütungen und Prämien für die Spitzenmana-ger) zurückkehren und der Gesellschaft das Problemüberlassen wird, mit der Schuldenlast (individuellund kollektiv) fertig zu werden – in einer solchenKonstellation kann sich die Wut, die sich jetzt schonallenthalben an der Basis über die Urheber, Nutz-nießer und Manager der Krise des Finanzmarktkapita-lismus (und über die mangelnde Glaubwürdigkeit der"politischen Klasse") aufgestaut hat, in die Bereit-schaft zu massivem sozialen und politischen Protestumsetzen. Auf diese mögliche Veränderung des Pro-testverhaltens und der Kampfbereitschaft müssensich die Gewerkschaften strategisch einstellen; denndie entscheidende Frage wird sein, welche Forderun-gen und Ziele eine solche Bewegung vertritt.

Strategische Flexibilität ist nicht allein im Bereich derpolitischen Bündnisse und der Anerkennung der Viel-falt von Ansätzen im Bereich der Revitalisierung ge-werkschaftlicher Interessenvertretung gefordert; sieergibt sich auch aus der klassischen Einteilung dergroßen Felder der Gewerkschaftspolitik, die aller-dings im Zeichen der Krise eine Um- bzw. Aufwer-tung erfahren. Strategische Flexibilität bzw. Klugheitmanifestiert sich stets in der Fähigkeit zur spezifi-schen Verbindung oder Vermittlung der verschiede-nen Ebenen.

Auf der Ebene der Betriebe wird es in absehbarerZukunft eine Welle von Verhandlungen geben, umtarifvertragliche Regelungen außer Kraft zu setzenund/oder Entlassungen vorzunehmen. Solche "Über-lebens-Pakte" führen in der Regel zu einer Schwä-chung des Einflusses der Gewerkschaft, sofern esnicht gelingt, Zugeständnisse auf der betrieblichenEbene abzuwehren oder durch die Erzeugung vonpolitischem Druck zu kompensieren. Gleichzeitig wirdum Entlassungen, die Abwicklung von Insolvenzenund Betriebschließungen gekämpft. Ab Spätsommer2009 – so die Experten – werden diese Kämpfe zu-nehmen und die Kraft der gewerkschaftlichen Orga-nisation – vor Ort und im Betrieb – voll in Anspruchnehmen. Dass solche Kämpfe nicht immer erfolgreich

abgeschlossen werden, ist aus den vergangenen Jah-ren – seit den Niederlagen in der Auseinadersetzungum die Schließung von Stahlbetrieben (Hattingen/Rheinhausen usw.) – wohl bekannt. Angesichts derZuspitzung der Krise (und der Verzweiflung der Be-troffenen) wird es auch radikalisierte Formen betrieb-licher Kämpfe geben (z.B. Betriebsbesetzungen; neueSolidaritätsaktionen, direkte Konfrontation mit Ma-nagern usw.). Solche betrieblichen Kämpfe könnenexemplarische Bedeutung für die Entwicklung brei-ter, nationaler und internationaler, Bewegungen dessozialen Widerstandes und des Protestes gewinnen.

Im Bereich der Tarifpolitik werden die Gewerk-schaften massiv mit der Forderung konfrontiert wer-den, dass sie sich an "runden Tischen" oder "Bündnis-sen" beteiligen, die die Lohnentwicklung entspre-chend der "wirtschaftlichen Vernunft’" (so die alteFormel) nach unten regulieren. Angesichts der Ein-brüche im Export und der – kurz- wie langfristig –zunehmenden Bedeutung der Binnennachfrage wür-de eine von den Gewerkschaften mitgetragene Politikdes Lohnverzichtes weder die Krise überwinden, nocheinen Beitrag zur Beschäftigungssicherung leisten.Harte Lohnauseinandersetzungen können ebenso wiedie betrieblichen Kämpfe einen Beitrag dazu leisten,dass eine breite gesellschaftliche und politische Be-wegung gegen eine Politik der "Privatisierung der Ge-winne und der Sozialisierung der Verluste" gestärktwird.

Auf der Ebene des Staates, also der Regierungspo-litik, entscheiden sich der Erfolg und die Richtung derKrisenbewältigungspolitik. Selbstverständlich bleibtdie betriebliche Interessenvertretung und die Tarifpo-litik das "Kerngeschäft" der Gewerkschaften. Dennochsind die "allgemeinen gesetzlichen Regelungen" unddie Finanzierung von Aufgaben der Daseinsvorsorgeund der Bereitstellung einer funktionierenden gesell-schaftlichen Infrastruktur – neben den klassischenAufgaben der Sicherheit – auch für die Reprodukti-onsbedingungen der Arbeitskraft immer wichtigergeworden. Hier sind also die Bündnisbeziehungender Gewerkschaften mit sozialen und politischen Ak-teuren von besonderer Bedeutung. Deshalb ist dieEbene der Sekundärverteilung (also der Steuerpolitik,über die der Staat in die Primärverteilung eingreiftund gleichzeitig die Verteilung des gesellschaftlichenReichtums steuert) auch für die Gewerkschaften im-mer wichtiger geworden – wenn auch unter der Herr-schaft der Neoliberalismus der Kampf gegen den Ab-bau von Sozialleistungen, gegen Privatisierung undgegen eine Steuerpolitik, die die Reichen reichermacht, im Vordergrund zu stehen hatte.

Mit der "Rückkehr des Staates"51 ist auch die Diskussi-on darüber entbrannt, dass eine grundlegende Kor-rektur der Umverteilungspolitik der vergangenen Jah-

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51) Vgl. dazu Hans-Jürgen Bieling, "Privat vor Staat"?. Zur Entwicklung politischer Leitbilder und über die Rolle des Staates, in: WSI-Mitteilungen, 5/2009,S. 235–242. Bieling macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die These von der "Rückkehr" des Staates falsch ist; denn sie negiert, dass der Staat (alskapitalistischer Staat) bei der neoliberalen Entstaatlichungspolitik eine zentrale Rolle gespielt hat. Auch als "Retter der Banken" agiert der Staat als

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re, die die Polarisierung der Einkommen und Vermö-gen forciert hat, notwendig ist. Die Schaffung von"Investitionsfonds", durch Steuern der Vermögendenund Spitzenverdiener finanziert und demokratisch(mit gewerkschaftlicher Beteiligung) verwaltet, könn-te ein wichtiges Steuerungsinstrument sein, das infrüheren Debatten über Investitionslenkung (im An-schluss an Keynes) schon einmal gründlich diskutiertwurde. Gleichzeitig konzentriert sich diese Debatteauf die Höhe der Mittel, die eingesetzt werden müs-sen, um die Konjunktur zu beleben und auf die Berei-che, für die sie zur Verfügung gestellt werden. Hiergeht es darum, dass sich die Gewerkschaften dafüreinsetzen, dass diese Mittel im Bereich der Infrastruk-tur, der Bildung, der Wissenschaft, im Gesundheits-wesen sowie im Pflegebereich eingesetzt werden(und auch beschäftigungsfördernd wirken). DieseOption für eine keynesianische Wirtschaftspolitik (wiesie auch die Gruppe "Alternative Wirtschaftspolitik"vertritt) ist freilich nur dann eine adäquate Reaktionauf die Tiefe der gegenwärtigen Krise, wenn sie mitder Forderung nach einem breiten öffentlichen undgemeinwohlorientierten Sektor verbunden ist, der dieFolgen der Privatisierung öffentlicher Unternehmenund Leistungen (im Sozialbereich) revidiert und

gleichzeitig einen wichtigen Beitrag zur Beschäfti-gung leistet.52 Schließlich sollten die Gewerkschaftenin dieser Debatte ihre Vorstellungen über den Aus-bau der Wirtschaftsdemokratie erneuern und präzi-sieren.53 Die Elemente dieser alternativen Program-matik bilden einen Zusammenhang, der weit überden Wunsch nach der Rückkehr zur "sozialen Markt-wirtschaft" hinausweist. Wer für ein "gutes Leben"streitet, der sollte – zumal unter den gegenwärtigenKrisenbedingungen – begreifen, dass dies nur in ei-ner "neuen Gesellschaft" möglich sein wird.Die Überwindung der strategischen Lähmung, vonder eingangs die Rede war, setzt eine kluge und rea-listische Vermittlung dieser verschiedenen Ebenender Politik und der Interessenvertretung voraus.Wenn es zutrifft, dass in der gegenwärtigen "großenKrise" zugleich das Verhältnis Ökonomie und Politik,von Kapital und Arbeit neu "justiert" wird und dassdie Dynamik der sozialen und politischen Kämpfeüber die Richtung der Re-Regulation entscheidet,dann ist die strategische Vermittlung der verschiedenEbenen für die Gewerkschaften eine geradezu exis-tentielle Herausforderung.

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kapitalistischer Staat, der das Vermögen der Gesellschaft mobilisiert, um den Zusammenbruch des Finanzsektors zu verhindern ("im Interesse desGemeinwohls", dies die klassische Ideologie des kapitalistischen Staates).

52) Manche Anhänger von Keynes vertreten die Auffassung, dass sowohl der Neoliberalismus als auch die "alternative Wirtschaftspolitik" eine Frage derpolitischen Entscheidung und damit der politischen Mehrheitsverhältnisse sei. Dabei wird übersehen, dass die politischen Entscheidungen (seit den 70erJahren): Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung der Finanzmärkte – in letzter Instanz von der Kapitallogik bzw. dem Interesse der Kapitalverwertungdiktiert wurde, dem Fall der Profitrate (bzw. den Grenzen des fordistischen Akkumulationsmodells) entgegenzuwirken und den wachsenden Einfluss derGewerkschaften und der politischen Linken zurückzudrängen. In der Politik entscheiden dann die Kräfteverhältnisse innerhalb der herrschenden Klassesowie den Hauptklassen, welche Variante sich durchsetzt. Eine alternative Wirtschaftspolitik muss daher ebenfalls in die Kapitallogik eingreifen (z.B. dieFinanzmärkte einer scharfen Kontrolle zu unterwerfen, die Banken zu verstaatlichen, Umverteilung von oben nach unten etc.); ohne soziale und politischeKämpfe von unten sowie eine nachhaltige Veränderung der Kräftekonstellationen der Klassen – auch auf der Ebene der Politik – wird ein solcherPolitikwechsel nicht denkbar sein. Seine Voraussetzung ist allerdings die Hegemoniekrise des "alten Modells" – ökonomisch und ideologisch. Damitwerden Voraussetzungen geschaffen, um einen "Klimawechsel" herbeizuführen, d.h. politisch und ideologisch den Aufbau eines gegenhegemonialenBlocks voranzutreiben. Gegenwärtig befinden wir uns in einer frühen Phase dieser Auseinandersetzung.

53) Vgl. dazu Alex Demirovic, Demokratie in der Wirtschaft. Positionen, Probleme, Perspektiven, Münster 2007. Beim Komplex "Wirtschaftsdemokratie"erweist sich, dass die notwendige Intensivierung der Bündnisbeziehungen mit sozialen und politischen Akteuren sozusagen nach zwei Seiten hin erfolgenmuss. Zum einen muss dieses Bündnis seine Kraft im politischen Raum entfalten, zum anderen müssen die aktiven Gruppen der "Zivilgesellschaft" wieInitiativen für Umweltschutz, Frieden und Abrüstung, internationale Solidarität usw. in die Demokratisierungsprozesse auf der Ebene der Unternehmenselbst miteinbezogen werden. Die Qualifizierung von Mitbestimmung bis hin zu demokratischer Unternehmensführung kann sich nicht auf Belegschaftenund Gewerkschaften beschränken, auch wenn diese das entscheidende Fundament abgeben.

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Bernd Riexinger

Krisenproteste:"Für eine gewerkschaftliche Neuorientierung"

Am 28. März 2009 mobilisierte ein mehrheitlich linksund antikapitalistisch orientiertes Bündnis 55.000Menschen auf zwei bundesweite Demonstrationen inBerlin und Frankfurt unter dem Motto "Wir zahlennicht für eure Krise". Am 16.5. brachte der DGB aufeiner ebenfalls bundesweiten Demonstration immer-hin 100.000 Menschen auf die Straße und strafte da-mit die aus den eigenen Reihen kommende Behaup-tung Lüge, man könne nicht innerhalb von sechs Wo-chen zwei Demonstrationen auf die Füße stellen.Wenn wir einmal davon absehen, dass die IGM am5.9. eine Großveranstaltung in der Commerzbank-Arena in Frankfurt und ver.di am 12.9. einen bundes-weiten Aktionstag zum gesetzlichen Mindestlohnplanen, ist zur Zeit wenig zu hören, wie denn dieProteste weitergehen sollen und welche politischePerspektive diese bekommen sollen. Besteht gar dieGefahr, dass die Großdemonstration in Berlin bereitswieder der Abgesang der gewerkschaftlichen Protes-te markiert, ähnlich wie 2004 nach den Großdemon-strationen am 3. April gegen die Agenda 2010? Daswäre fatal, denn die eigentliche Rechnung für dieFinanz- und Wirtschaftskrise wird sowohl der Mehr-heit der Bevölkerung als auch den Gewerkschaftenunmittelbar nach den Bundestagswahlen präsentiert.Der Vorschlag des DIW-Präsidenten, Klaus Zimmer-mann, die Mehrwertsteuer auf 25 % zu erhöhen,oder die Debatte auf dem Ärztetag zur Amputationdes gesetzlichen Gesundheitssystems bilden lediglichdie Vorboten dessen, was uns erwartet.

Die bevorstehenden Verteilungsauseinandersetzun-gen werden auch vor den Löhnen und Arbeitsbedin-gungen nicht halt machen. So hat Arbeitgeberpräsi-dent Hundt schon die Forderung nach Lohnabsen-kung ins Spiel gebracht. Obwohl die Beschäftigten inDeutschland mit die längsten Wochenarbeitszeitenleisten, wird die Debatte auch vor einer weiteren Ver-längerung der Arbeitszeiten nicht halt machen. Der-zeit sind diese Stimmen noch verhalten und besitzenden Charakter von Versuchsballons. Das alles wirdsich jedoch schnell ändern. Die Gewerkschaften müs-sen sich heute auf diese Auseinandersetzungen vor-bereiten, wenn sie nicht erneut in die Defensive gera-ten wollen. Dabei geht es sowohl um die inhaltlichenPerspektiven als auch um die Erweiterung der ge-werkschaftlichen Kampfformen und -mittel. Zu bei-dem sollen in diesem Text konkrete Vorschläge ge-macht werden. Zuvor soll jedoch vor einigen für dieGewerkschaften gefährlichen Mythen und Fehlein-schätzungen gewarnt werden.

Es gibt keine gemeinsamen Interessen zwischen Gewerkschaften und Kapital, aus der Krise herauszukommen.

War zu Beginn der Finanzkrise die wirtschaftliche undpolitische Klasse noch geschockt über den drohendenZusammenbruch des gesamten Finanzsystems unddie Blamage des neoliberalen Politikmodells, so istdiese kurze Phase bereits Geschichte, und die Brand-stifter betätigen sich ungeniert und ungestört alsFeuerlöscher. Es ist nur ein weiterer Beleg dafür, wieüberrascht und z.T. sprachlos die Gewerkschaftenvom Ausbruch der größten Finanz- und Wirtschafts-krise seit 1929 waren, dass sie diese kurze Phasenicht für eine sofortige Kampagne gegen die vorherr-schende Politik und zumindest den finanzgesteuertenKapitalismus und seine wichtigsten Repräsentantengenutzt haben. Die gleichen Akteure, die der neolibe-ralen Doktrin der Deregulierung jahrelang gefolgtsind, werden jetzt nicht müde, die Bedeutung desStaates bei der Krisenbewältigung zu betonen. Nach-dem sie tatkräftig dabei mitgeholfen haben, dass imwirtschaftlichen Aufschwung zugunsten des Kapitalsumverteilt wurde, werden sie jetzt in der Krise untergeänderten ideologischen Vorzeichen ebenso tatkräf-tig mithelfen, dass die Lasten auf die Mehrheit derBevölkerung abgewälzt werden und erneut von Un-ten nach Oben umverteilt wird. Das ideologische Ein-fallstor dafür ist die These, dass wir jetzt gemeinsamaus der Krise herauskommen müssen. Regierung,Wirtschaft und Gewerkschaften müssten jetzt alle amgemeinsamen Strang ziehen und alles dafür tun, dassdie Krise bewältigt und die Wirtschaft wieder in Ganggesetzt wird. Die deutschen Gewerkschaften sinddurchaus anfällig für diese Art der "Krisenbewälti-gung", wie die vielfachen Zugeständnisse bei der"Rettung" und "Sanierung" von Betrieben einerseitsund die Beteiligung am aktiven Regierungshandelnandererseits belegen. Diese Art von Politik wird je-doch im Ergebnis höchstens dazu führen, dass diesozialen Standards, Löhne- und Arbeitsbedingungennach der Krise deutlich schlechter als vor der Krisesein werden. Vielmehr müssen die Gewerkschaftenim Verlauf des gesamten Krisenprozesses deutlichmachen, dass sich ihre Lösungen diametral unter-scheiden von denen der Wirtschaft und ihrer politi-schen Vertreter, und dass sie nur durch politischeMobilisierung durchgesetzt werden können. Nichtdurch politische Anschlussfähigkeit an eine wie auchimmer zusammengesetzte Bundesregierung nachdem 27. September 2009.

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Die Krise wird kein vorübergehender Betriebsunfall sein, der nach kurzer Zeit wieder behoben sein wird.

Genau so wenig wie die Apologeten der neoliberalenWirtschaftspolitik und die berufsmäßigen Ideologie-produzenten in der Lage waren, das Heraufziehender Krise zu erkennen oder auch nur zu erahnen, sowenig dürfen wir ihrem berufsmäßigen Optimismusvertrauen, der jedes kleinste Anzeichen der wirt-schaftlichen Besserung in ein baldiges Ende der Kriseund einen bevorstehenden wirtschaftlichen Auf-schwung umdeutet. Die Gewerkschaften sind gut be-raten, wenn sie sich auf einen längeren Krisenprozesseinstellen. Wir erleben gerade die größte Finanz- undWirtschaftskrise der Nachkriegsgeschichte, die nichtdurch ein paar Konjunkturprogramme in einen er-neuten Aufschwung münden wird. Viele sprechen zuRecht von einer Systemkrise des Kapitalismus. Dieklassischen "Lösungsmechanismen" im Kapitalismussind einerseits Kapitalvernichtung des überakkumu-lierten Kapitals, andererseits Erhöhung der Mehrwert-rate durch Senkung der Löhne und Verschlechterungder Arbeitsbedingungen, um so ein neues Akkumula-tionsmodell hervorzubringen. Dieser Prozess verläuftin der Regel selbst krisenhaft. Die Opfer auf Seitender Beschäftigen, Erwerbslosen, Rentner/innen undihren Familien werden umso größer, je geringer dieBereitschaft der Gewerkschaften zur Gegenwehr aus-geprägt ist und je weniger sie im Bündnis mit denlinken Kräften und sozialen Bewegungen in der Lagesind, einen alternativen Gegenentwurf hervorzubrin-gen und gesellschaftlich durchzusetzen. Diese Aufga-be ist um so drängender, je mehr sich die Finanz-und Wirtschaftskrise mit der nicht mehr zu leugnen-den Klima- und weltweiten Hungerkrise verschränkt.Ein Weiter so des bestehenden Produktions- und Le-bensmodells würde die längst überhand nehmendenDestruktivkräfte des Kapitalismus nur noch mehr ver-stärken.

Die veränderte Rolle des Staates stärkt nicht den Einfluss der Gewerkschaftenund beendet nicht die Politik der Umverteilung und sozialen Ungerechtigkeit.

Es wäre eine große Illusion zu meinen, dass die neoli-berale Politik der vergangenen Jahre durch eine fürdie Gewerkschaften freundlichere staatliche Interven-tionspolitik abgelöst würde. Die Sozialisierung derVerluste ist weder Sozialismus noch eine soziale Vari-ante des Kapitalismus. Die Art und Weise, wie dasFinanz- und Bankensystem staatlich gestützt und des-sen Risiken auf die Bürger/innen abgewälzt werden,ist nicht nur die teuerste Variante, sondern auch die-jenige, die bestehende Strukturen etwas modifiziertsichern soll. Die Kräfteverhältnisse haben sich nichtzu Gunsten der Gewerkschaften verändert. Weil sichalle politischen Parteien, ausgenommen DIE LINKE,mehr oder weniger einig sind, die Reichen, Vermö-genden und Kapitalbesitzer nicht zu belasten, wer-den die Staatsfinanzen durch die zunehmende Ver-

schuldung und das Wegbrechen der Steuereinahmengewaltig unter Druck kommen. Schon heute setzenviele Kämmerer angesichts des zu erwartenden Ein-bruches bei der Gewerbesteuer den Rotstift an diestädtischen Haushalte. Die öffentliche Daseinsvorsor-ge und die öffentlich Beschäftigten werden dies frü-hestens im Herbst zu spüren bekommen. Deshalb istes nicht hoch genug einzuschätzen, dass ver.di trotzKrise einen Konflikt für bessere Bezahlung und Ge-sundheitsschutz der Beschäftigten in den Sozial- undErziehungsdiensten geführt und Streiks organisierthat, um diese Forderungen durchzusetzen, auchwenn das Ergebnis nicht wirklich befriedigend ist.Insgesamt müssen die Gewerkschaften den Staat alsumkämpftes Feld begreifen, auf dem sie nur Terraingewinnen können, wenn sie die Kräfteverhältnisse zuihren Gunsten verändern. Das bedeutet in erster Liniedas politische Mandat offensiv wahrnehmen undmassiven Druck auf die politischen Kräfte ausüben.Die Option des politischen Streikes darf nicht längerein Tabu sein.

Retten was zu retten ist, ersetztkeine politische Perspektive.

Vom IGM-Vorsitzenden, Berthold Huber, stammt derSatz: "Die Macht der IGM liegt in den Betrieben, nichtauf der Straße." Linke Gewerkschafter haben diesenSatz etwas umgewandelt in: "Die Macht der Gewerk-schaften liegt in den Betrieben und auf der Straße."Es soll an dieser Stelle nicht angezweifelt werden,dass sich die Stärke der Gewerkschaften in allerersterLinie in den Betrieben definiert. Es wäre sogar zuwünschen, dass der betriebliche Widerstand gegenArbeitsplatzabbau, Kürzung von Löhnen und Sozial-leistungen, Betriebsverlagerungen, u.v.a.m. an Fahrt,Radikalität und Dynamik zunimmt. Unter dem Druckvon Standortschließungen und Massenentlassungengreift jedoch allenthalben Konzessionspolitik um sich.Unter dem Motto "retten was zu retten ist" werdenalle möglichen Zugeständnisse gemacht, um Entlas-sungen zu verhindern oder zumindest zu begrenzen.Das ist durchaus verständlich, doch in der Gesamt-schau wird das nur zu einem neuen Wettlauf nachUnten führen. Unter den Bedingungen der Krise sindgerade den rein betrieblichen Handlungsmöglichkei-ten enge Grenzen gesetzt. Die Stärke in den Betrie-ben kommt eben in erster Linie dann zur Entfaltung,wenn die betrieblichen und tariflichen Auseinander-setzungen mit den politischen Forderungen und Per-spektiven verschränkt werden. Dabei gilt es, die Mo-bilisierung in den Betrieben und auf der Straße zuverstärken.

Die Krise ist noch nicht bei allen angekommen.

Eine falsche Erklärung der relativen Ruhe in Deutsch-land ist die häufig gehörte und auch in den Gewerk-schaften verbreitete Meinung, dass die Krise bei derMehrheit der Bevölkerung noch nicht angekommen

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sei. Im neuen Deutschlandtrend beantworten 34 %die Frage, ob sie von der Krise betroffen sind mit ja.59 % sind der Meinung, dass uns der schlimmste Teilder Krise erst noch bevorsteht und 47 % machen sichSorgen um ihre wirtschaftliche Zukunft. Im Haupt-land der Kurzarbeit, in Baden-Württemberg, bangenviele um ihren Arbeitsplatz, wenn die Kurzarbeit aus-läuft. Außerdem löst direkte Betroffenheit noch langekeinen Trend nach links aus oder führt zu sozialenKämpfen. Viele hoffen und mögen gerne den Mer-kels, Steinbrücks und von Guttenbergs glauben, dassdie Krise schnell wieder in einen Aufschwung überge-hen und Deutschland daraus gestärkt hervorgehenwerde. Kassandrarufe der Linken oder linker Gewerk-schafter, nach dem wir es mit einer Jahrhundertkrisezu tun haben, die nicht so schnell vorübergehenwird, werden schnell als ewige Schwarzmalerei abge-tan. Trotzdem dämmert es mehr und mehr Men-schen, dass diese Krise sich von regelmäßig stattfin-denden Konjunkturkrisen unterscheidet und ein Wei-ter so nicht möglich und vielleicht sogar nicht wün-schenswert ist. Die Krise sorgt für Brüche in den All-tagserfahrungen und im Denken, an denen die Ge-werkschaften ansetzen und politische Orientierunganbieten müssen.

Perspektiven für die Gewerkschaften

Kapitalismuskritische Erklärungen der Krise drängendie Gewerkschaften durchaus nicht in die Rolle vonSektierern und Revolutionsromantikern. Es würde dengewerkschaftlichen Positionen eine größere Schlag-kraft geben, wenn sie eine grundlegende Kritik ander Logik von Profitwirtschaft, Konkurrenz, freien Märk-ten und der Unterordnung der Menschen unter dieZwänge der Kapitalverwertung üben. Mindestens diefundierte Kritik an der Formation des finanzgesteuer-ten Kapitalismus können wir von den Gewerkschaf-ten erwarten, ohne dass dabei die Illusion genährtwird, dass die sog. Soziale Marktwirtschaft (als Gegen-entwurf zum Sozialismus) wieder auferstehen wird. Wenn wir von den Gewerkschaften in ihrem derzeiti-gen Zustand nicht erwarten können, dass sie sich andie Spitze einer sozialistischen Bewegung setzen

könnten, die aktuell auch nicht in Sicht sein dürfte,so werden sie dennoch nicht auf einen überzeugen-den Gegenentwurf zum Modell des finanzgesteuer-ten Kapitalismus verzichten können. Das Ziel einesSystemwechsels oder, um mit Elmar Altvater zu spre-chen, "eines Modellwechsels" ist unausweichlich, wenndie Gewerkschaften ihre Bedeutung als gesellschaft-lich ernstzunehmende Kraft nicht verlieren wollen.Aus heutiger Sicht müsste sich ein solcher Gegenent-wurf an folgenden Grundlinien orientieren:1. Massive Umverteilung des gesellschaftlichenReichtums von Oben nach Unten – Reiche, Vermögende und Kapitalbesitzer müssen zahlen;2. Zurückdrängen von Markt und Wettbewerb durch Ausbau des öffentlichen und gemeinwohl-orientierten Sektors;3. Schutzschirm für die Menschen;4. Regulierung und Verstaatlichung des Finanzsektors;5. Vergesellschaftungsprozess vorantreiben –Wirtschaft und Gesellschaft demokratisieren;6. Ressourcensparende und ökologische Wirtschafts-und Lebensweise aufbauen;7. International soziale, demokratische und ökologische Standards durchsetzen.

Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von Oben nach Unten

Zwischen den meisten linken Ökonomen besteht Ei-nigkeit, dass die massive Umverteilung von den Löh-nen zu den Gewinnen und die staatliche Umvertei-lung eine Ursache der gigantischen Ausdehnung und"Verselbständigung" der Finanzmärkte ist. Nach Be-rechnungen der Wirtschaftsabteilung von ver.di be-läuft sich der Wert der beiden Umverteilungen zuLasten der Beschäftigten in den letzten zehn Jahrenauf zusammen 1.000 Milliarden Euro. In Deutschlandist nicht nur die Lohnquote stetig gesunken, die Real-löhne sind ebenfalls ins Minus gefallen. Besondersdeutlich macht sich das bei den unteren Lohngrup-pen bemerkbar. Für die Rückumverteilung von Obennach Unten gibt es relativ präzise Vorstellungen, wiedie Einführung einer Millionärssteuer, die nachhaltigeBesteuerung großer Vermögen, die Erhöhung desSpitzensteuersatzes oder die Erhöhung der Erb-schaftssteuer. Die Forderung nach einem gesetzlichenMindestlohn soll eine untere Grenze für die Löhneeinziehen. Die Höhe von 7,50 Euro, die bereits seitsieben Jahren unverändert gefordert wird, müsste inRichtung 10 Euro erhöht werden. Damit könnte dieseForderung zusätzlichen Drive bekommen, weil deut-lich mehr Beschäftigte davon profitieren würden.

Die gewaltigen Umverteilungsprozesse, verstärkt undbegünstigt durch die neoliberale Politik der letztenzwanzig Jahre haben die Gewerkschaften gewaltig indie Defensive gebracht. Speziell in Deutschland hieltsich der Widerstand gegen diese Entwicklung ohne-hin in Grenzen. Ohne die Rückumverteilung von Ver-

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mögen und Einkommen gibt es jedoch keine Spiel-räume für linke Reformprojekte. Im Gegenteil, spätes-tens nach der Bundestagswahl wird in jeder zu er-wartenden politischen Konstellation den Beschäftig-ten, Erwerbslosen und Rentnern die Zeche präsen-tiert werden. Entscheidend ist, dass die Gewerkschaf-ten den ohnehin stattfindenden Verteilungskampfmit offensiven Forderungen und einer gut vorbereite-ten Kampagne vorbereiten und führen. Er wird ein-deutig auf dem Feld der außerparlamentarischen Ak-tivitäten geführt werden müssen, und zwar in derVerbindung von Tarif- und politischen Auseinander-setzungen.

Zurückdrängen von Markt und Wett-bewerb durch Ausbau des öffentlichen und gemeinwohlorientierten Sektors

Ein wesentliches Element der neoliberalen Politik warund ist die Privatisierung von öffentlichen Einrichtun-gen und Dienstleistungen. Bereits in den 90er Jahrenwurden die Energieversorgung und Post und Tele-kommunikation privatisiert. Durch die politisch ge-wollte Finanzmisere der Kommunen verkauften vieleStädte und Gemeinden ihre Krankenhäuser, Stadt-werke, privatisierten die Müllabfuhr oder gar die Was-serversorgung. Zwischenzeitlich gehört es fast zumVolksbewusstsein, dass die Privatisierung nicht zurWohlstandsvermehrung der breiten Bevölkerung bei-getragen hat. Die These, dass Markt und Wettbewerbder öffentlichen Steuerung überlegen sind, hat sichzwischenzeitlich vor der Wirklichkeit mehr als bla-miert. Die Re-Kommunalisierung bereits privatisierterBereiche und der massive Ausbau des öffentlichenund gemeinwohlorientierten Sektors könnte eines derwichtigsten Zukunftsprojekte der Gewerkschaften,insbesondere von ver.di und GEW sein, das sowohldie Beschäftigten im öffentlichen Sektor, als auch diebetroffenen Einwohner/innen mobilisieren kann.Die Forderung nach Ausbau des öffentlichen Sektorspaart sich auch mit der Misere im Bildungssystem,den Defiziten in der Gesundheitsversorgung und derNotwendigkeit einer verstärkt ökologischen Orientie-rung. Die beeindruckenden Bildungsstreiks, die z.B.in Stuttgart gemeinsam mit Erzieher/innen organi-siert wurden, geben eine Vorahnung, welche gesell-schaftlichen Bündnisse die Gewerkschaften auf die-sem Feld schließen können. Außerdem brechen Mo-nat für Monat Teile der industriellen Produktion zu-sammen. Der öffentliche Sektor könnte dies ganzoder teilweise auffangen. Alle Vergleiche zeigen, dassDeutschland im Vergleich z.B. zu den nordischen Län-dern im öffentlichen Sektor gerade mal über die Hälf-te an Beschäftigten, umgerechnet auf 1.000 Einwoh-ner, verfügt. Der Ausbau öffentlicher Beschäftigung,verbunden mit der Forderung nach einem grundle-gend anderen und besseren Bildungssystem, demAusbau der öffentlichen Daseinsvorsorge und ökolo-gischem Umbau wäre ein wichtiger Baustein in Rich-tung bedarfsorientierte Wirtschaft. Voraussetzungist, dass die Markt- und Wettbewerbsorientierung

der öffentlichen Daseinsvorsorge, die durchaus auchdie ÖTV und Teile von ver.di mitgemacht haben undvielleicht immer noch mitmachen, kritisiert und zu-rückgedrängt wird. Außerdem muss der öffentlicheund gemeinwohlorientierte Sektor finanziell deutlichbesser ausgestattet werden. Insofern verbindet sichdiese Position mit der Frage der Verteilung des gesell-schaftlichen Reichtums. Sinnvoll ist es, dieses Projektmit Konzepten höherer Bürger/innendemokratie zuverknüpfen (Bürgerentscheide, Bürgerhaushalte, usw.).Der Kampf gegen Privatisierung, für Re-Kommunali-sierung und Ausbau des öffentlichen Sektors istdurchaus als europäisches oder gar internationalesProjekt der Gewerkschaften geeignet, gehört die Li-beralisierung und Wettbewerbsorientierung doch ge-radezu zum Credo der vorherrschenden Politik der EU.

Schutzschirm für die Menschen

Belegschaften, die ganz konkret gegen Entlassungenoder Betriebsschließungen kämpfen, wie z.B. bei Opel,fordern in aller Regel, statt eines Schutzschirmes fürdie Banken einen für die Menschen oder zumindestfür die Arbeitsplätze. Einmal davon abgesehen, dassder Kapitalismus einen solchen Schutzschirm nichtbieten kann, steckt dahinter trotzdem die richtigeErkenntnis, dass der Staat, der Hunderte von Milliar-den für das marode Finanzsystem zur Verfügungstellt, sich nicht blind gegen die Vernichtung vonArbeitsplätzen und damit der Existenz von zig Tau-senden Menschen zeigen darf. Zwar kippt dieses Ver-ständnis gerade um, wie wir beim Fall Arcandor se-hen können, was aber damit zu tun hat, dass dasstaatliche Handeln, beschränkt auf die Feuerwehrrol-le zur Rettung in die Schieflage gerutschter Betriebe,kein überzeugendes Konzept darstellt.

Die klassische "Lösung" von Krisen im Kapitalismusgeschieht durch die massenhafte Vernichtung vonKapital, sprich Standortschließungen, Insolvenzen,Teilbetriebsschließungen oder Auslagerungen, usw.,damit der überlebende Rest wieder akkumulierenkann. Die aufgebaute Überproduktion von Autos,Verkaufsfläche usw. wird so auf die inhumanste Artund Weise abgebaut, indem zahlreiche Arbeitsplätzevernichtet und damit Millionen von Menschen dieExistenzgrundlage entzogen wird.

Überkapazitäten können aber auch durch radikale Ar-beitszeitverkürzung abgebaut werden. Gerade jetztin der Krise erweist es sich als Fehler, dass die Ge-werkschaften das gesellschaftliche Projekt der Ar-beitszeitverkürzung aufgegeben und sogar relativ un-kritisch zugelassen haben, dass die Arbeitszeit verlän-gert, endgrenzt und dereguliert wurde. Die von lin-ken Gruppen relativ schematische Forderung nachder 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Perso-nalausgleich hat jedoch kaum eine Chance, aufge-griffen zu werden, weil sie den ums Überleben kämp-fenden Betrieben eine solche hohe Kostenbelastungaufzwingen würde, dass deren Überleben noch mehrin Frage gestellt wird.

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Deshalb müssen die Gewerkschaften die Arbeitszeit-verkürzung, wohlgemerkt bei vollem Lohnausgleich,zu einem gesellschaftlichen Projekt machen. Stattsich z.B. auf die Verlängerung von Kurzarbeit zu be-schränken, könnte der Staat Arbeitszeitverkürzung fi-nanziell unterstützen, wie es z.B. die Memorandum-Gruppe fordert. Hierzu könnten gesellschaftliche Fondsaufgebaut werden, die insbesondere personalintensi-ven Betrieben Zuschüsse für Arbeitszeitverkürzunggewähren. Gelder, die von kapitalintensiven und hochprofitablen Konzernen geholt werden können. Diesegesellschaftliche Arbeitszeitverkürzung müsste mitdem Schutz vor Entlassungen oder zumindest derenerheblicher Erschwernis verbunden werden. Es ist kei-nesfalls so, dass dafür kein Geld vorhanden ist, wiedie milliardenschweren Konjunkturprogramme be-weisen, ganz zu schweigen von den Hilfen und Bürg-schaften für die Banken. Wenn die Gewerkschaftenbei der Arbeitszeit wieder in die Offensive kommenwollen, müssen sie die Arbeitszeitverkürzung zu ei-nem gesellschaftlichen Projekt machen, das politischdurchgesetzt werden muss. Einen Anfang könntever.di beim öffentlichen Dienst in der im Januar näch-sten Jahres beginnenden Tarifrunde machen. Arbeits-zeitverkürzung im öffentlichen Dienst, um mehr Stel-len zu schaffen und bei vollem Lohnausgleich, wärenicht nur eine Tarifforderung, sondern eine politischeAuseinandersetzung um die zukünftige Gestaltungder Arbeitszeit. Zur Arbeitszeitpolitik zählt auch dieForderung nach Abschaffung der Rente mit 67 unddie finanzielle Aufstockung der Renten.

Zum Schutzschirm für die Menschen gehören natür-lich auch Forderungen, wie die Abschaffung derHartz-Gesetze, die Aufstockung von Alg II auf 500Euro und die Abschaffung der heute damit verbun-denen Repressionen, die erhebliche Begrenzung derLeiharbeit, die Abschaffung prekärer Arbeitsverhält-nisse und die Einführung eines gesetzlichen Mindest-lohnes. Die Agenda 2010 muss rückgängig gemachtund durch ein neues existenzsicherndes System dersozialen Grundversorgung abgelöst werden.

Banken vergesellschaften und Regulierung des Finanzsektors

Die Kontrolle der Banken ist nicht oder nur begrenztmöglich, wenn sie nicht tatsächlich vergesellschaftetund in öffentliches Eigentum überführt werden. Dassdies nicht einmal bei den Banken passiert, die mitstaatlichen Bürgschaften und Krediten vor dem Zu-sammenbruch bewahrt blieben (z.B. Commerzbank),verdeutlicht, dass der herrschende Block nicht darandenkt, in diese Richtung zu gehen. Es wird allerhöch-stens etwas mehr Aufsicht und Kontrolle geben, da-mit der Selbstvernichtung des Finanzsystems entge-gen gewirkt wird. Schon jetzt wehrt sich das interna-tionale Finanzkapital vehement gegen weitergehendeReglementierung. So geht die Gründung einer sog.Bad-Bank fast ohne großen gesellschaftlichen Wider-stand über die Bühne. Von den vielfach angekündig-

ten Kontrollen und Regulierungsvorschlägen wurdebisher kein einziger verwirklicht. So werden bereitswieder die Grundlagen für die nächste Krise geschaf-fen, wobei wir davon ausgehen müssen, dass dieaktuelle noch längst nicht überwunden ist. Weil es insgesamt eine Menge von sinnvollen Vor-schlägen und ausgearbeiteten Positionen zur Regulie-rung des Finanzsystems gibt, von der Einführung ei-ner Börsenumsatzsteuer bis zur Trockenlegung derSteueroasen und zum Verbot der Hedgefonds oderanderer riskanter Spekulationsgeschäfte, wird hierdarauf verzichtet, dies weiter auszuführen.

Vergesellschaftungsprozess vorantreiben –Wirtschaft und Gesellschaft demokratisieren

Der Vergesellschaftungsprozess der Ökonomie ist so-weit vorangeschritten, dass sie nur der massive Ein-griff des Staates vor dem Zusammenbruch rettet,oder, um mit Marx zu sprechen, die weitere Entwick-lung der Produktivkräfte kommt in Widerspruch zuden bestehenden Produktionsverhältnissen. Natürlichgreifen die politischen Akteure von der CDU bis zurSPD oder den Grünen nur ein, um den Patienten zuretten und die Voraussetzungen dafür zu schaffen,dass in den bisherigen Bahnen weitergemacht wer-den kann. Vielleicht wird der Staat dabei mit einerwieder stärkeren Rolle versehen. Aber auch das istnoch nicht ausgemacht. Der übliche Ausspruch, dassder Staat nicht der bessere Unternehmer ist, drücktaus, dass an eine nachhaltige steuernde Rolle desStaates oder gar an eine Vergesellschaftung wichti-ger Schlüsselindustrien nicht gedacht ist.Gerade das sollen die Gewerkschaften jedoch for-dern. In diese Richtung geht z.B. der Vorschlag, Opelzu verstaatlichen und daraus einen umweltfreundli-chen Mobilitätskonzern zu machen. Der Prozess derVergesellschaftung muss verbunden werden mit denAnforderungen, eine stärker bedarfsorientierte, um-weltverträgliche und geplante Ökonomie aufzubau-en, als Gegenstück zum Modell des marktliberalenfinanzmarktgesteuerten Kapitalismus. Ansatzpunktegibt die permanente Debatte darüber, wo der Staateingreifen soll und wo nicht. Diese Debatte müsstevon den Gewerkschaften in Richtung höherer Verge-sellschaftungsgrad und mehr wirtschaftliche Demo-kratie vorangetrieben werden.Verstaatlichung allein ist so wenig Sozialismus wie dieSozialisierung der Verluste. Die Lenkung der Betriebedurch eine Staatsbürokratie stößt zu recht bei derBevölkerung auf großes Misstrauen. Deshalb müsstendiese Positionen mit der Forderung nach mehr Demo-kratie und Mitbestimmung (auf dem Weg zur Selbst-bestimmung) verbunden werden. Die Idee von IGM-Verwaltungsstellen, auf der regionalen Ebene Wirt-schafts- und Sozialräte einzurichten, die über die Ver-wendung der Mittel aus den Konjunkturprogrammenentscheiden, geht zum Beispiel in diese Richtung,ebenso die Einführung von Vetorechten der Betriebs-räte bei der Verlagerung von Standorten. Natürlich

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hebeln solche Rechte und Modelle die Gesetzmäßig-keiten der kapitalistischen Produktion nicht aus denAngeln, aber sie bieten doch wichtige Ansatzmög-lichkeiten, die Interessen der Beschäftigten wirkungs-voller zu vertreten und gehen grundsätzlich in dieRichtung, dass die Produzenten über die Produktionund Verteilung entscheiden sollen.

Ressourcensparende und ökologische Wirtschafts- und Lebensweise aufbauen

Wie schon eingangs erwähnt, verschränkt sich dieFinanz- und Wirtschaftskrise mit einer Klima-, Umwelt-und auch Hungerkrise. Heute müssen fast eine Milli-arde Menschen hungern und gerade in den Hunger-regionen dieser Erde ist die ökologische Zerstörungam weitesten vorangeschritten. Eine Fortsetzung un-seres ressourcenfressenden und ökologisch belasten-den Systems wäre verheerend. Kein Zweifel, es liegtin der Natur des Kapitalismus, die Kosten dieser Pro-duktion auf die Gesellschaft und Natur abzuwälzen. Eine ressourcenschonende und ökologische Produkti-ons- und Lebensweise ist nur herstellbar, wenn dieseExternalisierung gesellschaftlich reglementiert wirdund klare Vorgaben für eine ökologische Produkti-onsweise gemacht werden. Das bedeutet einen mas-siven Eingriff in die Marktmechanismen. Die Gewerk-schaften müssen die Debatte über eine zukunftsori-entierte ökologische und ressourcenschonende Pro-duktionsweise aufgreifen und dem "weiter so" eineklare Absage erteilen. Es wird ihr Beitrag sein müs-sen, die soziale und Arbeitsplatzfrage mit der Ökolo-giefrage zu verbinden.

International soziale, demokratische und ökologische Standards durchsetzen

Die Notwendigkeit der Internationalisierung der Ge-werkschaften fehlt auf keiner 1. Mai-Rede, ohne dassdiesen Ankündigungen konkrete Taten folgen. Poli-tisch müssen sich die Gewerkschaften, insbesonderedie Industriegewerkschaften, von dem Gedanken lö-sen, dass eine Verbesserung der Wettbewerbsbedin-gungen der nationalen Industrie auch den Beschäf-tigten nützt – unter dem Motto, es ist uns lieber, einOpel-Werk wird in Belgien geschlossen als inDeutschland. Auf diesem Klavier spielt auch die Bun-desregierung, wenn sie immer davon redet, dass diedeutsche Wirtschaft gestärkt aus der Krise heraus-kommen wird. Auf diesem Wege wird der Druck aufdie Löhne, Sozialsysteme und Arbeitsbedingungennur ständig erhöht. Der Kampf um internationale so-ziale, demokratische und ökologische Standards isteine Alternative zu dieser Politik.Die Internationalisierung der Gewerkschaften wirdam besten durch konkrete Projekte und länderüber-greifende Organisation der sozialen Kämpfe vorange-trieben. Folgende Projekte wären dafür geeignet: Der Kampf gegen Privatisierung und für den Aus-bau des öffentlichen Sektors. Hier könnten die Ge-werkschaften ein Gegenmodell zum kapitalistischen

Wettbewerbsstaat entwickeln und dafür konkrete ge-meinsame Forderungen entwickeln. Die EU wäre da-für ein geeignetes Feld.

Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung könnteinternational eine glaubwürdige Gegenposition ge-gen Standortschließungen und Arbeitsplatzvernich-tung aufbauen.

Ebenso ist die Forderung nach Vergesellschaftungund Regulierung des Finanzsektors per se eine inter-nationale Angelegenheit, denn dieser Bereich ist sehrstark globalisiert.

Gewerkschaften müssen sich neu aufstellen und ihre Kampf- und Aktionsformen erweitern.

Die Gewerkschaften müssen damit rechnen, dassspätestens nach den Bundestagswahlen die Angriffeauf die Tarifverträge und Sozialsysteme zunehmen.Das weitgehend widerstandslose Durchwinken derSchuldenbremse ins Grundgesetz wird die Hand-lungsmöglichkeiten des Staates weiter einschränkenund den Druck auf die Sozialsysteme, aber auch aufdie Beschäftigten im öffentlichen Dienst konstant er-höhen. Auf diese Konstellation müssen sich die Ge-werkschaften vorbereiten und aus den Niederlagender letzten zwanzig Jahre lernen. Das bedeutet einer-seits, die Gegenwehr in den Betrieben gegen die An-griffe auf die Arbeitsplätze, Tarifverträge und sozialeStandards zu stärken und auch vor Mitteln wie Be-triebsbesetzungen nicht zurückzuschrecken. Auf re-gionaler Ebene wird das insbesondere gelingen,wenn die Auseinandersetzungen verstärkt vernetztwerden und sie zu Fragen der Region gemacht wer-den. Die Regel ist heute, dass jeder für sich kämpftund häufig auch verliert.

Die meisten Forderungen und angedeuteten Perspek-tiven wenden sich an die Regierungen, haben alsopolitischen Charakter. Die Gewerkschaften brauchenauch ein wirkungsvolles politisches Instrument, umdiesen Forderungen Gewicht zu verleihen, sprich ih-rem politischen Mandat auch die nötige Durchset-zungskraft zu verleihen. Dazu gehört sicherlich diePolitisierung der Gewerkschaftsarbeit in den Betrie-ben, dazu gehört aber auch der politische Streik. DerKampf um das politische Streikrecht muss deshalbein wichtiges Element werden. Immer wieder habendie Gewerkschaften sich dem Verbot des politischenStreiks widersetzt, beim Angriff auf die Tarifautono-mie, bei der Rente mit 67 oder auch jetzt aktuell inder Verwaltungsstelle Stuttgart zum Schutzschirmfür Arbeitsplätze. Es gibt aber keinen organisiertenAnsatz, den politischen Streik etappenmäßig vorzu-bereiten, die verschiedenen Aktionen während derArbeitszeit aufeinander abzustimmen. Genau daswäre jedoch notwendig, um der Aneinanderreihungvon Niederlagen nach der Bundestagswahl nichtnoch eine weitere hinzuzufügen.

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Staat als Arena der politischen Auseinandersetzung

Im Unterschied zu den französischen oder italieni-schen Gewerkschaften gibt es in Deutschland einenur wenig entwickelte, zum Teil auch verschütteteTradition politischer Streiks oder Kämpfe. Das wardurchaus in den 20er Jahren der Weimarer Republik,selbst in den 50er Jahren anders. In der Aufschwung-Phase der 60er und 70er Jahre konzentrierten sich diedeutschen Gewerkschaften auf die Tarifpolitik. Fürdie Betriebspolitik waren weitgehend die Betriebsrätezuständig und als politischer Arm des DGB agiertedie SPD in den Parlamenten. Diese Arbeitsteilungwurde nur selten durchbrochen, in erster Linie dann,wenn die Gewerkschaften existenziell angegriffenwurden, wie beim Aussperrungsparagraphen 116oder der Tarifautonomie. In den letzten 25 Jahren,die durch die neoliberale Hegenomie und die Heraus-bildung der Formation des finanzgesteuerten Kapita-lismus geprägt waren erwies sich diese "Arbeitstei-lung" als hinderlich und ist mit dafür verantwortlich,dass die Gewerkschaften in die Defensive gedrängtwurden, aus der sie sich bis heute nur zeitweise be-freien konnten.

Die Gewerkschaften kommen in Krisenzeiten doppeltunter Druck, einerseits durch die Betriebsräte, denenim Zweifelsfall das Hemd näher liegt als der Rock unddie bei wirtschaftlicher Bedrohung oder Erpressungdurch das Management schnell zu Konzessionspolitikbereit sind. Nicht selten werden die Gewerkschaftenunter Druck gesetzt, Zugeständnisse zu machen,selbst wenn das zu einem schleichenden Erosionspro-zess der Tarifverträge führt. Andererseits führt dieDeregulierungs- und Umverteilungspolitik dazu, dassdie tarifpolitischen Handlungsmöglichkeiten einge-engt werden. Tarifpolitische Erfolge sind eher seltengeworden und es ist kein Zufall, dass gerade inDeutschland die Reallöhne gefallen sind, während siein den meisten anderen Industrieländern gestiegensind. Die SPD ist als politischer Arm der Gewerkschaf-ten ausgefallen. Die Agendapolitik der RegierungSchröder markierte den endgültigen Bruch der Sozi-aldemokratie mit der Gewerkschaftsbewegung, auchwenn das durchaus nicht im Bewusstsein aller Betei-ligten auf beiden Seiten angekommen ist.

Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Organisati-onsstruktur der Gewerkschaften seit langem nichtmehr deckungsgleich mit den Beschäftigungsstruktu-ren ist. Die jahrzehntelange Auseinandersetzung überdas "Angestelltenmilieu und -bewusstsein" hat nichtdazu geführt, dass deren Organisationsgrad nennens-wert gestiegen ist. Schwerer wiegt, dass die Millio-nen von Beschäftigten in prekären Arbeitsverhältnis-sen und im Niedriglohnbereich nur einen sehr gerin-gen Organisationsgrad aufweisen, obwohl sie drin-gender denn je handlungsfähige Gewerkschaftenbrauchen. Die Gewerkschaftsapparate orientieren inerster Linie auf die Mitglieder, die sie haben und dieBeiträge zahlen. Das erhöht jedoch nur die strukturel-

le Schwäche. Erste größere Kämpfe im Einzelhandel,im Bewachungsgewerbe oder auch der beachtens-werte Streiks der Beschäftigten in den Sozial- undErziehungsdiensten könnten eine Trendwende mar-kieren, wenn das als notwendige Aufgabe begriffenwird. Neue Organisationsformen wie Organizing undCampaign sind dabei unbedingte Voraussetzung fürdie Organisierung in diesen Bereichen.Den Gewerkschaften bleibt überhaupt nichts anderesübrig, als ihr Organisationsmodell zu ändern undgleichzeitig die (Re) Politisierung ihrer Arbeit zu be-treiben. Diese Aussage ist nicht neu, aber in Krisen-zeiten besonders existenziell. Die Themen liegen hier-bei auf der Hand und werden den Gewerkschaften inden nächsten Monaten praktisch aufgedrängt:

Der Kampf gegen Lohnabbau und Arbeitszeitver-längerung muss mit der politischen Forderung nacheinem gesetzlichen Mindestlohn (10 Euro) und derForderung nach flächendeckender Arbeitszeitverkür-zung (mit gesetzlicher Flankierung) verbunden werden. Die Sozialsysteme müssen nach der Bundestags-wahl verteidigt werden. Die Frage der Verteilung desgesellschaftlichen Reichtums muss dabei in den Vor-dergrund gerückt werden. Diese Verteidigung mussmit einem erneuten Vorstoß gegen die Rente mit 67verbunden werden. Diese ist in der Bevölkerung äußerstunpopulär und in Zeiten steigender Massenarbeitslo-sigkeit erweist sich ihre Unsinnigkeit. Eine erneute Nie-derlage, wie bei der Agenda 2010, wäre verheerend. Im Kampf gegen Entlassungen und Betriebs-schließungen dürfen auf der einen Seite radikalereKampfformen wie Betriebsbesetzungen nicht mehrausgeschlossen werden, auf der anderen Seite mussdieser zu einer regionalen und gesellschaftlichen Fra-ge politisiert werden. Den Widerstand gegen Stand-ortschließungen müssen die Gewerkschaften mit derForderung nach Arbeitszeitverkürzung verbinden.Dabei ist unbedingt die völlig verschüttete Debattenach Konversion hin zu sozial- und ökologisch nützli-chen Produkten wieder aufzunehmen. Insbesondere ver.di muss die Gegenwehr gegenden Angriff auf die öffentliche Daseinsvorsorge undfür einen massiven Ausbau des öffentlichen Sektorsführen. Schon heute deuten Haushaltssperren underneuter Personalabbau an, wie die Mehrheit derKommunen auf den absehbaren Einbruch der Steuer-einnahmen reagieren wird. Diese Auseinanderset-zung ist per se politisch und muss mit der Forderungnach einer besseren Finanzausstattung, insbesondereder Kommunen verbunden werden. Dass bis zumSchluss eine Mehrheit der Eltern die Forderungen derstreikenden Erzieher/innen unterstützt hat, zeigt,welche Bündnismöglichkeiten hier vorhanden sind.

Wenn dies auch nur ansatzweise gelingen soll, müs-sen die Gewerkschaften jetzt mit einer politischenKampagne beginnen, die sowohl über die Ursachenund Zusammenhänge der Krise aufklärt als auch denBoden für erforderlichen Kämpfe nach den Bundes-tagswahlen bereitet. Die gewerkschaftlichen Basis-

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gliederungen sind gut beraten, wenn sie eine Dop-pelstrategie verfolgen. Auch wer über die Rolle undPolitik der Mehrheit der Führungen desillusioniert ist,sollte den "Kampf" um die Organisation nicht aufge-ben. Wir sollten versuchen, immer wieder Mehrhei-ten für unsere Positionen zu organisieren und dengewerkschaftlichen Meinungsbildungsprozess zu be-leben und zu befruchten. Die Aktionen am 28.3.2009in Frankfurt und Berlin haben gezeigt, dass viele ge-werkschaftliche Gliederungen nicht auf ihre Führun-gen warten, sondern im Rahmen ihrer Möglichkeitenhandeln können. Die Bildung von örtlichen und re-gionalen Bündnissen ist dazu ein wichtiger Schritt,denn es wird den Gewerkschaften nicht gelingen, dieAuseinandersetzungen alleine zu bestehen.

Politischen Streik etappenweise vorbereiten

Der Wunsch nach einem Generalsstreik ist bei denMitgliedern weiter verbreitet als viele denken. ImSchwabenland hört man häufig den Spruch "so wiedie Franzose müsst mr‘s mache". Dieser Satz drücktzwei Wünsche aus. Erstens, man müsste es denen daOben mal richtig zeigen. So kann es nicht weitergehen. Zweitens wäre es aber am besten, es würdejemand anderer "machen" und man/frau könnte sichdie Sache dann im Fernsehen ansehen. An ersteremkönnen die Gewerkschaften andocken, wenn sie dieOption des politischen Streiks überhaupt wahrneh-men wollen. Dafür gibt es derzeit keine ernst zu neh-menden Anzeichen. Auch hier müssten die gewerk-schaftlichen Gliederungen eigenständige Vorstößemachen und die Debatte eröffnen und verbreitern.Das ist dringend notwendig. In erster Linie fehlt den meisten Beschäftigten nichtunbedingt der Wille zum politischen Streik, sonderndie Erfahrung. In einem ohnehin eher streikschwa-chen Land, wie der Bundesrepublik, fehlt den meis-ten Beschäftigten schon die Streikerfahrung in klassi-schen betrieblichen oder tariflichen Konflikten. DieAndrohung von Sanktionen bei offiziell verbotenenpolitischen Streiks würde streikunerfahrene Kolle-gen/innen schnell einschüchtern, selbst wenn die Ge-werkschaften offiziell aufrufen.

Wir haben in Stuttgart in den letzten Jahren äußerstpositive Erfahrungen damit gemacht, die Konflikteund Kämpfe in verschiedenen Tarifbereichen mitein-ander zu verbinden. So zuletzt die Streiks der Verkäu-fer/innen und der Beschäftigten in den Sozial- undErziehungsdiensten. Es war beeindruckend, wie hierüberwiegend streikende Frauen gemeinsam in der In-nenstadt demonstrierten und auf der KundgebungStärke zeigten. Ein ähnliches Bild bot sich am 17. Juni2009. 15.000 Schüler, Studenten/innen, Beschäftigteder Universitäten und 2.000 Erzieher/innen und Sozi-alarbeiter/innen streikten und demonstrierten ge-meinsam und betonten auf der Abschlusskundge-bung ihren gemeinsamen politischen Willen, für einebessere Kinderbetreuung und Bildung zu kämpfen.Das alles war kein Generalstreik, aber es vermittelteeine Ahnung, was gemeinsam möglich ist. Solche Er-fahrungen innerhalb von ver.di und zwischen denverschiedenen Gewerkschaften zu organisieren, wäreein wichtiger Schritt in Richtung politischer Streik.

Etappenweise vorbereiten heißt politische Themen indie Betriebe zu tragen und Aktionen im und vor demBetrieb zu organisieren. Beispiele wurden schon ge-nannt. Das können Aktionen in der Mittagspausesein, die in die Arbeitszeit hineinreichen oder richtigeArbeitsniederlegungen. Daraus könnte eine Kulturder politischen Demonstration im Betrieb und wäh-rend der Arbeitszeit entstehen, die koordiniert in ei-nen politischen Streik münden kann. Entscheidendist, dass die Gewerkschaften gewillt sind, Bewusst-sein zu bilden und Erfahrungen zu organisieren, dassviele gewerkschaftliche Forderungen nur auf politi-schem Wege durchsetzbar sind und neue Arbeits-kampfformen entwickelt werden müssen. Auch be-triebliche Kämpfe können, wie schon angesprochen,zu einem Thema der Region gemacht und politisiertwerden.

Wichtig ist auch hierbei, dass politische Bündnissegeschlossen werden, die den gewerkschaftlichenKämpfen deutlich höhere Schlagkraft verleihen. Vor-aussetzung ist, dass sich die Gewerkschaften öffnen,ihren Bündnispartnern auf gleicher Augenhöhe ge-genübertreten und deren Anliegen ebenfalls unter-stützen. Bündnisarbeit und Solidarität ist eben keineEinbahnstraße. Die Auseinandersetzungen werdenden Gewerkschaften nach der Bundestagswahl auf-gezwungen. Sie haben kaum die Möglichkeit ihnenaus dem Wege zu gehen.

Der politische Wille zur Herausarbeitung eines ge-meinsamen politischen Projektes der Gewerkschaftenals Gegenentwurf zu den kapitalistischen Krisenlö-sungsmechanismen gehört sicherlich zur wichtigstenVoraussetzung, auf diesem Wege voranzukommen.Wenn sich die Zielrichtung der Gewerkschaften dar-auf beschränkt, schwarz/gelb zu verhindern und aufeine erstarkende SPD in einer Fortsetzung der großenKoalition zu setzen und die Anschlussfähigkeit an dieRegierung nicht zu verlieren, ist der gesellschaftlicheBedeutungsverlust vorprogrammiert.

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Wolfgang Müller

Weltwirtschaftskrise und Chinas Gewerkschaften

China als Weltmarktfabrik hat lange geboomt – aufder Basis billigster Arbeit und laxer Regulierung. Inden letzten Jahren konnten die chinesischen Arbeiteraber ihre Situation verbessern. Außerdem sorgte diechinesische Regierung nach Jahrzehnten des Laissez-faire in allen Fragen von Arbeitsgesetzen und Sozial-standards in den letzten Jahren durch neue Gesetzeebenso wie durch das ideologische Konzept der "har-monischen Gesellschaft" für eine Stärkung der Positi-on der Arbeitnehmer.

Aber die Weltwirtschaftskrise hat die Weltmarkt-fabrik China massiv getroffen. Millionen Jobs sindverloren. Die Lohnentwicklung bleibt hinter der Infla-tion zurück. Nach Angaben der Stadtverwaltung vonDongguan, einer 7-Millionen-Stadt im Perlflussdelta,sind die Löhne im Vergleich zum Vorjahr im Schnittum 10 Prozent gesunken. Außerdem entfallen seitMonaten die Überstunden, mit denen die meistenWanderarbeiter ihre Löhne aufbessern, die oft unterdem Existenzminimum und den gesetzlichen Min-destlöhnen liegen.

Jetzt in der Wirtschaftskrise gibt es auch wieder An-zeichen zunehmender Verstöße und Missbrauchsfäl-le. Im Mai streikten 7.000 Arbeiter einer HighTech-Fabrik wegen der Überstundenbezahlung und derschlechten Qualität des Kantinenessens. In der Pro-vinz Anhui musste die Polizei aus einer Ziegelei 30geistig Behinderte befreien, die als Sklaven gehaltenwurden. Bei einem Feuer in einem Schlafraum einerillegalen Fabrik im Perlflussdelta verbrannten 13 Arbei-terinnen. Viele Exportfirmen, die für Markenkonzernearbeiten, umgehen die Arbeitsgesetze dadurch, dasssie die Aufträge an Schattenfabriken outsourcen. Dietaiwanesische Unternehmervereinigung in Dongguanbeschwert sich: "Als wir nach China kamen, gab eskeine Gesetze. Jetzt hat sich alles geändert. Das gingzu schnell." (New York Times, 22.6.2009 http://www.nytimes.com/2009/06/23/business/global/23labor.html?pagewanted=1& r=1&1ref=todayspaper)

Chinas Arbeiterbewegung und Gewerkschaftsbewe-gung sind gegenwärtig an einem Wendepunkt: Daspolitische Klima ist reif für reale Gewinne für die Ar-beiter. Neue Gesetze wie das Arbeitsvertragsgesetzvon 2008 haben die Arbeitsstandards verbessert unddie Arbeitnehmerrechte erheblich ausgeweitet. Dieneue Rechtslage macht es für die Arbeiter einfacher,Klagen einzureichen und auch zu gewinnen. Die Zahlder Arbeitsgerichtsverfahren hat sich 2008 – mit In-krafttreten des Arbeitsvertragsgesetzes – gegenüberdem Vorjahr verdoppelt und steigt auch 2009 weiterrasant an.

Der Allchinesische Gewerkschaftsbund ACGB, derDachverband der chinesischen Gewerkschaften, hatseine Organisierungsanstrengungen verstärkt. DieZahl der im ACGB organisierten Gewerkschaftsmit-glieder ist auf 225 Millionen Mitglieder (Juni 2009)gestiegen. Der ACGB hat seit Jahren begonnen, neueArbeiterschichten zu organisieren, vor allem die Wan-derarbeiter.Seit Sommer 2006 hat der ACGB auch die in Chinavertretenen multinationalen Konzerne im Visier. DasZiel ist, in allen Konzernen Betriebsgewerkschaftenaufzubauen. Das fing mit WalMart an, dessen chine-sische Großmärkte inzwischen alle organisiert sind.Längst hat die Organisierungskampagne auch andereMultis erfasst. Nach offiziellen chinesischen Angabensind inzwischen die Niederlassungen von 373 derFortune-500-Unternehmen ganz oder teilweise orga-nisiert.Alle diese Entwicklungen können kritisiert werden,dass sie nicht weit genug gehen, dass die Verstößegegen Arbeitsstandards und Gesetze immer noch indie zig Millionen gehen, dass die strengen Gesetzevielfach nur auf dem Papier stehen. Dass die Zahl derGewerkschaftsmitglieder und der Betriebsgewerk-schaften so explodiert ist, weil die verantwortlichenKader nach oben entsprechende Zahlen berichtenmussten. Dass die chinesischen Gewerkschaften im-mer noch Papiertiger sind und oft direkt zum Ma-nagement gehören und oft nicht ansatzweise die In-teressen der Arbeitnehmer vertreten. Dass die chine-sischen Gewerkschaften in den Arbeitskämpfen derletzten Jahre keine Rolle spielen.All das stimmt – und auch wieder nicht. Denn diechinesische Arbeiterbewegung hat Fortschritte ge-macht, die Gewerkschaften werden selbständiger,die chinesische Regierung versucht unter dem Motto"Schaffung einer harmonischen Gesellschaft" die ausden Fugen geratene Balance zwischen Kapitalinteres-sen und gesellschaftlichen Interessen wieder herzu-stellen. Diese widersprüchlichen Entwicklungen sol-len im Folgenden dargestellt werden.

1. Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf Chinas Arbeiter

Mit den Wirtschaftsreformen, die Deng Xiaoping1978, vor 30 Jahren, eingeleitet hatte, ist China zurFabrik der Welt geworden. Jetzt leidet die Fabrik derWelt massiv unter der Weltwirtschaftskrise, auchwenn die gemeldeten Wachstumszahlen wieder in

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die Höhe schießen. 15.000 Fabriken mussten in denletzten neun Monaten allein im Perlflussdelta zwi-schen Guangzhou (Kanton) und Hongkong schließen.Etwa 23 Millionen Beschäftigte, meist Wanderarbei-ter, haben durch die Weltwirtschaftskrise ihren Jobverloren (Irish Times, 26.3.2009).Die Weltbank rechnet für China für 2009 zwar wiedermit 7,2 Prozent Wachstum – nach 13 Prozent imVorjahr. Das umgerechnet 420 Mrd. Euro große chi-nesische Konjunkturpaket für Infrastruktur- und an-dere Zukunftsinvestitionen wirkt. Der Autoabsatz aufdem chinesischen Markt stieg im ersten Halbjahr2009 um 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr undwar erstmals höher als der US-Automarkt. Aber dasist nicht nachhaltig. Schon gibt es Stimmen, die wei-tere Konjunkturprogramme fordern, weil sonst dieArbeitslosigkeit noch weiter wächst. Zudem gibt esGrenzen, wie lange und wie sehr sich China von derEntwicklung der Weltwirtschaft abkoppeln kann. DieExporte haben längst noch nicht das Niveau der Vor-jahre erreicht, die Jobverluste in der Exportwirtschafthalten an.

60 Prozent des Exporte Chinas stammt aus Fabrikenim ausländischen Eigentum oder mit ausländischenInvestitionen – das meiste Kapital stammt aus Hong-kong und Taiwan. Viele Fabriken haben nach demchinesischen Neujahrsfest 2009 einfach dichtge-macht – speziell im Perlflussdelta. Viele Beschäftigtehaben nicht einmal ihre ausstehenden Löhne bekom-men – geschweige denn die ihnen z.T. nach demGesetz zustehenden Abfindungen. Bei vielen der zahl-losen Protestaktionen der Wanderarbeiter ging es ge-nau um diese Themen.

Die Lage der WanderarbeiterDie Wirtschaftsreformen haben bis heute ca. 225Mio. Wanderarbeiter, etwa 15 Prozent der chinesi-schen Bevölkerung, erzeugt. Die durch die Wirt-schaftsreformen überschüssig gemachte Landbevöl-kerung ist meistens in die großen Städte und dieIndustriegebiete an Chinas Ostküste gezogen, umdort in meist ungesicherten Arbeitsverhältnissen undklassenmäßig getrennt von der privilegierten Stadt-bevölkerung zu jobben. Die Landgebiete haben biszur Krise von den Überweisungen massiv profitiert.Jetzt sind Millionen Wanderarbeiter in die Landgebie-te zurückgekehrt, weil sie an der Ostküste keine Ar-beit mehr finden. Die aufs Land zurückgekehrten Kin-der der Bauern werden auch "ken lao zu" genannt,"die die Alten beißen", weil sie plötzlich von den ma-geren Erträgen der bäuerlichen Wirtschaft und denErsparnissen der Alten leben müssen.

Die Wanderarbeiter haben fast nichts zu verlieren.Nur wenige haben eine Arbeitslosen- und Kranken-versicherung oder irgendeine Altersversorgung. IhrLand war das soziale Netz der Wanderarbeiter. Aberwenn sie jetzt in die Dörfer zurückkommen, gibt esKonflikte. Die ihre Häuser nutzen und ihr Land be-bauen, können nicht so schnell ausziehen.

Andere haben zwar die Städte, wo sie gearbeitet hat-ten, verlassen, weil sie sich das Leben dort nicht mehrleisten konnten. Sie gehen aber auch nicht in dieDörfer zurück, weil es dort auch keine Arbeit undkein Geld gibt. Sie leben in Slums oder bei Freundenund müssen eine dreiköpfige Familie von 15 Yuanoder 1,50 Euro am Tag ernähren. Eine soziale Siche-rung haben sie nicht.

Eine ernste Erkrankung bedeutet für diese Familienden Ruin. Zwar hat die chinesische Regierung für dieLandbewohner und damit auch für die Wanderarbei-ter eine grundlegende Krankenversicherung mit ge-ringen Beiträgen eingeführt. Aber ein Bauarbeiter aufeiner Baustelle in Wuhan am Yangtse, der an derHüfte verletzt wurde und ins Krankenhaus musste,bekam von der Krankenhausrechnung von über18.000 US-Dollar gerade 6.750 US-Dollar zurück –angeblich weil die Versicherung keine importiertenMedikamente abdeckt. Ein anderer Wanderarbeitermit Operationskosten von 900 US-Dollar sollte vorder Teilerstattung der Kosten lokalen Kadern erstmalBestechungsgeld zahlen.

All-Chinesicher Gewerkschaftsbund (ACGB)

225 Mio. Mitglieder (6/2009)

77,2 % Organisationsgrad

1,3 Mio. Betriebsgewerkschaften(Verflechtung Partei – Management – Gewerkschaft)(Betriebsgewerkschafter werden vom Unternehmerbezahlt, kein Kündigungsschutz)

0,5 % freiwilliger Gewerkschaftsbeitrag durch das Mitglied

2,0 % der Gesamtentgeltsumme der Beschäftigten direkt vom Arbeitgeber an die Gewerkschaften(= 22,6 Milliarden Yuan pro Jahr)

477.000 hauptamtliche Funktionäre

eigene Unternehmen (z.B. Hotels)

1.343 Berufsschulen mit 675.000 Studenten;Fachhochschulen, Politechnika

31 regionale GewerkschaftsverbändeACGB-Organisationsaufbau entspricht derStaats- und ParteistrukturACGB-Präsident ist Mitglied des Politbüros der KPCh

10 Industriegewerkschaften (Regionalstruktur hat Vorrang)

Quelle: FES

Perspektiven der HochschulabsolventenEine große Sorge der Behörden ist, dass auch diebesser Ausgebildeten, die jetzt keine Stelle finden,sich den Protesten anschließen. In China graduierenjährlich fast 6 Millionen Studenten. Nach Daten derchinesischen Akademie für Sozialwissenschaften fan-den von den 5,6 Millionen Hochschulabsolventen imJahre 2008 ca. 27 Prozent bis Ende des Jahres keinenJob. Nach Angaben des chinesischen Arbeitsministe-riums (Süddeutsche Zeitung, 4.8.09) sind noch 3 Mil-lionen Absolventen der letzten beiden Abschlussjahr-gänge ohne Arbeitsplatz. Für sie hat die Regierungjetzt die Vorschrift aufgehoben, dass sie eine Dauer-Aufenthaltsgenehmigung in einer bestimmten Stadt

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brauchen. Jetzt können Hochschulabsolventen leich-ter auf Arbeitssuche im ganzen Land gehen, stattarbeitslos zu Hause zu sitzen und evtl. zu protestie-ren. Auch für Absolventen der Eliteunis ist die Situati-on so dramatisch, dass viele zur Armee gehen wollen.Ihre Ansprüche zum Berufseinstieg haben sie massivheruntergeschraubt: Sie würden sich nach Umfragenmit dem Gehalt eines Fabrikarbeiters (ca. 100 bis 150Euro) zufrieden geben.Die Arbeitsmarktlage für die Absolventen wird sichweiter verschlechtern, weil die chinesischen Hoch-schulen Jahr für Jahr mehr Studenten aufnehmenund weil viele Chinesen wegen der Krise in den USAund Europa aus dem Ausland zurückkommen. (NewYork Times, 25.1.2009)

Die Krise trifft also auch die chinesische Mittelklasse,die bislang besonders von den Wirtschaftsreformenprofitiert hat. Privatunternehmen entlassen die bis-lang gesuchten Angestellten, kürzen Gehälter undstreichen die Jahresboni. Der ComputerherstellerLenovo will 11 Prozent der Beschäftigten entlassen.Die staatliche Fluglinie China Eastern will manche Ge-hälter um 30 Prozent kürzen. Dabei setzen besondersStaatsfirmen derzeit vor allem auf die Senkung derPersonalkosten statt auf die Streichung von Arbeits-plätzen. Die chinesische Regierung hat alle Staatsun-ternehmen aufgefordert, keine Arbeitskräfte zu ent-lassen.

Die offizielle Arbeitslosenrate in Chinas Städten stiegEnde 2008 auf 4,2 Prozent gegenüber 4 Prozent2007. Diese Messgröße war bis 2007 fünf Jahre inFolge gefallen. In dieser Zahl sind aber arbeitssuchen-de Wanderarbeiter in den Städten und Hochschulab-solventen nicht enthalten. Nach einer Studie der Chi-nesischen Akademie für Sozialwissenschaften lag dieechte Arbeitslosigkeit in den Städten 2008 bei fast 10Prozent. Wegen der Weltwirtschaftskrise schlossen2008 über 670.000 Unternehmen.

Der Gesellschaftsvertrag steht in FrageDamit steht der bislang funktionierende chinesischeGesellschaftsvertrag in Frage. Regierung und Partei,der obszöne Reichtum der neuen Kapitalisten und diekrassen sozialen Unterschiede wurden so lange nichtin Frage gestellt, so lange es allen besser ging. Aberdiese Zeiten sind wahrscheinlich vorbei. Die chinesi-sche Regierung rechnet mit weiteren Massenprotes-ten. Chinas Experten für innere Sicherheit erwartenschwierige Zeiten. "In der aktuellen Wirtschaftslageentstehen ständig neue soziale Unruhen," erklärte einführender Vertreter der KPCh Anfang 2009 in einemNachrichtenmagazin, das von der staatlichen Nach-richtenagentur Xinhua herausgegeben wird.

Von den 764 Millionen chinesischen Arbeitnehmernim Jahre 2007 entfielen 283 Millionen oder 37 Pro-zent auf städtische Erwerbstätige und ungefähr 481Millionen oder 63 Prozent auf die Landgebiete. 325Milionen Erwerbstätige arbeiteten 2007 direkt in derLandwirtschaft, 264 Millionen oder 32 Prozent im

Dienstleistungsbereich und 192 Millionen oder 25Prozent in der Industrie. (Sergio Grassi, Die neuenAufgaben der chinesischen Gewerkschaften, in Chinaaktuell 1/2008)

Der durch die Wirtschaftsreformen eingeleitete ra-sante Strukturwandel lässt sich vor allem an der Ent-wicklung des primären Sektors ablesen. Waren zuBeginn der Reformen im Jahr 1978 noch 80 Prozentder Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig, sosind es heute noch knapp 43 Prozent. Gleichzeitigwächst laut Regierungsangaben die Zahl der Arbeits-kräfte auf dem Land, die nicht in der Landwirtschaftbeschäftigt sind, seit der zweiten Hälfte der 90er Jah-re jährlich um 2 Prozent. Trotz des raschen Wachs-tums konnte die ländliche Industrie in den 90er Jah-ren aber nur ein Viertel der überschüssigen Arbeits-kräfte absorbieren.

Der Ausweg war die Migration in die Städte. Dieindustrielle Entwicklung in China hat eine massiveUmwälzung in den Klassenstrukturen erzeugt, deren

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wesentliches Merkmal die Verwandlung bedeutenderTeile der Bauernschaft in Arbeitsmigranten ist. Vonden Wanderarbeitern lebten 2008 etwa 60 Prozent inden großen Städten.

Im Ergebnis hat China in den letzten 30 Jahren einedramatische Umwälzung der Klassenverhältnisse er-lebt, die Enteignung von hunderten Millionen Bauernund ihre Verwandlung in ein weitgehend rechtlosesHeer von Arbeitssklaven und gleichzeitig die Heraus-bildung einer wohlhabenden städtischen Mittel-schicht von über 100 Millionen Menschen, die dieMalls der chinesischen boomtowns bevölkern und zuPKW-Besitzern aufgestiegen sind. Diese wahrschein-lich gewollte Spaltung zwischen Land und städti-schen Ballungs- und Wachstumszentren, zwischenbäuerlicher Bevölkerung und WanderarbeiterInneneinerseits und relativ gut bezahlten Fachkräften inden Städten andererseits, ist eine Besonderheit derchinesischen Entwicklung und ein Motor der kapita-listischen Akkumulation.

In den Städten ist der Anteil der Beschäftigten infesten Arbeitsverhältnissen massiv zurückgegangen.Beschäftigte in flexiblen oder informellen Arbeitsver-hältnissen stellen inzwischen mit zwischen 100 und160 Millionen mehr als 35 bis über 50 Prozent derstädtischen Erwerbstätigen. Das Spektrum informel-ler Beschäftigung reicht dabei von hoch bezahltenfreiberuflichen Softwaredesignern bis hin zu Verkäu-fern am Straßenrand. Die Gruppe der gut verdienen-den Professionals bildet jedoch nur eine kleine Min-derheit unter den informell Beschäftigten. So zeich-net sich informelle Arbeit in China in der Regel durchfehlende Arbeitsverträge oder Vereinbarungen, durchnicht monetäre Entlohnung sowie durch vielfältigeArten von Geringbeschäftigung wie Straßenhandelund Eigenproduktion aus.

Die Aufspaltung des ArbeitsmarktesLaut Regierungsquellen hatten 2008 40 Prozent derin der Privatindustrie Beschäftigten keinen Arbeitsver-trag. (Grassi, a.a.O.) Nicht selten wurden von Seitender Betriebe auch Arbeitsplätze, die zuvor von derregulären Stammbelegschaft besetzt waren, ausge-gliedert und teilweise zu geringeren Löhnen undohne Versicherungsschutz als Teilzeit- oder Zeitarbeitbesetzt.

Die Arbeitsverhältnisse sind in großen Teilen der chi-nesischen Wirtschaft unsicherer geworden. Der Arbeits-markt in China spaltet sich in verschiedene Segmenteauf. Die Trennung zwischen dem ländlichen und demstädtischen Arbeitsmarkt weicht auf, da beide Märk-te miteinander verwachsen. Gleichzeitig spaltet sichder Arbeitsmarkt nach der unterschiedlichen Qualitätder Arbeitsverhältnisse (Vertragssicherheit, Arbeitssi-cherheit, Lohnhöhe und Qualifikation) auf.Zwar verloren vor zehn Jahren etwa 50 Millionen Ar-beiter aus den Staatsbetrieben in den Städten ihrenJob, als diese privatisiert oder dicht gemacht wurden.Aber sie konnten ihre Wohnungen behalten. Sie wa-

ren meist älter als die jungen Wanderarbeiter in den20ern und 30ern und hatten Unterstützung durchdie Nachbarschaft und ein soziales Netz.Alle Beschäftigten von Staatsbetrieben und alleStaatsbediensteten konnten vor zehn Jahren ihreWohnungen für einen Nominalbetrag kaufen – aufErbpacht für 70 Jahre. Das ist eine der Grundlagendes relativen Wohlstands der offiziell registriertenStadtbewohner. Damit konnten sie auch zur Bankgehen und ihre günstig gekaufte Wohnung beleihen.Das Gefälle Stadt/Land ist riesig. Ein Landbewohnerverdient im Durchschnitt weniger als ein Drittel einesStadtbewohners, in armen Gebieten oft nur einZehntel. Jetzt plant die Partei, den Bauern das Land,das sie bebauen, für 50 Jahre fest zu verpachten. Dassoll den Bauern mehr Sicherheit und Schutz vor derWillkür korrupter lokaler Funktionäre garantieren.Durch die Reform wäre das Bauernland beleihbar,und eine rapide Konsolidierung der oft winzigenLandstücke wäre die Folge.

Segmentierung der Arbeiterschaft(3 Großgruppen)

Traditionelle Staatsbetriebe

50.000 Unternehmen / 60 Millionen Beschäftigte (?)

privilegierte Kerngruppe bis Mitte der 1990er Jahre(mit Danwei-Sozialversorgung)

aber: defacto seit 1995 halbiert

Wanderarbeiter – ländliche Migranten (> 200 Millionen)

vor allem: Bausektor / Leichtindustrien im Exportsektor (Textil, Spielzeug)

Regionale Konzentration: Perlfluss, Jangtse-Delta

benachteiligt durch Hukou (Meldesystem)

Auseinandersetzung um Einhaltung von Mindestnormen

Moderne Industriearbeiter, v.a. Auslandsunternehmen (10-15 Mio. ?)

"Hochverdiener" mit geschützten Arbeitsbedingungen

Erhebliche Qualifikationsprobleme/-defizite

Im Gegensatz zur abrupten Systemtransformation inden sozialistischen Ländern Osteuropas erfolgte derÜbergang zu einem ungeregelten Arbeitsmarkt inChina jedoch schrittweise und durch zwei paralleleEntwicklungen. Zum einen wurde privaten Initiativengrößerer Raum gewährt. Der Kernbereich des öffent-lichen Wirtschaftssektors, die großen Staats- und Kol-lektivunternehmen, wurde zwar massiv restrukturiert,aber es gab keine allgemeine Privatisierung gesell-schaftlichen Eigentums. Stattdessen wurden graduellneue Eigentumsformen wie Joint Ventures, Unter-nehmen mit ausländischem Kapital und Privatunter-nehmen zugelassen, die zum Motor für neue Be-schäftigung wurden.Darüber hinaus wurden auch durch die parallel ver-folgte Privatisierung kleiner Staats- und Kollektivbe-triebe zunehmend Arbeitsplätze im nichtstaatlichenSektor geschaffen. Der Staat zog sich gleichzeitigschrittweise aus der direkten Arbeitskräfteplanung

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und Allokation zurück. Grundlage der Arbeitsbezie-hungen wurde die Auswahl von Arbeitskräften durchdie Betriebe bzw. die Arbeitsplatzwahl durch die Ar-beitskräfte.

2. Immer mehr Arbeitskonflikte, aber keine Mechanismen zur Konfliktlösung

Im Jahr 2005, dem letzten Jahr der offiziellen Bericht-erstattung, gab es nach offiziellen Angaben 87.000größere Arbeitskonflikte gegenüber 10.000 im Jahre1994. Dass es heute keine offizielle Streikstatistikmehr gibt, bedeutet nicht, dass die Streiks wenigergeworden sind. Im Gegenteil. Es ist davon auszuge-hen, dass die Zahl der Konflikte speziell in der export-orientierten Wirtschaft mit der Wirtschaftskrise seitAnfang 2008 dramatisch zugenommen hat.

Auch ohne offizielles Streikrecht finden in Chinawahrscheinlich nicht nur die meisten Streiks in derWelt statt. Bei einem Arbeiterheer von mehrerenhundert Millionen und den vielfach unerträglichenArbeitsbedingungen ist das auch kein Wunder. Aberwahrscheinlich ist auch die Zahl der durch Streiksund andere Aktionen ausgefallenen Arbeitstage inRelation zur Beschäftigtenzahl im internationalenVergleich sehr hoch.

Die chinesischen Arbeiter haben inzwischen gelernt,dass kollektives Handeln und gemeinsame Aktionenwirksam sind, wenn es um Lohnerhöhungen, umausstehende Löhne oder gegen die Schließung vonFabriken geht. Die Behörden halten sich jetzt in derWirtschaftskrise zunehmend zurück bei der Nieder-schlagung solcher Proteste. Das war noch vor Jahrenanders. Als die chinesische Regierung vor zehn Jahrendie maroden Staatsbetriebe restrukturierte, privati-sierte oder gleich dicht machte, gab es große De-monstrationen gegen die Massenarbeitslosigkeit, dieoft niedergeschlagen wurden.

Viele sehen sogar eine neue Qualität der Arbeiterbe-wegung in China. In einer Studie von 100 Arbeitskon-flikten der letzten Jahre kommt das China LabourBulletin aus Hongkong zu der Beurteilung: Die Arbei-ter nahmen ihre Angelegenheiten selbst in die Hand.An der offiziellen Gewerkschaft vorbei zwangen siemit öffentlichen Aktionen die lokalen Behörden, sichfür ihre Interessen einzusetzen. In vielen Fällen warensie erfolgreich.

Streiks lösten oft weitere Protestaktionen in der sel-ben Region, der selben Branche oder in anderen Kon-zernbetrieben aus. Die Streikwelle der Taxifahrer imganzen Land Ende 2008 zeigte die Ausbreitung vonArbeitskämpfen in ganzen Branchen ebenso wie dieBereitschaft der lokalen Behörden, mit den Arbeiternzu verhandeln.

Die Forderungen der Arbeiter umfassten ein breiteresSpektrum und waren durchdachter. Früher entzünde-ten sich Arbeitskämpfe meist an eindeutigen Verlet-

zungen von Arbeiterrechten wie nicht bezahlten Löh-nen, Überstunden und Sozialleistungen. In den letz-ten zwei Jahren standen mehr Kollektivinteressen imZentrum wie die Durchsetzung höherer Löhne undbesserer Arbeitsbedingungen oder Proteste gegenwillkürliche Änderungen der Beschäftigungsverhält-nisse und der Lohntabellen. Eine der zentralen Ursa-chen der Proteste waren z.B. Versuche des Manage-ments, das neue Arbeitsvertragsgesetz dadurch zuumgehen, dass die Beschäftigten gezwungen wur-den, ihre unbefristeten Beschäftigungsverhältnisse zukündigen und stattdessen in der Firma mit einemZeitvertrag oder als Leiharbeiter neu anzufangen."(China Labour Bulletin, The Workers’ Movement inChina 2007 – 2008)Im Januar gingen Bilder von der Belagerung, Erstür-mung und Verwüstung einer geschlossenen Spiel-zeugfabrik im Perlflussdelta um die Welt (z.B. http://www.guardian.co.uk/world/2009/jan/25/china-globaleconomy). Das war kein Einzelfall. Ob das aber dieStabilität der chinesischen Gesellschaft bedroht, istdoch fraglich. Zwar sind die meisten Wanderarbeiterjung und beweglich und über Handy und Internetgut vernetzt. Aber die chinesische Regierung konnteverhindern, dass die Folgen der Asienkrise 1997 unddie massive Arbeitslosigkeit durch die Restrukturie-rung der Staatsbetriebe in den 90er Jahren das Herr-schaftssystem bedrohten. Jetzt hat China viel mehrRessourcen zur Verfügung, die für Konjunkturpro-gramme und für Geldzahlungen an die Wanderarbei-ter zur Verfügung stehen.

Die chinesischen Behörden sind auch erfahrener imManagement von Arbeitskonflikten und Unruhen.Anfang 2009 hat Meng Jian, Minister für öffentlicheSicherheit, die Beamten angewiesen, ihr Hauptjob seizu verhindern, dass Unruhen außer Kontrolle gera-ten. "Unangemessene Polizeieinsätze, die die Konflik-te verschärfen sowie Blutvergießen, Verletzungenund gar Todesfälle müssen absolut vermieden wer-den." Seine Botschaft ist angekommen. Die Polizeierfasst alles auf Video, aber greift auch bei der Zer-störung von Autos oder Büros nicht ein. Bei einemMassenprotest von 30.000 Menschen in der südwest-chinesischen Provinz Guizhou aufgrund von Gerüch-ten über einen von der Polizei verdeckten Mordfallmussten sich die Offiziellen bei den Demonstrantenentschuldigen. Vier Beamte verloren ihren Job.

Im November und Dezember 2008 kam es in vielenchinesischen Städten zu Streiks der Taxifahrer. Erstaun-lich war das Ausmaß, die schnelle Ausbreitung unddie Vergleichbarkeit der Forderungen. In Sanya aufder Insel Hainan gingen die Behörden zwar mit mas-siver Unterdrückung gegen den Taxifahrerstreik vor.Aber in vielen anderen Städten reduzierten die Be-hörden die Wagenmiete, die die Fahrer zahlen müs-sen, was eine der Hauptforderungen der Streiks war.

Dass die Streiks gleichzeitig in vielen Städten in Chinaausbrachen, verweist auf ein systemisches Problemim Taxigeschäft, das von Stadtregierungen oder ver-

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bundenen Firmen monopolisiert ist. Der Allchinesi-sche Gewerkschaftsbund ACGB hat zur Gründung ei-ner Taxifahrergewerkschaft aufgerufen, die Streiksaber nicht aktiv unterstützt.Es war nicht das erste Mal, dass Taxifahrer streikten.Das Problem: Vorher hatten die Fahrer monatelangversucht, sich und ihren Forderungen Gehör zu ver-schaffen. Aber es gibt in China keinen anderen funk-tionierenden Konfliktlösungsmechanismus als denStreik oder den öffentlichen Protest – auch in ande-ren Branchen nicht. Die Behörden zeigten sich unfä-hig, vorher auf die Forderungen der Taxifahrer zureagieren.

3. Chinas Gewerkschaften in der Transformation

Traditionell rekrutierten die chinesischen Gewerk-schaften ihre Mitglieder unter den privilegierten Be-schäftigten der Staatsindustrie. Die Entwicklung ei-nes kapitalistischen Arbeitsmarktes in China hat fürdie Gewerkschaften grundlegend neue Bedingungender Mitgliederrekrutierung und Interessenvertretunggeschaffen. Entstanden als Transmissionsriemen derPartei in der Planwirtschaft und vor allem mit derOrganisation der betrieblichen Sozial- und Freizeit-einrichtungen befasst, sind sie im Kapitalismus mitvöllig anderen Aufgaben konfrontiert – Formulierungund Vertretung von Arbeitnehmerinteressen gegen-über den Unternehmen. Statt Umsetzungsorgan fürRegierungsebenen und Fabrikleitungen der Staatsbe-triebe sind sie jetzt zunehmend eigenständiger Sozi-alpartner. Es versteht sich, dass dieser Transformati-onsprozess dauert und nicht konfliktfrei ist.Die Gewerkschaften müssen zunehmend die Privat-wirtschaft organisieren, wobei sie sich nicht mehr nurhauptsächlich im Industrie-, sondern auch im Dienst-leistungssektor etablieren müssen. Gleichzeitig stel-len die Freiheit der Unternehmen, über die Größeihrer Belegschaft und deren Arbeitsbedingungen zubestimmen, die damit verbundene Zunahme unsiche-rer Beschäftigungsverhältnisse, die Vergrößerung derLohnunterschiede sowie die Gefahr höherer Arbeits-losigkeit ein völlig anderes Anforderungsprofil an diechinesischen Gewerkschaften dar als zu Zeiten derPlanwirtschaft.

Lohnverhandlungen – ohne Streikrecht?Es fehlt in China der gesetzliche Zwang, Kollektivver-träge abzuschließen. Dazu kommt die Impotenz derGewerkschaften auf Unternehmensebene. Das habenGewerkschaftsvertreter in der zentralchinesischen In-dustriestadt Luoyang in der Provinz Henan festge-stellt. (Dongfang network www.eastday.com, 16. Juni2008) Viele Unternehmen zögern mit der Unterzeich-nung von Kollektivverträgen. Gewerkschaften unddie Lokalregierung haben ihrerseits keine gesetzlicheHandhabe, die Unternehmen zu Verhandlungen zu

zwingen. Auch bei Verhandlungen ist die Gewerk-schaft im Nachteil, weil sie keinen Zugang zu denBüchern hat und sich auf die Produktivitäts- und Ge-winnangaben des Managements verlassen muss.

Die Stadtregierung von Luoyang in der Provinz Henanhatte ein Programm aufgelegt, in allen Unternehmenein System kollektiver Lohnkonsultationen einzufüh-ren. Viele Unternehmen wollen das nicht. Sie fürch-ten, dass mit einem solchen System ihre Hände ge-bunden sind. Sie verstehen unter kollektiven Lohn-konsultationen die Unterschrift unter Lohnvereinba-rungen in einem Kollektivvertrag. Wenn die Löhneschwarz auf weiß fixiert sind, können Arbeiter dieUnternehmen gerichtlich verklagen. Deshalb bevor-zugen die Unternehmen mündliche Vereinbarungen.Manche schriftlichen Verträge waren auch das Papiernicht wert, weil sie die Besonderheiten des Unterneh-mens nicht berücksichtigten und die Meinungen derArbeiter nicht eingeholt wurden. So beschwerte sichein Arbeiter, dass sein Monatslohn jetzt zwar 750Yuan beträgt, dass er aber wegen neuer Abzüge fürKranken- und Rentenversicherung dasselbe Geld wievorher nach Hause bringt. Das Unternehmen hattenur mit den Zahlen gespielt. Ein Arbeiter aus einerSchmiede beklagte sich, dass er bei zwei Lohnzahlun-gen im Monat einmal die Lohnerhöhung bekommtund beim zweiten Zahlungstermin einen Lohnabzug;das Monatsentgelt bleibt gleich.

Trotzdem gibt es vielversprechende erste Ergebnisse.Die Löhne in den Unternehmen, die an dem Pro-gramm teilnehmen, sind seit letztem Jahr deutlichgestiegen.

Die Stadtregierung hatte die Einführung eines Sys-tems kollektiver Lohnkonsultationen aufgrund einerStudie der Stadtgewerkschaft beschlossen. Diese Stu-die zeigte, dass 2006 die Wirtschaftsleistung in Luo-yang um 15,6 Prozent gewachsen war und die loka-len Steuereinnahmen sogar um 34 Prozent, währenddie Löhne gerade um 11,9 Prozent stiegen. 63 Pro-zent der von dieser Studie erfassten Arbeiter hattenin den letzten sechs Jahren höchstens zwei Lohnerhö-hungen erlebt, und 17 Prozent keine einzige Lohner-höhung – trotz Inflation. (Dongfang Network, a.a.O.)

Die Ankündigung des Programms der Stadtgewerk-schaft von Luoyang, ein System kollektiver Lohnkon-sultationen zu implementieren, verbreitete sichschnell im Netz. Viele Blogger bezweifelten, dass diebetrieblichen Gewerkschaftsvertreter im Betrieb et-was zu melden haben. "Gewerkschaftsführer könnensolange frei reden und handeln, solange es ihremBoss gefällt, was sie sagen und tun." Nach Medienbe-richten musste der Chef einer Betriebsgewerkschaftin einem sino-japanischen Gemeinschaftsunterneh-men fast drei Jahre lang vor Gericht um seine Rechtekämpfen, nachdem das Unternehmen ihn gefeuerthatte, weil er einen Lohnvertrag durchsetzen wollte.Betriebliche Gewerkschaftsvertreter sind in einer Posi-tion der Schwäche. Sie würden gern für die Rechtekämpfen, haben aber Angst, es zu tun. Wegen dieser

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Schwäche bekommen die Betriebsgewerkschaftenauch keinen Zugang zu vertraulichen Informationenund den Finanzzahlen. Ohne genaue Informationenverhandeln sie im Dunkeln.Das System kollektiver Lohnkonsultationen brauchteine gesetzliche Flankierung. Die Vorschrift im chine-sischen Arbeitsgesetz, dass Unternehmen Verhand-lungen auf Augenhöhe führen sollen, ist nur optio-nal. Unternehmen können sich diesen Verhandlun-gen verweigern. Das vom chinesischen Arbeitsministerium inzwischenvorgeschlagene Lohngesetz könnte Unternehmen be-strafen, die der Aufforderung zu Verhandlungenüber Kollektivverträge nicht nachkommen. Abermanche Gewerkschaftsvertreter und Aktivisten for-dern, dass solche Gesetzesvorgaben durch ein in derVerfassung verankertes Streikrecht unterstützt wer-den müssen. Das Recht der Arbeiter, ihre Arbeit zuverweigern, wenn das Management nicht verhandelt,ist viel effektiver als andere Sanktionen.

Überall wird gestreikt – jetzt wird auch das Streikrecht diskutiertNach der Kulturrevolution wurde das Streikrecht ausder Verfassung gestrichen. Aber jeden Tag gibt esallein im Perlflussdelta mindestens einen größerenStreik mit über 1.000 Teilnehmern und Dutzendekleinerer Streiks und Arbeitsniederlegungen. Diesekontinuierliche und ständig steigende Welle von Ar-beitskämpfen hat die Zentralregierung und die regio-nalen und lokalen Instanzen zu einer Überprüfungdes gesetzlichen Rahmens der Arbeitsbeziehungengezwungen.In einem Artikel vom Juni 2008 bewertete ein Ge-werkschaftsvertreter den Entwurf der neuen Regelnder Stadtregierung von Shenzhen, einer Metropoleim Perlflussdelta, als Meilenstein, der das lange ta-buisierte Streikrecht in die Reichweite einer gesetzli-chen Regelung bringt. Für ihn ist es bis zum Streik-recht "nur noch ein Schritt". Der Artikel ist bedeutsam wegen der freimütigen Be-wertung der gegenwärtigen Machtbalance in den Ar-beitsbeziehungen, der Ineffektivität des Allchinesi-schen Gewerkschaftsbundes ACGB bei der Organisie-rung ("ein Scherz") und der Unfähigkeit der Gewerk-schaften, Streiks zu unterstützen. Der Artikel demon-striert, dass auch offizielle ACGB-Funktionäre ihreAufgabe ernst nehmen, die Arbeitnehmerinteressenzu schützen. Im Folgenden Auszüge:"Der Ständige Ausschuss des Städtischen Volkskon-gresses, des Stadtparlaments von Shenzhen hat vorkurzem ’Vorläufige Regeln über die Entwicklung vonharmonischen Arbeitsbeziehungen in der Sonderwirt-schaftszone Shenzhen’ veröffentlicht. Das Dokumentist ein Meilenstein, weil es offensichtlich Chinas er-stes gesetzliches Dokument über ’harmonische Ar-beitsbeziehungen’ ist und weil der Ständige Aus-schuss des lokalen Volkskongresses explizit zu Stel-lungnahmen vor der Veröffentlichung aufforderte.

Der wichtigste Aspekt dieses Dokuments besteht da-rin, dass es Standards für den jeweiligen Status unddie Verantwortlichkeiten von Arbeitnehmern, Arbeit-gebern und der Regierung definiert. Es stellt fest,dass zur Schaffung harmonischer Arbeitsbeziehun-gen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf der Basis derGleichheit beraten müssen, dass sie die Gesetze be-folgen müssen und Selbstdisziplin üben müssen.Dass die Regierung den Prozess koordiniert undüberwacht, dass normale Bürger sich daran beteili-gen müssen und dass Fairness und Gerechtigkeit gel-ten müssen.

Angesichts der Tatsache, dass die Arbeitgeber imheutigen China zweifellos die stärkste Partei in denArbeitsbeziehungen sind, muss die Schaffung harmo-nischer Arbeitsbeziehungen damit beginnen, dieMachtbalance zwischen Arbeitgebern und Beschäf-tigten neu zu justieren. Ein einzelner Arbeiter in ei-nem Großunternehmen ist so machtlos wie ein winzi-ger Käfer unter einem großen Baum. Der einzigeWeg für Arbeitnehmer, Dinge zu bewegen und ihreProbleme zu lösen, ist der Zusammenschluss, dieBündelung der Kräfte.

Chinas Gewerkschaften haben weltweit den bestenOrganisationsrahmen und die größte Mitgliedschaft,aber ihr realer Status ist ein Scherz. Politische Ein-flussnahme überall im System hat echte und effektivegewerkschaftliche Organisierung verhindert. Wennjetzt die Regierung ihre Verantwortung ernst nimmt,müssen das auch die Gewerkschaften tun.

Nach der Änderung der chinesischen Verfassung1982 wurde das Wort ’Streik’ (bagong) in der chine-sischen Gesetzgebung tabuisiert. An seine Stelle tra-ten Referenzen wie Arbeitsniederlegungen (ting-gong) und Arbeitsverzögerungen (daigong). Leidererklärt das veränderte Gewerkschaftsgesetz von2001: ’Im Falle einer Arbeitsniederlegung oder einerArbeitsverzögerung in einem Unternehmen oder ei-ner Institution soll die Gewerkschaft das Unterneh-men oder die Institution bei ihrer Arbeit so unterstüt-zen, dass der normale Produktionsprozess so schnellwie möglich wieder aufgenommen werden kann.’(Artikel 27) Solche Spielregeln, die den Arbeitneh-mern das Recht auf kollektive Aktion versagen, redu-zieren sie tatsächlich auf kollektives Betteln.

Die Tatsache, dass Gewerkschaften nicht nur unfähigsind, eindeutig auf der Seite der Arbeitnehmer zustehen, sondern auch noch undankbare Jobs für dieArbeitgeber erledigen müssen, zeigt klar, dass sie ineiner untergeordneten Position sind.

Obwohl die ’Vorläufigen Regeln’ nicht so weit gehen,dass sie einen Streik auch als Streik bezeichnen, undweiterhin von Arbeitsniederlegungen und Arbeitsver-zögerungen sprechen, halten sie nicht mehr daranfest, dass im Falle solcher Ereignisse die Gewerk-schaften den Unternehmen helfen müssen, die Pro-duktion so schnell wie möglich wieder aufzunehmen.Das allein gibt den Gewerkschaften schon Spielraum.Was die ’Vorläufigen Regeln’ noch mehr zu einem

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Meilenstein macht, ist die Vorkehrung, dass im Falleeines größeren Streiks die (Stadt-) Regierung eineVerordnung erlassen kann, die dem Managementund den Arbeitern für einen Zeitraum von 30 Tagenjede Aktion untersagt, die den Konflikt verschärfenkann. Durch die klare Bezeichnung der Rechte undPflichten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ha-ben die ’Vorläufigen Regeln’ tatsächlich industrielleStreiks ins Blickfeld gesetzlicher Regulierung ge-bracht." (übersetzt aus: China Labour Bulletin, http://www.clb-prg-jl/en/node/100263, 17.6.2008)

Gewerkschaft ist Sache der Arbeitnehmer alleinZum ersten Mal seit 1949 haben offizielle Gewerk-schaftsvertreter 2008 öffentlich erklärt, dass die Ge-werkschaften die Arbeitnehmer vertreten sollen undniemanden sonst: Gleichzeitig stellt ein neues Gesetz,ebenfalls aus Shenzhen im Perlflussdelta, den Ab-schluss von Kollektivverträgen – früher ein No-Go-Thema – in den Mittelpunkt der Gewerkschaftsarbeit.

"Die Gewerkschaft ist Sache der Arbeiter selbst," er-klärte Chen Weiguang, der Vorsitzende des Gewerk-schaftsverbandes von Guangzhou in einer Konferenzam 15. Juli 2008. Die Rolle der Betriebsgewerkschaf-ten müsse sich ändern – "nicht mehr den Boss überre-den", sondern "die Arbeiter mobilisieren".

Shenzhens Umsetzungsregeln für das Gewerkschafts-gesetz vom 1.8.2008 stärken die neue Rolle der Ge-werkschaften. Sie sollen eine "verantwortliche undkampfbereite Gewerkschaft" schaffen, die die Arbei-ter schützen kann. So der Chef der Rechtsabteilungdes Gewerkschaftsbundes von Shenzhen in einer Pres-sekonferenz. In den Umsetzungsregeln von Shenzhenwird auch zum ersten Mal in einem lokalen Gesetz derBegriff "Kollektivverhandlungen" anstelle des bislangverwandten viel schwächeren Begriffs "kollektive Kon-sultation" verwandt.

"Nach drei Jahrzehnten Wirtschaftsreformen habenwir den Punkt erreicht, wo etwas getan werdenmuss. Wir haben heute in Shenzhen die schlimmstenExzesse des Kapitalismus, aber auch den Wunsch derMenschen nach sozialer Gerechtigkeit und – mit die-sen Gesetzen – die Bereitschaft der Lokalregierung,den Weg zu einem Kapitalismus mit menschlichemAntlitz zu gehen Das drängendste Problem der offizi-ellen Gewerkschaft ist ihre Unabhängigkeit von denBossen." So die Bewertung von Han Dongfang, einemGewerkschaftsaktivisten, der nach Jahren Gefängnisin China jetzt von Hongkong aus die chinesische Ar-beiterbewegung unterstützt. (zitiert nach China La-bour Bulletin).

Bezeichnenderweise gibt es im gesamten dritten Ka-pitel von Shenzhens Umsetzungsregeln für das Ge-werkschaftsgesetz keinen einzigen Verweis mehr aufdie im Gewerkschaftsgesetz von 2001 noch fixiertentraditionellen Aufgaben – etwa dem Unternehmenbei der Wiederaufnahme der Produktion im Fall einerArbeitsniederlegung zu helfen. Stattdessen machen

die Umsetzungsregeln klar, dass die Gewerkschaftendie Beschäftigten bei einem Arbeitskonflikt in Ver-handlungen mit dem Management zu vertreten ha-ben. Außerdem sehen die Umsetzungsregeln – zumersten Mal in China – eine monatliche Bezahlung vonBetriebsgewerkschaftern vom lokalen Gewerkschafts-bund vor. Das soll die Abhängigkeit der Betriebsge-werkschaft vom Unternehmen reduzieren.In verschiedenen Abschnitten wird festgestellt, dassder Abschluss von Kollektivverträgen die Hauptaufga-be der Gewerkschaften ist und wie dieser Prozessablaufen soll. Damit werden Tarifverhandlungen inChina erstmals von einer vagen Idee zu einem wirkli-chen Recht.

Natürlich sind die Umsetzungsregeln für das Gewerk-schaftsgesetz nicht perfekt. Nach wie vor wird dieBetriebsgewerkschaft von den höheren Gewerk-schaftsebenen kontrolliert. Die Kandidatenliste fürdie Führung der Betriebsgewerkschaft muss vonoben abgesegnet werden. Alle Betriebsgewerkschaf-ten brauchen die offizielle Anerkennung durch diehöheren Gewerkschaftsebenen.

Abschluss von Branchentarifverträgenin ZhejiangDie gewerkschaftliche Idee, die Lohnkonkurrenz durchbranchenweite Kollektivverträge einzuschränken, da-mit die Kapitalisten nicht mit Dumpinglöhnen gegen-einander konkurrieren, sondern um Qualität, Produk-te und Innovationen, findet auch in den chinesischenGewerkschaften Befürworter: In der ostchinesischenProvinz Zhejiang gibt es eine Region, aus der ca. 90Prozent aller Kaschmirpullover auf dem Weltmarktstammen. Hersteller sind über 100 Privatfirmen, diemeist Wanderarbeiterinnen beschäftigen. 2006 gabes in diesen Fabriken über 150 größere Arbeitskon-flikte um Löhne, Überstundenzahlung etc. Binnenzwei Jahren gelang es der lokalen Gewerkschaft, alleUnternehmen zum Abschluss eines Branchentarifver-trages zu bringen.

4. Wie Chinas Gewerkschaften organisieren

Top-Down und Bottom-Up: Wal-Mart und andere MultisNach dem Gewerkschaftsgesetz von 2001 gibt es for-mal zwei Wege zur Gründung einer Betriebsgewerk-schaft. Der eine Weg ist der Wunsch der Beschäftig-ten nach einer Gewerkschaft, der andere die Einset-zung einer Betriebsgewerkschaft durch eine höhereGewerkschaftsebene. In China wurden Betriebsgewerk-schaften bislang mit wenigen Ausnahmen von obengegründet. Auf diese Weise soll die Kontrolle überdie Vertreter der Betriebsgewerkschaft sichergestelltwerden. Pikanterweise hatten in der Vergangenheit

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viele Privatunternehmen Gewerkschaftsgründungenvon oben mit der Begründung abgelehnt, dass ihreBelegschaft keine Gewerkschaft wünsche.Die lokalen und die regionalen Gewerkschaftsebenenstecken dabei in einem Dilemma in ihrem institutio-nellen Umfeld: Einerseits haben sie die Ziele desACGB und der chinesischen Zentralregierung umzu-setzen. Andererseits unterliegen sie den Interessender lokalen Behörden. Darüber hinaus besteht auchbei Lokalregierungen die Furcht, dass Gewerkschafts-gründungen Investoren abschrecken. Sie nutzen des-halb im Sinne des chinesischen Sprichwortes "Die Ber-ge sind hoch und der Kaiser ist weit weg" ihre Auto-nomie, um ihre lokalen oder auch privaten wirt-schaftlichen Interessen zu schützen. Es gab bislangdurchaus die Gefahr eines "race to the bottom" zwi-schen den Regionen Chinas.

Zudem ist die Wirtschaftsentwicklung und die Zahlder Arbeitsplätze wichtig für die Bewertung der loka-len Kader und für ihre Karriere, solange sich keinemassiven sozialen Konflikte in ihrer Einflusssphäre er-eignen. Gleichzeitig sind viele lokale Kader selbst alsso genannte "Geschäftsleute mit roten Kappen" oderüber Verwandte an Unternehmen beteiligt oder kas-sieren anderweitig mit. Die Interessen der Arbeitneh-mer und die der lokalen Gewerkschaften sind dabeinur störend.Unter diesen Umständen ist die Qualität der Gewerk-schaftsaktivitäten in den Betrieben und auf lokalerEbene äußerst unterschiedlich. Immer wieder gibt esFälle, in denen die lokalen Gewerkschaften weitrei-chende Konzessionen machen, wenn es um Investitio-nen geht. So wird das jeweilige Unternehmen oft inden ersten beiden Jahren von Beitragszahlungen be-freit oder kann den Gewerkschaftsvorsitzenden be-stimmen.

Beispielhaft für dieses komplexe Umfeld, in dem dieBeschäftigten ihre Forderungen erheben und in demdie chinesischen Gewerkschaften agieren müssen, istWal-Mart.In einer zentral gesteuerten Kampagne, unterstütztvon der chinesischen Regierung, hat der ACGB seit2006 die meisten Wal-Mart-Niederlassungen in Chinagewerkschaftlich organisiert. Die Kampagne hatte zwei Stadien: Zunächst organi-sierte der ACGB im Sommer 2007 in 17 ausgewähl-ten Wal-Mart-Niederlassungen neue Mitglieder. DieACGB-Vertreter besuchten die Wal-Mart-Beschäftig-ten nach Feierabend und mobilisierten sie für dieGründung einer Betriebsgewerkschaft. Dann wurdenGewerkschaftskomitees gebildet und die Vorsitzen-den der Betriebsgewerkschaft gewählt – meist mor-gens vor den Geschäftsstunden. Als die gegründetenBetriebsgewerkschaften sich dann öffentlich outeten,weigerte sich das überrumpelte Wal-Mart-Manage-ment zunächst, sie anzuerkennen.Dann korrigierte Wal-Mart seine Position und ent-schied sich, mit dem ACGB zusammenzuarbeiten.Beide Seiten unterzeichneten ein Memorandum, das

die Gründung von Betriebsgewerkschaften in allenchinesischen Wal-Mart-Niederlassungen erlaubte. DerACGB gab seine Organizing-Kampagne auf und kehr-te zu seiner Standard-Praxis zurück, Betriebsgewerk-schaften und betriebliche Gewerkschaftskomitees mitManagement-Zustimmung zu gründen.Viele in China und im Ausland wundern sich, was inden Betriebsgewerkschaften bei Wal-Mart in Chinaeigentlich passiert. Kritiker des ACGB unterstellen,dass die Wal-Mart-Kampagne reines Schauspiel warund die Betriebsgewerkschaften ruhig gestellte Able-ger von Wal-Mart und dem ACGB sind.

Nach den Angaben von China Labor News Translati-ons (http://www.clntranslations.org) zeigt die Unter-suchung chinesischer Websites und Blogs jedoch eindifferenziertes Bild: Viele der Wal-Mart-Betriebsge-werkschaften sind natürlich unter der Kontrolle desManagements und der lokalen KPCh-Organe. Aber esgibt auch Betriebsgewerkschaften, die tatsächlich mitdem Management über die Arbeitsbedingungen unddie Verletzungen des Arbeitsrechts streiten.

In einer Auswertung werden beispielhaft vier Betriebs-gewerkschaften untersucht, die alle noch im Gehei-men vor dem 16.8.2006 gegründet wurden. Von die-sen vier Betriebsgewerkschaften werden zwei vonden Mitgliedern selbst kontrolliert, die die Gewerk-schaft als ihre eigene Angelegenheit auffassen undsich gegen die Kontrolle seitens des Managementsund/oder (korrupter) Funktionäre von außen wehren.

In einem Wal-Mart-Store in Shenzhen kam die Be-triebsgewerkschaft bald nach der Gründung 2006unter Managementkontrolle. Gewählte Gewerkschafts-vertreter wurden durch Manager ersetzt, offensicht-lich mit stillschweigender Zustimmung lokaler Partei-organe. In Blog-Einträgen von Wal-Mart-Beschäftig-ten hieß es dazu: "Es ist vorbei! Es ist vorbei! Helftuns, die Wal-Mart-Betriebsgewerkschaft zu retten!"

In einem anderen Supermarkt in Shenzhen wurde dieBetriebsgewerkschaft zunächst undercover aufge-baut. Es war der zweite Supermarkt in China mitBetriebsgewerkschaft. Ein einfacher Wal-Mart-Be-schäftigter wurde trotz des hohen persönlichen Risi-kos, gefeuert zu werden, zum Chef der Betriebsge-werkschaft gewählt – nicht wie üblich ernannt voneiner höheren Gewerkschaftsebene oder von der Par-tei. Im Frühjahr 2008 mobilisierten die Mitglieder da-für, ihren Vorsitzenden und den Kassenwart abzu-wählen. Ihr Vorwurf: Sie machen ihren Job nicht undveruntreuen Gewerkschaftsgelder.

Die Betriebsgewerkschaft bei Wal-Mart in Nanchangwurde ebenfalls im August 2006 ohne Wissen desManagements aufgebaut. Der von den Mitgliederndirekt gewählte junge Vorsitzende der Betriebsge-werkschaft, der in seiner Freizeit Recht studiert, hatinzwischen viele Konflikte mit dem Wal-Mart-Manage-ment durchgestanden. Darunter gegen zwei Kündi-gungen, die das Management zurücknehmen muss-te. Der Konflikt hat die Zahl der Gewerkschaftsmit-glieder vervielfacht. Mit einem Offenen Brief an die

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Mitglieder verhinderte er, dass Wal-Mart den vomGewerkschaftsgesetz geforderten Betrag von 2 Pro-zent der Lohnsumme für Gewerkschaftsaktivitäten(oft auch Freizeitaktivitäten) mit Boni oder Jahresprä-mien verrechnete. Überall bei Wal-Mart in China gilter als echter Gewerkschaftsführer, im Netz wird erauch "Chairman Gao" genannt. Der Konzern versuch-te, die Betriebsgewerkschaft in dieser Wal-Mart-Filia-le durch eine mit dem örtlichen ACGB abgestimmteGründung eines Wal-Mart-Gewerkschaftskomiteesauf Stadtebene zu kontrollieren. Aber mit Unterstüt-zung der ACGB-Zentrale in Beijing wurden die Ma-nagement-freundlichen Entscheidungen des örtlichenACGB mehrfach kassiert.

Die Kommentare in den Blogs zeigen, dass die meis-ten Arbeiter in China den ACGB nicht total abtun. Esgibt Enttäuschung und Zynismus über die chinesi-schen Gewerkschaften, aber nicht den offen oder im-plizit formulierten Gedanken, eine neue, unabhängi-ge Gewerkschaft aufzubauen. Wenn engagierte Ge-werkschafter die existierenden gesetzlichen und insti-tutionellen Spielräume für die Vertretung von Arbei-terinteressen nutzen, sammeln sich die Arbeiter hin-ter ihnen.

Ein Artikel in Legal Daily (14.7.2008), einer Regie-rungszeitung, berichtet über weitere Erfolge desACGB bei seiner Kampagne der Organisierung vonmultinationalen Konzernen, alle Fortune-500-Konzer-ne. Zu dem Zeitpunkt gab es 4.100 Betriebsgewerk-schaften in chinesischen Niederlassungen von Multis.10.000 sollten es zum Jahresende 2008 sein. Bislang konnten Multis im Fall der Gründung einerBetriebsgewerkschaft mit Verlagerung innerhalb Chi-nas drohen. Das ist inzwischen vorbei, weil der ACGBdie Multis überall organisiert. Der Artikel berichtetauch von gezielten Anstrengungen der oberen Ge-werkschaftsebenen, die Funktionäre auf Provinz-,Stadt- und Kreisebene dazu zu bringen, die Multis zuorganisieren

Gewerkschaftliche Organisierung der WanderarbeiterNoch schwieriger ist allerdings die gewerkschaftlicheOrganisierung der Wanderarbeiter, deren Interessenaufgrund ihrer enormen Mobilität und der damit ver-bundenen Fluktuation am Arbeitsplatz schwer zu ver-treten sind. 2007 waren insgesamt 68 Prozent derBeschäftigten in der verarbeitenden Industrie, 58 Pro-zent im Gaststättengewerbe und bis zu 80 Prozent inder Bauindustrie Wanderarbeiter, die für Niedriglöh-ne und in den seltensten Fällen mit Arbeitsvertragformal beschäftigt sind. Junge Frauen, die aufgrundihrer ländlichen Herkunft vergleichsweise schlechtausgebildet sind, stellen einen großen Teil der Wan-derarbeiter in der Exportindustrie. Unter dem aus-beuterischen System des "Schlafsaal-Arbeitsregimes",bei dem Arbeiterinnen vom Land direkt auf dem Be-

triebsgelände in Schlafsälen untergebracht sind, kön-nen die Betriebe die Arbeiterinnen je nach Auftrags-lage Tag und Nacht in der Produktion einsetzen.Die Organisierung der Wanderarbeiter ist das zweiteGroßprojekt des ACGB neben der Organisierung derArbeiter in ausländischen Unternehmen. Erst seit2003 vertritt und organisiert der ACGB auch dieWanderarbeiter – eine Abkehr von der Konzentrationauf die privilegierten Stammbelegschaften in denStaatsbetrieben und eine späte Reaktion auf die ge-sellschaftlichen Realitäten. Ende 2009 sollen 66 Mil-lionen Wanderarbeiter gewerkschaftlich organisiertsein. KPCh und Zentralregierung fordern eine ver-stärkte Organisierung der Wanderarbeiter – für dieStabilität im Lande. Jetzt in der Krise sollen die Ge-werkschaften den arbeitslosen Wanderarbeitern be-rufliche Qualifikationsprogramme, Kleinkredite undStartkurse für Selbständige anbieten. Sie sollen dafürsorgen, dass es auch in den Herkunftsgebieten derWanderarbeiter funktionierende Gewerkschaftsstruk-turen gibt.Gewerkschaftsbeiträge müssen die Wanderarbeiter inder Regel nicht bezahlen. Stattdessen werden die nö-tigen Mittel für die Dorfgewerkschaften und die Or-ganisation der Wanderarbeiter über die Beiträge ausden Unternehmen finanziert. In manchen Städtengibt es auch die Auflage, dass Bauunternehmer erstdann eine Lizenz erhalten, wenn sie eine Gewerk-schaft auf ihrem Baugelände zulassen. In einigenStädten werden bei Projektausschreibungen der Stadt-regierung Bauunternehmen ohne Gewerkschaft nichtberücksichtigt.Trotz der Organisationskampagne des ACGB kom-men die Wanderarbeiter im derzeitigen System zurRegelung von Arbeitskonflikten oft nur schwer zu ih-rem Recht. Da sie weder den Status eines Städtersnoch das Geld für den langwierigen Rechtsweg ha-ben, stehen sie außerhalb des Systems und bilden diegrößte Konfliktgruppe in der chinesischen Arbeits-welt. Dies zeigt auch die Radikalisierung der Protesteunzufriedener Wanderarbeiter mit der Zerstörungvon Maschinen und der Besetzung von Behörden –bis hin zur Androhung von kollektivem Selbstmord.

5. Schluss

Die Untersuchung der jüngsten Entwicklungen in Chi-na ergibt ein insgesamt widersprüchliches Bild: Dasseit ein paar Jahren propagierte Konzept der "harmo-nischen Gesellschaft" bedeutet eine Abkehr von derjahrzehntelang durch Staat und Partei betriebenenmassiven Förderung wirtschaftlichen Wachstums zuLasten der Arbeitnehmer, der Gesellschaft und derUmwelt. Es ist der Versuch eines zeitweiligen Ausglei-ches gegensätzlicher Interessen. Aber die Weltwirt-schaftskrise hat diesen Masterplan der KP Chinas undder Zentralregierung zurückgeworfen, mit kontrol-lierter kapitalistischer Entwicklung hunderte Millio-

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nen Chinesen aus der Armut zu befreien und dasenorme Stadt-Land-Gefälle schrittweise abzubauen.Es ist fraglich, ob Chinas wirtschaftliche Entwicklungdie industrielle Reservearmee auch künftig zum er-heblichen Teil absorbieren kann.Umso massiver sind die Versuche, gegenzusteuern.Partei und Regierung verkünden jetzt bei jeder Gele-genheit, dass China zu abhängig von der Exportwirt-schaft ist, dass das bisherige Wachstumsmodell anseine Grenzen gestoßen ist, dass der private Ver-brauch massiv gesteigert werden soll, um die Export-abhängigkeit zu vermindern. Neben einem Mega-Programm mit Infrastruktur-Investitionen hat die Re-gierung zur Ankurbelung des privaten Konsums An-fang 2009 umgerechnet 130 US-Dollar an 74 Millio-nen Wanderarbeiter gezahlt. Die Bauern bekommenSubventionen für die Anschaffung von Haushaltsge-räten. Mit 123 Mrd. US-Dollar soll bis 2011 eine allge-meine Krankenversicherung aufgebaut werden. Gleich-zeitig sind alle Unternehmen verpflichtet, Massenent-lassungen vorher den Behörden anzukündigen. Staats-betriebe müssen ihre Beschäftigten halten.

Gleichzeitig führt die Krise aber zu massiven Lohnein-bußen. Angesichts des Fehlens eines Sozialversiche-rungssystems bedeutet das, dass die Chinesen nochmehr sparen. 2008 lag die Sparquote bei giganti-schen 50 Prozent! Mit diesen Reserven können diemeisten chinesischen Haushalte einige Monate durch-halten.

Die riesige Arbeiterklasse der Weltmarktfabrik Chinazeigt zwar in unzähligen Aktionen jetzt in der Kriseihren Protest, sie ist aber tief gespalten und hat des-halb noch keine kollektive gesellschaftliche Kraft her-ausgebildet. Speziell die Wanderarbeiter, der ammeisten ausgebeutete und versklavte Teil der chinesi-schen Arbeiterklasse, sind durch die Unsicherheit ih-

rer Lage, ihre erzwungene Mobilität und ihren Status"Weder Land noch Stadt" bislang kaum in der Lage,sich dauerhaft zu organisieren.Die Entwicklungen in den chinesischen Gewerkschaf-ten schließlich zeigen, dass unter dem Druck dermassiven Arbeitskonflikte und sozialen Proteste derSpielraum des ACGB zugenommen hat. In demMaße, in dem sich Arbeiterkämpfe und Organisati-onsversuche von unten entwickeln, wird die Partei-und Staatsführung sicherlich noch mehr versuchen,die selbständige Rolle der Gewerkschaften weiter zustärken, um den Druck von unten zu absorbieren.

Ausgewählte Quellen

China Labor News Translations http://www.clntranslations.org

Going it Alone: The Workers’ Movement in China (2007-2008)http://www.clb.org.hk/en/files/File/research_reports/workes%20movement%2007-08.pdf

China Labour Bulletin, http://www.clb.org.hk:CLB research report:Breaking the Impasse: Promoting Worker Involvement in theCollective Bargaining and Contracts Process

China Labour Bulletin, http://www.clb.org.hk: CLB: Collective Bargaining and the New Labour Contract Law

Sergio Grassi: Die neuen Aufgaben der chinesischenGewerkschaften, in: China aktuell, 1/2008

Anita Chan, "Organizing Wal-Mart in China: Two Steps Forward,One Step Back for China’s Unions", New Labor Forum, Vol. 16,No. 2 (March 2007), pp. 87-96

ITUC (International Trade Union Confederation): China – Annual Survey of violations of trade union rights 2009,http://survey09.ituc-csi.org/survey.php?IDContinent=3&IDCountry=CHN&Lang=EN

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Die Autoren

Frank Deppeist einer der prägenden Politologen Deutschlands der letzten Jahrzehnte.Zu den Veröffentlichungen des emeritierten Marburger Professors gehört dasStandardwerk "Politisches Denken im 20. Jahrhundert" (Hamburg, VSA)

Bernd Riexingerist Geschäftsführer des Bezirks Stuttgart der Gewerkschaft ver.di und Mitglied des geschäftsführenden Vorstands der Partei die Linke in Baden-Württemberg.

Wolfgang Müllerist Sekretär bei der IG Metall, hat einige Jahre in China gelebt und gearbeitet.Jüngste Veröffentlichung: Die großen Wirtschaftslügen – Raffgier mit System, 2009, Droemer-Knaur

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