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Jahrgang 2012 · Heft 21 Familienkundliche Arbeitsgemeinschaft im Förderkreis Gleimhaus e.V. Die 1848 abgebrochene alte St. Johanniskirche in Bennungen, in welcher Christian Werckmeister die Orgel gespielt hat und Andreas Werckmeister von ihm im Orgelspiel unterrichtet wurde (Zeichnung von Carl Gebser aus dem Jahre 1897; Archiv und Repro. H. Noack)

FÖRDERKREIS GLEIMHAUS e.V. Rückenstärke Jahrgang 2012 ... · 7 steckhen“8 Für die Menschen war es eine schreckliche, hoffnungslose, Existenz bedrohend Zeit, die nach der Zerstörung

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Jahrgang 2012 · Heft 21

Familienkundliche Arbeitsgemeinschaftim Förderkreis Gleimhaus e.V.

FÖRDERKREIS GLEIMHAUS e.V.

Domplatz 31 Telefon 03941 / 6871-038820 Halberstadt Telefax 03941 / 6871-40

Internet: www.gleimhaus.de E-Mail: [email protected]

VORSTAND

Ehrenvorsitzender Wolfgang KochVorsitzender Udo MammenStellvertretende Vorsitzende Kerstin LangerSchatzmeisterin Dr. Ingeburg StoyanSchriftführerin Rosemarie Schaumbergweitere Vorstandsmitglieder Marita Spiller Jürgen JülingDirektorin des Gleimhauses Dr. Ute Pott

Zurzeit beträgt der jährliche Beitrag

26,– € für persönliche Mitglieder 130,– € für korporative Mitglieder

Bankverbindungen: Harzsparkasse Konto-Nr. 360129137 (BLZ 81052000)

Vereinigte Volksbank e. G. Konto-Nr. 6251420 (BLZ 27893215)

Der Förderkreis Gleimhaus e. V. ist unter der Nummer VR 241 in das Vereinsregister beim Amtsgericht Stendal eingetragen und durch Freistellungsbescheid des Finanzamtes Halberstadt vom 26.06.2009 als gemeinnützigen Zwecken dienend anerkannt worden. Spenden für den Förderkreis sind bei der Einkommensteuer und der Körperschaftssteuer abzugsfähig.

ISSN 1434-6281

Die 1848 abgebrochene alte St. Johanniskirche in Bennungen,in welcher Christian Werckmeister die Orgel gespielt hat

und Andreas Werckmeister von ihm im Orgelspiel unterrichtet wurde (Zeichnung von Carl Gebser aus dem Jahre 1897; Archiv und Repro. H. Noack)

Rückenstärke

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Neuer Familienkundlicher AbendFamilienkundliche Arbeitsgemeinschaft

im Förderkreis Gleimhaus e.V.

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Inhalt Seite

Die Beziehungen der Benneckensteiner Organistenfamilie Werckmeister zu Halberstadt(Lutz Wille) .......................................................................................... 5

Gedicht: Macht-Rausch (Christian Morgenstern) ............................. 18

Abseits – wer ist’s? (Bernd Wolff) ..................................................... 19

Walter Krienitz: Die Vorfahren, die Kinder, die Zeit (Renate Chotjewitz-Häfner †) ........................................................... 25

Kurzer medizinischer Nachtrag zu Walter Krienitz ........................... 49

Gedicht: Landschaftskalender (Christel Trausch) ............................. 50

Halberstädter Familiengeschichten mit astronomischen Zutaten (Reinhard E. Schielicke) .................................................................... 51

Neue Gedichte (Christel Trausch) ..................................................... 69

Start eines neuen Familienunternehmens (Helga Scholz) ................ 71

Die bauliche Entwicklung in Halberstadt in den Jahren nach der Zerstörung der historischen Bausubstanz am 8. April 1945 bis zum Wiederaufbau des Stadtzentrums im Vorfeld der Jahrtausendwende (1. Teil) (Simone Bliemeister) ....................... 83

Einige Gedanken zum Niederdeutschen (Eva Brandt) ..................... 95

Nachrufe: Martin Bluhm (Udo Mammen),Rolf Hillmer (Horst Hoffmann) ........................................................... 99

Neuer Familienkundlicher Abend 2011 .......................................... 104

Förderkreis Gleimhaus e.V., Domplatz 31, 38820 HalberstadtArbeitsgemeinschaft „Neuer Familienkundlicher Abend“Redaktion: Udo Mammen, Ines WieczorekGesamtherstellung: Halberstädter Druckhaus GmbH, HalberstadtTelefon: 03941 6956-0

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Anschriften der Autoren

Simone Bliemeister, Domplatz 36, 38820 Halberstadt

Eva Brandt, Clara-Zetkin-Str. 47, 39387 Oschersleben/Bode

Otto Häfner, Almrotherstraße 16, 30519 Hannover

Horst Hoffmann, Schillerstraße 3, 29525 Uelzen

Udo Mammen, Straße der Opfer des Faschismus 28, 38820 Halberstadt

Dr.-Ing. Reinhard E. Schielicke, p. A. Astrophysikalisches Institut

und Universitäts-Sternwarte Jena, Schillergäßchen 2, 07749 Jena

PD Dr. med. habil. Steffen Rickes, Gleimstraße 5, 38820 Halberstadt

Helga Scholz, Spiegelsbergenweg 30, 38820 Halberstadt

Christel Trausch, Reihe 33, 38828 Wegeleben

Prof. Dr. Lutz Wille, Griethweg 21, 69198 Schriesheim

Bernd Wolff, Kreuzstraße 16, 38889 Blankenburg

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Die Beziehungen der Benneckensteiner Organistenfamilie Werckmeister zu Halberstadt

Von Lutz Wille

Drei Generationen des Geschlechts der Werckmeister, das in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts im Harz und in seinen Vorlanden über mehrere Generationen eine Reihe von Organisten gestellt hat, lassen sich in Halberstadt nachweisen.Ausweislich der Eintragung in die Matrikel der Academia Julia in Helmstedt war Halberstadt der Heimatort des Stammvaters der Fa-milie, von Victor (1) Werckmeister: „37. Victor Werckmeister, Hal-berstadensis, Febr. 20, 1600.“ 1 Noch einmal erscheint sein Name in den Listen des Konvikts 1606/1607, einer sozialen Einrichtung, welche minderbemittelten Studenten eine verbilligte Speisung morgens und abends auf vier Jahre gewährte.2 Demnach hat sich Werckmeister zu Studienzwecken in Helmstedt zwischen 1600 und 1607 aufgehalten. Die 1576 von Herzog Julius zu Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüttel gegründete Universität war damals maßgeblich für den norddeut-

1: Der Universitätsbereich in Helmstedt. Die Gebäude waren bereits fertig gestellt, als Victor (1) Werckmeister dort von 1600–1607 studierte (Merian, Topographia … Hertzogthümer Braunschweig und Lüneburg 1654; Repro L. Wille).

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schen Raum und entwickelte sich rasch zur drittgrößten Hochschule nach Wittenberg und Leipzig (Abb. 1). Werckmeister dürfte das etwa zweijährige propädeutische Grundstudium universale an der Philoso-phischen Fakultät absolviert haben, welches die Voraussetzung für ein Studium der Theologie bildete.3 Letzteres hat er wohl nicht auf-genommen, denn in den Universitätsakten ist weder der Erwerb des Magistergrades noch eine Promotion nachweisbar. Er studierte dort in der Glanzzeit des sog. Helmstedter Späthumanismus. Nach seiner Studienzeit finden wir ihn als Kantor in Elbingerode. 4 Dort lernte er sei-ne Frau kennen, Margaretha Löwen, die Tochter des Bürgermeisters.5 1626 wählte ihn die Gemeinde von Benneckenstein zu ihrem Pastor. Seine Unterschrift findet sich in den sog. Subskriptenbüchern, die eine Verpflichtung der berufenen Kirchen-, Schul- und anderer Landesbe-dienteste auf das „Corpus doctrinae Julium“ enthalten: „Huic corpore Julio Ego Victor Werckmeister designatus Pastor in Benekenstein sin-cere et fideli manu subscribo 25. Novemb. Ao 1626“.6 Dabei handelt es sich um den gedruckten Text der Kirchenordnung von Herzog Julius aus dem Jahre 1569 mit den Bekenntnisschriften.Mitten im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) hat Werckmeister sein Pastorenamt für Benneckenstein und den Hüttenort Sorge angetreten. Im Ort lebten zu jener Zeit etwa 600-800 Einwohner.7 Die Lebensgrund-lagen bildeten damals Bergbau und Hüttenwesen, Köhlerei, Waldarbeit, Fuhrgewerbe, Schmiedehandwerk und Holzverarbeitung; nebenberuf-lich wurden etwas Landwirtschaft und Viehzucht betrieben. Im sieben-ten Kriegjahre hatte sich das wechselvolle Kriegsgeschehen nach Mit-teldeutschland verlagert, weil die kaiserlichen Streitkräfte versuchten, das Bistum Halberstadt und das Erzbistum Magdeburg von den Pro-testanten zurückzugewinnen. Tilly fiel im Juli 1625 in das Fürstentum Wolfenbüttel ein; Wallenstein schlug im Oktober 1625 sein Hauptquar-tier in Halberstadt auf. Sein Kriegvolk kampierte im Bruch zwischen Cattenstedt und Wienrode bei Blankenburg, plünderte und brand-schatzte Stadt und Land. Übergriffe auf die Zivilbevölkerung wie Raub, Mord, Vergewaltigungen und Verwüstungen provozierten Widerstand und führten zur Entwicklung der Harzschützenbewegung. Die Harz-schützen führten guerillaartige Aktionen gegen durchziehende Soldaten beider Kriegsparteien aus. Es traf Benneckenstein hart, als am 11. Juli 1627 der Wallensteinsche Obristleutnant Freiherr David Peckherr von der Ehr von Halberstadt aus im Rahmen einer Strafaktion gegen die Harzschützen befahl, „ daß dorf und doch nur die etlich wenig heuser, darinnen sy geweßen und herauß nicht zu bringen waren, in prand zu

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steckhen“8 Für die Menschen war es eine schreckliche, hoffnungslose, Existenz bedrohend Zeit, die nach der Zerstörung Benneckensteins zu einer Verrohung der Menschen und zu einer Verwilderung der Sitten führte, wie Werckmeister an die Kanzlei in Sondershausen berichtete.: „und ist zu beklagen, daß sie so wenigk nach Gottes Word fragen; und daß bißweilen in solcher großen gemeinde nicht 4 oder 6 hauswirhte in die kirchen kommen;…auch keine obrigkeit noch pfarherr achten, son-dern verkleinern, schmehen und schenden, wie es ihnen gefellt; auch woll mit dreuworten sich vernehmen lassen, wenn man sie mahnen oder anherrschen läst, und also kein vermahnen oder strafen hilft“9

Werckmeister wirkte in Benneckenstein bis zu seinem 90. Lebens-jahr, 1660; die von ihm erbaute alte Pfarre steht heute noch (Abb. 2). Dann beriefen Konsistorium und Kanzlei von Schwarzburg-Rudolstadt Andreas Rubenus, bis dahin Pastor in Jechta, zu seinem Nachfolger. Der greise Pastor konnte sich zur Ruhe setzen. Anfang August 1666 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand. Am 9. August wurde Werckmeister in Benneckenstein zu Grabe getragen. Er starb im Alter

2: Die alte Pfarre in Benneckenstein, erbaut von Victor Werckmeister im Jahre 1656 (Foto L. Wille).

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von 96 Jahren und wurde damit – errechnet – 1570 in Halberstadt ge-boren.10 Dort hat er sehr wahrscheinlich seine schulische Ausbildung auf einer der evangelisch-lutherischen Schulen erhalten; ob dies auf dem renommierten Martineum geschah, welches 1545 gegründet wur-de, muss wegen fehlender Listen der Alumni offen bleiben.Victor Werckmeister und seine Frau Margaretha hatten drei Söhne (Abb. 3): • Joachim, Gerichtsschöppe, Brauer und Ackermann in Bennecken-

stein, • christian

• Victor (2)Joachim ist der Vater von Andreas Werckmeister (1645-1706), dem bedeutenden Musiktheoretiker, Organisten und Orgelfachmann des 17. Jahrhunderts. Die geistige und musikalische Entwicklung des jun-gen Andreas, der in Benneckenstein geboren wurde, haben wesentlich seine Onkel Christian, Organist in Bennungen, und Victor (2), Kantor in Quedlinburg geprägt.

3: Stammtafel von Victor (1) Werckmeister, 1. Folgegeneration (erarbeitet von L. Wille)

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Christian Werckmeister ist vermutlich der Zweitälteste der Söhne. Sein Geburtsjahr ist nirgends verzeichnet, doch lässt es sich auf Grund der Lebensdaten seiner Frau und der Geburt seines ersten Kindes mit etwa 1630 errechnen. Er wurde demnach in Benneckenstein geboren. Sicherlich besuchte er dort die Knabenschule. Über eine Gymnasial-zeit ist nichts bekannt; sie könnte in Nordhausen erfolgt sein. Wie sein Bruder Victor (2) erhielt er eine akademische Ausbildung an der Universität Helmstedt. Ihre gemeinsame Immatrikulation erfolgte am 2. September 1648, wenige Wochen vor dem Friedensschluss von Osnabrück: „Victor Werckmeister, Christianus Werckmeister, Benne-ckensteinenses“.11 Über die Dauer der Studienzeit ergeben sich aus den Universitätsakten keine Anhaltspunkte. Nach dem Niedergang während des Dreißigjährigen Krieges und einer Unterbrechung des Lehrbetriebes zwischen 1626 und 1628, befand sich die Academie Ju-lia zu dieser Zeit in ihrer zweiten Glanzperiode. Christian Werckmeister dürfte hier zumindest ein zweijähriges Grundstudium an der Philoso-phischen Fakultät bis Ende 1650 belegt haben. Drei Jahre später, am 1. Januar 1654, begegnet er uns mit dem Einsetzen der Kirchenbücher in Bennungen/Goldene Aue als bestallter Organist und Knabenschul-lehrer (Abb. siehe Titelbild).12

Auch hier waren 1661, 13 Jahre nach Ende des Dreißigjährigen Krieges, die verheerenden Folgen noch nicht beseitigt, wie aus einem Schreiben von Pfarrer, Schultheiß und der Kirchenvorsteher an den Grafen Jo-hann Martin zu Stolberg hervorgeht: „welcher gestalt unser kirchthurm zu Bennungen bey dem langwierigen und verderblichen vergangenen kriegeswesen gantz baufällig und wandelbar worden, also gar, daß wir in stündlicher gefahr und beysorge stehen müssen, daß er sambt den dreyen glocken überm haupte fallen und werklich große schäden und unglück verursachen möchte, … etliche viertzig wüste städten allhier noch unerbaut liegen, und unsere gemeinde dahero in groß abnehmen gerathen, auch in der Beyrischen einquartierung etliche zwantzig häu-ser abgebrannt und noch nicht erbauet.“13 Werckmeister heiratete Magdalena Schennert, vermutlich in den letzten Monaten des Jahres 1655. Am 29. September 1655 (Festo Michaelis) wird sie im Kirchenbuch von Bennungen unter den confitentes (Abend-mahlsteilnehmern) noch als „seine Braut“ aufgeführt,14 am 29. Januar 1656 erscheint sie bereits als „des Organisten Weib, Magdalena“ und übernimmt die Patenschaft für das Kind Andreas Koch.15 Es findet sich kein Eintrag über die Trauung; sie fand offenbar auswärts statt. Auch ist in dieser Zeit der Familienname seiner Frau in Bennungen unbe-

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kannt. Einiges weist auf ihre Herkunft aus Benneckenstein hin, wo in jener Zeit der Name „Schönnert“ und „Schönert“ vorkommt. Im Jahr 1661 hält er um das neu geschaffene Organistenamt in Benne-ckenstein an und wird nach Vorspiel von der Gemeinde zum Organisten gewählt.16 In die Familie werden sieben Mädchen und ein Junge gebo-ren; fünf der Mädchen sterben bereits in frühen Kindesalter. Christian Werckmeister wird am 19. April 1705 in Benneckenstein beerdigt.17 Sein Neffe Andreas Werckmeister, Sohn des Joachim Werckmeisters (s.o.), weilte von 1658 bis 1660 bei ihm, besuchte in Bennungen die Schule und erhielt von seinem akademisch gebildeten Onkel vermut-lich nicht nur musikalische Unterweisungen und Anleitungen zum Or-gelspiel, bevor er am 15. August 1660 auf das Gymnasium in Nordhau-sen wechselte.18 Zu dieser Zeit gab es in Benneckenstein noch keine Orgel. Andreas Werckmeister ist mehrmals im Kirchenbuch von Ben-nungen zwischen März 1658 und November 1659 unter den commu-nicantes (Abendmahlsteilnehmern) zusammen mit seinem Onkel und seiner Tante aufgeführt.19 Nur 2 Jahre besuchte Andreas Werckmeister das Gymnasium in Nord-hausen. „Nachdem es ihm aber daselbst am freyen Hospitio geman-gelt, und seines seeligen Vaters Bruder Hr. Victor Werckmeister, da-maliger wohlverordneter Cantor zu Quedlinburg, ihn gerne bey sich gesehen, als hat er sich in das Quedlinburgische Gymnasium begeben, da Er denn auch mit einen freyen Hospitatio versehen worden“.20 Damit gewann sein Onkel, Victor (2) Werckmeister einen entscheidenden Ein-fluss auf die Entwicklung seines Neffen. Für weitere zwei Jahre setzte Andreas Werckmeister seine Gymnasialausbildung in Quedlinburg fort. Zu einem anschließenden Universitätsstudium ist es nicht gekommen. Es liegt nahe zu vermuten, dass ihn sein Onkel gedrängt hat, 1664 eine Berufung als Organist an die St. Antonius-Kirche in Hasselfelde anzu-nehmen. Dort lernte Andreas Werckmeister seine erste Frau Catharina, die Tochter des Bürgermeisters Reckleben, kennen. Seine beiden Söh-ne, Johann Andreas und Johann Bartholomäus wurden dort geboren (Abb. 5). 1674 ging er als Stadtschreiber und Organist an der St. Jako-bi-Kirche nach Elbingerode. Als sich im Jahre 1675 die Äbtissin Anna Sophia I. Pfalzgräfin bei Rhein entschloss, den Organistendienst für die Stiftskirche St Servatii von dem der Marktkirche St. Benedikti zu tren-nen, setze sich Victor Werckmeister erneut für seinen Neffen ein und empfahl ihn für dieses Amt. Im November 1675 reiste Andreas Werck-meister zur Organistenprobe nach Quedlinburg, die er im Beisein der Äbtissin und hoher Konsistorialbeamter vor dem Organisten Johann

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Caspar Trost, Martinikirche zu Halberstadt, und dem Quedlinburger Stadtkantor Michael Wagner ablegte.21 Später hat Werckmeister diese Orgelprüfung als schwierig bezeichnet, doch er war erfolgreich und erhielt am 24. November 1675 die Organisten-Vocation.22 Damit waren nun Onkel und Neffe gleichzeitig im Dienste des Reichsstiftes und der Jüngere (Organist) hatte den Weisungen des Älteren (Kantor) zu folgen.Wer war dieser Victor (2) Werckmeister, der einen so entscheidenden Einfluss auf den weiteren Lebensweg von Andreas Werckmeister ge-winnen sollte? Er ist der jüngste Sohn von Victor (1) Werckmeister und wurde am 25. Januar 1635 (errechnet) in Benneckenstein geboren. Sicher hat er dort die Knabenschule besucht, doch dürfte sein Vater selbst für eine gründliche Ausbildung und Vorbereitung auf eine höhere Schule, vermutlich in Nordhausen, gesorgt haben. Erkenntnisse darü-ber liegen allerdings nicht vor. Zwar hat sich Victor Werckmeister am 2. September 1648 – mit 13 Jahren (!) – zusammen mit seinem älteren Bruder Christian an der Universität Helmstedt eingeschrieben (s.o.), und sie wurden auch ritu depositionis initiiert (Erstzulassung zum Stu-dium), doch dürfte es sich um eine Voranmeldung gehandelt haben, denn eine weitere Immatrikulation findet sich im Alter von 21 Jahren unter dem Datum des 1. Mai 1656.23 Über die Studiendauer und ob er nach einem philosophischen Grundstudium ein theologisches Haupt-studium aufgenommen hat, ist nichts bekannt.Um 1660 wurde er als Collega nonus am Gymnasium in Quedlinburg eingestellt.24 Dort machte Werckmeister nur langsam Karriere. Etwa alle fünf Jahre stieg er in der Lehrerhierarchie eine Stufe höher. Als Rektor Schmidt am 10. Juli 1665 feierlich und öffentlich in sein Amt eingewiesen wurde, erfolgte unter anderen Berufungen auch die Ein-weisung von Werckmeister als Praefectus octavae.25 1676 rückte er zum Sextus auf, 1681 wurde er zum Quintus ernannt.26 Als Gymnasi-allehrer lehrte er Latein und Griechisch. Unterrichtssprache war nach den Schulprinzipien von Melanchthon ausschließlich Latein. Es obla-gen ihm der Musikunterricht, der in Klasse IV begann, und die Leitung der Kurrende sowie des Schülerchores bei Kirchenmusiken, Hoch-zeiten, Beerdigungen und anderen öffentlichen Gelegenheiten. Als „Cantor aulicus“ (Hofkantor) wird Werckmeister erstmals 1663 durch einen Eintrag als Pate im Taufregister von St. Wiperti fassbar.27 Doch hat er dieses Amt wohl schon 1662 ausgefüllt, folgt man den An-gaben in der Leichenpredigt von Johann Melchior Götze auf Andreas Werckmeister. Ab 1680 wirkte er als Stadtkantor an der Haupt- und Marktkirche St. Benedikti. Er war für das gesamte Musikleben in Stift

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4: Stammtafel von Andreas Werckmeister, 1. Folgegeneration (erarbeitet von L. Wille)

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und Stadt verantwortlich und hatte auch die Festmusik zu besonde-ren Anlässen zu gestalten. Für diese umfangreichen Aufgaben standen ihm sowohl die Chorschüler des Gymnasiums wie auch die Stadtpfei-fer und Musikanten zur Verfügung. Im Jahre 1664 heiratete er Catharina, die Tochter des Wernigeröder Mützenmachers Baltzer Hermann Berendes.28 Das erste gemeinsame Kind der Werckmeisters, Maria Catharina, wurde 1666 in Quedlinburg geboren. Ihr folgten zwei weitere Töchter und sieben Söhne, von de-nen drei ein Studium aufnahmen: Johann Dietrich 1690 in Jena,29 Jo-hann Andreas im gleichen Jahr in Leipzig.30 Der Zweitgeborene, Con-rad Heinrich, studierte ab 1688 ebenfalls in Jena31 und trat 1695 die Pfarrstelle von Wolfsberg und Breitenbach nach dem Tode des dor-tigen Pfarrers Johann Wilhelm Raubenius an. Er heiratete die älteste Tochter seines Vorgängers am 15. Oktober 1695.32 Im Jahre 1669 erwarb Victor (2) Werckmeister das Bürgerrecht der Stadt Quedlinburg. Irgendwann zwischen 1665 und 1675 kaufte er das Anwesen Bockstr. 4, auf dem eine Braugerechtigkeit ruhte. Das Grund-stück im Stadtteil der Benedikti-Gemeinde lag in unmittelbarer Nähe zur Kirche. Hier lebte er mit seiner großen Familie. Victor (2) Werckmei-ster starb 1687 im 53. Lebensjahr. Andreas Werckmeister blieb 21 Jahre im Stiftsdienst zu Quedlinburg. Als seine Frau hier 1680 starb, heiratete er 1682 zu zweiten Male, Anna Salome Seelmann, die Tochter des Oberpfarrers von Groß-Salze, welche ihm vier Mädchen gebar. 1677 übernahm Andreas Werckmeister zusätz-lich zum Dienst an St. Servatii das Organistenamt an St. Wiperti. Sein Sohn Johann Andreas war mit 17 Jahren für etwa 12 Monate 1685/1686 an St. Ägidii tätig, bevor er zu weiteren Studien Quedlinburg verließ und mit einem Stipendium der Äbtissin des reichsunmittelbaren Quedlinbur-ger Stifts Anna Dorothea (1684 – 1704), Herzogin von Sachsen-Weimar, an die Academia Julia nach Helmstedt ging. Danach gelang es Andre-as Werckmeister 1686, seinen jüngeren Sohn Johann Bartholomäus, 16 Jahre alt, für die nun freie Organistenstelle an St. Ägidii zu empfehlen. Dort war dieser acht Jahre tätig ist, bis er 1694 die ertragreichere Küster-stelle an der Schlosskirche St. Servatii übernahm. Schließlich wurde er 1701 zum Organisten an St. Servatii und St. Wiperti berufen. 1696 folgte Andreas Werckmeister dem Ruf auf die Organistenstelle der Ratskirche St. Martini zu Halberstadt, zugleich führte er als König-lich-Preußischer Inspektor die Aufsicht über alle Orgeln im Fürstentum Halberstadt. Er wohnte in der Kühlinger Straße.Das geistige Umfeld und den Umgang mit Theologen, Kantoren, Or-

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ganisten und Orgelbauern in Halberstadt hat Werner hartmann be-schrieben, darunter den zu Konsistorialrat Johann Melchior Götze (1658 – 1717), Prediger am Dom, Pate von Werckmeisters jüngster Tochter und Verfasser seiner Leichenpredigt.33 Freundschaftlich ver-bunden war er mit Magister Adolphus Daniel Schneider und mit Kantor Henricus Heistermann von St. Martini sowie mit dem „Stifts- und Stadt-musicus“ Johann Georg Carl, die Gelegenheitsgedichte zu seinen mu-siktheoretischen Werken beisteuerten.34 Den Halberstädter Orgelbauer Heinrich Jacob Wilcke nannte er seinen „Freund und Schwager“. Letz-teres ist wohl im übertragenen Sinne, auf den Orgelbau bezogen, ge-meint. Buxtehude hatte enge Kontakte zur Werckmeister, den er 1702 in Halberstadt aufsuchte, nachdem er 1683 seine beiden Orgeln in der Marienkirche zu Lübeck, vielleicht nach Diskussionen mit Werckmei-ster, in eine temperierte Stimmung versetzt hatte. Auch Johann Gott-fried Walther, ein Vetter von Johann Sebastian Bach, besuchte 1704 Werckmeister in Halberstadt nach einem regen Briefwechsel. Durch ihn oder auf seiner „Pilgerreise nach Lübeck“ 1706 zu Buxtehude könnte Bach die „Werckmeister-Stimmungen“ kennen gelernt haben, die ihn möglicherweise zu seinen zwei Zyklen Präludien und Fugen durch alle Tonarten, sein „Wohltemperiertes Klavier“, angeregt haben.Die Halberstädter Zeit findet Andreas Werckmeister auf dem Höhe-punkt seines Schaffens. Bedeutende musiktheoretische Werke wurden hier überarbeitet oder konzipiert und überwiegend von seinem Qued-linburger Verleger veröffentlich:• Nucleus musicus, hrsg. vor 1697• Hypomnemata musica, Quedlinburg 1697• Erweiterte und verbesserte Orgel-Probe…, Quedlinburg 1698• Die nothwendigsten Anmerckungen…[zum] Generalbaß, Aschersle-

ben 1698• Cribrum musicum…, Quedlinburg/Leipzig 1700• Harmonologia musica…, Franckfurth/Leipzig 1702• Organum gruningense redivivum…, Quedlinburg/Aschersleben 1704• Musicalische Paradoxal-Discourse…, Quedlinburg 1707 (postum)In Halberstadt hatte Andreas Werckmeister eine für die damalige Zeit große Orgel mit 39 Registern des Halberstädter Orgelbauers David Beck zur Verfügung, die zwischen 1570 und 1585 eingebaut wor-den war.35 Ihr eindrucksvoller Renaissance-Prospekt, vor dem An-dreas Werckmeister am Spieltisch gesessen hat, kann heute noch in der Stadtkirche St. Trinitatis zu Derenburg besichtigt werden. Beck ist auch der Erbauer der berühmten Orgel in Schloss Gröningen

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(1592 – 96), die Andreas Werckmeister 1705 auf Veranlassung des Preußenkönigs Friedrich I. begutachtete. Seinen ältesten Sohn Johann Andreas Werckmeister finden wir ab 1704 ebenfalls in Halberstadt als Organisten an der Johanniskirche, wo er die von dem Halberstädter Orgelbauer Elias Winnigstedt 1605 erbaute große Orgel mit 38 Registern auf 3 Manualen spielte. Ihr Pro-spekt ist noch vorhanden. Nach dem Tode seines Vaters übernahm er 1706 das Organistenamt an der Martinikirche. Dort ist er bis 1738 nachweisbar, danach verliert sich seine Spur in Halberstadt. Sein erst-geborener Sohn Johann Christian (*02.08.1725) wurde Pastor in Tre-plin; diese Linie setzt sich bis heute fort. Mitglieder der Familie Werckmeister haben ausgehend von Ben-neckenstein in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts in einem eng be-grenzten territorialen Raum gewirkt.: Benneckenstein, Bennungen, Elbingerode, Hasselfelde, Halberstadt, Quedlinburg, Wolfsberg. Sie hatten Stellen als Pfarrer, Kantoren, Organisten und Schöppen inne. Ihre bedeutendsten Vertreter sind während ihrer Schaffenszeit zu den Wurzeln ihrer Familie, nach Halberstadt, zurückgekehrt. Die Stadt Ben-neckenstein hat ihrem großen Sohn Andreas Werckmeister 1995 ein Denkmal an historischem Ort, auf dem alten Kirchengelände, gesetzt.

5: Das Denkmal für den Musiktheoretiker, Organisten und Orgelfachmann Andreas Werckmeister in seinem Heimatort Benneckenstein (Foto Ronald Langer).

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Quellen- und Literaturverzeichnis

1 Zimmermann, Paul (Bearb., 1926): Album Academiae Helmstadiensis. S. 147. Diesen Hinweis ver-danke ich Herrn Georg Werckmeister, Gelnhausen.

2 Ebd., Fußnote zu Nr. 37.

3 Mager, Inge (2003): Die Pfarrerausbildung für die evangelischen Landeskirchen an der welfischen Universität Helmstedt. In: Harz-Forschungen, Bd. 15, S. 59-76.

4 Verein für Pfarrerinnen und Pfarrer in der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen e.V. (Hrsg.): Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen, Bd. 9 (2009), S. 343.

5 Götze, Johann Melchior (1707): Der Weit-berühmte Musicus und Organista wurde bey trauriger Leich-Bestellung des weyland Edlen und Kunst-Hoch-erfahrenen Herrn Andreas Werckmeisters … in einer Stand-Rede dargestellt. Archiv des Gleimhauses, Halberstadt, Nr. C9153.

6 Corp. doctrinae Julium. Landeskirchliches Archiv Wolfenbüttel V 376, Bl. 58.

7 Dieser Schätzung liegen das Honsteinsche Erbzinsregister von 1580 und die Einwohnerverzeich-nisse von 1724 und 1731 zugrunde.

8 Boblenz, Frank (2003): Bericht des Oberst David Peckherr vom 14./24. Juli 1627 über eine Aktion gegen die Harzschützen und die dabei erfolgte Einäscherung von Benneckenstein. 45. Benne-ckensteiner Heimatheft, S. 79-86.

9 Schreiben von Victor Werckmeister an die Schwarzburgische Kanzlei in Sondershausen vom 3. November 1628, 22. Juni 1629 und vom 1. April 1633. ThStA Rudolstadt, Geheimes Staatsar-chiv (Restbestand) Nr. A VII 3c Nr. 6.

10 Kirchenbuch 1a Benneckenstein, S. 132.

11 Album studiosorum, Bd. 2 (1647-1737) StAW, 37 Alt Nr. 2573, S. 29.

12 Leopold, Just Ludwig Günther (1817): Kirchen-, Pfarr- und Schul-Chronik der Gemeinschafts- Aemter Heringen und Kelbra; der Grafschaft Hohnstein, der Stadt Nordhausen und der Graf-schaften Stolberg-Rosla und Stolberg-Stolberg seit der Reformation. S. 80-81.

13 LHASA, MD, H Stolberg-Roßla, Akten VI, Nr. 12, S. 19.

14 Kirchenbuch Bennungen Nr. 1 (ab 1654), S. 52.

15 Ebd., S. 62.

16 ThStA Rudolstadt, Geheimes Archiv (Restbestand) Nr. A VII 3d Nr. 11, S. 11-14.

17 Kirchenbuch Benneckenstein 1a, S. 345, Nr.3.

18 Götze., Leichenpredigt (wie Anm. 5).

19 Kirchenbuch Bennungen Nr. 1 (ab 1654), S. 121, 131, 139, 153, 162.

20 Götze, Leichenpredigt (wie Anm. 5).

21 Werckmeister, Andreas (1702): Harmonologia musica, S. 70.

22 LHASA, Magdeburg, Rep A 12, Quedlinburg, Nr. 224.

23 Hillebrand, Werner (Bearb.; 1981): Die Matrikel der Universität Helmstedt, 1636-1685. S. 115, Nr. 81.

24 Moser, Dietz-Rüdiger (1994): 1000 Jahre Musik in Quedlinburg, S. 45.

25 Monumentum Roesero-Schmidio-Weisianum sive Oratio, qua Dominus Iacobus Nicolaus Roese-rus… ThULB Jena, 2 Bud. Var. 382 (254-258).

26 Kettner, Ernst Friedrich (1710): Kirchen- und Reformations-Historie, Des Kaeyserl. Freyen Welt-lichen Stiffts Quedlinburg…, S. 242-248.

27 St. Wiperti, Taufregister, 1663/38 (02.09.).

28 Kirchenbücher der St. Sylvestri-Gemeinde Wernigerode: St. Sylvestri – Copulirte 1664.

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29 Jauering, Reinhold (1963): Die Matrikel der Universität Jena. Bd. II 1652-1723, S. 880.

30 Erler, Georg (1909): Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig. Bd. II 1634-1709, S. 492.

31 Jauering/Reinhold, Matrikel Leipzig (wie Anm. 29) S. 881.

32 Kirchenbuch Wolfsberg, Trauungen, S. 8 Nr. 1.

33 Hartmann, Werner: Halberstadt um 1700 – ein Zeitbild. In: Thom, Eitelfriedrich (Hrsg., 1986), Bericht über das Werckmeister-Kolloqium aus Anlaß des 340. Geburtstages von Andreas Werck-meister am 30. November 1985. Studien zur Aufführungspraxis und Interpretation von Musik des 18. Jahrhunderts, S. 16-22.

34 Herrmann, Ursula (1950): Andreas Werckmeister. Dissertation. Halle/Saale

35 Ablitzer, Jean-Charles (Hrsg.; o. J.): Organum Gruningense Revidivum (Broschüre).

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Macht-Rausch

Von Christian Morgenstern

Dich zu spielen, gewaltige Orgel –:Blind,mit tastenden Händenüber den Herzen der Welt!

Mit jedem GriffUnnennbares lockend,Stürmen und Säuselnabgrundentfesselnd, –eine Fugeaus Seufzern,Gelächtern,Flüchen,Wehklagen,Wollüsten,Jauchzern ...

So zu sitzen!Blindvor brausendem Tönemeer –unter meiner Hand,des Mächtigen,auf und nieder rauschendem Tönemeer...Und ein Lauschenauf allen Sternen ...

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Abseits – wer ist’s?

Von Bernd Wolff

Goethe und der Harz. Es ist in zuzeiten manches darüber gesagt, man-ches spekuliert worden. Man ergeht sich in Auslegungen, ob er nun drei- oder fünfmal das Gebirge heimsuchte. Ich sage, es waren sechs-, vielleicht siebenmal, aber das ist bedeutungslos: Seit er es zuerst aus der Ferne erblickte, war er ihm verfallen, sein Leben lang. Immer wie-der blätterte er, wie in einem Album, in den Zeichnungen des Georg Melchior Kraus, die auf der dritten Harzreise entstanden, immer wieder nahm er die Gesteine im Gartenpavillon in die Hand, die er in dieser Gegend gesammelt hatte. Der „Faust“, auch und gerade der zweite Teil, ist durchdrungen von Harzbezügen wie die Granitwände des Bo-detals von Quarzbändern – es gäbe keine „Klassische Walpurgisnacht“ ohne die vorhergehende in der „Gegend von Schierke und Elend.“ In der Schweiz fielen ihm Analogien zu den Harzbergen auf – „etwas zu leiden sind wir bereit, und wenn es möglich ist im Dezember auf den Brocken zu kommen, so müssen auch Anfangs November uns diese Pforten der Schröcknisse auch noch durchlassen“ (zum Weg von Sa-voyen ins Wallis); „An den Wänden sintert ein Tropfstein, doch ist sie (Höhle bei Balme) an den wenigsten Orten feucht, und bilden sich lange nicht die reichen, wunderbaren Figuren, wie in der Baumannshöhle“ – , in Sizilien besuchte er die Familie des Guiseppe Balsamo, der sich Ca-gliostro nannte und der mit der Marquise de Branconi aus Langenstein vertraut war; ja, man spekulierte, dass jener – und vielleicht auch sie – in die berüchtigte Halsbandaffäre verwickelt gewesen sei, die letztlich zu einem Auslöser der französischen Revolution wurde... Die „Far-benlehre“ speist sich auch aus Beobachtungen der „tausendfarbigen Morgen“, der „farbigen Schatten“.Freilich, der Harz ist dergestalt Teil des Goetheschen Wesens gewor-den, wie es Thüringen, Böhmen oder Italien auch waren, weder kopf-lastig dominant noch ablösbar, durch eine Art Stoffwechselvorgang zum selbstverständlichen Bestandteil seiner selbst mutiert.Sieben Mal! spricht da nicht lokales Geltenwollen mit?, dieses „hic fuit“, das ihm dergestalt aufgedrängt worden ist, dass in Quedlinburg, Mühlhausen und wo auch immer mit dem Slogan geworben wird: Hier war Goethe nicht!1776 erblickte er das Gebirge zum erstenmal, Mitglied der Weima-risch-herzoglichen Suite, die von einem übereifrigen Forsteleven auf

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einer Erzlagerstätte des Kyffhäusers vorübergehend festgenommen wurde. Dann folgten die drei Reisen, die jeweils mit dem Besuch des Brockens ihren topographischen Höhepunkt fanden – 1777, 1783, 1784. Das nächste war – und da lag bereits die Erfahrung der ersten Italienreise dazwischen – 1789 ein mehrwöchiger Aufenthalt im Gefol-ge der Herzogin Luise, die das unter Weimarscher Führung stehende Kürassierregiment in Aschersleben besuchte, eine Reise, über die wir fast nichts wissen und die ihn doch zumindest in den Ballenstedter Raum geführt haben muss, ins Eine-, ins Selketal. 1792 brach man von Aschersleben auf, glorreich, und kehrte wie begossene Pudel zurück. Über seinen dreiundvierzigsten Geburtstag, den er unter mieslichen Umständen in der Champagne verbrachte, schreibt er: „Nun wußte je-der von dem Marsche selbst gar manches zu erzählen, wie man den Harz links lassend, an Goslar vorbey, nach Nordheim und Göttingen gekommen“, während des Ereignisses erinnert er sich beim Besuche Plessings in Duisburg an die friedlich harmlose Zeit in Wernigerode – ohne diese ausführliche Darstellung wüssten wir über die Begegnung nichts! – , am Ende seiner Erinnerungen schließt er wehmütig: „Die Gegend um Aschersleben, der nahe Harz, von dort aus so leicht zu bereisen, erschien für mich verloren, auch bin ich niemals wieder tief hineingedrungen.“ Diese Sätze entstanden 1822, drei Jahrzehnte nach der Schlacht bei Valmy, und zweifellos erinnerte er sich da auch des letzten Besuches 1805, in Gesellschaft seines Sohnes und des Altphi-lologen Professor Wolf aus Halle, der ihn zumindest ins Bodetal bis an den Bodekessel heranführe, allerdings nicht, wie gern vorausgesetzt wird, auf die Roßtrappe. Die Klippe interessierte ihn als Felsformation, aus dem Tale weit besser zu erforschen als von Klopstocks „heiligem Mal“, das ihm, damit seinen Begleitern, nicht bedeutsam erschien. Goethe arbeitete im Harz kein touristisches Programm ab – er war aus triftigen Gründen lieber abseits. Damit dichter dran.Die Orte, die er anlässlich seiner Reisen aufsuchte, zusammenzu-zählen, wäre ein müßiges Unterfangen, gewiss rechnet Quedlinburg dazu, was man immer in Abrede stellte, doch es ist nun mal zwischen Aschersleben, Gernrode und Halberstadt nicht zu umgehen, obwohl er mit seinen Vorbehalten gegenüber diesem Gemeinwesen, vor al-lem einem betrügerischen Bürger, nicht hinterm Berg hielt, wie in den Xenien nachzulesen. Wichtiger als das Auflisten der Schlafstätten ist, was er mit wachen Sinnen erfuhr, was ihn an diesem kleinen, in zahlrei-che Herrschaften zerschlachteten Gebirgskörper interessierte. Solche Interessen sind zuerst die eines Forschungsreisenden. Die Geologie

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faszinierte ihn, zugleich die Nutzung der Schätze der Tiefe, das Berg-wesen, die Höhlen, die Morphologie der Gesteine – derartig vielfältige Erscheinungen auf so engem Raum nahmen ihm den Atem. Schon die Herausforderungen des Reisens an sich erwiesen sich als reizvoll, das Messen der Kräfte, das Lösen von Schreibblockaden, das Zeichnen, das Bezwingen des Unbekannten. Bekanntes kam hinzu: der Besuch bei Trebra in Zellerfeld, den er beim Wiedererschließen des Ilmenauer Bergbaus kennen und schätzen gelernt hatte, das bereits erwähnte Treffen mit Briefschreiber Plessing, die spannungsvolle Nähe zu Gleim, der wiederholte Besuch bei der Branconi.Die spätere „schöne Fee von Langenstein“ war ihm als erstes im Sche-renschnitt begegnet, den er in physiognomischer Manier mit dem der Charlotte von Stein verglich und zu horoskopischen Ergebnissen ge-langte, von Angesicht lernte er sie 1789 in Lausanne kennen, im Jahr darauf besuchte sie ihn – auf dem Wege von Langenstein über Frank-furt in die Schweiz – in Weimar; ihr Abschiedsbrief, spätabends auf dem Kickelhahn erhalten, inspirierte das Gedicht „Über allen Gipfeln ist Ruh“. Seinen von der Welfenschwester Anna Amalia befohlenen Be-such in Halberstadt 1783 verband er mit einem vorherigen Aufenthalt in Langenstein; im Jahr darauf beendete er dort seine Gebirgsbereisung mit Georg Melchior Kraus. Dessen letzte Harzzeichnung zeigt den von Westen her in den Ort Einreitenden in nahezu italienisch anmutender Landschaft vor der Altenburg – der Zuweg ist heute zur Fahrschlucht vertieft und zugewachsen von Loden und lange nicht mehr so sabine-risch wie einst, doch lassen sich Anhaltspunkte wahrnehmen. Offen-bar beeindruckte ihn die vormalige Geliebte des Herzogs von Braun-schweig außerordentlich, doch war er sich der Gefahren einer Liaison von Anfang an bewusst, in Lausanne vermerkte er: „Unverletzt die Flügel streicht kein Vogel vorbey.“ In Langenstein begegnet er ihrem treuen Hofmeister Matthaei, desgleichen ihrem jüngsten Sohn Karl An-ton Ferdinand, einem natürlichen Nachkommen des Braunschweigers, dem Grafen Forstenburg. Am 19. September 1792, vor Valmy, kam es zu einer gleichsam schicksalhaften mysteriösen Begegnung.„Ein sonderbarer Anblick erinnerte mich an andere Zeiten. In dem ers-ten Gliede der Eskadron schwankte die Standarte in den Händen ei-nes schönen Knaben hin und wider; er hielt sie fest, ward aber vom aufgeregten Pferde widerwärtig geschaukelt, sein anmuthiges Gesicht brachte mir, seltsam genug aber natürlich, in diesem schauerlichen Au-genblick, die noch anmuthigere Mutter vor die Augen, und ich mußte an die ihr zur Seite verbrachten friedlichen Momente gedenken.“

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Graf von Forstenburg fand zwei Jahre später bei Kaiserslautern den Tod, als er einem gefangenen Franzosen Pardon gab, der ihn alsdann von hinten her in die Nieren schoss – Gleim widmete ihm ein mehr schmerz-lich bewegtes als künstlerisch überzeugendes Nachrufgedicht.

„Klag‘ IHN, Menschheit! Menschlich dachteForstenburg der junge Held:Klag‘ IHN, Menschheit! Menschheit machteBlutig IHM das Siegesfeld!

Lebe! sprach er; ach! das Leben,Das er einem Mörder gab,Das hat IHM den Tod gegeben,Das! ein allzufrühes Grab.“

In Frankfurt, Goethes Geburtstagstadt, wurde der siebenund zwan-zigjährige Gefallene bestattet. Zu Gleim hatte Goethe ein gespanntes Verhältnis. Zwar lässt sich nicht vollends ausschließen, dass die erste Reise in den Harz, um „Bleiben oder gehen?“, ihn auch zu dem hilfrei-chen Nestor hätte führen können, doch das ist Spekulation, unterwegs verspürte er selbst „die tausend Quellen neben dem Durstenden in der Wüste“, spürte er eignes Vermögen „wie ein kaltes Bad, das einen aus einer bürgerlichen wollüstigen Abspannung, wieder zu einem neuen kräftigen Leben zusammen zieht.“ Er bedurfte fremder Hilfe nicht.Es gab eine Begegnung zuvor in Weimar, bei der der übermütige junge Dichter den Älteren hinters Licht zu führen versuchte, ihn mit einer Glu-cke verglich, man kam trotz Wielands warmherziger Fürsprache nicht so recht miteinander aus – zu unterschiedlich waren die Charaktere und die Auffassung von Literatur. 1783, als Goethe auf Veranlassung Herzogin Mutter Anna Amalias in Halberstadt weilte, brüskierte er den Dichtervater durch Desinteresse. Gleim beklagte sich bitter gegen-über dem gemeinsamen Freund Fritz Jacobi: „Zwar ist er hier gewe-sen, zweimal vierundzwanzig Stunden bei dem Herrn von Berg, ganze Tage bei der Frau von Branconi zu Langenstein, nicht weit von mir, eine Stunde bei mir im Kloster hinter dem Dom – aber nicht in jenen Lauben, in welchen bei meinem lieben Fritz Jacobi Lessing noch zu guter Letzt gesessen hat. Der arme Mann! Er ist Geheimer Rat und nicht mehr, was er gewesen ist, deswegen fragt er nicht nach diesen Lauben.“Schlimmer hätte er den Halberstädter nicht beleidigen können, als dass er eine Einladung in sein Gärtchen ausschlug. So sah er auch

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den Freundschaftstempel erst nach Gleims Tod, 1805 geführt von Neffen Körte. Dies Ereignis würdigt er ausführlich in seinen Tag- und Jahresheften. Alle Querelen, aller Xenienstreit mit dem aufgebrachten „Alten Peleus“ scheinen vergessen; Goethe würdigt Gleims Dichtung als „Ausdruck eines gemütlichen Menschenverstandes innerhalb einer wohlgesinnten Beschränkung“, ihn selbst „als Freund von jedermann, hülfreich dem Darbenden, armer Jugend aber besonders förderlich. Ihm, als gutem Haushalter, scheint Wohltätigkeit die einzige Liebha-berei gewesen zu sein, auf die er seinen Überschuß verwendet.“ Goe-the begrüßt die sterbende „Gleminde“, Nichte Sophie Dorothea, und schließt: „Zuletzt, um unsere Wallfahrt ernst und würdig abzuschließen, traten wir in den Garten um das Grab des edlen Greises, dem nach vieljährigen Leiden und Schmerzen, Tätigkeit und Erdulden, umgeben von Denkmalen vergangener Freunde, an der ihm gemütlichen Stelle gegönnt war auszuruhen.“ Ein versöhnlicher Schluss? Gleim hätte ge-wiss lieber gesehen, wenn ihm derart zu Lebzeiten die Hand gereicht worden wäre; Goethe hängt, trotz anfänglichen Bemühungen, auch nicht als Bildnis in seinem Freundschaftstempel, auch da ist er abseits.Der Harz hat Goethe zu bedeutenden Dichtungen geführt: Die Win-terreise gipfelt in der Ode „Harzreise im Winter“, die zweite Reise zum Brocken hinterlässt das große Bekenntnisgedicht „Das Göttliche“, die dritten Verse zu den „Geheimnissen“ und Lyrik der „Wilhelm Meister“ – Dichtung, das „Mignonlied“, das „Harfnerlied“.Wie in Granit gemeißelt stehen die Verse innerhalb der „Harzreise“:„Aber abseits, wer ist’s?Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,Hinter ihm schlagenDie Sträuche zusammen –Das Gras steht wieder auf,Die Öde verschlingt ihn.“Warnung und Wagnis zugleich. Wer sich auf so etwas einlässt, muss seinen Weg allein gehen. Auch, wenn er im Alter die herzerschütternde Klage der „Elegie“ nicht zurückhalten kann:„Ist denn die Welt nicht übrig? FelsenwändeSind sie nicht mehr gekrönt von heiligen Schatten?Die Ernte, reift sie nicht?“Ob und welchergestalt die Ernte reift, hängt von jedem ab, von jedem Leser aufs Neue. Bei mir führte sie dazu, dass ich seine Begegnung nacherleben wollte und – über drei Jahrzehnte hinweg – die Roman-Trilogie seiner Brockenfahrt zu Papier brachte: „Winterströme“, „Im

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Labyrinth der Täler“, „Die Würde der Steine“ und, als Predella zum Triptychon, das vorläufige Romanmanuskript „Klippenwandrer – Hei-nes Harzreise“ über die Begegnung Heine-Goethe vierzig Jahr danach. Dass ich die Orte aufsuchte und aufsuche, die Kraus gezeichnet hat und mir ein vergleichendes Bild von der heutigen Gestalt mache. Dass ich sieben Epigramme auf granitnen Tafeln dem Brockenwandrer auf dem „Brockenstieg“ im Nationalpark Harz zum Innehalten und Medi-tieren anbiete. Abseits vom großen Tross. Ganz eingeschlossen in die Welt.

Georg Melchior Kraus: Alte Burg bey Langenstein (Klassische Stiftung Weimar)

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Am 8. Oktober 2008 sprach Renate Chotjewitz-Häfner in einer Veranstaltung des Neuen Familien-kundlichen Abends über „100 Jahre Familiengeschichte Krienitz“.Plötzlich und unerwartet, am 24. November 2008, starb Renate Chotjewitz-Häfner, sodass die vorge-sehene Veröffentlichung der Autorin in unserer Schriftenreihe nicht mehr erfolgen konnte. Ihr Bruder, Otto Häfner, griff auf einen Vortrag zurück, den seine Schwester am 14. November 2007 in der Rotunde der Halberstadtwerke aus Anlass der Namensgebung des „Dr.-Walter-Krienitz-Parks“ gehalten hatte. Diesen Text stellt uns Herr Häfner freundlicher Weise zur Verfügung. Er hat ihn be-hutsam redigiert, auch wurden einige handschriftliche Ergänzungen der Verfasserin übernommen.

Walter Krienitz : Die Vorfahren, die Kinder, die Zeit

Von Renate Chotjewitz-Häfner †

Vier Generationen Krienitz in HalberstadtVier Generationen Krienitz lebten in den 100 Jahren zwischen 1843 und 1943 in Halberstadt. Welche Spuren haben sie hinterlassen? Die erste Generation verkörpern der legendenumwobene Carl Julius (auch Julius Carl) Krienitz (1815 Sylbitz – 1897 Halberstadt) und seine Ehefrau Johanna Eleonore Conrad (1816 Naumburg – 1862 Halber-stadt), die Großeltern von Walter Krienitz, dem Arzt.

Zur zweiten Generation gehören Walter Krienitz’ Eltern, Christian Juli-us Rudolph Krienitz (1843 – 1923 Halberstadt) mit seiner Frau Marga-rete Juliane Friederike Schnabel (1854 – 1917 Halberstadt); zur drit-ten Generation Carl David Walter Krienitz (1876 – 1943 Halberstadt) mit seinen Geschwistern und seiner Ehefrau Marianne geb. Finger (1878 Zörbig – 1943 Halberstadt),es sind unsere Großeltern; die vierte Generation deren Kinder Eleonore (1909 Halberstadt – 1990 Göttin-gen), Rudolf (1911 Halberstadt – 1937 Göttingen) und Gertrud Krienitz (1914 Halberstadt – 1994 Berlin). Die nächste Generation wären dann wir, Otto, Renate und Cornelia Häfner, als Kinder von Eleonore (Lore) Krienitz, verheiratete Häfner. Die Krienitz-Vorfahren waren seit dem 17. Jahrhundert in Halle und im Saalkreis ansässig, besaßen dort etliche Häuser und Grundstücke, sodass sie zu den wohlhabenden Stadtbürgern zählten.

Die erste Generation

Der erste in Halberstadt lebende Krienitz kommt 1815 auf dem klei-nen Gut Sylbitz im Saalkreis (Landkreis im Bezirk Halle) zur Welt, als jüngster Sohn von neun Kindern (die vier Töchter bleiben ohne Nach-fahren). Er besucht wie seine vier Brüder die Waisenhaus-Realschule

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in Halle, lebt derweil beim Hallenser Großvater in Pflege und Pension, geht später auf die dortige Lateinschule, studiert oder lernt in Berlin, wo alle Krie nitze auch ihre Militärzeit in der Garde du Corps Potsdam abdienen.

Carl Julius geht mit 22 Jahren im Jahr 1837 als Zimmerer-Geselle auf Wanderschaft; er macht eine Art Studienreise. Das Tagebuch seiner abenteuerlichen „Reise von Halle an der Saale nach Neapel und zu-rück/ im Jahre 1837/38 mit seinem Verwandten W. Otto“ liegt in unse-rer Familienkiste.Warum er nach Halberstadt kam, wissen wir nicht. Bevor er hier auf-taucht, ist er in Berlin beim Bau der Oper beschäftigt. Laut Reisepass, ausgestellt am 28. August 1842 in Halle, reist Carl Julius nun „des Ver-gnügens halber nach Leipzig, Dresden, Magdeburg, Berlin und Naum-burg, und fährt zurück nach der Trauung dort mit seiner Frau Eleonore Conrad“ – um am 5.Mai 1843 „zusammen mit seiner Ehefrau Eleonore geb. Conrad nach Halberstadt“ zu gehen. In Halberstadt lässt er sich als Meister nieder, gründet ein Geschäft, und erwirbt dazu das Anwesen Gröperstaße 21, ein großen altes

1: Reisepass von Carl Julius Krienitz (1842)

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2: Das Haus Gröper stra- ße 21, wo Walter Krienitz aufwächst; die Zimmer-werkstatt ist im Hof

3: Die städtische Baukommission etwa 1865

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4: Breiter Weg 58: Foto vom 3. Juni 1934, links im ersten Stock Walter und Marianne Krienitz

Fachwerkhaus – laut Inschrift 1700 erbaut – mit einer Achtfensterfront zur Straße, hinten im Hof die Zimmerei, anschließend ein großes Ge-lände mit Garten unten an der Holtemme. Dort lebt er (er überlebt seine Frau um 35 Jahre) mit seinem Sohn Rudolph, dessen Frau Margarete und seinen Enkeln bis zu seinem Tod 1897. Hier, im Haus des Großva-ters, wächst Walter Krienitz auf. Bis zum Brand des Zimmerhofes 1895 bewohnt die Familie den ersten und zweiten Stock; danach wird das Anwesen verkauft.Was wissen wir über Carl Julius? Bereits im Jahr nach seiner Ankunft – er ist jetzt 28 – unterzeichnet er zusammen mit anderen Stadtverord-neten die neue Verfassung der Stadt, das Statut der Stadt Halberstadt vom 29. August 1844. Im Jahr 1848, als sich wie in Berlin nach der Pariser Februarrevolution auch in Halberstadt eine bewaffnete Bürger-wehr bildet, um die Ordnung aufrecht und das Militär – die Kürassiere! – in Schach zu halten, ist er zum Hauptmann aufgestiegen.Vom 3. April 1849 datiert ein Schreiben der Königlichen Regierung, „Abtheilung des Innern Magdeburg an Herrn Hauptmann Krienitz der freiwilligen Bürgerwehr“ wegen mangelnder Disziplin der 3. Bürger-wehrcompagnie „bei den Excessen des Pöbels“ und droht mit Auf-

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lösung derselben. Das Schreiben wird vor der versammelten Mann-schaft auf dem Buchardianger verlesen. Zu dieser Zeit ist ein großer Teil der Bevölkerung Halberstadts verarmt; infolge des Wechsels vom Manufakturwesen zur industriellen Produktion kommt es in der Stadt öfter zu Unruhen. Von Carl Julius Krienitz gibt es noch Briefe an seine Söhne aus den Kriegen von 1866 und 1870.

Auf dem Foto sind die Mitglieder der Städtischen Baukommission zu sehen. Zu ihr gehören Carl Julius Krienitz, Zimmermeister, mit dem No-tizblock; der mit dem Messband ist der Bau- und Maurermeister David Andreas Schnabel (1819 – 1885), sein Schwager. Der Mann mit dem seidenen Zylinder ist der Bezirksschornsteinfeger. Im Jahr 1865 be-schließen die Halberstädter Stadtverordneten einen langfristigen Be-bauungsplan. Es kommen goldene Zeiten für unsere Vorfahren und das Baugewerbe.David Schnabel ist ein viel beschäftigter Mann, der im Kreis Halber-stadt einige Bahnhöfe aus rotem Ziegelstein im romanischen Stil er-richten wird, in der Stadt in den 1860er Jahren auch einige besonders schöne Villen. Er arbeitet vermutlich mit Carl Julius Krienitz zusammen. Baumeister Schnabel lebt mit seiner Familie, zu der drei Töchter gehö-ren, im Haus Breiter Weg 58.

Die zweite Generation

Eleonore und Carl Julius Krienitz haben vier Kinder: Rudolph, geboren 1843, dann Karl (1845 – 1936), ebenfalls Baumeister, er heiratet in die Holzgroßhandlung Reinicke, Emil, der im Alter von acht Jahren stirbt, und Agnes (1855 – 1943), verh. Ohrtmann, Fabrikbesitzer („Knochen-kohlenfabrik“ lt. Anzeige aus dem „Halberstädter Intelligenzblatt“ vom 18. Mai 1858).Von Rudolph Krienitz besitzen wir drei Zeugnisse: das Abgangszeug-nis des Königlichen Domgymnasiums vom 23. Dec.1854, ein Zeugnis über die bestandene Gesellenprüfung von der Kreis-Prüfungskommis-sion des Zimmerhandwerks von 1860 (er war außer bei seinem Vater auch in Berlin in die Lehre gegangen) und das Zeugnis der Reife von der Königlichen Prüfungskommission, mit gut bestanden, vom 2. Au-gust 1862. Anschließend absolvierte er eine Einjährigenzeit in Berlin. Als der 28-jährige Rudolph Krienitz als Souslieutenant lorbeerum-kränzt mit dem Halberstädter „Infanterieregiment Nr. 27 Prinz Louis Ferdinand“ aus dem Frankreichfeldzug 70/71 zurückkommt und durch

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den Breiten Weg zieht, überreicht ihm als Ehrenjungfrau Margarete Schnabel einen Lorbeerzweig. (Eigentlich hätte die Älteste den Lor-beerkranz überreichen sollen, aber die wollte nicht, schreibt Tante Else Schambach). Daraus wird eine Ehe. Wir halten fest: Margarete Schna-bel (1854 – 1917), die Tochter von Maurermeister Schnabel, Breiter Weg 58, heiratet in die Gröperstraße 21. Ihr Ehemann Rudolph Krienitz kommt offenbar ganz nach dem Vater. Er ist mit gut 33 Jahren eh-renamtlicher Stadtverordneter und lange Zeit Mitglied der städtischen Baukommission. Walter Krienitz’ Vater wird als temperamentvoller, leicht aufbrausender Mann geschildert.„Sie haben sich für das Gemeinwohl betätigt”, sagte meine Mutter. Wie sein Vater war Rudolph immer ehrenamtlich Hauptmann der städ-tischen Feuerwehr.„Deshalb standen diese riesigen Wein- oder Bierhumpen und Krüge bei uns rum, halbmeterhohe Ehrengaben, für ˛30 Mittelbrände und 10 Großbrände‘“ (Lore Häfner). Tragisch, dass 1895 seine Werkstatt in der Gröperstraße abbrannte.

Im 19. Jahrhundert wächst die Stadt, ihre Einwohnerzahl verdreifacht sich nahezu. Die Bauunternehmen Schnabel, Krienitz (anfangs beide Brüder zusammen mit ihrem Vater) und Hensel, Schnabels Schwieger-sohn, bauen fleißig mit ihren Leuten in und außerhalb Halberstadts. Im Jahr 1868 führen sie (laut Brief von Rudolph an Karl in Berlin) Bauar-beiten „nach den großen Stürmen“ durch; daneben arbeiten vier Mann beim Aufbau der Domtürme mit; sie bauen auch am Bahnhof Heude-ber und haben 23 Buden stehen. Nach dem deutsch-französischen Krieg, in der „Gründerzeit“, boomt die Branche.

Rudolphs Bruder Karl bringt aus Berlin den neuesten Baustil in rotem Backstein und Sandstein mit. Zusammen mit dem Holzgroßhändler und Zimmermeister Reinecke sowie Herrn Reichenbach, dem Juden Reichenbach, sagte meine Mutter, erbaut der Krienitzclan neben Villen und Geschäftshäusern auch die spätere Poliklinik, und schräg gegen-über ein Reichsbahngebäude (Auskunft Hanns Sylvester Doelle, 1976). Über die Brüder heißt es: „Karl konnte das Geld scheffeln, Rudolph konnte es ausgeben“ (Ursel Merkelbach und Lotte Goerke,1976), wäh-rend Senior Carl Julius sich früh zur Ruhe setzt.

Um 1890 dehnt die Stadt sich über die alten Stadtmauern hinaus nach Süden aus. Zimmermeister Rudolph Krienitz und sein Schwa-

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ger Carl Hensel (Maurer und Ar-chitekt) erbauen (vermutlich als Kapitalanlage) den Lindenweg, der Teil des alten Stadtwalls ist, dessen Gärten an die alte Stadt-mauer grenzen ,roter Backstein, gelb abgesetzt, mit gewaltigen Giebeln. Die Linden waren 1779 von Johann Wilhelm Ludwig Gleim gepflanzt worden. Ge-genüber ein alter Friedhof. Die Häuser Nummer 27 bis 30 ge-hören dem Krienitz’schen Fami-lienverband. Hier lebt die zweite und dritte Krienitz-Generation, wächst die vierte auf.

Im Lindenweg 29 leben nach dem Brand des Zimmerhofes (1895) Rudolph und Margarete Krienitz geb. Schnabel (Walter Krienitz erbte das Anwesen); Nummer 28 gehört den Hensels und war ver-mietet an Menko Max und seine Mutter Mathilde („Hirsch-Kupfer, die wohl solventesten Mieter Halberstadts“); Lindenweg 27 wohnt Agnes Orthmann geb. Krienitz, als Mieter Getreidehändler Goldschmidt, dann zwei Arzthäuser (25 und 26), die der Familie Lenz gehören (Sa-nitätsrat Dr. med. Wilhelm Lenz, Facharzt für Säuglings- und Kinder-krankheiten).„Vor Lenz wohnte der Chirurg Professor Kehr in dem Haus. Ein Wag-ner-Enthusiast, der im Jahre 1910 die komplette Wagnerbesetzung samt Fanfarenbläsern von Bayreuth nach Halberstadt in das 1906 er-richtete Stadttheater holte; er ging mit Walter Krienitz ins Domgymna-sium. Ein privater Mäzen, dem die Halberstädter Bürger folgten, auch meine vollkommen unmusikalischen Eltern spendeten. Es gab herrliche gedruckte Einladungen in gotischer Schrift auf Bütten, mit Steindru-cken, Abbildungen zu diesen Wagnerfestspielen, und Hauskonzerte in dem Hause Lindenweg, wo dann später auch Siegfried Wagner spielte, mit kleinen Abendessen verbunden, also Gesellschaft und Musik in der Bürgerschaft. (Ich habe diese Einladungen noch gesehen.) Kehr, der Chirurg, baute sich hinten in seinem Garten das Bratwurstglöckchen

5: Lindenweg (1945 völlig zerstört)

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a la „Meistersinger“, auf dem Häuschen stand ein Storch, das Wahr-zeichen des Chirurgen, und später des Kinderarztes Lenz, der bis April 1945 da wohnte. (Er erwarb das Haus vermutlich nach Kehr.) Zu diesen privaten Einladungen kamen zum Beispiel meine Eltern, ein bisschen Landadel, insgesamt vielleicht zwanzig bis dreißig Personen.“ (Lore Häfner,1970). Der Lindenweg und die Heinrich-Julius-Straße werden bei den Bombenangriffen am 8. April 1945, wenige Tage vor der Beset-zung der Stadt durch amerikanische Truppen, vollständig zerstört, wie auch das Schnabelsche Haus auf dem Breiten Weg.

Die dritte Generation

Walter Krienitz kommt als erstes Kind seiner Eltern am 6. November 1876 in der Gröperstraße 21 zur Welt, gefolgt 1878 von Paul und Katha-rina (1881), und wird in der gegenüber liegenden Moritzkirche getauft.

Was ist über seine Kindheit überliefert? Er spielt im Zimmerhof und auf der Straße, auch mit den jüdischen Nachbarskindern, hat immer Gesellschaft, denn im Parterre betreibt Pro-fessor Nathusius mit seiner Frau eine Schüler-Pension.

Walter besucht das Domgym-nasium, wo er mit zehn oder elf Jahren wegen einer Schar-lacherkrankung mit Lähmung um ein Jahr zurückgestellt wird. Er erhält zum Trost und Zeitver-treib eine Fotoausrüstung mit Glasplatten geschenkt, mit der er wunderschöne Fotos macht, gern mit Selbstauslöser, und selber entwickelt. Außerdem be-schäftigt ihn seine Münzsamm-lung. Oft sucht er als Schüler auf Äckern in der Umgebung nach Münzen. Er sammelt auch Briefmarken. 1896 macht er am Domgymnasium sein Abitur. 6: Walter, Paul, Katharina Krienitz, die Jungen

mit Stulpenstiefelchen

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„Die Domtürme, wo die Firma 1868 vier Mann am Bau hatte, sind im 19. Jh. erhöht und durch neue ersetzt worden. Walter (geboren 1876) ist als Schüler oft auf den Türmen gewesen, während sein Vater dort baute; er hatte Dokumente, Münzen, seinen Namenszug usw. in ei-ner Kassette mit eingemauert.“ (Die neuen Türme wurden 1896 ein-geweiht. Sie sind das einzige am Dom, was im Zweiten Weltkrieg ver-schont blieb.)

7: Gruppenbild: dritte Generation. Von rechts nach links: Katharina (Käte) Krienitz, Els-beth Schambach (1873-1957), Künstlerin, war in Paris stets in violett gekleidet, die Ein-zige bürgerliche Stadtverordnete, Carl Hensel (genannt Kalle, Freund von Walter), Adele Schambach, Lisbeth Hensel (arbeitet später in der Klinik Heinrich-Julius-Straße als As-sistentin), Georg Schambach (genannt Kork, Freund von Walter und Paul), Paul Krienitz sitzt auf dem Tischchen, Margarete Schambach (heiratet den Rechtsanwalt Eduard Dee-sen), Hedwig (Hete) Schambach (geb. 1881), die den Kinderarzt Wilhelm Lenz ehelichen sollte, Walter Krienitz, Kurt Hensel.

Das Gruppenbild der dritten Generation zeigt die Kinder (Enkel von David Andreas Schnabel) der drei Schnabel-Töchter: Marie (Baumeis-ter Hensel), Margarete (Baumeister Krienitz) und Adele, also die Kinder (die jüngsten fehlen) der Familien Krienitz, Hensel und Schambach. Die meisten habe ich noch kennen gelernt.

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Das Bild seiner Schwester bei den Schulaufgaben mit seiner Mutter Margarete hat Walter aufgenommen; er fotografierte mit Glasplatten von Schleusner. Margarete war eine gottesfürchtige Frau. Käthe hatte helle, ganz krause Haare, und wurde deshalb der „Kronleuchter“ genannt, war ein unwahrscheinlich fröhliches Mädchen, eine fröhliche Frau bis ins Alter.

Walter Krienitz soll oder will die Familientradition fortführen, studiert deshalb im Sommersemester 1896 in Hannover das Fach Hochbau. Dabei besucht er seinen ein Jahr älteren „Intimus“ Georg Schambach, genannt Kork, der gerade in Göttingen mit dem Medizinstudium be-gonnen hat. Mit Kork überzeugt Walter sich in der Anatomie, dass er Blut sehen könne. Daraufhin meldet er seiner Mutter, er wolle jetzt Me-dizin studieren. Kork hingegen – wird aus unerfindlichen Gründen nach Guatemala abgeschoben. Da baut er Kaffee an, lebt mit einer Mestizin zusammen, mit der er Nachkommen zeugte.

Während des Studiums spielt die „Aktiven-Inaktivenzeit“ eine große Rolle. Aktiv war man in den ersten vier Semestern. W. K. ist ein be-geisterter Korpsbruder; Würzburger Nassauer, mit allen Konsequenzen (schlagende Verbindung, sog. „buntes Corps“).

8: (ca. 1894), die Walter von seiner Mutter und seiner Schwester gemacht hat

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Im Wintersemester 1896/97 studiert Walter in Würzburg u.a. bei Kölli-ken und Conrad Röntgen, der 1895 gerade die Röntgenstrahlen ent-deckt hat; 1898/99 in Berlin, während er das erste Halbjahr Dienst-pflicht ableistet. Walter absolviert dort als einer der ersten zusätzlich

9: Titelbatt der Dissertation

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die neue Facharzt-Ausbildung zum Internisten („Die Ausbildung gab es erst ab 1900“, sagte meine Mutter, „ein Fach, das von jüdischen Ärz-ten ergriffen und ausgebaut wurde.“) Man sagte damals „Spezialarzt“. W. K. macht 1899 in Halle sein Physikum, danach das zweite Halb-jahr Militärdienst; erhält 1902 die Approbation, promoviert am 12. März 1903 mittags 12 Uhr mit „Ein Fall von Adenom der Lunge“ an der Uni-versität Halle a. S.

Nach einer kurzen Zeit als Assistent bei einem Corpsbruder in Kissin-gen kommt er in seine Vaterstadt zurück und er öffnet 1903 eine Praxis auf dem Breiten Weg. Als erste Patienten setzen sich sein Vater mit seinem Schwager Hensel in die Sprechstunde; zu der Zeit wohnte er weiter bei den Eltern. Sein geliebter Bruder Paul wird aus Halberstadt abgeschoben wegen eines unerwünschten Verhältnisses innerhalb der Verwandtschaft. Kommentar Lore Häfner: „Darüber wurde nie gespro-chen. Das haben die Väter unter sich geregelt.“

Nun wird es Zeit für eine standesgemäße Familiengründung! Das Brautpaar kennt sich seit Zeiten durch die Familientreffen der Sylbitzer Krienitz-Nachfahren. Marianne Fingers (1878 Zörbig – 1943 Halber-stadt) Großvater war Louis Krienitz aus Sylbitz, ein Bruder unseres Carl

10: Atelierphotographie: Walter Krienitz und seine Ehefrau Marianne geb. Finger (1906) als Brautpaar

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Julius. Walter Krienitz habe über einen Vetter angefragt, ob „Janne“ noch frei sei (den betreffenden Brief hat meine Mutter diskret vernich-tet). Sie bringt eine sagenhafte Mitgift in die Ehe ein, über deren Höhe man nicht spricht. Am 16. November 1906 findet in der St. Ulrichskirche in Halle die Trauung statt, gefeiert wird in dem schönen „Hotel Stadt Hamburg“. Es ist „eine Vernunftehe mit Neigung“. Die Hochzeitsreise führt nach Berlin. „Vom Temperament her waren sie polare Gegensät-ze. Er ,Sanguiniker‘, äußerst lebensfroh, Lieder schmetternd, großzü-gig, Marianne sparsam bis zum Geiz, eine kühle, ernste und eher stren-ge Frau. Sie wurde ,Schwärzchen‘ genannt, hat ganz schwarze Haare, dunkle Augen und einen brünetten Teint.“ Beide wandern gern, reisen zum Beispiel gemeinsam in die Schweiz, in die Berge.

Nach der Hochzeit beziehen Walter und Marianne das Anwesen Lin-denweg/Ecke Heinrich-Julius-Straße, wo 1906 die Privatheilanstalt für „Magen-Darm- und Stoffwechselkrankheiten“ eröffnet wird. Ihre Kin-der – die vierte Generation – kommen im Lindenweg zur Welt: unsere Mutter Eleonore im Jahr 1909, Rudolf 1911 und als dritte Gertrud 1914. Meine Mutter Eleonore Auguste Margarete trug die Namen ihrer Urgroßmutter Eleonore Conrad und ihrer Großmutter Auguste (Finger geb. Krienitz) und Margarete (Krienitz geborene Schnabel). Im gleichen Jahr wird in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift Walter Krienitz’ Bericht „Über das Auftreten von Spirochäten verschiedener Form im Mageninhalt bei Carcinoma ventriculi“ veröffentlicht.

Das Eckhaus, das Walters Vater gehört, ist für den Lebensstil der Hal-berstädter Kürassiere gebaut, mit Pferd und Wagen, hinten Stall und Remise, vorn die große Toreinfahrt. Da passten die riesengroßen Rönt-genapparate durch und die Pferdewagen. Die Klinik liegt im zweiten Stock, mit sechs Einzelzimmern für Privatpatienten (keine Kassenpa-tienten!) und dem Schwesternzimmer. Im ersten Stock sind die Privat-räume und unten im Parterre die Ordination mit Röntgen, Wartezimmer, Sprechzimmer, Laboratorium, dann das Höhensonnen-Zimmer, sowie ein Zimmer, in dem, nachdem der Großvater dort 1923 gestorben war, ab 1924 ein Assistent wohnt, und Räume zum Fotoentwickeln. Unterm Dach wohnen stets drei bis vier der „Mädchen“, zwei für die Klinik, zwei für das Ganze verantwortlich, vor allem für die Praxis unten, und eine Köchin, Fräulein Grete und Fräulein Lisbeth; in manchen Jahren war der Personalmangel groß. Am Anbau im Hof konstruierte Großva-ter Rudolph einen handbetriebenen Aufzug, der zum Röntgenzimmer,

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in der ersten Etage in die Küche, in der zweiten Etage in die Klinikkü-che führt, mit einem Holzkasten dran, in den die Dienstmädchen unten von der Waschküche aus die Kiepen mit feuchter Wäsche setzen kön-nen, sie leierten sich von oben aus die Wäsche hoch.

Innen im Haus führt ein kleiner Speisen-Aufzug vom Parterre bis in den zweiten Stock, in den die Tabletts mit dem fertigen Essen gestellt wer-den, und der sämige Röntgenbrei, Eubarit, vor jeder Röntgen-Aufnah-me nach unten geschickt wird. Später 1920 oder 1922, wird in dem zur Waschküche umgebauten früheren Pferdestall ein Schwein gefüttert, das für die Familie und das viele Personal gehalten wird. Dann kommt der Hausschlachter aus der Gröperstraße, schlachtet das Schwein in der Waschküche.Marianne Krienitz hat die Hausmacht, angefangen beim Einkauf. Sie kann sehr gut wirtschaften, kam ja aus einem Gutshaushalt. „Die letzte gemeinsame Aufgabe abends war die Besprechung des Speiseplans. Auf dem großen Block zogen die Kinder die Linien vor, und dann die fünf bis sechs Mahlzeiten; Diät, das diktierte mein Vater jeden Abend für jeden Einzelnen, Milch mit Spur Kakao, Kartoffelbrei mit Spur But-ter. Die drei reizenden Kinder werden angewiesen, ausgesuchte Pati-enten zu unterhalten“, werden auch beschenkt.

11: Privatheilanstalt für Magen-Darm- und Stoffwechselkrankheiten von Dr. med. Walter Krienitz

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Die Klinik wird durch Empfehlungen bekannt, die Patienten kommen zwischen Hannover und Magdeburg „hin zu Krienitz.“ Er ist bekannt für seine gute Diagnose und hat viel Spaß im Umgang mit seinen Patien-ten; ab 1918 muß er auch solche von Betriebskassen nehmen. Walter pflegte zu sagen, er verdiene sein Geld mit der geräucherten Leber- und Blutwurst: „Herr Doktor, ich habe so’n Jrummeln im Laabe un s’on Druck vorn Majen.“ Meine Mutter berichtet: „Von einem Ehepaar aus Madai, das regelmäßig in die Klinik kam, oder junge Mädchen, die auf-gemuntert werden sollten, dann war die Tochter von diesem großen Seifenfabrikanten „Luns, denn alle tuns“ Monate in der Klinik, eine von den Gusteds vom Lande. Während der Inflation nutzte das europäi-sche Ausland seine stabilen Valuta aus: es gab Herrn Papadoupolus, den Griechen, einen Holländer, einen schwedischen Patienten in der Klinik in Halberstadt. Dazu 1923 die fürstliche Familie Stolberg-Werni-gerode. Da lag der Erbprinz wochenlang, auch die Prinzessin Juliane, während die Reichsmark so schnell verfiel, dass jeden Tag ein reiten-der Bote von Wernigerode nach Halberstadt das Geld brachte.

12: Marianne Krienitz, geb. Finger, mit ihren drei Kindern

13: Dr. Walter Krienitz am Schreibtisch

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Auf einem Scherenschnitt vom November 1923 sind die drei Krienitz-Kinder im Profil zu sehen. Die Widmung lautet: In herzl. Dankbarkeit Juliane Prinz zu Stolberg-Wernigerode.Zum Dank werden die Kinder mit Lisbeth Hensel zu Besuch auf das Schloß eingeladen, in Wernigerode am Bahnhof mit Pferd und Wagen, Kutscher hintendrauf auf dem Bock, abgeholt.

Die Kinder, der Krieg, KrankheitZu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde auch der Arzt Dr. Walter Krie-nitz eingezogen. Es gibt eine Anekdote, bei der ihm jedes Mal die Trä-nen vor Lachen runterkullern: wie der Stabsarzt der Landwehr Krie-nitz sich nach Erhalt des Gestellungsbefehls bei der Kaserne am Tor A Eingang 7 einfinden soll, und er am falschen Tor steht, und als er den richtigen Eingang findet, ist sein Regiment weg. Da wird er dem Regi-ment extra auf einer Lokomotive nachgefahren. „Regimentschef war der riesengroße Prinz Eitel Friedrich, der hat mit ihnen im Unterstand gelegen. Die Offiziere haben zusammen auf Stroh geschlafen. Und als sie morgens aufwachen, hat mein Vater sich getraut ihm zu sagen: „Königliche Hoheit schnarchen wie Karl der Dicke.“

Walter liebt solche Scherze. 1915 schreibt er aus Charleville an seine Neffen Gerhard und Kurt Deesen im Thierschweg: „Heute habe ich den Kaiser hier gesehen und gegrüßt. Er fragte mich, ob ihr auch beide ein schönes Zeugnis hattet. Ich habe ihm gesagt, ja Majestät, ihr Vati war auf der Schule auch immer sehr artig! Da hat er sich mächtig gefreut! Hurra! Euer Onkel Walter.“ Aber am liebsten verfasst er gereimte Post-kartentexte. Politisch standen die zweite und dritte Generation Krie-nitz den Nationalliberalen nahe, der späteren Stresemann-Partei. Auch Walter Krienitz, dem 1912 von S.M. zum Stabsarzt Ernannten, steck-te, wie auf der Urkunde steht, das Loyalitätsverhältnis, die Treue zum (preußischen Königs- und deutschen) Kaiserhaus in den Knochen. In allen Kinderzimmern hing bis in unsere Zeit der gerahmte Spruch: „Du deutsches Kind, sei tapfer, treu und wahr“, mit dem das von Robert Reineck (1805 – 1852) geschriebene Gedicht „Deutscher Rat“ endet. 1915/16 liegt das Regiment in Galizien (oder Mazedonien). (Die Kriegs-tagebücher hat unsere Mutter 1960 verbrannt.) Im Herbst 1916 wird W.K. „im Osten“ verwundet, ich glaube, er hat eine Schussverletzung am Bein; sein Vater will ihn holen, doch Walter kommt mit dem Laza-rettzug.

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Zurück in der Heimat, hat er mehrere Lazarette zu versorgen, außer-dem die Malariastation des Standorts Halberstadt, dazu noch die ei-gene Praxis. Während der Kriegszeit arbeitet auch Marianne mit im Lazarett. Er hat die Schwestern und Sanitätsgefreite zur Hand. Einer namens Kunze hat ihn später massiert, und das Kindermädchen ge-heiratet.

Am 18. Oktober 1916 fällt sein geliebter Bruder Paul bei Le Sars an der Somme; so steht es auf seinem Halberstädter Grabstein. Ihr Verhältnis soll außerordentlich eng gewesen sein. „Ich glaube er nannte ihn Polle“ (Lore Häfner). Die Brüder unterschrieben in Briefen mit „die Brüder-rotte, Krie I und Krie II“. Den Schmerz über seinen Tod hat Walter nie verwunden. – Im November 1917 stirbt seine Mutter Margarete. Nach ihrem Tod zieht Großvater Rudolph in die Heinrich-Julius-Straße.

Als dann 1918 das Heer entlassen wird, werden Reihenuntersuchungen fällig, jeder Soldat braucht ein Gesundheitszeugnis. Walter ist überlas-tet, arbeitet bis zur Erschöpfung. 1919 grassiert die so genannte Spa-nische Grippe in Europa, bei der er sich eine Kopfgrippe holt und nicht auskuriert. Er erkrankt an Encephalitis lethargica. Anfang der 20er Jahre muss Walter Krienitz akzeptieren, dass kein Kraut gegen die Krankheit

gewachsen ist, und das bedeutet, er wird in wenigen Jahren seinen ge-liebten Beruf aufgeben müssen. Da ist er Mitte vierzig, im besten Alter. Als lebenslustigen fröhlichen Men-schen hat meine Mutter ihren Vater geschildert. Das habe ihm später, als er krank war, geholfen.

W. K. praktiziert in der Klinik bis 1926, zuletzt unterstützt von einem Assistenzarzt. Im Jahr davor (1925) – die Klinik war (auf ihren Sohn konn-ten sie ja nicht warten) an Dr. Mühling verpachtet worden, erwerben unse-re Großeltern für 65.000 Mark das 1923 erbaute Haus Bukostraße 3 (das sie erst 1928 beziehen) von den Vorbesitzern, den Halberstadts. 14: Exlibris von Dr. Walter Krienitz

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Durch Lenzens, die befreundet sind mit der jüdischen Familie Halber-stadt aus dem Hause Hirsch-Kupfer, erfahren sie, dass die Halber-stadts nach Berlin übersiedeln wollen und die für damalige Verhält-nisse sensationell gebauten vier Häuser der Bukostraße frei werden. (Zur Vorgeschichte der kleinen Straße kann man sich informieren in Sabine Klamroths Buch „Erst wenn der Mond bei Seckbachs steht“, Halle 2006)Jeden Sonntag wird mit dem Pferdewagen in den Harz gefahren, ob ins Trecktal, zum Forsthaus Büchenberg, oder in die Umgebung von Blankenburg und Wernigerode. Oft müssen mehrere Wagen mit Ver-wandten und Freunden der Kinder fahren.

Die bessere GesellschaftMarianne Krienitz hat ihren „Vaterländischen Frauenverein“, oder ihren Deutsch-Evangelischen Frauenbund, mit Basar und anderen Wohl-tätigkeitspflichten, wo sie mit Vergnügen dabei war, ist auch in ver-schiedenen „Kränzchen“, daneben hat sie, abgesehen von Familie und Klinik, auch Einladungen für 20 und mehr Personen zu arrangieren; das gehört zu ihren gesellschaftlichen Pflichten. Für die Männer spielt eine große Rolle die Freimaurerloge „Zu den drei Hämmern“ auf dem Paulsplan, in der Rudolph wie Walter Krienitz und viele aus der Ver-

15: Haus Krienitz in der Bukostraße 3

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16: Sommerurlaub in Grömitz 17: Einladung zum Familientag 1926

18: Walter Krienitz lesend im Liegestuhl in der Wein-Rosen-Pergola

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wandtschaft waren, dazu Kollegen, Juristen und andere Herren aus gutbürgerlichen Kreisen Mitglied sind.

Die gesellschaftlichen Gruppen und Klassen Halberstadts halten strikt auf Abstand. Ganz oben das Militär, mit der Gesellschaft um das „Ka-sino“, wo jedoch auch meine Mutter als Bürgerstochter tanzte, dann gibt es dem Lindenweg gegenüber den „Domclub“ für Juristen, Ärz-te, Landadel, mit Festlichkeiten, Bällen, Kostümfesten; Kaufleute und Handwerksmeister trafen sich in der „Harmonie“, die Sozis im „Ode-on.“ Die Industriellen zählen nicht, schließlich hatte der alte Kommer-zienrat Heine noch mit dem Bauchladen Würstchen verkauft. Er gilt als „Emporgekommener“.

Die Erziehung der Jugend ist streng bis hin zur Kleiderordnung. Anno 1924 darf Lore Krienitz nicht zusammen mit ihren Klassengefährtinnen in die Tanzstunde, weil das lauter Mädchen aus Geschäftshaushalten waren, z. B. Töchter eines Juweliers, eines großen Konfektionsge-schäfts, eines sehr schönen Pelzladens, einer großen Kurzwarenhand-lung – das wünschen ihre Eltern nicht. Die waren viel feiner angezogen, die trugen Crepe de chine und Leder – während sie, Lore K., besticktes Leinen tragen muss, denn Geld zeige man nicht, Geld hatte man.

Bis Mitte/Ende der 30er Jahre machten sie Reisen, häufig an die Ost-see, z. B. nach Grömitz. „Man fuhr nicht wie heute um ans Ziel zu kommen, sondern man war unterwegs“ (Lore Häfner). Eines von Walters Steckenpferden ist die Ahnenforschung, die seiner-zeit Mode war. In Halle traf man sich 1926 wieder einmal zum Familien-tag. Auf dem Umschlag der „Krinitz, loxia curvirostra, Kreuzschnabel“, innen das „Bundeslied“ (Melodie: Es braust ein Ruf wie Donnerhall) „Was Krienitz heißt und Krienitz war/Versammelt ist in großer Schar...“, samt Bierlied, Bibelwort und Goethezitat; wir besitzen noch die Tisch-karte mit Speisenfolge.

Seit er nicht mehr arbeiten kann, liest Walter Krienitz viel. Zwei me-dizinische Wochenschriften, wissenschaftliche Werke zur Prähistorie, Schliemann, Heimatgeschichte. Er war Mitglied der Deutschen Orient-gesellschaft, war im Harzverein für Geschichte und Altertumskunde. Walters Bücherschrank ist gut gefüllt. Er liest Zeitgeschichte, auch Re-gimentsgeschichten, oder Weltreisen, das interessiert ihn, Sven Hedin, Fechtner, bis zu Thomas Mann. Der Buchhändler Schröder auf dem

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Breiten Weg schickt ihm regelmäßig neue Bücher zur Auswahl ins Haus. Den Haushalt in der Bukostraße dirigiert wie gehabt Oma Marianne. Für Opa Walter wird ein Pfleger angestellt, Herr Biethahn, der am Paulsplan wohnt, dazu eine Krankenschwester und ein Masseur.

Der Patient nutzt die Turngeräte hinten im Garten. Seine Tochter Lore kann ihn am besten verstehen, sie dolmetscht bei Unterhaltungen, wenn sie in den Semesterferien zuhause ist. Der „Schofför“ fährt sie noch oft in den Harz. Dort kann Walter noch immer ein paar Schritte laufen, wenn’s bergab geht. Bis zum Schluss dreht meine Mutter mit ihrem Vater eine Runde im Garten. Bis zum Schluss haben sie ein ge-selliges, gastliches Haus, jeden Tag kommt Besuch, einmal die Woche ist „Ärztekränzchen“, jeden Abend flößt man Walter sein Glas Wein ein.Das letzte mir bekannte Foto zeigt W.K. im Kreise der Verwandtschaft, die sich am 21.Juni 1935 zum 90. Geburtstag von Karl Krienitz vor dessen Villa in der Hindenburgstraße 15 (jetzt Magdeburger Straße 15) versammelt hat.

19: Der 90. Geburtstag von Karl Krienitz (1935). Neben dem Jubilar sein Neffe Walter

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Im November 1934 heiraten unsere Eltern. Im Frühjahr 1935 ein ge-reimter Brief in seiner charakteristischen winzigen, nun zittrigen Hand-schrift an Schwiegersohn Otto. Walter bestellt Pfälzer Wein: „Schickt im ganzen ½ hundert, doch damit’s Euch nicht verwundert, so von 80 bis 1.20, solche Sorte wird nicht ranzig!“

Mein Bruder wird 1935 in Pirmasens in der Pfalz geboren, wir Schwes-tern in der Klinik von Dr. Froriep im Lindenweg. Bei meiner Geburt am 1. Mai (1937) schneit es, und um 6 Uhr früh hört meine Mutter die Deut-sche Arbeitsfront im Marschschritt mit ihren Stiefeln singend durch die Straßen ziehen.Im November 1937 stirbt ihr Bruder, der hoffnungsvolle cand. med. Rudolf Krienitz in Göttingen an einer Lungenentzündung. Die habe er sich in Rohn’s Gasthaus bei einer durchtanzten Nacht geholt, sagt sie.

Nachdem unsere Mutter 1941 an Polio erkrankt ist, sind wir Kinder häufig zu Gast bei Oma Marianne; nun wird noch eine Kinderschwes-ter angeheuert. Woran erinnere ich mich? An die Vorschrift von Opa, jeden Bissen 6o mal, wenn nicht öfter, zu kauen. Dann, dass vor dem Essen die Teller in der Grude, einer Einrichtung der jüdischen Vorbesit-zer, vorgewärmt werden. Dass unten im Flur ein großer Gong ist, der zum Essen ruft. Dass die dunkelrot tapezierten Wände im Parterre, als wir im Herbst 1943 aus Berlin nach Halberstadt ziehen, sich in helle verwandeln. Dass Opa Walter mir als besonderen Leckerbissen sei-ne Brotrinde zuschiebt, die „Reiterchen“ heißt, wobei er mir zublinzelt, dass Klavier gespielt und dazu gesungen wird.

Im April 1943 fällt unser Vater in Russland; im November geht es in Hal-berstadt mit Opa Walter zu Ende. Er stirbt am 14. November im Schlaf; Oma Marianne strauchelt an diesem Morgen auf dem Treppenabsatz und erleidet eine Gehirnblutung, nach der sie nicht mehr erwacht.

Seit Juni 1945, wir teilen den Eingang samt Toilette, Diele und Küche mit unseren sowjetischen Freunden und leben zu viert in einem Zim-mer, der Rest ist beschlagnahmt, wird besonders für unsere Mutter das Leben zum Albtraum. Im Juni 1949 fahren wir in Begleitung von Muttis Freundin Christa Johannsen (1914 – 1981), der Schriftstellerin, mit dem Zug die paar Stationen nach Heudeber-Danstedt, mit Ruck-säcken und Taschen bepackt, und laufen in der Nacht durch den Wald über die Zonengrenze nach Vienenburg. Damit endet die Geschichte

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20: Gräber der Familie Krienitz auf dem Halberstädter Friedhof

21: Eleonore Häfner mit ihren drei Kindern Otto, Renate und Cornelia

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der Krienitze in Halberstadt. Im Jahr 1960 fährt meine Mutter mit mir nach Halberstadt, um die Schränke und Schubladen auszuräumen. Ein paar Tage lang wird der größte Teil des Familienarchivs hinten im Gar-ten verbrannt, den Rest nehmen wir nach Ulm mit.

1961 wird das Haus Bukostraße 3, in dem bis zu der Zeit Verwandte wohnen, von Eleonore Häfner, wohnhaft in Ulm, die ihre Schwester Gertrud vertritt, zum Kaufpreis von 35.000 Mark der DDR an das Ehe-paar Reich aus Halberstadt verkauft.

Zum 14.November 2007 in HalberstadtRenate Chotjewitz Häfner(copyright)

Alle Fotos: privat

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Kurzer medizinischer Nachtrag zu Walter Krienitz

Von Steffen Rickes

Im Jahr 2005 wurden die beiden australischen Forscher Marshall und Warren für die Entdeckung des Magenbakteriums Helicobacter pylori mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Es bedurfte nur eines einfachen Lichtmikroskops, um diese bahnbrechende Beschreibung zu machen, die ein scheinbar unumstößliches Dogma, das des sterilen Magens, ablöste. Zweifelsohne kann der sich aus dieser Entdeckung gewon-nene Nutzen für Millionen von Menschen kaum abgeschätzt werden. So kann heute z. B. die Geschwürkrankheit des Magens durch eine einfache Antibiotikatherapie in vielen Fällen geheilt werden.

Wie steinig der Weg der Entdeckung der Magenbakterien war, verdeut-licht die Tatsache, dass bereits lange vor der Beschreibung von Mar-shall und Warren auf die Existenz von Bakterien im Magen hingewie-sen wurde. Eine der Erstbeschreibungen von Bakterien im Magen geht auf den Halberstädter Arzt Dr. Walter Krienitz zurück. Er veröffentlichte 1906 in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift eine Arbeit, in der er über spiralförmige Bakterien im Mageninhalt eines Patienten mit Magenkarzinom berichtete (1). Für eine Deutung seiner Beobachtung war die Zeit damals noch nicht „reif”. Die wissenschaftliche Leistung von Walter Krienitz wurde vom „Walter-Krienitz-Verein zur Förderung der Medizin“ herausgearbeitet (2) und gewürdigt (siehe auch www.krienitzverein.de).

Literatur

1. Krienitz W. Ueber das Auftreten von Spirochäten verschiedener Form im Mageninhalt bei Carcino-ma ventriculi. Dtsch Med Wochenschr 1906; 32: 872.

2. Rickes S, Schultze U, Mönkemüller K, Malfertheiner P. Walter Krienitz – Sein Leben und seine intuitive Beschreibung von Bakterien im Magen. Dtsch Med Wochenschr 2006; 131: 1341-1343.

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Landschaftskalender

Von Christel Trausch

Schafft das Land in meine Stubeso ein buntes Stück Papier,und ich sitze auf dem Sofa,öffne nicht des Hauses Tür.

Bin in Kornfeld, auf der Wiese,zwischen Birken, in dem Feld.Fast kann ich die Gräser riechen.Baum sich vor die Augen stellt.

Und ich lerne zu beachtenLicht, das in das Flüsschen taucht.Gegenwart in ihrem Hastendringend das Betrachten braucht.

30.6.2011

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Halberstädter Familiengeschichten mit astronomischen Zutaten

Von Reinhard E. Schielicke

»Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?« formulierte Schiller das Thema seiner Antrittsvorlesung an der Jena-er Universität im Jahr 1789. Welche Antworten gibt es auf die Frage »Was heißt und zu welchem Ende betreibt man Familiengeschichte?« Zunächst, mag die Antwort lauten, weil man seine Wurzeln sucht, wohl auch, um Erzählungen und Berichte der unmittelbaren Vorfahren bes-ser einschätzen zu können. Und schließlich, weil die Beschäftigung Spaß macht und Befriedigung mit sich bringt. Besonders interessant ist die Beschäftigung aber, wenn man die »Universalgeschichte« mit greifbarer Sozial- und Heimatgeschichte untersetzen kann. Hier sollen stadt- und alltagsgeschichtliche Aspekte einer verzweigten Familie im Vordergrund stehen, für die Halberstadt zwar nur für fünf Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts den Lebensmittelpunkt be-deutete, die aber durch den geschichtsträchtigen und bildungsanre-genden Charakter ihres Wohnsitzes eine prägende Bedeutung erhielt. So mögen die Ausführungen wohl auch eine Ergänzung des Neuen Familienkundlichen Abends vom Januar dieses Jahres bieten, an dem Werner Hartmann über »Halberstadt und die Halberstädter unterm Ha-kenkreuz 1933 bis 1945« berichtet hatte. Die Ausführungen wird ein kleiner Exkurs über die Sternwarte bei Hal-berstadt und Halberstädter Beziehungen zur Astronomie abschließen.

Die Wurzeln der Familie Schielicke – die heutige Schreibweise wurde erst vor etwa 150 Jahren durch kalligrafische Künste von Kirchenbuch-führern und Standesbeamten aus der Form Schilik geprägt – führen in den Fläming. Indizien sprechen dafür, dass sie sich gemeinsam mit anderen Flamen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts dort an-gesiedelt haben. Der Urgroßvater Ernst Wilhelm hatte 14 Geschwister, von denen viele im Kindesalter starben. Großvater Gustav Hermann Reinhard hatte eine Schwester und drei Brüder, er »erlernte die Musik«, wie er in seinem Lebenslauf schrieb, und war zwölf Jahre als »Hoboist« Militärmusiker in Thorn an der Weichsel – heute Toruń – verpflichtet. Danach stand er als kaiserlicher Zollbeamter zunächst in Thorn, dann in Danzig – heute Gdańsk – und später in Tangermünde im Dienst. Dort

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beendete sein ältester Sohn Ernst Erich Oskar im Jahre 1915 die acht-stufige Knaben-Bürgerschule. Seine Lehrer hatten den Eltern eine Leh-rerausbildung empfohlen, der Vater berief einen Familienrat ein, und man beschloss, die beiden Städte mit Lehrerseminaren in der Nähe – Magdeburg und Halberstadt – zu besuchen und danach die Ortswahl zu treffen. Die Entscheidung fiel auf Halberstadt.

1: »4.3.1915. Ihr lie-ben Alle. Die bes ten Grüße aus Halber-stadt (neues Heim) sendet Euer Vater. Sonst geht’s mir gut. Im Quartier bin ich bei Eckards. Sie lassen grüßen.«1

Am 1. April bezog die Familie eine Wohnung im Gartenweg 1, Ernst Schielicke besuchte von 1915 bis 1918 zunächst die Präparandenan-stalt in der Wilhelmstraße 18 – heute Straße der Opfer des Faschismus – und dann das Lehrerseminar an der Plantage, der heutigen Polizei-dienststelle.

2: Klasse II des Hal berstädter Leh-rerseminars 1918, am linken Tisch rechts sitzend Ernst Schielicke

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Im Jahre 1920 riet der Direktor der Anstalt, Dr. Meißner, nach Abschluss der II. (vorletzten) Klasse den Eltern, auf die weitere Ausbildung ihres Sohnes wegen schlechter Berufsaussichten zu verzichten. So trat Ernst Schielicke am 1. September die Lehre bei der Commerz- und Privat-Bank in Halberstadt an; er wurde in zweieinhalb Jahren zum Bank-buchhalter ausgebildet. Danach war er noch bis zum 30. April 1924 in dem Geldinstitut angestellt, bis die Bank »durch die Zeitverhältnisse zu einer Verringerung der Angestelltenschaft genötigt« war. Bis dahin hat er die Inflation nach dem ersten Weltkrieg und ihre Auswirkungen mit der Währungsreform vom 15. November 1923 unmittelbar erlebt. Da-nach begann bis zum Februar 1934 eine Zeit von Wechseln zwischen Arbeitslosigkeit und verschiedenen Anstellungen, insgesamt war er 3¼ Jahre erwerbslos. Während seiner Tätigkeit an der Halberstädter Reichsbankstelle entstand 1926 eine Fotografie der Mitarbeiter um Reichsbankdirektor Lachenwitz.

3: Die Mitarbeiter der Reichsbank-stelle Halberstadt im Jahre 1926. Vorn dritter von rechts Bankdirek-tor Lachenwitz, in der zweiten Reihe zweiter von rechts Ernst Schielicke

Einige Jahre war Ernst Schielicke auch als Vormund des jungen Erich Puhlmann tätig, der sich in den 1940er und 50er Jahren deutschland-weit einen Namen als Boxer machen sollte. Das Familienarchiv enthält eine Postkarte, die Bruder Walther Bade – den Elmar Krautkrämer in diesen Heften gewürdigt hat2 – dem Groß-meister des Jungdeutschen Ordens Herrn Schielicke am 13. Juli 1927 geschickt hat. Der Jungdeutsche Orden war 1920 von Artur Mahraun (1890–1950), ei-nem Offizier des 1. Weltkrieges, gegründet worden. Er wollte die Front-

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kameradschaft des ersten Weltkrieges zur Überwindung der Standes- und Klassengegensätze in das zivile Leben übertragen3. Der »Jungdo«, so die Kurzform, war eine nationale – nicht nationalistische – Verei-nigung zur Überwindung der Folgen der Bedingungen des Versailler Friedensvertrages in Deutschland. Man suchte bewusst Kontakte zu Frankreich und England, wodurch Konflikte mit nationalistischen Ver-bänden heraufbeschworen wurden. »Schwestern-« bzw. »Bruderschaften« bildeten die Ortsgruppen, ih-nen stand ein Großmeister vor, mehrere solcher Ortsgruppen bildeten eine »Ballei« mit einem Komtur an der Spitze, die Balleien waren in Großballeien zusammengefasst, denen ein Großkomtur vorstand. Der Hochmeister – Mahraun selbst – stand dem Orden vor. Die Mitglieder-zahl ist ungewiss, 37 000 werden genannt, aber ein »Liederbuch des Jungdeutschen Ordens« erreichte bis 1925 schon eine Auflage von 210 Tausend, weitere Auflagen folgten. 1933 löste sich der Jungdo auf, um der Liquidation bzw. der Gleichschaltung zu entgehen; im gleichen Jahr wurde er verboten. Mahraun wurde im Sommer 1933 verhaftet und schwer misshandelt, schließlich aber wieder entlassen.

4: Reichsschwesterntag des Jungdeutschen Ordens in der »Harmonie«, dem größten Saal Halberstadts, am 8. und 9. Oktober 1932. Vorn links an der Bühne stehend Hilde-gard Krause.

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Das Halberstädter Ordensleben entwickelte sich recht rege, woraus für Ernst Schielicke ein weitreichender Freundes- und Bekanntenkreis erwuchs. Zur Schwesternschaft zählte Hildegard Krause, die sich mit ihren Eltern 1920, aus Breslau kommend, in Halberstadt angesiedelt hatte. Beide lernten sich kennen und lieben und heirateten am 2. Okto-ber 1935, gefeiert wurde im Domclub am Lindenweg.

Hildegard Krause war nach dem Abschluss der neunstufigen Mäd-chenmittelschule und der Handelsfachschule u. a. in der Klosterguts-verwaltung St. Burchard, in der Halberstädter Geschäftsstelle des Nordharzer Automobil-Club e.V. (A.D.A.C.) und schließlich für mehre-re Jahre im Büro des Oberbürgermeisters Dr. Mertens beschäftigt. In jener Zeit führte ihr Arbeitsweg über die Treppen der Ratslaube am Rathaus.

5: Hildegard Krau-se besuchte vom 23. bis 27. April 1928 einen Gas-kochkursus im Halberstädter Gas-werk

6: Die Schneider-werkstatt der Fir-ma Heinrich May K. G., Inhaber Kurt Heinzel, um 1930.

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Ihre Mutter war Putzmacherin und über Jahrzehnte – bis 1950 – in der Werkstatt der Firma Heinrich May K.G. tätig, gegenüber der Domtrep-pe am Gleimhaus am Hohen Weg gelegen. Der Vater Ernst Schielickes, Reinhard Schielicke sen., war von 1915 bis 1939 als Zollbeamter im Halberstädter Zollamt tätig.

7: »Vater im Dienst« – so seine eigenhändige Bild-unterschrift – als Zollsekretär, Januar 1939.

Ernst Schielicke konnte im Februar 1934 eine Stelle an der Halber-städter Reichsbank antreten. Die Familie bezog eine Wohnung in der Hohenzollernstraße 67 – von 1918 bis 1933 und nach 1945 als Frie-denstraße bekannt. Am 1. März 1943 wurde Ernst Schielicke zum Militärdienst bei der Sanitäts-Ersatz-Abteilung Bückeburg eingezogen. Der Einsatz als Ge-freiter erfolgte bei Nettuno, Grottaferrata und Castel Gandolfo (45 km südlich von Rom) bis zur Landung der amerikanischen Truppen im Ja-nuar 1944 und dann in Südfrankreich, in Aix-en-Provence und Grasse – in einer Feldpostkarte an seine Frau heißt es: »Hierhin möchte ich mit Dir!«. Im Lazarett in Sigmaringen kam er in französische Kriegsgefangen-schaft, aus der er am 14. November 1945 entlassen wurde. Er wurde aber verpflichtet, die Behandlung entlassener Kriegsgefangener im La-zarett Sigmaringen fortzusetzen. Er wohnte im Kloster Gorheim, wo er ein sehr freundschaftliches Verhältnis zum Abt Pater Florentinus auf-gebaut hat. Er schrieb seiner Frau nach Halberstadt, ob eine Übersied-lung dorthin nicht zu überlegen sei. Im Hinblick auf den Familiensitz

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Halberstadt mit etwa 25 Mitgliedern wurde das aber nicht weiter erwo-gen. Am 6. September 1947 kam er nach Halberstadt zurück. Im Zuge des üblichen Entnazifizierungsverfahrens erhielt Ernst Schieli-cke am 7. Mai 1946 von seinem ehemaligen Reichsbankkollegen W. Ehlers das folgende Schreiben:

8: Die Mitarbeiter der Reichsbankstelle Halberstadt am 20. März 1936 zum Abschied von Bankdirektor Lachenwitz im Domklub, dritter sitzend von links: Ernst Schielicke.

9: Sehr geehrter Herr Schielicke!Ihr an die Direktion der Reichsbankstelle – stimmt nicht mehr: Reichsbank, Deutsche Bank, Commerzbank, Bk. F. Landwirtschaft und Vogler am 9. Aug. 1945 geschlossen – wurde mir zur Beantwortung übergeben, da die Stadtbank, die sich in den Räumen der Reichsbank aufhält, grundsätzlich kei-ne derartigen Briefe mehr beantwortet. …Ich kann lediglich an Eidesstatt bezeugen, daß Ihr Name sowie von Kummer, Schorse Schmidt und Frau Reichsbankdirektor un-ter dem besagten gegen Hitler gerichteten Artikel sich befand.

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Wegen dieser zuletzt zitierten Aussage hatte sich der Verfasser an das Stadtarchiv Halberstadt gewandt, leider ohne Erfolg. So kam aber schließlich die Einladung zum Familienkundlichen Abend zu-stande.

Am Nachmittag, dem 7. April 1945, einem Sonnabend, wurde ein im Halberstädter Hauptbahnhof stehender langer Munitionszug von Bom-ben getroffen. Über viele Stunden hinweg waren die gewaltigen Deto-nationen der einzelnen Waggons in der Stadt zu vernehmen, über dem Bahnhof stand eine schwarze Qualmwolke, die man von dem der Woh-nung in der Hohenzollernstraße nahegelegenen Friedrich-Platz aus gut sehen konnte. Am Sonntag, dem 8. April 1945, hatte es gegen 10 Uhr wieder ein-mal Alarm gegeben. Mutter Hildegard, Sohn Reinhard und Großmutter Gertrud suchten in einem Luftschutzkeller in der nicht weit gelegenen Villa der Eigentümerin der Halberstädter Harzbrauerei, Elisabeth Reich, Unterschlupf. Langanhaltende Reihen von Detonationen erschütterten das Haus, eine Bombe war in ein etwas tiefer gelegenes Haus direkt gegenüber eingeschlagen. Das Haus Hohenzollernstraße 67 wurde von mehreren Bomben getroffen. Der zum Hof hin liegende Trakt war völlig zerstört, auch die Hauswand zur Straße hin existierte nicht mehr. Man konnte von der Straße aus in Speise- und Herrenzimmer hinein-sehen. Das Treppenhaus war von einer Brandbombe getroffen worden, es war abzusehen, dass es durch die zäh die Stufen hinabfließenden Phosphorverbindungen nach kurzer Zeit ausbrennen und zusammen-brechen würde. Unmittelbar nach dem Angriff strebte die Familie – wohl einer Verabredung für den schlimmsten Fall folgend – zum Blan-kenburger Kopf, der westlichsten Erhebung der Spiegelsberge. Von hier aus konnte man über die brennende Stadt sehen, die Türme der Martinikirche stürzten ein, und die Innenstadt war verwüstet.

Der Verfasser ist 1940 in der elterlichen Wohnung geboren worden, der nahegelegene Bismarckplatz – in der Kindersprache als »Bismaxpax« weiterlebend – war gern aufgesuchte Spazier- und Spielstätte.Er besuchte von 1946 an die Marx-Engels-Schule in der Thälmann-straße (früher Roonstraße, heute Johann-Sebastian-Bach-Straße). Klassenlehrer Thöry unterrichtete von der ersten bis zur vierten Klasse. Zum Schreibenlernen benutzte man Griffel und Schiefertafeln, die es aber nur als schwarz angestrichene Pappe gab. So waren die vom Dach des durch zwölf Volltreffer beschädigten Doms gefallenen echten

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Schieferplatten gerade recht, auch wenn sie nicht rechteckig waren. Die Unterrichtsverhältnisse in den ersten Jahren waren katastrophal, zumal in den Wintermonaten. Unterrichtet wurde in größeren Räu-men anderer Schulen oder öffentlicher Gebäude, oft saßen bis zu 100 Schüler in einer Klasse. Die Verhältnisse besserten sich erst in den Jahren 1949 und 1950.

10: Klasse 4b der Marx-Engels-Schule mit dem Klassenlehrer Thöry, 1950. Der Verfasser erster von links in der zweiten Reihe.

In der 5. und 6. Klasse war Frau Donnhauser Klassenlehrerin. Es ka-men Physik, Biologie, Erdkunde, Geschichte und Russisch, in der 7. Klasse Chemie zu den Fächern hinzu. Zum Klassenverband gehör-ten damals über 30 Schüler. Es war im Jahre 1950, als für vier hoffnungsvolle Knaben mit der 5. Klasse neue Schulfächer, darunter eben auch der Russischunter-richt, begannen. Vorausschauende Eltern überlegten, wie sie ihren Kindern daneben auch Unterricht in englischer Sprache angedeihen lassen könnten, an den damals an den Grundschulen der DDR nicht zu denken war. Sie fanden in der Kustodenwitwe Lotte Frischmeyer eine kundige und engagierte Lehrerin, der sie ihre Sprösslinge anvertrauten. So fanden sie sich denn regelmäßig im Gleimhaus zusammen, in dem Frau Frischmeyer als gute Seele des Hauses wohnte, und übten unre-gelmäßige englische Verben, die ing-Form und das Gerundium.

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11: Klasse 8b in der Aula der Marx-Engels-Schule Halberstadt, 1954. Ganz rechts Klas-senlehrer Hoppe, der Verfasser dritter von rechts in der mittleren Reihe.

Geöffnet wurde nach kräftigem Zug an einem Klingelgriff links von der Haus-tür, der über eine sinnreiche Mecha-nik eine Glocke im Innern des Hauses ertönen ließ. Vom Flur aus führten Stufen zu den beiden links gelegenen Räumen, zwischen denen die »Kar-schin« stand. Normalerweise fand der Unterricht im vorderen Zimmer statt, das mit einem großen rechteckigen Tisch ausgestattet war und mit einer Schultafel auf einer Staffelei. Als be-sonders erstrebenswert galt der Platz am vorderen Fenster abseits vom Tisch, vor dem ein hölzernes Schüler-pult mit Klappsitz stand. An kalten Tagen unterrichtete Frau Frischmeyer im Zimmer dahinter, wohl ihrem Wohnzimmer. Dort servierte sie auch einmal zur Weihnachtszeit einen »christmas pudding«, den sie nach

12: Studienrat am Martineum und Pfarrer Walther »Spatz« Bade (1888–1959) konfirmierte den Jahr-gang an der Johanniskirche. Karika-tur um 1952 aus der Hand von Frau Gebhard, geborene Hohnke, Tochter des Lehrerehepaares Dr. Hohnke von der Käthe-Kollwitz-Oberschule.

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dem aufwendigen Rezept selbst hergestellt hatte und den sie aus der Küche brachte, die auf der rechten Seite des Flures gelegen war. Wurde es aber im Sommer richtig warm, dann zog man in den ers-ten Stock in den Freundschaftstempel, an den großen ovalen Tisch im vorderen Raum, dessen grüner Filzbezug mit mehreren großen Tinten-flecken (die Zeit der Kugelschreiber sollte gerade erst anbrechen) von gehabten Schüler- und Lehrerfreuden zeugte. Unter den Augen gleim-scher Freundesbildnisse saßen die Schüler auf den hohen Rohrstüh-len; der »Pegasus« – Gleims Dichterross – durfte aber nicht benutzt werden. Natürlich blieben Betrachtungen zu den Abgebildeten nicht aus, zumal man nach 1954 als »Oberschüler« (9. bis 12. Klasse) mehr und mehr Verständnis für die literarischen und historischen Hintergrün-de entwickelte.

13: Klasse 9b: Ausflug zur Hoppelnase bei Halberstadt im Winter 1954/55. Von links: Lehrer Donn-hauser, Ingeborg Wehr-stedt, Hella Krebs, Klaus Herudek, Jürgen Posselt (beide sitzend), Heidrun Brandt, Ortrud Uhlen-trud, Reinhard Schie licke, Wolfgang Gott schalk; oben: Herbert Petzold, Anneliese Rüssel, Peter Klaus, nn, Werner Hake.

An ganz heißen Tagen saß man auch einige Male im kleinen Garten, der mit Sträuchern und Bäumen dicht bewachsen sehr schattig im Ge-dächtnis geblieben ist. Der Autor hat Frau Frischmeyer als mütterliche aber auch strenge Persönlichkeit in Erinnerung – was eine gute Lehrerin ausmacht –, die neben der Vermittlung von Sprachkenntnissen auch für die Lebenshal-tung prägende Eindrücke hinterließ. In jenen 1950er Jahren, als auch in der DDR noch Rütlischwur, Ringparabel und Kants kategorischer Im-

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perativ durch die Lehrer als persönlichkeitsbildend vermittelt wurden, traf auch Portias Rede aus Shakespeares »Kaufmann von Venedig« auf offene Ohren und Herzen:

»The quality of mercy is not strain‘d, it droppeth as the gentle rain from heaven upon the place beneath: it is twice blest, it blesseth him that gives and him that takes … «

Immerhin konnte man schließlich Shakespeare mit Gewinn im Original lesen; so wurde vereinbart, von 1956 an in den beiden Jahren bis zum Schulabschluss bei Frau Frischmeyer noch Grundkenntnisse in Fran-zösisch zu erwerben. Irgendwann im Frühjahr 1958 verebbten dann die Bemühungen im Gleimhaus, als die Vorbereitungen zum Abitur immer mehr Zeit erforderten.

14: Der Schulchor der Käthe-Kollwitz-Oberschule unter der Leitung von Dr. Berner im Volkstheater Halberstadt am 20. Oktober 1957. Oberste Reihe: Herbert Petzold, Rein-hard Schielicke, Joachim Dorst, Schäfer, Neumann, Wolfgang Roselt, Felsche. Reihe vorn: Schirmer, Himpel, Pape, Sommer, Gläser, Stolte, Heise, Ingeborg Wehrstedt; letzte: Annelise Rüssel. Aus der Hand von Frau OStR Ingeborg Tautz, Solingen.

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Klassenlehrer war während der Oberschulzeit Helmut Schulze, Fach-lehrer für Mathematik und Physik, der sein Studium an der Universität Halle 1953 beendet hatte. Bis zum April 1955 war Elmar Donnhau-ser Deutschlehrer, dann ging er nach Göttingen. Nachfolger wurden Herr Weyrich und später Dr. Wille, der wenige Wochen vor dem Abitur nach Bad Harzburg zog. Fräulein Tautz hat die Klasse in Biologie un-terrichtet. Nach der Einführungsstunde in die Menschenrassen in der 12. Klasse ist sie noch am gleichen Abend nach Solingen verzogen und war dort noch viele Jahre lang als Oberstudienrätin tätig, sie ist am 9. September 2011 97-jährig verstorben. Nach bestandenem Abitur folgte Reinhard Schielicke dem Vorbild sei-nes durchaus liberal eingestellten Vaters, er wurde gemeinsam mit sei-nen Klassenkameraden Joachim Dorst und Wolfgang Roselt am 1. Juli 1958 in die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) aufge-nommen, auch – wenigstens vom Verfasser – mit dem Ziel, nie zum Eintritt in »die« Partei, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), aufgefordert werden zu können. Angeregt von den naturkundlichen Kenntnissen und der Begeiste-rungsfähigkeit seines Vaters beschäftigte sich der Autor seit Mitte der 1950er Jahre intensiv mit der Astronomie. Aus Holz und Pappe ent-stand ein funktionsfähiges Modell des Zeiss-Projektionsplanetariums, das während einer Schul-Leistungsschau – die »Messe der Meister von Morgen« war noch nicht erfunden – dem Lehrerkollegium vorge-führt worden ist. Klassenlehrer Helmut Schulze empfahl, nach Jena zu gehen, um Astronomie professionell betreiben zu können. Und so ist der Verfasser bis heute Mitarbeiter am Astrophysikalischen Institut und der Universitäts-Sternwarte Jena. Seit etwa 30 Jahren rückte die Beschäftigung mit der Geschichte der Astronomie immer mehr in den Vordergrund und nach Halberstadt füh-rende Spuren – wenn es deren auch nur wenige gab – bleiben erfreu-liche Ergebnisse. Die am weitesten zurückreichenden Bezüge betreffen Lesesteine, die als Linsen wirken und die man als Vorläufer optischer Elemente von Lupen, Mikroskopen und Fernrohren ansehen kann. Mit der schon den Assyrern vor 3000 Jahren bekannten Technik wurden im Mittel-alter Quarzkristalle geschliffen und in Reliquiare eingesetzt, so wie zu Beginn des 13. Jahrhunderts auch in den Sockel des Stephanus-Re-liquiars des Halberstädter Domschatzes4, das im Zuge der Kreuzzüge in Konstantinopel erbeutet und mit vielen anderen nach Mitteleuropa gebracht worden ist5.

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Vor Jahren gab es die Anfrage eines Göttinger Kollegen nach einer Sternwarte in Halberstadt um 1850, von der es gar keine Publikatio-nen gäbe. Sofort war dem Ortskundigen die kleine Ausflugsgaststätte »Sternwarte« vor den Klusbergen im Sinn, aber Astronomisches ließ sich erst nach einer Anfrage bei Dr. Reimar Lacher und Werner Hart-mann finden: der Betreiber der Sternwarte war Karl Ludolf Menzzer, 1816 in Halle an der Saale geboren und 1893 in Rostock verstorben. Menzzer ist 1841 in Jena zum Dr. phil. promoviert worden. Von 1843 an bis zur Pensionierung war er an der Halberstädter Höheren Bürger-schule tätig, seit 1856 als Oberlehrer, von 1880 an bis 1883 als Gym-nasialprofessor. Unter den Astronomiehistorikern ist er kein Unbekannter: Er übersetz-te das epochemachende Werk »De revolutionibus orbium coelestium« von Nicolaus Copernicus ins Deutsche für die Thorner Gesamtausga-be von 1879, und er war Ehrenmitglied des Copernicus-Vereins.

15: Jean Bernard Léon Fou-cault bei der Vorführung des Pendelversuchs 1851

Menzzer war als Gymnasiallehrer begeistert von der Möglichkeit, die Wir-kung der Erddrehung um ihre Achse durch den Foucaultschen Pendel-versuch unmittelbar veranschaulichen zu können und führte ihn im Feb-ruar 1853 im Halberstädter Dom vor; für seine Untersuchungen brauchte er eine genau regulierte Uhr, dazu richtete er die Sternwarte ein6. Franz Kössler schreibt: »Um seine wissenschaftlichen Ansichten expe-rimentell bestätigt zu sehen, baute Menzzer in den 1850er Jahren eine Sternwarte auf einem kleinen kahlen Hügel in der Nähe der Stadt, den er – man behauptete für einen einzigen Silbergroschen – käuflich er-

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worben hatte. Um den Mauer- und Dacheinschnitt für den Meridian zu erhalten, beobachtete er, durch einen der Witterung entsprechenden Trank gehörig gestärkt, eine ganze Nacht hindurch die Position von a Ursae minoris [des Polarsterns]. – Menzzer meinte, die Schwingungs-dauer eines Pendels im Erdinnern sei kürzer als an der Erdoberfläche. Zum Beobachten dieser Zeit gehört eine Uhr mit genau ermitteltem Gange und dazu wiederum Sternbeobachtung. Den Pendelversuch wollte M. im tiefsten Schachte des Andreasberger Bergwerks anstel-len. Er erhielt auch die Erlaubnis und reiste mit einem Freunde hin. Es wurde oben und unten am Schachte gependelt. Besonders das letz-tere war mit Schwierigkeiten verbunden. Um nämlich Erschütterungen zu vermeiden, waren für die Dauer des Versuches die Maschinen ab-gestellt, auch diejenigen, die das Wasser fort schafften. So standen schließlich beide Beobachter bis an den Leib im Wasser, während sie eifrig Pendelschwingungen aufzeichneten.– «

16: Wilhelm Steuerwaldt: Die Sternwarte bei Halberstadt. Städtisches Museum Halber-stadt

Eine ganze Reihe von alten Postkarten zeigen die Menzzersche Stern-warte, auf dem Hügel über dem Eingang zur Langen Höhle gelegen. Heu-te ist das Gelände wegen Einsturzgefahr nicht zugänglich. Bekannt sind auch mehrere Gemälde von Wilhelm Steuerwaldt, die die Landschaft um die Sternwarte zeigen. Der Maler lebte von 1815 bis 1871. Er wurde in Quedlinburg geboren, sein Vater war Zeichenlehrer. Nach einer Lehre beim Halberstädter Maler Carl Hasenpflug von 1830 bis 1833 bezog er die Kunstakademie Düsseldorf. Von 1836 an wirkte er als Maler in seiner Geburtsstadt, in der er von 1839 bis 1867 das Klopstockhaus besaß.

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Im Jahre 1853 heiratete Helene Charlotte Menzzer – ein mögliches Verwandtschaftsverhältnis zwischen Helene Charlotte und Karl Ludolff Menzzer ist (noch) nicht nachgewiesen – den Gründer der Freireligi-ösen Gemeinde in Halberstadt, Adolf Timotheus Wislicenus (1806–1883). Beider Sohn Walter Wislicenus (1859–1905) wurde Astronom, von 1880 an tätig an der Sternwarte Straßburg9. Er gründete den »As-tronomischen Jahresbericht«, dessen erster Band die astronomische Literatur des Jahres 1899 referierte.

17: Walter Friedrich Wislicenus (1859–1905)

Nach der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wirkte Carl Wilhelm Ale-xander von Wahl (1760–1846) als Preußischer Hauptmann und Kanoni-kus des Moritzstiftes Halberstadt. Er lebte von 1803 an in Halberstadt am Moritzplan, betätigte sich als qualifizierter Liebhaber der Astrono-mie und hinterließ deutliche Spuren in der astronomischen Literatur der Goethezeit8. Er beschäftigte sich mit der Bestimmung der Polhö-he seiner Wohnorte, mit der Berechnung von Kometenbahnen sowie der Beobachtung und Auswertung von Sternbedeckungen durch den Mond. In der Halberstädter Literarischen Gesellschaft trug er am 6. Juli 1806 über die Änderung der Schiefe der Ekliptik vor.

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Bei einem Besuch von Wahls auf der Seeberg-Sternwarte bei Gotha, damals eines der astronomischen Zentren Eu-ropas, widmete ihm Franz Xa-ver von Zach um 1800 seine »Tabulae motuum solis …«.

Und endlich schließt sich der Bogen zum Gleimhaus wieder: Canoni-cus Gleim ist (neben Rektor Fischer aus Halberstadt und der Bibliothek der dortigen literarischen Gesellschaft) als Subscribent der »Seleno-topografischen Fragmente« – einer großen Mondkarte – von Johann Hieronymus Schroeter aus Lilienthal bei Bremen im Jahre 1791 ver-zeichnet. Zwei Jahre später wirkte Gleim als Gastgeber Franz Xaver von Zachs, des Astronomen am Hofe Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha und Altenburg, der in Begleitung des regierenden Grafen von Stolberg-Wernigerode am 2. und 6. Juni 1793 zu astrogeodätischen Messungen in Halberstadt Station machte: Dabei hatte Urania (von Zach) die Unterstützung von Apollo (Gleim), denn – mit von Zachs Wor-ten – »der Brennen [Brennaburg oder Brandenburg, wohl auf Gleims Grenadierlieder zielend] Lieblings-Dichter Herr Canonicus Gleim nahm sogar Anteil an meinen astronomischen Beobachtungen, und wohnte einigen derselben bey; unvergesslich werden mir die, bei diesem ver-ehrungswürdigsten Greis verlebte angenehme Stunden, und die mir bezeigte Freundschaft bleiben«9. Weder Zach noch Gleim konnten ahnen, dass Zach drei Jahre nach Gleims Tod wie zuvor Gleim Kanonikus des Stifts Walbeck sein würde.

18: Über die Änderung der Schiefe der Ekliptik. vorgelesen in der literarischen Gesellschaft [in Halberstadt] den 6. Juli 1808

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Anmerkungen und Quellen:

1: Alle Bilder – soweit nicht anders angegeben – aus der Sammlung des Verfassers

2: Krautkrämer, Elmar: Studienrat und Pfarrer Walther Bade, Genannt „Spatz“. Neuer Familienkund-licher Abend 10 (2001), 3–22

3: Lohmüller, Wolfgang: Der Jungdeutsche Orden. Neue Politik – Beiträge zur politischen Neuord-nung 48 (2004), 1–6

4: Willach, Rolf: Der lange Weg zur Erfindung des Fernrohrs. In: Hamel, J., Keil, I. (Hrsg.): Der Meister und die Fernrohre. Acta Historica Astronomiae 33 (2007), 34–126

5: Flemming, J., Lehmann, E., Schubert, E.: Dom und Domschatz zu Halberstadt. Berlin 1976, S. 247

6: Kössler, Franz: Personenlexikon von Lehrern des 19. Jahrhunderts. Berufsbiographien aus Schul-Jahresberichten und Schulprogrammen 1825–1918 mit Veröffentlichungsverzeichnissen. Band: Maack–Mylius. Preprint. Universitätsbibliothek Gießen, Gießener Elektronische Bibliothek 2008, S. 173

7: Vierteljahrsschrift der Astronomischen Gesellschaft 41 (1906), 12–21

8: Brosche, Peter: »Der Hauptmann und Kanonikus« C. W. A. von Wahl (1760–1846). In: Dick, W.R., Hamel, J.: Beiträge zur Astronomiegeschichte 8 (2006), 91–107

9: Brosche, Peter: Der Astronom der Herzogin. Leben und Werk von Franz Xaver von Zach (1754–1832). Acta Historica Astronomiae 12 (2001), S. 79–80

10: Piere Nicolas Legrand: Franz Xavar von Zach; Inv.-Nr. Sg 122

11: Georg Friedrich Adolph Schöne: J. W. L. Gleim; Inv.-Nr. A/N 32

19: Franz Xaver von Zach (1754–1832). Stiftung Schloss Friedenstein Gotha10

20: Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803). Gleimhaus Halberstadt11

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Neue Gedichte von Christel Trausch

Die beiden Bäume

standen schon zur Elternzeitund wissen

um Gewitterfrühling,der unverhofftdas junge Herz

durchblitzt.Nur schnell

die Namen eingeritztfür alle Ewigkeit.

Die Bank ist längstmit neuem Holz versehn,

der Weg verbreitertund mit Kies bestreut.

„Erinnre dich“umkreist den Rasen.

Ein altes Glückmuss langsam gehn.

Doch wie die beiden Bäumesind wir immer noch zu zweit.

4.9.2011

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Lebensgemeinschaft

Du bist kein Kid,sondern das Kind.

Ich bin keine Seniorin,sondern alte Frau.

Meine Hand ist groß,damit sie deine birgt.

Du suchst meine Brille.Ich finde deine Kommafehler.

Wir sind eineLebensgemeinschaft.

28.8.2011

Arche

Noah ist längst damit der jüdischen Familie.

Hochzeitsfeierwie in Kanaan,Wein für Lutherund den Papst,Gebetsteppiche

werden ausgerollt,Buddha lächelt,

Nichtgläubige singen.Laotse sinnt

durch den Regenbogen.Sintflut fällt aus

und Krieg.

28.8.2011

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Start eines neuen Familienunternehmens

Von Helga Scholz

Wer ein aufmerksamer Bürger unserer Stadt ist, dem fielen sicher in den vergangenen Monaten und Jahren häufig die Kräne und schweren Transporter auf, die mit dem Namen Kran Schäfer gekennzeichnet sind. Oftmals fragte man sich, wer ist dieser Geschäftsmann, was für eine Firma verbirgt sich hinter dem Logo. Auch in Zeitungsberichten tauchte der Name, in Verbindung mit dem Baugeschehen und sozi-alem Engagement, immer wieder auf. Anlass genug, um den Fragen nachzugehen und Antworten zu suchen. Martin Schäfer, geboren am 15.11.56 in Halberstadt, Walter-Rathenau-Straße 8. Diese Häuser waren kurz nach dem Krieg errichtete Neubauten mit gutem Wohnkomfort. Nach der Scheidung der Eltern erhielt die Mutter das Sorgerecht für ihre Söhne Uwe, sechs, und Martin vier Jahre alt. Mar-tin, der katholisch getauft worden war, verfolgte wach und aufmerksam die DDR-Fernsehsendungen, insbesondere die Kinderreihe von „Profes-sor Flimmrich“. Er bildete sich bald eine eigene Meinung und verweigerte

1: Pionierblasorchester der Marx-Engels-Schule, 2. Reihe, 2 v. l. Martin Schäfer

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sich der Erstkommunion. Eingeschult wurde er in die Marx-Engels-Ober-schule. Viel Zeit investierte Martin in das Pionier-Blasorchester der Schule, in dem er das Spielen von Waldhorn, Althorn und Trompete erlernte. Sie-ben aktive Jahre widmete er sich dem Orchester. Noch heute verbindet ihn eine herzliche Freundschaft mit dem Leiter des heutigen Jugendbla-sorchesters, Thilo Eulenberg. Dieser setzte die Tradition des Schulorche-sters fort. Stolz ist Martin Schäfer bis jetzt über Auftritte des Musikkörpers, der viele große Ereignisse in der DDR mitgestaltete.Als Jugendlicher trat er in die FDJ ein und war auch in diesem Rah-men sehr aktiv. Seine schulischen Leistungen zeigten am Ende der 9. Klasse einen Notendurchschnittswert von 1,6. Also lag der Besuch der Erweiterten Oberschule (EOS) nahe. Martin entwickelte jedoch bald eigene Zukunftsvorstellungen. Abitur war nicht zwingend wichtig.Die wirtschaftliche Lage der DDR in den 1970er Jahren war gut, der Staat genoss internationale Anerkennung, und Martin war stolz auf sein Land. Erfolgreich beendete er 1973 die 10. Klasse.So ganz genau wusste er noch immer nicht, welchen Beruf er ergrei-fen sollte. Da brachte ein Freund ihn auf eine faszinierende Idee. Die Vision, zur See zu fahren, ließ ihn nicht mehr los. Zum Glück hatte seine Familie keinen Westkontakt, das hieß damals keinerlei verwandt-schaftliche Bindungen in die BRD oder ins kapitalistische Ausland. Also stand einer Bewerbung zum Vollmatrosen in der DDR-Handels-schifffahrt nichts im Wege. Die Freude und Erwartung wuchs, als seine Bewerbung angenommen wurde.Die Lehrzeit begann mit theoretischen Unterweisungen. Dann, nach fünf Monaten intensiver Büffelei und aktiver Ausbildung auf dem Mo-torschiff „Georg Büchner“, das als Schulschiff und Wohnheim genutzt wurde, konnte er auf das MS „Nienburg“ wechseln. Auf der „Georg Büchner“ erhielt Martin eine umfassende seemännische Grundaus-bildung während einer Fahrt nach Kuba. Die Unterbringung auf dem Schulschiff war spartanisch. Es diente früher als Truppentransporter. In der Kabine gab es zwei Kojen auf engstem Raum. Die Ausbilder legten großen Wert auf Disziplin, Ordnung und Sauberkeit. So gab es für die angehenden Matrosen regelmäßig Wäscheappelle. Zur Vor-schrift gehörte der Nachweis von zwei sauberen Garnituren, es galt täglich einwandfrei gekleidet zu sein und die Kabine vorbildlich in Ord-nung zu halten. Nach sechs Stunden Schlaf begann die sechsstündige Arbeit. Nach dem Ruf „Backen und Banken!“ des Offiziers ging man zum Essen in die Messe, wobei beim Eintritt kontrolliert wurde, ob das Besteck, die Fingernägel und das Geschirrtuch peinlich sauber waren.

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2: Motorschiff Georg Büchner

Für Martin und die anderen jungen Männer bedeutete der Drill, das streng kontrollierte Leben auf engem Raum, einen tiefen Einschnitt in sein Leben, das er vorher in relativer Freiheit verbracht hatte. Trotzdem gefiel ihm die Ausbildung. Er begriff sehr schnell, dass Ordnung und Disziplin sehr wichtig für Arbeitsabläufe und Freizeit auf dem Schiff waren. Der Bootsmann gab die Pausen an, gegenüber den Offizieren und dem Kapitän herrschte Gehorsam. Es gab eine Rangordnung, die strikt eingehalten wurde. An eine harte Bewährungsprobe erinnert sich Martin noch heute ganz genau. In einem kubanischen Hafen musste eine Seenotsituation si-muliert werden. Nicht nur, dass die Rettungsboote schwer und recht unbeweglich waren, die angehenden Matrosen mussten in ihrer Tro-penbekleidung die Boote gegen heftigen Wind zum Schiff zurückru-dern. Am Ende waren alle völlig erschöpft, und die Handflächen be-standen aus schmerzendem, rohem Fleisch.

Eine weitere Fahrt auf der „Nienburg“ führte nach Asien. Dabei machte er neue Erfahrungen, als das Schiff kurz vor der Einfahrt in den Hafen von Singapur auf ein Riff auflief. Die aufregenden Bergungsarbeiten ge-

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schahen bei Taifunwarnung, die löste schon Ängste beim angehenden Vollmatrosen aus. Nach der Bergung musste das havarierte Schiff in die Werft und Martin setzte seine Ausbildung auf dem MS „Karl-Marx-Stadt“ fort. Das Leben und die eindrucksvollen Erlebnisse auf dem Schiff ließen ihn sein Ziel erkennen. Martin strebte den Beruf des nautischen Offiziers an. Dazu musste er Mitglied in der SED werden. Zur Erreichung seines Berufswunsches war das nur ein „kleines Übel“. Wohl erkannte er Missstände im sozialistischen Alltag, doch die gute Führungstätigkeit der Verantwortlichen auf dem Schiff empfand er als vorbildlich. Die im Rahmen der Parteiarbeit auf dem Schiff gefassten Beschlüsse setzten er und seine Genossen um. Sie waren überzeugt vom Sinn und der Notwendigkeit der Aufgaben. Oft ergriffen die jungen Männer selbst die Initiative, um Aufgaben zu lösen. Martin erinnert sich, wie er und die anderen den Pool des Schiffes und eine Barkasse instand setzten. Martin fasste den Entschluss, ein Studium aufzunehmen, das unter-stützte und befürwortete der Kapitän. Doch noch vor Studienbeginn galt es, den Armeedienst abzuleisten.Nach der langen, eineinhalb Jahre dauernden Reise erfolgte seine Ab-lösung. Die recht ungewöhnliche Heimfahrt von Antwerpen mit dem Zug über Hamburg verursachte ihm keine Fluchtgedanken. Die DDR zu verlassen, stand bei ihm nie zur Diskussion. Für ihn bedeutete die DDR Heimat und soziale Sicherheit. Solche Entscheidungen reiften bei Begegnungen mit dem offensichtlichen Elend der Menschen in vielen Ländern. Seine Perspektive: Er wollte in der DDR ein Kapitänspatent erwerben und auf große Fahrt gehen. Mit diesem Ziel vor Augen be-gann Martin seinen sechswöchigen Urlaub vor Antritt der Armeezeit.Aber wie das oft im menschlichen Leben ist, Lebensziele und Erwar-tungen können durch einen kleinen Zufall zerbrechen, aber dann zei-gen sich neue Möglichkeiten. So auch bei den Planungen Martins. Im Privatleben brauchte er neue Oberbekleidung. Also machte er sich auf den Weg. Ein braungebrannter, schwarzhaariger, fescher junger Mann in Lederjacke und Jeansschlaghosen betrat das Modehaus „Peters“. Auf ihn zu kam eine hübsche blonde Verkäuferin und – es funkte sofort zwischen den beiden. Die Beziehung wurde gleich auf eine harte Probe gestellt. Martin musste seine 18-monatige Armeezeit ableisten. Weit weg von Halberstadt, in Prora auf Rügen, diente er im Mot. Schützen Regiment 27 „Ernst Moritz Arndt“.Hunderte Briefe wurden geschrieben, sie festigten trotz der Entfernung die beiderseitige Zuneigung. Aus Liebe zu seiner Silvia verwarf er sei-nen ursprünglichen Studienwunsch.

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Viele Pläne wurden geschmiedet. Die neue Berufsorientierung muss-te auf dem Wissen und den erworbenen Erfahrungen und Fähigkeiten aufbauen. So entstanden Kontakte zur Deutschen Reichsbahn. Sie und die Deutsche Seereederei basierten auf einer gemeinsamen Betriebs- und Berufszugehörigkeit. Nach Ende der Armeezeit begann Martin in der Starkstrommeisterei der DDR Halberstadt seine Ausbildung zum Elektromonteur. Doch er wollte studieren. Einem Jahr praktischer Arbeit folgte schließlich ein Fernstudium an der Ingenieurschule in Dresden. Nach anstrengendem, Kräfte zehrendem fünfjährigem Studium erhielt Martin 1984 den Nachweis als Elektro-Ingenieur für elektrische Anla-gen und Maschinen. Solch ein Fernstudium absolvierte nur derjenige erfolgreich, der seine ganze Kraft daran setzte, denn tagsüber stand der Studierende im normalen Arbeitsprozess und kümmerte sich um seine Familie. Wie schwierig das Studium war, zeigte sich am Ende. Von 50 Teilnehmern erreichten nur 20 das angestrebte Ziel. Einige Zeit lebte das junge Paar in der Wohnung von Martins Mutter. Da die junge Familie mit Sohn Stefan 1980 Zuwachs bekommen hat-te, war die Enge des Zusammenlebens eine Belastung für alle. Also gingen die beiden zur KWV (Kommunalen Wohnungsverwaltung) und stellten einen Antrag auf eine eigene Wohnung. Solch eine Zuweisung war möglich, aber nur an verheiratete Paare. Sie entschlossen sich, umgehend zu heiraten. Bald nach der Eheschließung erhielten sie eine bescheidene Bleibe im heutigen „Rosenschlößchen“. An die Hochzeit erinnert sich Martin mit gemischten Gefühlen. Sie fand in ganz kleinem Rahmen statt, und es gab keine privaten Fotos. Diese heute noch als bedauerlich empfundene Panne verursachte der Opa. Der knipste den ganzen Tag – nur um später feststellen zu müssen, dass er keinen Film in die Kamera eingelegt hatte. So zeigen heute nur die offiziellen Bilder vom Berufsfotografen das Paar. Da die zugewiesenen Räume direkt an der Straße zu ebener Erde lagen, bekamen sie ständig ungebetenen Besuch von Hunden, Katzen und Vögeln. Nachts donnerten angehei-terte Jugendliche, nach dem Besuch der nahe gelegenen Gaststätte „Muhme“, mit Fäusten an die Fensterläden. Um in Ruhe studieren zu können, wich Martin in eine Dachkammer im Haus aus. War es Zufall? Nach Jahren, diese Wohnung war längst aufgegeben, betreibt Silvia Schäfer heute in den umgestalteten Räumen ihren Wein-handel. Neben dem Studium begeisterte Martin die praktische Arbeit mit der Technik. Er verschaffte sich umfassendes Wissen und konnte als Ar-beitssicherheitsinspektor tätig werden. Bald wechselte er ins BW

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(Bahnbetriebswerk) in Halber-stadt als Technologe für Triebfahr-zeuginstandhaltung, wurde dann Haupttechnologe. Als Abteilungs-leiter war er verantwortlich für den großen Bereich der technischen Anlagen, Drehscheiben und spä-ter auch für Tankanlagen (Was-sertürme), Gleisbrems- und Um-schlagtechnik. Rückblickend ist sich Martin heute sicher, damals viel bewegt zu haben, er pflegte auch guten Kontakt zu den rund fünfzig Kollegen.Als es nach der Wende 1990 zu vielen Veränderungen, auch Zer-störungen, im Bahnwesen kam, war er doppelt glücklich, als der Wasserturm am Halberstädter

Hauptbahnhof durch private Hand vor dem Abriss bewahrt blieb und heute die Besucher als ein eindrucksvolles technisches Denkmal be-grüßt.Beruflich brachte die Wende auch für Martin einschneidende Verände-rungen. Als Abteilungsleiter wurde er von zwei älteren Kollegen buch-stäblich ausgebootet. Ihr Argument: „Bist ja noch jung!“ Neue Ideen zur beruflichen Weiterentwicklung, unterstützt durch zu-sätzliche Qualifizierungen, konnten nur kurzfristig realisiert werden. Nach den Startvorbereitungen für eine neue Karriere in der eigenen Garage, in der er wenigstens einen Telefonanschluss hatte, stellte sich bald heraus, dass es so nicht ging, weshalb er in die Sternstraße zog. Die inzwischen angeschaffte Technik stand vorerst bei Scholz-Baube-triebe in der Siedlungsstraße. Die Standortwahl Halberstadt wurde nie bezweifelt und erwies sich im Nachhinein als kluger Entschluss.Im Rahmen der Konrad-Adenauer-Stiftung besuchte er Existenzgrün-derseminare. Das erste Mal entwickelte er Unternehmenskonzepte. Es war eine Zeit spannender Neuorientierung. Die stille Hoffnung, in die Selbstständigkeit gehen zu können, war Ansporn für weitere Denkmo-delle. Am 1. Juli 1990, mit der Wirtschafts- und Währungsunion, wuchs die Chance, etwas Neues zu schaffen. Martin hatte, als die Gewerbe-gebiete am Stadtrand entstanden, eine Vision. Er besaß umfassendes

3: Martin Schäfer

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Wissen über Bau- und Elektrotechnik, Hebezeuge und Krananlagen. Und er war sicher – hier im neuen Gewerbegebiet „werdet ihr mal Krane stehen sehen.“ Und er behielt Recht. Der Hersteller von Turmdrehkranen „Peine Hebe- und Transportsys-teme“ hatte Kontakte in den Osten hergestellt und sah eine Chance für den Markt in Halberstadt. In Peine gab es einen riesigen Park von Kranen, die auf Anmietung oder Verleih warteten. Martin bewarb sich nun um eine Industrievertretung, er hatte Erfolg, wurde Stützpunkt-händler und verfügte in kurzer Zeit über einen Mietpark für Turmdreh-krane. Ab 1992 übernahm er die professionelle Kranvermietung und schuf im nördlichen Harzvorland einen der größten mobilen Kranparks. Infolge der starken Bautätigkeit in der Region bestanden gute Ge-schäftschancen für den Aufbau des neuen Unternehmens. 1993 begab er sich im Gewerbegebiet „In den langen Stücken“ auf Standortsuche und – wurde fündig. Martin Schäfer gehörte zu den ersten Ansiedlern. Er erwarb 3 500 Quadratmeter Baufläche. Unterstützt wurde sein Vor-haben durch die geförderte Vergabe zinsgünstiger Kredite. Auf 1000 Quadratmetern entstand eine zweckmäßige, große Halle. Neben sei-ner Frau arbeitete eine Reihe von Mitarbeitern im Unternehmen, sie fuhren, warteten, pflegten und betreuten die Technik.Doch schon 1996 zeigten sich dunkle Wolken am vormals sonnigen Wirtschaftshimmel. Die Bundesregierung stoppte die Sonderförderung Ost. Die Bauwirtschaft erlitt bis ins Jahr 2000 einen Rückgang von 20 Prozent gegenüber den Vorjahren. Plötzlich waren Turmdrehkrane nicht mehr gefragt.In der „Halberstädter Volksstimme“ startete 1994 ein Quiz mit der Fra-gestellung: Wie viele Turmdrehkrane stehen in der Stadt? Die Beteili-gung der Halberstädter war groß. Am 6. August 1994 erfolgte die Be-kanntgabe der Lösung. Es waren 46 Krane. Heute sind es kaum mehr als ein bis zwei.Der umfangreiche Kranpark stellte sich nun als überflüssig heraus. Das Geschäft fiel Martin buchstäblich auf die Füße. Das Geschäftsfeld musste schnellstens verändert, reduziert werden, denn es bestand kei-ne Notwendigkeit für den Erhalt des großen Kranparks. 1999 veräußerte der bisherige Hersteller von „Peine Hebe-und Trans-portfahrzeuge“ den gesamten Bestand an Turmdrehkranen. Die Ära für den Peiner Betrieb ging zu Ende. Was sollte nun geschehen? Da kam Martin ein Zufall zu Hilfe. Ein befreundeter Spediteur aus Blankenburg bot ihm an, dessen Lkw-Fuhrpark zu übernehmen. Dieser bestand aus zwölf Aufliegern. Das Segment passte in Martins geschäftlichen Rah-

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men. Denn Eckart Grapentin hatte seinen Wagenpark für den Nah- und Fernverkehr, für Schwerlast- und Schüttguttransporte sowie für Über-seecontainertransporte ausgelegt.Martin sah in dem Angebot eine neue Chance, aber auch neue He-rausforderungen. Am 1. Juli 2001 versuchte er noch einmal, neu zu beginnen. Doch schnell wurde ihm klar, mit einem Fuhrpark allein ist es nicht getan. Lkw sind die eine Seite, genau so wichtig ist der Zugang zum gewerblichen Güterkraftverkehr. Das regelt eine Zugangsverord-nung, die besagt, dass die betreffende Person für diesen die fachliche Eignung nachweisen muss. Das hieß nichts anderes, als dass Martin erneut einen Lehrgang besuchen musste, die Prüfung sollte bei der IHK in Magdeburg stattfinden. Doch neben theoretischen Kenntnis-sen wurde erforderlich, den Beweis über verfügbares eigenes Kapi-tal vorzulegen und für die eigene Person Unbedenklichkeitszeugnisse aus den unterschiedlichsten Bereichen zu beantragen. Außenstehen-de können sich kaum vorstellen, was für einen Kraftakt das darstellte. Unter anderem galt es in recht kurzer Zeit, ein polizeiliches Führungs-zeugnis vorzulegen, sich Bescheinigungen für die eigene Unbedenk-lichkeit vom Gewerbezentralregister, der Stadtkämmerei, dem Finanz-amt, der Berufsgenossenschaft und allen großen Kassen zu besorgen. Die Straßen-Verkehrsbehörde genehmigte schließlich die Teilnahme am gewerblichen Güterkraftverkehr. Den Schlusspunkt bildete schließ-lich die Prüfung bei der IHK. Das Lernen hatte sich gelohnt! Am 1. Juli 2001 erhielt Martin Schäfer sein Testat, das ihm den guten Abschluss der Prüfung bestätigte. Von den sechzehn Prüflingen waren viele nicht so erfolgreich wie er.Ein neuer Abschnitt im Berufsleben begann. Die Spedition war gut auf-gestellt. Er hatte Kontakte zur Befa (Betonfabrik) und Bauwirtschaft ge-knüpft. Die Umsätze stiegen. Jedoch traten neue Probleme auf. Der Vorbesitzer hatte einen Reparaturstau hinterlassen, so dass viel Geld in Reparaturen und Erneuerungen investiert werden musste, denn die Ma-schinen hatten jetzt mehr zu leisten. Bis 2005 wuchs die Zahl der Lkw von 12 auf 27. Wichtig war die Erkenntnis, nicht nur als Dienstleister für das Bauwesen aufzutreten sondern auch für andere Wirtschafts-bereiche. Ihm gelang es, seinen Autokranbereich durch Gewinne aus der Spedition zu subventionieren und ihn so zu retten. Langsam kamen Wohnbau, Industrie und gewerblicher Bau wieder ins Laufen. Aber der Mensch soll sich wohl nicht auf Dauer seiner Erfolge freuen. Am 1. Mai 2005 erfolgte die EU-Osterweiterung. Ein Nackenschlag für den Mittelstand. Es setzte ein Preisverfall für Frachtraum von bis zu

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30 Prozent ein. Auch Martin machte als Geschäfts-mann deutlich finanzielle Verluste. Deshalb redu-zierte er den Fuhrpark. Die nächste finanzielle Ex-trabelastung ergab sich, als in der Politik Maut und die Einführung digitaler Tachographen für Lkw be-schlossen wurden. Wer seine Konzession behalten wollte, hatte die strengen Regeln einzuhalten. Die neue Technik macht es möglich, Lenkzeiten und Ru-hepausen bis zu einem Jahr später zu kontrollieren. 2008 musste eine weitere Hürde genommen werden – die völlig uner-wartete Explosion der Spritpreise. In vielen Unternehmungen fraßen die Spritpreise die Gewinne auf. Auch Martin musste 139 000 Euro mehr für Tankfüllungen, bei gleicher Kilometerzahl, bezahlen als im Vorjahr. Trotz guter Einnahmen verzeichnete sein Geschäft keinen Ge-winn. 2009 erwies sich wieder als Krisenjahr. Durch Veränderungen im Fuhrpark hoffte Martin, seinen Betrieb zu retten. Als infolge der Kri-se die Preise für Gebrauchsfahrzeuge fielen, erwarb er sechs weitere Fahrzeuge. Trotzdem musste der Fuhrpark erneut verkleinert werden. Letztendlich blieben von 25 Fahrzeugen noch 17. Der Fehlbetrag durch die Umsatzeinbuße war aus eigener Kraft nicht aufzubringen. 2010 ge-währte die Bürgschaftsbank einen Kredit, der dem Betrieb über die Runden half. Es ging nun wieder aufwärts im Geschäft. 2011 nahm Martin erneut eine moderate Erweiterung des Geschäftsbe-reiches vor. Ein neuer Autokran wurde gekauft und der Lkw-Fuhrpark auf 22 Fahrzeuge erweitert, also auf den Stand von 2007 gebracht. Nun hofft Martin Schäfer, dass sich die wirtschaftliche Situation sta-bilisiert.Neben den Sorgen, die schlaflose Nächte brachten, gab es aber immer wieder Ereignisse, die im Nachhinein zum Schmunzeln waren.So sorgte Martin seit 2001 jahrelang dafür, dass die Plätze in der Stadt mit Weihnachtsbäumen geschmückt werden konnten. An die erste abenteuerlich verlaufende Fahrt erinnert er sich, verschmitzt lächelnd. Der Stalachef, Meinhardt Kothe, war mit dabei. Mit einer Daueraus-nahmegenehmigung für die breite Ladung auf den fünf LKW ging es in die Nähe von Blankenburg. Die stattlichen Fichten wurden geschla-gen und verladen. Das Problem: Die Bäume waren total vereist und die Zweige ließen sich nicht auf drei Meter Breite zusammenbiegen, außerdem betrug die Stammlänge weit mehr als die erlaubten zehn Meter. Sie schliffen während der Fahrt regelrecht die Straße glatt und drehten Verkehrszeichen. Am Pfeifenkrug wurde die Fahrt durch die

4: Logo der Firma

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Polizei erst einmal beendet. Für sie bestand die Tatsache einer uner-laubten Großraumfahrt. Beim Nachmessen stellten sie fest, dass die Äste 5.80 m breit am Ende der Fahrzeuge herausragten. Die Anwei-sung: Keinen Meter weiter! Mit Zurrgurten schließlich versuchten die Männer, die Zweige auf drei Meter Breite zusammenzudrücken. Es gelang nicht. Nach einem Telefonat rückten zwei Streifenwagen mit Blaulicht an. Es war ein farbenfrohes Bild, was sich Autofahrern bot. Blaulicht vor und hinter dem Konvoi, dazu die orangefarbenen Leuch-ten auf den Lkw. Am nächsten Tag standen die Fichten pünktlich auf ihren Plätzen in der Stadt. Die Gegenwart sieht so aus, „dass Kran und Lkw gesittet über die Bühne gehen“, weil nur Spenden-Bäume aus Vorgärten transportiert werden müssen.In Halberstadt ist Martin fest verwurzelt. 1985/86 begann er trotz aku-ter Baustoff-Versorgungsmängel seine Vorstellungen vom Eigenheim zu verwirklichen. Seit der Fertigstellung des Hauses in der Sargstedter Siedlung lebt er dort mit seiner Familie. In die gleiche Zeit fällt die Ab-schlussprüfung seines Studiums, das Berufsleben musste weiterge-hen und sein Sohn Andreas wurde geboren. Diese Mehrbelastungen blieben nicht ohne Folgen für seine Gesundheit. Aber trotz Lähmungs-erscheinungen, er gab nicht auf. Das hübsche Haus in der Siedlung wurde zum Ruhepunkt. Dennoch das Rosenschlösschen mit der ersten eigenen Wohnung liebten er und Silvia sehr. So war es nicht verwunderlich, dass Martin mit dem Ge-danken spielte, das unter Denkmalschutz stehende Fachwerkgebäude zu erwerben. In dem Gebäude hatte im 19. Jahrhundert rund dreißig Jahre lang der Maler Carl Hasenpflug gelebt. Eine Tafel neben der La-dentür erinnert heute an den Künstler.Immer wieder sagte Martin zu seiner Frau: „Du wirst es erleben, irgend-wann kaufe ich dieses Haus.“ Und das tat er. Nach den aufwändigen Sanierungsarbeiten, Querelen mit der Stadt und dem Denkmalschutz, bezogen Mieter die Wohnungen, und Silvia richtete im Untergeschoss eine Weinhandlung ein. Andere Vorstellungen wie eine Töpferei oder einen Naturkostladen ließ man fallen. Um solch einen Weinhandel zu betreiben, sind gründliche Kenntnisse notwendig. Also begann ein langjähriger Lernprozess. Hilfreich erwies sich der enge Kontakt zum DWI – Deutsches Wein Institut in Mainz. Dort erwarben die beiden in Seminaren Sachkenntnisse über Wein, dessen Anbaugebiete, Ver-marktung, Geschäftsstrategien und vieles mehr. Der Urlaub wurde für praktische Erfahrungen durch Reisen in Weinanbaugebiete genutzt. Martin hält sich fit durch Laufen. Diesen Anstrengungen unterwirft er

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sich heute noch täglich vor Arbeitsbeginn. Er scheute sich nicht, mehr-mals an der „längsten Weinprobe der Welt“ teilzunehmen. Sie ist ein Marathonlauf mit kostümierten Sportlern. Der Lauf führt durch die Me-docregion in Frankreich. In die Freude kurz vor der Geschäftseröffnung fiel ein Wermutstropfen, denn gerade hatte sich eine kleine Weinhandlung am Johannesbrun-nen etabliert. Doch diese hatte nicht lange Bestand. Seit dem 20. März 1998 ist Silvia Schäfer Besitzerin des Spezialgeschäftes und wird lie-bevoll von ihrem Mann „Prinzessin vom Rosenschlösschen“ genannt.Rückblickend auf die vergangenen Jahrzehnte, fällt Martins nicht nach-lassendes Engagement für die Stadt auf. Viele Ereignisse im Stadtge-schehen wurden von ihm mitgetragen und sind in unserer schnellle-bigen Zeit schon fast vergessen. Als in den Wochen vor und nach dem Glockenguss der Domina auf dem Domplatz unserer Stadt ein Inter-view mit ihm geführt wurde, meinte er „als Halberstädter sich daran zu beteiligen, ist nicht nur etwas Besonderes, sondern auch eine Ver-pflichtung“. Diese Bereitschaft, sich immer wieder für Belange seiner Stadt einzusetzen, wird an unzähligen Beispielen deutlich. Hier eine kleine Auswahl: 1991: Hilfe bei Aktion des MDR-Fernsehens „Jetzt oder nie“ – Aufbau der Wehrstedter Kirche. August 1998: Fialen werden aufs neue Rathaus gesetzt.September 1999: Der Glockenguss auf dem Domplatz, mit Dr. Vol-ker Lind-Statiker, Schäfer Krantechnik liefert das Equipment und Dr. Harald Hausmann ist der „spiritus rector“.Oktober 1999: Aufzug der Domina in den Südturm des Domes. Martin löst technische Probleme für den Aufzug der Glocke.Oktober 1999: Setzen der drehbaren Natursteinblöcke an der Landes-zentralbank.Hilfe bei Hochwasserkatastrophe durch Füllen von Sandsäcken und deren Transport.Mit Kran Glocken von Martinikirche herunter geholt und nach Restau-rierung wieder hinaufgezogen.Unterstützung bei Bergung der verunglückten Touristen-Straßenbahn.Umsetzung der Kehrbüste im Museumshof.Kran für Rundblicke beim Siedlungsfest der Sargstedter Bürger. Auch als Mitglied des Clubs der Rotarier leistet Martin soziale Arbeit. Mit-glied ist er seit 1996 und war in der Zeit von 2008/09 Präsident von Rotary. Dem Engagement der Rotarier verdankt die Stadt das Stadtmodell hin-ter dem Rathaus. Mit 33 000 Euro eine wahrhaft großartige Spende, die

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zudem noch blinden und sehschwachen Menschen Vorstellungen vom Aussehen Halberstadts vor der Zerstörung am 8. April 1945 vermittelt.In seine Amtszeit fiel die Gründung des Jugendklubs mit Migranten-hintergrund in der Kühlinger Straße. Martin setzt sich immer wieder für die Förderung von Jugendlichen ein, denen er zu der Überzeugung verhelfen möchte, dass sich Lernen stets lohnt. Die Sympathie für das Blasorchester, dem er die Treue hält, zeigt sich in der finanziellen Un-terstützung.Sicher müssen in Zukunft immer wieder unternehmerische Klippen umschifft werden. Aber flexibel, umsichtig und abwägend, wie er bisher

5: Martin Schäfer 2011

sein Unternehmen führte, wird man in Halberstadt den Namen Schäfer Krantechnik auch in Zukunft auf Großgeräten für Bau und Transport lesen können. Für die Stadt wäre es gut, würde das Unternehmen von der nächsten Generation, den Schäfer Söhnen, erfolgreich weiterge-führt.

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Die bauliche Entwicklung in Halberstadt in den Jahren nach der Zerstörung der historischen Bausubstanz am 8. April 1945 bis zum Wieder-aufbau des Stadtzentrums im Vorfeld der Jahrtausendwende (1. Teil)

Von Simone Bliemeister

Mit dem Ende des Krieges und der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 übernahmen die vier Siegermächte die Regierungsgewalt, die durch den alliierten Kontrollrat repräsentiert wurde. Das Gebiet der Stadt Halberstadt wurde laut dem Abkom-men der Konferenz in Jalta bereits im Februar 1945 dem sowjetischen Kontrollrat unterstellt. Am 9. Juni 1945 bildete sich in Berlin die So-wjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD). Sie hatte die Kontrolle über die Verwaltung und bestimmte die politische, soziale, ökonomische und kulturelle Entwicklung in dem besetzten Gebiet.

Der Beginn des Wiederaufbaus in Halberstadt

Am 7. Mai 1945 gab die Antifaschistische Volksfront in Halberstadt erste Grundsätze und Richtlinien zum Wiederaufbau der Stadt heraus. Darin spielten vor allem politische Probleme eine Rolle, die Problema-tik des Wiederaufbaus. Die für viele Menschen primäre Bedeutung der Unterkunft und Lebensmittelversorgung fand keinerlei Erwähnung.Neben dem wirtschaftlichen Aufbau stand die Wiederherstellung von Wohnraum für viele Menschen auf oberster Prioritätsstufe. Erste Planungen und Ideen zum Wiederaufbau fanden sich in den Ak-ten aus der zweiten Hälfte des Jahres 1945. Als Hauptaufgabe wurde der Wohnungsbau definiert. Richtlinien zur Instandsetzung von vor-handenem Wohnraum wurden herausgegeben. Bereits erschlossenes Gelände ohne Bebauung sollte genutzt werden. Hinsichtlich der wei-teren Bebauung nach der Enttrümmerung erhielt der Bereich des Brei-ten Weges eine Favorisierung. Die Perspektiven der Bebauungsarten wurden grob umrissen. „Auch hier sind wir uns klar, daß nur eine ge-wisse Typisierung von Bauelementen einen entsprechenden Baufort-schritt ermöglicht.“ 1

Am 29. Dezember 1945 erließ die Landesverwaltung eine Verordnung zum Wiederaufbau.

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„Die Stadtgemeinde Halberstadt erhält das uneingeschränkte Recht, jedes total zerstörte Grundstück innerhalb des Stadtkreises als Eigen-tum in Anspruch zu nehmen.“ 2

Die hiermit legalisierte Enteignung ebnete den Weg für einen schnellen Wiederaufbau des Zentrums, der trotz dieser radikalen Maßnahme in den kommenden Jahrzehnten nicht genutzt werden sollte. Das wohl größte Problem war der stete Materialmangel.Eine Beteiligung der Bevölkerung am Wiederaufbau erfolgte durch die so genannten Sonntagsaufräumarbeiten.Die Wiederherstellung von Wohnraum erfolgte letztlich in den meisten Fällen in Form der Eigeninitiative. Bis Anfang Juni 1945 konnten so 700 Wohnungen bereitgestellt werden. Man versuchte den Behelfs-bau zu verbieten, da dies einen doppelten Verlust von Material und Arbeitskraft darstellte. Doch für den ersten Friedenswinter wurden Notbauten zugelassen. Bauten auf den Schadensstellen, Ausbau von Dachgeschossen oder auch die Erweiterung und Winterfestmachung von Wohnlauben erhielten eine Legalisierung.Doch vor einem geregeltem Wiederaufbau stand die Problematik der Enttrümmerung.Das Gesetz über die Abräumung von Grundstücken, die einen Kriegs-schaden erlitten hatten, vom 13. Februar 1947, schuf die rechtliche Grundlage für die Enttrümmerung und klärte die Eigentumsproble-matik. Es sollte keine Grundstücksenteignungen geben, doch alle geborgenen Baumaterialien gingen in Gemeindeeigentum über, wenn der Grundstückseigentümer nicht in der Lage war, sein Grundstück selbst zu enttrümmern. Durch die Zerstörung Halberstadts fielen ca. 1 300 000 m3 Trümmermasse an. An drei Stellen der Stadt schuf man Schutthalden, die den nicht mehr zu verwendenden Trümmer-schutt aufnahmen. Eine Verbindung schufen die Verantwortlichen durch die Feldbahn, wo-bei der Fischmarkt als Verschiebebahnhof diente. Aus den Trümmern stellten die zuständigen Stellen Tausende von geputzten und zum Teil ungeputzten Mauersteinen für Bauinteressenten zur Verfügung. Un-brauchbare Ziegelsteinbrocken wurden an zwei Stellen in der Stadt verarbeitet, auf dem ehemaligen Hof der Feuerwehr und zwischen Lichtwerstraße und Paulsstraße in Brecheranlagen zu Ziegelsplitt. Die-ser erhielt seine neue Bestimmung in Fertigbauteilen wie Betondach-ziegeln oder Betongroßformatsteinen.Schon im Herbst gab es einen ersten Wiederaufbauplan. Jedoch mus-sten die Behörden die Umsetzung immer in Abhängigkeit von der Be-

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schaffung von Baumaterialien und Arbeitskräften sehen. 1947 legten sie Bausperrgebiete zur Vermeidung einer Zerstreuung des Wieder-aufbaus auf alle Stadtgebiete und zur Verhinderung unnötiger Bereit-stellung technischer Infrastruktur fest. Eine Bauwirtschaftsverordnung wurde geschaffen. Diese beschränkte den freien Verkauf von Bauma-terialien auf monatlich 20 % des Bestandes der Firmen. Die restlichen 80 % durften nur auf Anweisung der Bauwirtschaftsstelle herausgege-ben werden. Alle Maßnahmen bedurften eines Baufreigabescheines. Bauten der Besatzungsmacht hatten höchste Dringlichkeitsstufe, es folgten Wohnhäuser nach Beschädigungsgrad, Kleineigenheime und Einfamilienhäuser nach Größe. An letzter Stelle standen kulturelle Bau-ten, Sportanlagen und ähnliches. „Da in seiner Struktur noch weitgehend erhalten, wurde das Gebiet zwischen Walter-Rathenau-Straße, Spiegelstraße, Friedensstraße und Friedrich-Ebert-Straße für die Bebauung freigestellt. Dazu gehörte auch die Thomas Münzer Straße. Schon zu dieser Zeit wurde der Ost-teil der Altstadt erstmalig zum Sanierungsgebiet erklärt.“ 3

Am 6. September 1950 erfolgte die Bekanntgabe des Aufbaugesetzes. Die Grundlage hierfür bildeten der Fünfjahrplan 1951 bis 1955 und die „16 Grundsätze des Städtebaus“. Der Schwerpunkt lag im Auf- und Ausbau wichtiger Industriezentren und im Aufbau von 53 ausgewähl-ten Aufbaustädten. Diese wurden nach Dringlichkeit in vier Kategorien eingeteilt. Halberstadt stand auf der vorletzten Dringlichkeitsstufe.Zu diesem Zeitpunkt bot Halberstadt, besonders im Stadtzentrum, immer noch ein Bild der Zerstörung. Der Bereich östlich und südöstlich des Domes war noch weitgehend unbebaut, die enttrümmerten Flächen lagen brach.

1: Perspektivplanung Stadtzentrum Halberstadt, 1952, Städtisches Museum.

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Das Nationale Aufbauwerk

Mit dem Nationalen Aufbauwerk, ab November 1951, und mit dem Beginn in Halberstadt 1952 unter dem Motto „Halberstadt zieht auf Friedenswacht“, sollte die Baubereitschaft der Bevölkerung neu an-gekurbelt werden. Das Nationale Aufbauwerk der DDR war eine in den fünfziger Jahren gestartete „Masseninitiative“ zur freiwilligen, gemein-nützigen und unentgeltlichen Arbeit. Das Zentralkomitee der SED beschloss im November 1951, ab dem 2. Januar 1952 ein Nationales Aufbauwerk zu begründen. Den Beginn stellte der Aufbau der Berliner Stalinallee dar. Diejenigen, die sich an einem Projekt beteiligten, leisteten so genannte Aufbaustunden. Die geleisteten Stunden wurden mit Klebemarken in einer „Einsatzkarte“ dokumentiert. Für die Anzahl der geleisteten Stun-den erhielten die Mitwirkenden eine Anstecknadel und eine Urkunde. Jedes Jahr wurde unter einem bestimmten Thema das Nationale Auf-bauwerk regional beworben und in einer Broschüre alle Leistungen zum Wohle der Volkswirtschaft aufgeführt. Das Nationale Aufbauwerk schlief in den 60er Jahren nach und nach ein, abgelöst durch die „Mach-mit-Bewegung – Schöner unsere Städte und Gemeinden“ und die Volkswirtschaftliche Masseninitiative.Eines der größten Projekte des Nationalem Aufbauwerkes in Halber-stadt war in den Jahren 1954/55 der Aufbau der Gaststätte „Haus des Friedens“ mit Mitteln des Nationales Aufbauwerks und Spenden aus Westdeutschland sowie der Aufbau der Martinikirchtürme. Weiterhin begann mit dem NAW die Lückenschließung im südlich des Zentrums gelegenen Baugebiet. Teile der Friedensstraße, der Thomas-Münzer-Straße und auch der Johann-Sebastian-Bach-Straße konnten wieder aufgebaut werden. Diese Bauten prägte noch die Ziegelbau-weise, zum Teil gab es schon vorgefertigte Elemente für Decken und Dächer.1953 erfolgte die Gründung der Arbeiterwohnungsgenossenschaft, die gerade in diesem Bereich zwischen 1958 und 1960 zahlreiche Woh-nungen erbaute. Die Mitglieder der Genossenschaft hatten die Mög-lichkeit des Erwerbs von finanziellen Anteilen und konnten eigene Ar-beitsleitungen bei der Wiederherstellung von Wohnraum einbringen.

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Typisierung von Bauelementen – Favorisierung des Wohnungsbaus

Durch die Kreisgebietsreform 1952 erhielt Halberstadt den Status einer Kreisstadt im Bezirk Magdeburg. In diesem Zusammenhang erfolgte die Auflösung der Landesplanung der Länder. Die zukünftige Leitung des Wiederaufbaus lag nun in den Händen der örtlichen Staatsgewalt. Noch 1955 gab es für die 53 Aufbaustädte nur 10 bestätigte General-bebauungspläne. Halberstadt gehörte nicht zu diesen 10 Städten. Es existierten verschiedene Teilplanungen, hier vor Ort gab es immer wie-der neue Ideen für die Bebauung des Breiten Weges. Bereits Mitte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts war klar, dass der Bedarf an unbedingt notwendigem Wohnraum mit herkömmlichen Bauweisen nicht gedeckt werden konnte. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik Deutschland entstanden seit Kriegsende bis 1956 3,5 Mio. Wohnungen, in der DDR waren es 700.000. Der Schwerpunkt lag in den ersten Jahren, so auch in Halberstadt, auf der Wiederherstellung von Wohnraum und nicht im Neubau. Anfang April 1955 fand die erste Baukonferenz der DDR un-ter dem Motto „Besser, schneller und billiger bauen“ statt. Typenpro-jekte wurden ausgearbeitet, es erfolgte die Anweisung an die Städte, Bebauungs- und Aufbaupläne zu erstellen. 1955 entwickelten die ört-lichen Organe erstmals einen Flächennutzungsplan für Halberstadt. Die Konzentration auf die Großserienfertigung mit genormten Blöcken und Platten zur schnellstmöglichen Versorgung der Bevölkerung mit dringend benötigtem Wohnraum führte zu einer permanenten Verlage-rung des Baugeschehens außerhalb der Zentren.

Stadtumbau in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts

Besonders mit Beginn der 60er Jahre haben zahlreiche Neuorientie-rungen der allgemeinen Leitbilder der sozialistischen Planung ihren Abschluss in den Leitlinien der Deutschen Bauakademie gefunden. 1965 wurden sie als „Grundsätze der Planung und Gestaltung der Städte der DDR“ veröffentlicht. Die „kompakte Stadt“ rückte in den Vordergrund – die Einbeziehung des Wohnungsbaus in den Zentren galt als neues Ziel.Das Hauptmerkmal war, das das durch industrielle Bauweise gestaltete Wohnviertel zu drei oder vier Seiten offen war, die Versorgungseinrich-tungen eine zentrale Platzfunktion erhielten und durch die Anordnung der Wohnblöcke ein Innenhof entstand, der häufig eine Begrünung erfuhr.

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Einer der Schwer-punkte des Wohnungs-bauprogramms von 1961 in Halberstadt lag im Bereich des Lin-denweges. Die erfolgte ausschließlich in Groß-blockbauweise, deren Anordnung frei geplant werden konnte, da ur-sprüngliche Straßen-züge nicht mehr vor-handen waren. Rudolf Wohlmann, Stadtbau-direktor erklärte 1961: „Es entsteht ein idea-les Wohngebiet, das von einer Ringstraße erschlossen wird. Kein Durchgangsverkehr wird diese Einwohner stören. Sämtliche Häu-ser stehen im Grünen.“ 4

Die Realisierung er-folgte jedoch auf Grund von Unstimmigkeiten bei der Anlage des Grüngürtels bis in den Jahren 1963 und 1967. Die Bebauung der sich anschließenden Kühlinger Straße konnte we-gen fehlender finanzieller und materieller Mittel erst in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts durchgeführt werden. Somit waren bis 1965 von den 1945 zerstörten 8 000 Wohnungen nur 4 600 wiederaufgebaut. Der Wohnungsbau stand auch weiterhin im Mittelpunkt und stellte für die Bürger eine notwendige Lebensgrundlage dar, die es zu schaffen galt. Wartezeiten von mehreren Jahren auf den Erhalt einer Wohnung gehörten zum alltäglichen Leben. Oft erhielten die Einwohner marode und unsanierte Wohnungen, ge-kennzeichnet durch fehlende sanitäre Einrichtungen und teilweise un-beheizbare Räumlichkeiten. Gerade aus diesem Grund sah der Plan der Stadt Halberstadt 1965 neben dem Bau von 60 Wohnungen auch umfangreiche Werterhaltungsmaßnahmen im Altstadtbereich vor, na-türlich begrenzt auf volkseigene Grundstücke. Seither waren die Erhal-

2: Breiter Weg. Planung Wiederaufbau, „Kollektiv“ des Entwurfsbüros für Hochbau Halberstadt unter Leitung von Rudolf Wohlmann, 1959Städtisches Museum Halberstadt

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3: Planung Bebauung Komplex Lindenweg, „Kollektiv“ des Entwurfsbüros für Hochbau Halberstadt unter Leitung von Rudolf Wohlmann, 1960Städtisches Museum Halberstadt

4: Planung Wiederaufbau Kühlingerstraße, „Kollektiv“ des Entwurfsbüros für Hochbau Halberstadt unter Leitung von Rudolf Wohlmann, 1961Städtisches Museum Halberstadt

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tung, Sanierung und die Frage des Abrisses ständiges Thema in der gesamten Städtebauplanung.„1967 gab es in Halberstadt 3 815 Gebäude mit 14 785 Wohnungen. Dem standen ca. 18 000 Haushalte gegenüber. 17,2 % des Wohnraum-bestandes war gut erhalten, 62,2 % wies geringe Schäden auf, 14,7 % hatte schwere Schäden und 5,9 % war praktisch unbrauchbar.“ 5

Die stets herrschende Materialknappheit bedingte eine zentrale Len-kung des Wohnungsbaus. Bis 1970 wurden der Stadt Halberstadt 604 Neubauwohnungen zugesprochen. Ein großer Teil sollte im Rah-men von Baulückenschließungen erfolgen, so in der Otto-Nuschke-Straße, der Klusstraße oder der Eitzstraße. Die dortigen Wohnblöcke konnten bis 1970 fertig gestellt werden und stellten letztmalig eine An-wendung der Blockbauweise in der Stadt dar.Am 1. Juli 1969 begann die Plattenbauweise in Halberstadt mit der Montage des Typs „P Halle“ in der Beckerstraße. Der Wohnkomplex „Hermann Matern“, mit 582 Wohneinheiten, wurde ebenfalls in Plat-tenbauweise des Typs „P Halle“ realisiert. Insbesondere entlang der Richard-Wagner-Straße zeigte sich der Unterschied zwischen den kurzen Blöcken der Blockbauweise und den lang gestreckten Blöcken der Plattenbauweise mit Flachdach. 1973 konnte der „Hermann-Ma-tern-Ring“ fertig gestellt werden.

Im Jahre 1971 proklamierte die SED Führung ein neues Ziel. Auf dem VIII. Parteitag formuliert, sollte eine Reduzierung der Zentrumsbebau-ung zugunsten des Wohnungsbaus erfolgen, obwohl in Halberstadt die Situation in keiner Hinsicht das Zentrum favorisiert hatte. Die Förde-rung des Eigenheimbaus, bisher mehr ein Randthema, da das private Eigentum nicht als Ziel der entwickelten sozialistischen Gesellschaft galt, trat in den Vordergrund. Damit bestand keine Chance für eine schnelle Wiedererrichtung des Halberstädter Stadtzentrums, obwohl auch in den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts Planungsent-würfe existierten.

Die Bebauungskonzeption rund um das Halberstädter Stadtzentrum sah für 1968 Folgendes vor: - Kühlingerstraße in überwiegend 5- und 8-geschossiger Bauweise- Schwanebecker Straße als Gruppe 10-geschossiger Punkthäuser- Heineplatz mit konzentrierten 13- bis 17-geschossigen Blöcken- Walter-Rathenau-Straße ein 13-geschossiges Hochhaus als Verbin-

dung zum zentralen Platz

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- Paulsplan vorzugsweise 5-geschossige Bebauung mit 10-geschos-sigen Punkthäusern 6

Grundlage bildete der „WBS 70“, eine Großplattenbauweise für vier- bis elfgeschossige Häuser und auch für Gemeinschaftseinrichtungen. Die Besonderheit lag in der Vereinheitlichung der Bauelemente. So konnten beliebige Teile zu verschiedenen Bauten kombiniert werden. In der Praxis beschränkte sich diese Möglichkeit durch die immer vor-herrschende Materialknappheit.

Ein nahe am Zentrum gelegenes Wohngebiet aus dieser Bauplanung von 1968 sollte mit 464 Wohneinheiten mit angegliederter Schule, ei-ner Kaufhalle, einer Sporthalle und einer Schwimmhalle entstehen. Geplant waren Punkthochhäuser mit zehn Stockwerken, die übrigen Wohnhäuser sollten fünf Stockwerke erhalten, errichtet unter dem Na-men Clara-Zetkin-Ring.Ein Problem gab es durch die noch vorhandene Ruine der Paulskir-che, da sich auf diesem Areal das neue Wohngebiet erstrecken sollte.

5: Bauinformationstafel in der Richard-Wagner-Straße zur Bebauung des Wilhelm-Pieck-Ring, 1975 Städtisches Museum Halberstadt

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Trotz massiver Proteste erfolgte die Sprengung. Zudem mussten dort ansässige Betriebe umgesiedelt werden und 92 Ersatzwohnungen be-reitgestellt werden.

Der Großteil der Betriebe finanzierte die Umverlegung aus eigenen Mitteln. Die meist privaten Grundstücke wurden von staatlicher Seite erworben. Die Quellen vermerken hierzu: „Bei der Wertschätzung von Baulichkeiten durch den Dipl. Ing. Becker, welcher die offiziellen Wer-termittlungen seitens der Stadt durchführte, sind die Besitzer erst dann über den Wert zu unterrichten, wenn eine Bestätigung von der Ab-teilung Finanzen vorliegt. Werden bei der Überprüfung durch die Ab-teilung Finanzen Unstimmigkeiten festgestellt, dann wird Herr Becker von dieser Stelle beauftragt, seine Taxurkunde dementsprechend zu ändern.“ 7 Der Verkauf realisierte sich als Enteignung gegen Entschä-digung. Hinzu kam, dass alle auf den Grundstücken liegenden Lasten von den Grundstückseigentümern selbst getilgt werden mussten.Bei mehrfachen Änderungen der Bauplanung ersetzte man die zehnge-schossigen Blöcke durch eine fünfetagig gestaffelte Bebauung entlang der Schuhstraße. Der Hauptgrund der Umplanung war keine Frage des ästhetischen Empfindens, vielmehr konnte notwendiges Baumaterial, die vorgefertigten Normteile für die „Hochhäuser“, nicht geliefert wer-den. Zudem standen die Planer vor der Problematik des starken Ge-ländeabfalls innerhalb der zu bebauenden Fläche in Richtung Norden in diesem Stadtbereich.Auf dem zu beräumenden Areal war eines der wichtigsten Machtin-strumente des Staates der DDR auf lokaler Ebene untergebracht, eine Abteilung des Ministeriums für Staatssicherheit. Da kein geeig-netes anderes Gebäude gefunden werden konnte, erfolgte eine Um-planung des gesamten Baugebietes. Die Verlegung der Schulen und des Sportplatzes waren das Ergebnis. Aus Kostengründen musste die Schwimmhalle entfallen. Ab 1974 begann die Realisierung, der „Clara-Zetkin-Ring“ entstand.

Den 1972 geplanten Komplex „Wilhelm Pieck“, in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs, verwirklichte die Stadt noch in der Plattenbauweise des Typs „P Halle“. 2 089 Wohnungen entstanden.Vorerst sollte diese Bebauung die letzte ihrer Art auf der so genannten „Grünen Wiese“ darstellen. Es hatte sich gezeigt, dass sich speziell die Versorgung der Menschen in diesen künstlich geschaffenen Ballungs-gebieten problematisch gestaltete. Einrichtungen, wie zum Beispiel

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Kaufhallen, entstanden grundsätzlich viel später, auch die Arbeitsweg-verlängerungen waren für die dort Wohnenden nicht unkompliziert. Pri-vate Transportmittel gehörten, bei einer Wartezeit von 10 bis 15 Jah-ren auf einen PKW, nicht zur Grundausstattung eines Haushaltes. Von 1971 bis 1980 erhielt Halberstadt 4 387 neue Wohnungen.

Stadtentwicklung in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts

In den letzten Jahren des Bestehens der DDR konzentrierte sich das Baugeschehen, wie im Generalbebauungsplan von 1978 festgelegt, auf die Bereiche der Altstadt und den Wohnungsbau im Zentrum.1982 erfolgte der Ministerratsbeschluss über neue Grundsätze für die sozialistische Entwicklung von Städtebau und Architektur in der DDR. Sie galten als Nachfolger der 16 Grundsätze von 1950, an denen sich die Städtebaupolitik jedoch kaum noch orientierte. Im Grundsatz 3 heißt es: „Das innerstädtische Bauen und die Rekonstruktion haben Vorrang vor anderen Bauvorhaben.“Im Bereich zwischen Lindenweg und der Nordseite Kühlinger Straße gab es zu dieser Zeit noch keine Lückenschließung. Obwohl bereits 1975 Festlegungen für die Bebauung der Karl-Marx-Straße (ab 1991 wieder Kühlinger Straße) und Friedrich-Engels-Straße (Heinrich-Julius Straße), wie diese nun umbenannt hießen, existierten. Vom 18. bis 21. Mai 1976 fand hierzu eine Klausurtagung statt. Erarbeitet wurden zwei Varianten. Dieser Bereich sollte eine Bebauung mit Blöcken aus der Serie „WBS 70“ in 5- bis 6-geschossiger Bauweise, Ladenzonen im Erdgeschoss, entweder unter oder vorgelagert, erhalten. Ebenfalls dis-kutiert wurde eine vorgelagerte zweigeschossige Ladenzone mit be-gehbarer Fläche über den Erdgeschossgeschäften. Zusätzlich plante man im Bereich der Friedrich-Engels-Straße an „ausgewählten Stellen eine siebengeschossige Bebauung aus Elementen des elfgeschos-sigen „WBS 70“, zur „Auflockerung“.“8 Die zweite Variante favorisier-te eine durchgezogene 5- bis 6-geschossige Bebauung mit dem Typ „P Halle“. Die Ladenzone wurde im Erdgeschoss unter- oder vorgela-gert. Dieser Planungsentwurf erhielt den Zuschlag.

1984 begann mit dem ersten Spatenstich die innerstädtische Bebau-ung im Bereich der Karl-Marx-Straße. Mitte der 80er Jahre hielt in der OdF-Straße der Bau der neuesten sozialistischen Errungenschaft – Platz sparende „Punkthäuser“ – ihren

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Einzug. Diese bildeten nun im Bereich der Spiegelstraße und auch an der Kreuzung Schwanebecker Straße den Eingang zum Zentrum.

Zwischen 1982 und 1985 entstand außerhalb der Stadt noch ein wei-teres Wohnviertel, um den immer noch herrschenden Mangel an Wohn-raum zu mindern, der Wohnkomplex Nord, „Ernst-Thälmann-Ring“. Bereits im Generalbebauungsplan von 1978 ausgewiesen, mussten die Planungen zur Baudurchführung 1980 gestoppt werden. Die neu-en Grundsätze für die sozialistische Entwicklung von Städtebau und Architektur in der DDR verlangten eine innerstädtische Bebauung. Die Bebauung wurde jedoch forciert und begann 1982 mit der Begründung der Schaffung von Ersatzwohnraum für den Abriss der Altstadt. Noch 1992, kurz bevor bereits der Rückbau erfolgte, waren die Außenanla-gen in diesem Wohngebiet nicht fertig gestellt.

Die Neugestaltung des inneren Zentrums blieb nach wie vor ungeklärt. Für den Zeitraum der 90er Jahre war eine Bebauung dieses Bereiches nicht mehr vorgesehen.

Quellen:

1 Bauakte Stadtbauamt Nummer 304, 1945 – 1947, Historisches Stadtarchiv Halberstadt.

2 Bauakte Stadtbauamt Nummer 305, 1945 – 1947, Historisches Stadtarchiv Halberstadt.

3 Monika Rycken: Der Wiederaufbau von Halberstadt: Planung und Realisierung des Aufbaus in einer Mittelstadt der ehemaligen DDR – Köln, 1992.

4 ebenda.

5 ebenda.

6 Akte 534, Bebauungskonzeption Stadtzentrum vom 07.02.1969, Historisches Stadtarchiv Halber-stadt.

7 Akte 1293, Historisches Stadtarchiv Halberstadt.

8 Bürgermeisterakte Nummer 826, Bebauung Zentrum 1974-1976, Historisches Stadtarchiv Halber-stadt.

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In Heft 20 „Neuer Familienkundlicher Abend“ schrieb Pastor Dr. Heinrich Kröger aus Soltau über Fritz Reuter (1810 – 1874).Wer sich der Mühe unterzog und „Dat kannst‘ mi glööven“ von Anfang bis zum Ende durchlas, hat sicherlich gestaunt, was man den Menschen, die eigentlich nur Hoch-deutsch sprechen, in Plattdeutsch vermitteln kann.Seit Jahren bemüht sich die Autorin des folgenden Beitrages, Lesern und Zuhörern zu beweisen, dass auch Ostfälisch, das hier in unserer Gegend gesprochen wurde und wird, ein Stück unserer Kultur und wert ist, erhalten zu werden.

Einige Gedanken zum Niederdeutschen

Von Eva Brandt

Wei het in Sassen-Anhalt 179 Museen; wei het in unsen Lanne de „Straße der Romanik“; wei wieset hen op de schön’n ooln Gardens un Parks in unsen Lanne, un wei freut uns, dat Quellenborch (Quedlin-burg) in de Welterbe-Liste steiht. Wei seuket in Archive un oole Körchenbäuker Nam’ns un Tahln ruut, dee uns wat öwwer unse Ahnen vertellt, weil we wetten willt, wo wei herkomet, wer de Namens un dit oder dat Gen wiederejeben hat.Wei freut uns, wenn we mit’n Male festestellt, dat einder von unse Vor-fahrn sogar in’n Brockhuus steiht, weil hei en klauken Minschen ewest is un wat ruutfinne, wat vorher nich dawest is. En Stücke von unse Jeschichte un von unse Kultur steiht vor uns. Un wer wett, wie all düsse Lüü vor unse Tiet esprooken het?Ook de Sprache is en Stücke Kultur, um dee man sick kümmern mot!Ehr sick dat Hochdütsche as de „einheitliche Schriftsprache“ dorch-sette, het de Minschen in öhre Mundart esprooken. Mit Mundart fänge alles an, man kann sejjen, so vor 1500 Jahr.De meisten Lüü wett, dat Nedderdütsch de Hanse-Sprache ‘west is von Nischninowgorod bet Brügge un von Lübeck bet Bergen. Wer nich nedderdütsch spreeke, konne nich handeln, in wecken Lanne ook üm-mer hei wohne.Nedderdütsch – wei sejjet datau ook Plattdütsch – het de Lüü in ganz Norddütschland esprooken bet run in de Oltmark. (Altmark) [Oltmark]Wo wei lebet, het de Minschen ook Nedderdütsch esprooken. De Ger-manisten sejjet tau unsen Platt „Ostfälisch“. Dat nedderdütsche Wort „plat“ meint: klar, dütlich, so, dat et jedermann versteiht.Man wett, dat Otto de Groote nedderdütsch, romanisch un latinsch spreeken konne. Hei sall et ewest sien, dee taun ersten Male ne Ur-kunne nich in Latinsch schriewen laate. Hei wolle, dat alle Lüü in sien’n

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Lanne öhne verstaht, nich bloot de Klerus. De Schriewers mossten da-rumme in Nedderdütsch schrieben, also in Platt. Eine soone Urkunne hänge in de Uutstellung öwwer Otto den Grooten in Madeborch 2001.Kaiser Otto is tau jeern in Madeborch un Quellenborch ewest. Darum-me kann man denken, dat hei dat Nedderdütsch esprooken hat, uut dat unse Ostfälisch ruutewussen is! (Ob dat so is, wett ick nich.)„Westfalen“ kennt alle Lüü, awer „Ostfalen“ meistens nich. Wie Karl de Groote (siet 800 n. Ch.) rejiere, jaw et en „Gau Ostfalen“ (Astvale) in’n Lanne von de Sassen. Düssen Gau jiwwt et all lange nich mehr. De Name hat sick bloot bie de Germanisten eholn. „Ostfalen“ meint forr dee dat Land von Lüneborch bet an de Grenze nach Hessen bie Hannoversch-Münden un von de Weser bie Hameln bet an de Elbe bie Madeborch. In’n Oberharze jiwwt et en Stücke Land, da sünd de Minschen von Thüringen un vielleicht ook von Sassen ekom’n, wollten arbein in’n Bergbuu un het öhre Spache middebrocht. Da spreeket se noch hüte nich dat ostfälische Platt.Hier in’n Gleimhuuse liet ne Bibel von 1522, eschrem’n in Nedder-dütsch. Also preddije dunne de Paster noch in Platt! Hochdütsch sette sick erst ganz langsam dorch. Man richte sick na dat Dütsch, in dat Lu-ther de Bibel öwwersett harre. Wer wat sien wolle, mosste von düsse Tiet an Hochdütsch spreeken un schrieb’n lehrn. De Paster, de Kanter, de Afftheiker, de Affkate warn de ersten, dee dat konn’n un daaten. Platt esprocken hat bloot noch de Lüü „von neddern Stanne“.Dat sick unse plattdütsche Sprache neben Hochdütsch öwwer lan-ge Tiet eholn hat, wiese dat Dreepen von oole Frünne un Verwandte 1989, wie de Muure efalln is. De ölderen Minschen in Neddersassen sprooken wie dee uut Sassen-Anhalt. In de groote Freude öwwer dat Dreepen un bien Vertelln öwwer de lanke Tiet, dee se sick nich seihn konn’n, het se ofte plattdütsch esprooken un het sick ganz schwinne verstahn un ook desammedaan.Nun jiwwt et en Arbeitskreis „Ostfälisches Platt“, dee en Blaat ruut jiw-wt, de „Ostfalenpost“. Et jiwwt en Ostfälisches Institut in Helmstidde. (Helmstedt) Dat grünne de DEUREGIO 1994. Et jiwwt Ostfalendreepen, un forr alle, dee in ostfälischen Platt schriewet, en Schriewerkring (Au-torenwerkstatt)En Wettbewerb werd alle Jahr wedder uuteschrem’n. De besten Je-schichten werd edrucket un in en Bauk efaat. Bien Lesen in düsse Bäu-ker kann man festestelln, dat ne Sprache lebet un dadorch öwwerall un ümmer en bettchen anders werd mit de Tiet, sogar von ein’n Dorpe taun andern. Sprache schliepet sick emd hier un da en betten anders

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awwe. Strien mot man nich, wat richtich oder falsch is. Et is emd an-ders. De Tauetreckten het wat middebrocht uut öhrn Dorpe. Dat sette sick ofte dorch. Datau kummet, dat de Technik wat ruutefunn’n hat, wat et freuher nich jaw. En Biespeel: Mähen = meihn. Dreschen = döschen. De groote Maschi-ne is also en „Meihdöscher“Awer wat is mit Radio, Telefon, Staubsauger, Fernseher? Manichein-der find’t en Wort daforr. „Quasselstrippe“ forr Telefon geiht nich, denn so sejjt man tau ne Fruu, dee nich stille sien kann. „Huulbessen“ forr Staubsauger? „Kiekschapp“ forr Fernseher? Man kann de nien Wöre nich ‘inplatten‘. Se flütt meistens in Hochdütsch in de oole Sprache rin, so wie in’n neggenteihnten Jahrhunnert Französisch. Man öwwerneh-me dunne de fremm’n Wöre so wie man se höre. Wie de Iesenbahne bie uns anfänge mit Fäuhern, (ab 1872) sejje man Biljett, Kupee, Kon-dukter, Perron, nich Fahrkarte, Abteil, Schaffner, Bahnsteig.Oole Plattspreeker sejjet dat hüte noch. Se sejjet ook: „Biljettautomat.“Weil na’n Krieje de Minschen uut Böhmen, Ost- un Westpreußen in de nie’e Heimat Hochdütsch spreeken mossten – se härre süss keinder verstahn – , un weil ook de Einheimischen mehr Hochdütsch spreeken mossten – die nie’en Nahbers härrn se süss ook nich verstahn – spree-ke balle keinder mehr plattdütsch. Dat ward bloot noch in de Familich esprooken, vor alln mit de öldere Jeneration. Dadorch jung veel von unse oole Sprache verlorn. Dat sall nich sau wiedergahn. Darumme jiwwt et siet 1. Jannewar 1999 de „Europäische Charta für die Regional- un Minderheitensprachen.“ Unse Plattdütsch hört datau. Man dört Platt spreeken wo man will, ook vor Jerichte un in’n Amte. Wer dat nich versteiht, mot sick en Dolmet-scher haln, denn noch jiwwt et Lüü, dee sick in Hochdütsch nich gaut uutdrücken könnt – dee spreeket nu einfach öhrn Diallekt, egal wo. Veele Minschen sünd dat nich mehr, awer et jiwwt noch oole Lüü, dee in en Krankenhuuse sünd oder in en Heim. De denket veel an de ooln Tieten un willt jeern öhre Sprache spreeken. Se is en Stücke Dehuuse un ook en bettchen von öhre Jugendtiet. Dat dört se nu. De Dokter mösste sick – so steiht et in de Charta – drop instelln. De Europäische Charta ward vor alln opestellt, weil man dat Oole fe-steholn will. In Kindergaardens sall dat losgahn mit Plattspreeken, in Radio un Fernsehn sall Platt de hörn un de seihn sien. Awer: Wer se nich sprickt, kann ne Sprache nich lehrn. Hörn alleene recket nich uut. Veele Lüü sünd et nich mehr, dee alle Daa Plattdütsch spreeket. Dee sallt de Sprache wieder jeb’n. Ne Menge Minschen

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könnt Platt noch verstahn un wett, dat de Sprache tau unse oole Kul-tur tauhört, un se willt wat dröwwer wetten. Darumme spreeket Lüü uut den Ostfahlen-Schriewerkring unse Plattdütsch op CD’s un schriewet Jeschichten op in Platt. Dee werd awwedrucket in Bäuker un in unse Bläder. De Wöre in giene Jeschichten schriwwt jeder so, wie de Leser düsse Wöre uutspreeken sall. Dadorch schriwwt de eine so, de andere datselbe Wort anders. Et jiwwt nämlich kein’n Duden forr Platt, et jiwwt bloot Henwiese, dat en Schriewer sick so dichte wie et geiht an dat Hochdütsche holn sall. Enz Leser, dee dat Platt nich uut’n ff kennt, sall ne Hilpe krien.Ick will en Biespeel jewen: „fäuhern“ für „fahren“ wörre de Form, dee Hilpe jiwwt. Deu man „feuern“ schrieben. Liet dat tau dichte bie hoch-dütsch „Feuer“. Platt is dat „Füer“, un heizen, also dat Verb tau „Feu-er“, wörre „feuern“. Dat hett awer in Platt „inbeuten“. „Fäuhern“ bedütt „fahren“. Also mösste dat H un dat A in düssen Worte sien. Ofte sejjet mick Lüü, dat se sick erst inlesen mossten, wenn se sick wat Plattdütsches vorenohm’n het. Laut lesen hilpet. So süht man dat Wort un hört et ook. Dabie bliwwt wat hängen, un ganz balle kann man schwinder lesen, weil de Oon dat Wort all mal eseihn het, de Grips et all kennt, un de Minsch kann de Je-schichte schwinder begriepen. Dümmer wird man op kein’n Fall, wenn man sick mit Plattdütsch befaat. De dütschen Baukstaben mosste man ja ook lehrn, ehr man de ooln Breiwe oder Testamente lesen konne. Versteiht man Plattdütsch, wett man ook noch, wat oole Wöre bedütt, dee de Vorfahrn opeschrem’n het un dee man hüte nich mehr kennt.Wilhelm Schrader, en Schaulmester uut Emmerstidde, sette sick veel forr unse Plattdütsch in un sejje ümmer:„Anfängen un nich naalaaten.“Dat sejje ick nu ook, un ick wünsche mick, dat so manichein der anfän-get, sick mit unse olle Sprache befaat – un denn nich naalett!

Literaturhinweise

Ausstellung Otto der Große / Magdeburg und Europa

im Kulturhistorischen Museum Magdeburg, 2001

Sachsen-Anhalt, Journal für Natur und Heimatfreunde 2/2005 S. 8-11

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Nachruf

Martin Bluhm

Von Udo Mammen

Als wir am 30. Januar 2011 von dem schweren Zugunglück von Hordorf hörten, bei dem es zehn Tote gab, fragten wir uns bang: Wird jemand da-runter sein, den wir kennen?Bald hatten wir Gewissheit: Einer der tödlich Verunglückten ist Martin Bluhm, den wir durch seine Teilnahme an vielen Veranstaltungen des Gleimhauses kannten.

Was wissen wir von ihm?Martin Bluhm wurde am 22. November 1936 in Magdeburg als Sohn eines Malers und Tischlers gebo-ren. Bald nach Kriegsbeginn wurde der Vater eingezogen, und aus Sorge wegen der Bombenangriffe auf deutsche Städte wurden der kleine Martin und sein jüngerer Bruder Horst nach dem etwa 50 km entfernten kleinen Dorf Zerben gebracht, wo beide bei einer Tan-te Aufnahme erfuhren und zusammen mit einigen Cousins aufwuchsen. Als der Krieg zu Ende war, kehrten die beiden Jungen zu ihrer Mutter in das zerstörte Magdeburg zurück. Nach einer Lehre als Speditionskauf-mann verließ der neunzehnjährige Martin 1955 gemeinsam mit einem Freund die Stadt, ging, wie man damals sagte „in den Westen“, in den Raum Stuttgart, wo er später seine Frau Marianne kennen lernte, die er im April 1968 heiratete. Die Anfänge im Westen waren recht schwierig. Jeder Pfennig musste mehrmals umgedreht werden. Martin Bluhm war verantwortlich im Lagerwesen tätig. Eine zeitlang arbeitete er in Düssel-dorf, wo ihm jedoch die Mentalität der Menschen nicht zusagte, wes-halb er sich nach Stuttgart zurückversetzen ließ und bei der Firma AEG-Telefunken solange beschäftigt war, bis der Betrieb in Konkurs ging.

Mit knapp 50 Jahren musste er sich nach kurzer Arbeitslosigkeit neu orientieren. Ein Umzug in den Nordschwarzwald war die Folge. Bis zu

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seinem Ruhestand war er in der Firma Arburg (Kunststoffspritzguß) tätig.Den Kontakt zu seinen Verwandten und Freunden im Osten Deutsch-lands hat er all die Jahre immer gepflegt. Diese Beziehungen und auch seine angegriffene Gesundheit, bedingt durch das raue Klima im Schwarzwald, führten dazu, dass er sich einen lang gehegten Traum erfüllte: Mit seiner Frau kehrte er, nachdem er Ruheständler geworden war, 2001 in seine alte Heimat zurück. Magdeburg allerdings erschien beiden wegen der Größe der Stadt nicht das Richtige zu sein. Sie ent-schieden sich für Halberstadt wegen der kulturellen Vielfalt, die hier zu finden ist: das Theater, die Musik, die Museen, das kirchliche Leben, ein Kreis von Menschen, mit denen man sich schnell wegen der ge-meinsamen Interessen verbunden fühlte. Wir sahen ihn bei vielen Veranstaltungen im Gleimhaus, besonders gerne kam er mit seiner Frau zu den Vorträgen des Neuen Familien-kundlichen Abends. Und meist fanden wir ihn schon lange vor Beginn im Lesesaal des Gleimhause sitzen, um dort in der neusten ZEIT zu lesen. Wissbegierig wollte er das entdecken, was er noch nicht kannte, so erlebten wir ihn nachfragend bei den Exkursionen. Dem Neuen auf-geschlossen, kommunizierte er auch im Internet und unternahm man-che Reise mit seiner Frau zu Verwandten, aber auch zu besonderen Ereignissen, wie z. B. zur „Grünen Woche“ in Berlin. Da sich seine Frau nicht so sehr für sportliche Veranstaltungen interessierte, besuchte er die mit Freunden oder auch mit Verwandten. So auch am 29. Januar 2011, an dem ein Wasserballspiel in Magdeburg stattfand. Am Abend fuhr er mit dem Zug nach Halberstadt zurück und sagte seiner Frau, er habe einen guten Platz ganz vorne gefunden und werde gegen halb elf zurück zu Hause sein.Als er um halb zwölf immer noch nicht daheim war, wurde Marianne Bluhm unruhig. Sie rief bei der Bahn an, wo man ihr von einem Unfall berichtete, ohne dass man Genaueres sagen konnte. In der Nacht zwi-schen 4 und 5 Uhr kam dann die Polizei mit der Notfallseelsorgerin Ina Schnee und brachte die furchtbare und unfassbare Nachricht. Als ich von dem schrecklichen Unglück hörte, dachte ich an das, was Schiller die barmherzigen Brüder im „Wilhelm Tell“ sagen lässt: „Rasch tritt der Tod den Menschen an. Es ist ihm keine Frist gegeben. Es stürzt ihn mitten in der Bahn. Es reißt ihn fort vom vollen Leben…“Frau Marianne Bluhm sagte mir: „Ich werde mich nicht vergraben. Ich werde an vielem weiter teilnehmen, denn das Leben geht weiter.“ Wir, die wir Martin Bluhm ein wenig kennen gelernt haben, werden ihn nicht vergessen.

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Rolf Hillmer

Von Horst Hoffmann

Als Rolf Hillmer von Hamburgs Erstem Bürger-meister Ortwin Runde am 7. Oktober 1999 im Hamburger Rathaus die „Medaille für treue Ar-beit im Dienste des Volkes“ verliehen bekam, war das eine Anerkennung für sein vielfältiges ehren-amtliches Engagement, ist er doch von 1969 bis 1975 für die CDU Abgeordneter im Segeberger Kreistag und von 1970 bis 1973 als Vertreter der neugegründeten Stadt Norderstedt im Deutschen Städtebund gewesen, war außerdem viele Jahre ehrenamtlicher Richter beim Oberverwaltungsgericht in Lüneburg und Schiedsmann in Norderstedt, daneben von 1971 bis 1983 Kirchen-vorsteher und Synodaler des Kirchenkreises Hamburg-Niendorf und schließlich bis Ende der 1990er Jahre noch als Sprecher des dortigen Seniorenrates aktiv. Die genauen Daten haben Harald Richert und Ulf Bollmann zu anderen Anlässen ausführlich zusammengestellt (FGN/ZNF 1993, H. 2, S. 325–326; ZNF 2003, H. 2, S. 35; 1998, H. 1, S. 12). Rolf Hillmer war immer bereit, seine Kraft in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen und Verantwortung zu übernehmen, wenn er gefragt wurde, auch und vor allem bei den Familienforschern: Mit der Mitgliedsnummer 3111 trat er 1948 der „Zentralstelle für Niedersächsische Familienkunde“ bei, die ab 1963 als „Genealogischen Gesellschaft“ weitergeführt wurde, und gehörte von 1959 bis 1998 dem Vereinsvorstand an, die letzten 15 Jahre als Vorsitzender. Mit seinem Ausscheiden aus diesem Amt wurde er zum Ehrenvorsitzenden ernannt. Schon 1994 hatte ihm die Arbeitsgemein-schaft genealogischer Verbände mit der Gatterer-Medaille in Silber, ihrer höchsten Auszeichnung, gedankt. 1981 war er als Mitglied in die Famili-enkundliche Kommission für Niedersachsen und Bremen berufen worden und war ihr 2. Vorsitzender von 1990 bis zu ihrer Auflösung 1996. Auch für die Kärrnerarbeit war er sich nie zu schade, hat von 1985 bis 1995 die Schriftleitung der Zeitschrift für Niederdeutsche Familienkunde (ZNF) übernommen, Bibliotheksdienst gemacht und in all den Jahren wohl mehrere tausend Anfragen von Familienforschern schriftlich beantwortet. Geboren wurde Rolf Eberhard Hillmer am 14. April 1923 in Hamburg als ältestes von vier Kindern des späteren stellvertretenden Direktors der Sparcasse von 1984, Walter Hillmer, und dessen Ehefrau Ruth, geb. Glage. Bis zur Versetzung in die Oberstufe 1940 besuchte er die

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Gelehrtenschule des Hamburger Johanneums, anschließend absol-vierte er ein Praktikum als Bildberichterstatter, bevor er von 1941 bis 1945 an der Ostfront kämpfte und dort schwer verwundet wurde. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft holte er die ab-gebrochene Berufsausbildung nach, schloss eine Maurerlehre ab, machte die Meisterprüfung und erlangte durch Abendschulunterricht die Fachschulreife. Sein Hochbauingenieurstudium an der Technischen Abendfachschule der Bauschule der Freien und Hansestadt Hamburg schloss er im Wintersemester 1951/52 erfolgreich ab. Ab 1967 Inge-nieur (grad.), wurde ihm 1982 der akademische Grad des Dipl.-Ing. verliehen. Von 1963 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 1983 ar-beitete er als Abteilungsleiter bei einer überregionalen Wohnungs-baugesellschaft und war deren freier Mitarbeiter noch bis Ende 1990. Als leidenschaftlicher Familienforscher beschäftigte er sich schon früh mit der Genealogie seiner Familie, die sich väterlicherseits bis auf Hans Lütgen Hylmer, 1558 Hauswirt in Räber bei Suderburg, zurückführen lässt. So wurde die Heimat- und Familiengeschichte im Landkreis Uel-zen neben der der Adels- und Bürgerfamilien in Ostpommern zu seinem bevorzugten Forschungsschwerpunkt. Rolf Hillmer war ein akribischer Forscher, der im Zweifelsfall jedes einzelne Datum nachwies, dabei aber nie die größeren Zusammenhänge aus dem Blick verlor. Das führte fol-gerichtig zu zahlreichen Publikationen, eine 1996 veröffentlichte Biblio-graphie (= Uelzener Bibliographien 3) zählt mehr als 100 Titel aus seiner Feder, darunter wohl seine Hauptwerke, die „Geschichte der Gemeinde Suderburg“ 1986 und die „Geschichte der Gemeinde Eimke“ 1993. Spä-ter sind weitere Aufsätze und kleine Broschüren hinzugekommen. Ich erinnere mich gerne an die Zusammenarbeit mit ihm bei seiner Eimker Chronik, die ich als Redakteur begleiten durfte, an die Aktivitäten in der Familienkundlichen Kommission sowie vor allem an die Jahre 1994/95, als bei gemeinsamen Sitzungen der Umbruch für die Zeitschrift für Nie-derdeutsche Familienkunde entstand, die bis 2000 in C. Beckers Buch-druckerei in Uelzen hergestellt wurde. Der Tod seiner Frau Anna Maria 2005 erschütterte Rolf Hillmer mehr, als er sich eingestehen mochte, eine Demenzerkrankung zwang ihn im Spätsommer des vergangenen Jahres, sich in die Obhut einer Norderstedter Pflegeeinrichtung zu be-geben. Nun ist er, der sich bleibende Verdienste um die Familienkunde in Norddeutschland erworben hat, wenige Wochen vor Vollendung seines 88. Lebensjahres, am 24. Februar 2011 nach kurzem Krankenlager im Hamburger Heidberg-Krankenhaus verstorben. Eine Urnenbeisetzung hat in aller Stille stattgefunden.

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Exlibris Gerhard Vilmar, Kassel Sammlung Udo Mammen

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Neuer Familienkundlicher Abend 2011

12.1.2011 Werner Hartmann: Halberstadt und die Halberstädter unterm Hakenkreuz 1933 – 1945

09.2.2011 Festveranstaltung zum 300. Geburtstag von Ernst Ludwig Christoph Freiherr von Spiegel zum Diesenberg, Kooperationsveranstaltung mit dem Städtischen Museum

09.03.2011 Bernd Wolff: Goethe-Orte im Harz. Die Würde der Steine

13.04.2011 Dr. Reinhard E. Schielicke: Halberstädter Familienge-schichten mit astronomischen Zutaten

11.05.2011 Prof. Dr. Lutz Wille: Andreas Werckmeister. Genealogische, musikalische und zeitgeschichtliche Aspekte

08.06.2011 Arno Baxmann: Exkursion zur Konradsburg und nach Ermsleben

14.09.2011 Das merkwürdige Leben der Jenny von Gustedt. Sze-nisches Spiel und Musik mit dem Ensemble Theatrum Hohenerxleben

12.10.2011 Prof. Dr. Rainer O. Neugebauer: Arno Schmidt. Leben und Werk

09.11.2011 Christof Hallegger: Warum ist der Domplatz schön?

14.12.2011 Hanns H. F. Schmidt: Musikalisch-Literarisches Programm

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Jahrgang 2012 · Heft 21

Familienkundliche Arbeitsgemeinschaftim Förderkreis Gleimhaus e.V.

Förderkreis Gleimhaus e.V.

Domplatz 31 Telefon 03941 / 6871-038820 Halberstadt Telefax 03941 / 6871-40

Internet: www.gleimhaus.de E-Mail: [email protected]

VORSTAND

Ehrenvorsitzender Wolfgang KochVorsitzender Udo MammenStellvertretende Vorsitzende Kerstin LangerSchatzmeisterin Dr. Ingeburg StoyanSchriftführerin Rosemarie Schaumbergweitere Vorstandsmitglieder Marita Spiller Jürgen JülingDirektorin des Gleimhauses Dr. Ute Pott

Zurzeit beträgt der jährliche Beitrag

26,– € für persönliche Mitglieder 130,– € für korporative Mitglieder

Bankverbindungen: Harzsparkasse Konto-Nr. 360129137 (BLZ 81052000)

Vereinigte Volksbank e. G. Konto-Nr. 6251420 (BLZ 27893215)

Der Förderkreis Gleimhaus e. V. ist unter der Nummer VR 241 in das Vereinsregister beim Amtsgericht Stendal eingetragen und durch Freistellungsbescheid des Finanzamtes Halberstadt vom 26.06.2009 als gemeinnützigen Zwecken dienend anerkannt worden. Spenden für den Förderkreis sind bei der Einkommensteuer und der Körperschaftssteuer abzugsfähig.

ISSN 1434-6281

Die 1848 abgebrochene alte St. Johanniskirche in Bennungen,in welcher Christian Werckmeister die Orgel gespielt hat

und Andreas Werckmeister von ihm im Orgelspiel unterrichtet wurde (Zeichnung von Carl Gebser aus dem Jahre 1897; Archiv und Repro. H. Noack)

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