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Dr. Hermann Hartfeld: Freikirchliche Märtyrer in der ehemaligen Sowjetunion – Vortrag am 13.02.2008 um 19.30 Uhr in EFG Hameln Einführung in das Thema 1982 starb der russische Jurist und Schriftsteller Warlam Schalamow in einer Moskauer Nervenklinik. Schalamow verbrachte aus politischen Gründen ab 1929 drei Jahre und zwischen 1937 und 1954 siebzehn Jahre im sowjetischen GULAG und in der Verbannung. In dem essayistischen Schlusstext des Bandes, „Was ich im Lager gesehen und erkannt habe“, schreibt Schalamow über die außerordentliche Fragilität der menschlichen Kultur und Zivilisation mit Blick auf seine Erfahrungen im sowjetischen GULAG: „Der Mensch wurde innerhalb von drei Wochen zur Bestie – unter Schwerarbeit, Kälte, Hunger und Schlägen.“ Er, der Sohn eines Geistlichen, hebt in demselben Text hervor: „Ich habe gesehen, dass die einzige Gruppe von Menschen, die sich auch nur ein wenig menschlich benahm trotz Hunger und Verhöhnung – die Religiösen sind.“ 1 Aleksander Solschenizyn hat für seinen Lagerroman „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ 1970 den Literaturnobelpreis erhalten. 2 Dieser Roman wurde 1962 unter der Protektion Chruschtschows in der Zeitschrift „Nowy Mir“ veröffentlicht und sorgte für großes Aufsehen. 3 Ich kann mich gut daran erinnern, dass ich 1963 sein Buch in der Straflagerbibliothek mit der Nr. 154/57 erhielt und in wenigen Stunden „verschlungen“ hatte. Denn in diesem Buch beschrieb der Autor so realistisch auch unsere Situation im Straflager 154/57, dass wir als Sträflinge uns mit den Erfahrungen des Romanhelden total 1 Ulrich Schacht: „Menschliche Schlacke. Der russische Schriftsteller Warlam Schalamow erzählt von den Erniedrigungen in den Lagern Stalins.“ In: Focus . Nr. 1/31. Dezember 2007, S. 52f. 2 Siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Ein_Tag_im_Leben_des_Iwan_Denissowitsch Stand: 31.02.08. 3 Vgl. http://www.mittelschulvorbereitung.ch/content/msvDE/T83IwanDenissowitsch.pd f . Stand: 12.02.2008. 1 Abbildung 1 Warlam Schalamow Abbildung 2. Das Buch “Ein Tag im Leben..”

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Dr. Hermann Hartfeld: Freikirchliche Märtyrer in der ehemaligen Sowjetunion – Vortrag am 13.02.2008 um 19.30 Uhr in EFG Hameln

Einführung in das Thema

1982 starb der russische Jurist und Schriftsteller Warlam Schalamow in einer Moskauer Nervenklinik. Schalamow verbrachte aus politischen Gründen ab 1929 drei Jahre und zwischen 1937 und 1954 siebzehn Jahre im sowjetischen GULAG und in der Verbannung. In dem essayistischen Schlusstext des Bandes, „Was ich im Lager gesehen und erkannt habe“, schreibt Schalamow über die außerordentliche Fragilität der menschlichen Kultur und Zivilisation mit Blick auf seine Erfahrungen im sowjetischen GULAG: „Der Mensch wurde innerhalb von drei Wochen zur Bestie – unter Schwerarbeit, Kälte, Hunger und Schlägen.“ Er, der Sohn eines Geistlichen, hebt in demselben Text hervor: „Ich habe gesehen, dass die einzige

Gruppe von Menschen, die sich auch nur ein wenig menschlich benahm trotz Hunger und Verhöhnung – die Religiösen sind.“1

Aleksander Solschenizyn hat für seinen Lagerroman „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ 1970 den Literaturnobelpreis erhalten.2 Dieser Roman wurde 1962 unter der Protektion Chruschtschows in der Zeitschrift „Nowy Mir“ veröffentlicht und sorgte für großes Aufsehen.3 Ich kann mich gut daran erinnern, dass ich 1963 sein Buch in der Straflagerbibliothek mit der Nr.

154/57 erhielt und in wenigen Stunden „verschlungen“ hatte. Denn in diesem Buch beschrieb der Autor so realistisch auch unsere Situation im Straflager 154/57, dass wir als Sträflinge uns

mit den Erfahrungen des Romanhelden total identifizieren konnten. Nach der Ära von Chruschtschow war das Buch nicht mehr in der

Lagerbibliothek erhältlich.4

1970 wurde Solschenizyn aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen und erhielt dennoch den Nobelpreis für Literatur.5 Der Schwerpunkt der Erzählung liegt auf der Interaktion zwischen den einzelnen Häftlingen – Mundfaulen, Ehrlichen, Verlogenen, Drückebergern und aufrechten Arbeitern – sowie auf der Schnittstelle zwischen den Häftlingen und den Wachen, beide zusammengezwängt in ein unmenschliches System. Interessant ist jedoch

auch Solschenizyns Ausführung, dass gerade ein Baptist, ein Freikirchler, das menschliche Benehmen in den Straflagern trotz aller Schikanen gelebt und demonstriert haben soll.6

1 Ulrich Schacht: „Menschliche Schlacke. Der russische Schriftsteller Warlam Schalamow erzählt von den Erniedrigungen in den Lagern Stalins.“ In: Focus. Nr. 1/31. Dezember 2007, S. 52f.

2 Siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Ein_Tag_im_Leben_des_Iwan_Denissowitsch Stand: 31.02.08.

3 Vgl. http://www.mittelschulvorbereitung.ch/content/msvDE/T83IwanDenissowitsch.pdf. Stand: 12.02.2008.

4 Vgl. http://www.referate10.com/referate/Biographien/2/Ein-Tag-im-Leben-des-Iwan-Denissowitsch-reon.php.

5 Siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Issajewitsch_Solschenizyn Stand: 31.02.08.

6 Vgl. Solschenizyn, Alexander: Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, übersetzt von Wilhelm Löser, Theodor Friedrich, Ingeborg Hanelt, Eva-Maria Kunde: Übs. München: DTV, 1974.

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Abbildung 1 Warlam

Schalamow

Abbildung 2. Das Buch “Ein Tag im

Leben..”

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Ich vertrete eine Generation, die nach dem 2. Weltkrieg in der ehemaligen Sowjetunion aufgewachsen ist, zum Glauben an Jesus Christus kam und missionarische Projekte gemeinsam mit anderen Christen unter den Atheisten entworfen hat.7

Die sowjetische Bildung unterschied sich von der deutschen dadurch, dass man zehn Jahre die Schulbank drückte und anschließend sich akademischen Prüfungen unterziehen musste,

die ergaben, ob man geeignet sei, an der eigens am jeweiligen Ort befindlichen Hochschule studieren zu dürfen.8 Siehe da, einige von uns waren doch nicht „so blöd“, wie die atheistischen Kommunisten uns darstellten, und schafften es, ein Hochschulstudium zu beginnen. Nur wenige studierenden Christen durften ihr Abschluss machen. Christliche Akademiker wollte die kommunistische Diktatur nicht haben.9

1. Ein Blick in die Geschichte der Christenverfolgung in der ehemaligen Sowjetunion

Das Religionsgesetz von 1929 und darüber hinaus: die Konsequenzen

1918, nämlich kurz nach der Oktoberrevolution, verfügte Lenin die Trennung von Staat und Kirche. Die Russisch-Orthodoxe Kirche, Freikirchen und andere Religionsgemeinschaften verloren die Rechte einer juristischen Person, v. a. das Recht, Eigentum zu besitzen.10

Gerd Stricker schreibt:

7 Vgl. den Artikel von Josef Glazik, der die christliche Mission der ROK unter den „sowjetischen Heiden“ versucht hat darzustellen: „The Russian-Orthodox Mission among Pagans after 1917“. In: Eastern Europe. 05/1956.

8 Vgl. A. M. Arsen'ev: „International Review of Education“. In: Internationale Zeitschrift für Erziehungswissenschaft / Revue Internationale de l'Education, Bd. 16, Nr. 3, Educational Trends in Socialist Countries / Tendenzen im Erziehungswesen Sozialistischer Lander / Tendances pedagogiques dans les pays socialistes (1970), S. 271-286. Willia Ezeliora: “Sowjetische Schule". PDF-Datei. http://www.sw.fh-koeln.de/Lernwerkstatt/downloads/Kultur/Sowjetische_Schule.pdf.

9 Vgl. Naemi Fast: Antireligiöse Propaganda im Sowjetstaat von der Oktoberrevolution bis zur Kollektivierung. Seminararbeit. Johannes Gutenberg – Universität Mainz. Historisches Seminar, Abteilung für Osteuropäische Geschichte. Wintersemester 2003-04 2004. S. 13-17.

10 http://lexikon.meyers.de/meyers/Russisch-orthodoxe_Kirche Stand: 31.01.2008.2

Abbildung 3 Solschenizyn

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„Der bolschewistische Oktoberputsch von 1917 hat die Bürger Russlands zum Spielball einer menschenverachtenden Doktrin gemacht, der es darum ging, unter dem Deckmantel eines alle beglückenden Kommunismus die Menschen zu austauschbaren, ihrer Individualität beraubten Rädchen der Parteimaschinerie zu machen. Dazu gehörte auch die Verbannung des Glaubens –

der Religiosität. Einen Gottesglauben konnten die bolschewistischen Chefideologen nicht dulden, da er die schärfste Konkurrenz und die größte Gefahr für die Kommunisten bildete. Vor diesem Hintergrund sind allein

unter der Schreckensherrschaft Stalins weit über 20 Millionen Bürger des Landes ermordet worden oder in den berüchtigten Lagerzonen umgekommen (meine Hervorhebung). Stalin übernahm nach der Oktoberrevolution Ämter in der Parteiführung und verstand es, sich immer unentbehrlicher zu machen, z.B. war er seit 1922 „Generalsekretär“ der 1918 gegründeten „Kommunistischen Partei“. Lenin versuchte zwar, Stalin zu entmachten, aber Lenins Tod (21. Januar 1924) ließ es nicht mehr dazu kommen“.11

Bekanntlich galt den Chefideologen des Kommunismus, angefangen mit Lenin, Religion als „Opium für das Volk“. Das gelenkte „Absterben der Religion“ sollte eigentlich ein Nebeneffekt des

wachsenden Wohlstandes der kommunistischen Gesellschaft, sollte in der Theorie mit dem Aufbau der kommunistischen

Gesellschaft Hand in Hand gehen. Unter Stalin hingegen wurde die Vernichtung der Religion zum Selbstzweck, bestenfalls wurde seine Religionspolitik zu einem Instrumentarium seiner

Machtpolitik. Zwischen der sog. Oktoberrevolution und Lenins Tod Anfang 1924 hat zwar die Russische Orthodoxe Kirche, die

Volkskirche, die die

Bolschewiki als einzigen ideologischen Gegner fürchteten, mindestens zehntausend Märtyrer (Bischöfe,

Priester, Mönche, Nonnen, Gemeindeglieder) hervorgebracht, die meist auf bestialische Weise umgebracht worden sind.

11 Gerd Stricker: „Der Stählerne und sein Schreckensregime“. In: Evangelische Nachrichtenagentur idea. Freitag 7. März 2003, 13:30 PST.

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Abbildung 5. Baptistenkongress im Jahre 1917

Abbildung 6 Russisch-Orthodoxe Kirche

Abbildung 4: "Religion ist Opium

für das Volk"

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Aber es handelte sich um keine systematische Aktion – jeder Kommissar, jeder Funktionär führte seinen Privatkrieg gegen die Geistlichkeit. Lenin erfand auch die Schauprozesse, in

denen hochstehende Geistliche – wie der Petrograder Metropolit Weniamin (Kasanski) 1922 – zum Tode verurteilt und standrechtlich erschossen wurde.12 In diesem Zusammenhang hatte Lenin 1921 geschrieben: „Je größer die Zahl von Vertretern der Großbourgeoisie und der Geistlichkeit ist, die wir … erschießen können, desto besser. Gerade jetzt muss diesen Leuten eine Lektion erteilt werden, dass sie auf Jahrzehnte nicht wagen, an Widerstand auch nur zu denken.“ Lenin versuchte die Kirchen eher dadurch zu schwächen, dass er Spaltungen in sie hineintrug (Orthodoxe,

Lutheraner). Zugleich erhielten Mennoniten, Baptisten und Adventisten die Möglichkeit der Wehrdienstverweigerung

aus religiösen Gründen: Lenin hielt die der Orthodoxie feindlichen Freikirchen für potentielle Verbündete, die denn auch die 1920er Jahre als ihre „goldenen Jahre“ auf russischem Boden empfanden.13

Auf der Internetseite der Baptistenkirche von St. Petersburg wird berichtet, dass man Ende der 20ger Jahre des 20. Jh. 350-400 Tausend Evangeliumschristen und genau soviel Baptisten zählte. Die Kinder und die Kandidaten zur Taufe sind nicht inbegriffen.14

Nach Lenins Tod verschärfte die Staats- und Parteiführung den Kampf gegen die Kirchen der Sowjetunion, weil diese nach wie vor missionarisch erfolgreich tätig waren. Und am 8. April 1929 verabschiedeten das Allrussische zentrale Exekutivkomitee und der Rat der Volkskommissare noch ein stringenteres Gesetz, das vorsah, dass die Freikirchen samt der Russisch-Orthodoxen Kirchen kein Recht besaßen, den den Kirchen entfremdeten Menschen das Evangelium zu predigen und die durch ihre Missionierung entstandenen Kirchen zu registrieren.15 Letztlich befanden sich ab 1929 alle christlichen Kirchen,

12 Vgl. "Delo" mitropolita Veniamina (Petrograd, 1922g.). Moskva 1991 und ALEKSIJ II: DEYaNIE YuBILEJNOGO OS-VYaSchENNOGO ARHIEREJSKOGO SOBORA RUSSKOJ PRAVOSLAVNOJ TsERKVI O SOBORNOM PROSLAVLENII NOVO-MUChENIKOV I ISPOVEDNIKOV ROSSIJSKIH XX VEKA. Moskva, Hram Hrista Spasitelya, 13-16 avgusta 2000 goda.

13 Gerd Stricker: „Der Stählerne und sein Schreckensregime“. In: Evangelische Nachrichtenagentur idea. Freitag 7. März 2003, 13:30 PST.

14 http://baptist.spb.ru/?history/russiaundersoviet Stand: 01-02-2008.

15 Vgl. P. Wiebe und L. Sennikowa: „Der sibirische federale Kreis (Center von Novosibirsk). Religion und Bildung. Die Verfolgten für den Glauben: Über das Schicksal deutscher christlicher Gemeinden von Gebiet Omsk in den Jahren von 1950 bis 1980.“ Auf der russischen Internetseite Rambo.ru: http://www.fo-sibirski.ru/about/clause/119/120711 Stand 14.01.2008.

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Abbildung 8. Baptistenkirche von

St. Petersburg

Abbildung 7. Mitropolit Peter (Poljanskij) in der Verbannung in Sibirien.

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Freikirchen und andere Religionsgemeinschaften der Sowjetunion unter der Domäne der Politischen Hauptverwaltung (Glawnoje Polititscheskoje Uprawlenije, GPU).16

Detlef Brandes schreibt:

„In größerem Umfang als zuvor wurden lutherische Pastoren, katholische Priester, mennonitische Älteste und Lehrer verhaftet, abgeurteilt und verbannt, Kirchen und Bethäuser geschlossen und oft in „Kulturhäuser“ oder Kinos umgewandelt; Sonntagsschulen und religiöse Zeitschriften wurden verboten, Taufen, Trauungen und kirchliche Bestattungen untersagt.“17

Brandes erwähnt in seinem Essay die Baptisten nicht, weil sie nicht zu seinem Thema gehören. Es ist bereits hingewiesen worden, dass die Religion in der ehemaligen Sowjetunion per Dekret Lenins seit 1918 vom Staat getrennt wurde. Die Kirchen durften weder Volks- noch Staatskirchen bleiben. Die Gleichstellung der Russisch-Orthodoxen-, Lutherischen- und Katholischen Kirchen mit den Freikirchen wirkte sich auf das Verhältnis dieser Denominationen zueinander sehr positiv aus. Sie saßen plötzlich in demselben Boot und teilten das gleiche Schicksal. Es wurde ihnen allen ohne Ausnahme gemäß dem Artikel 17 nach dem Religionsgesetz vom 8. April 1929 verwehrt bzw. untersagt, eine, quasi, „Stille Kasse“ für sozial schwache Menschen zu gründen, die eigenen Kirchenmitglieder finanziell zu unterstützen und Kinder-, Teenie-, Frauen- und andere missionarische Gruppen und Versammlungen zu gründen bzw. zu organisieren. Sie durften einander keineswegs im Haushalt helfen, keine gemeinsamen Ausflüge machen; es war verboten, Bibelunterricht zu geben und Bibliotheken zu besitzen; christliche Krankenhäuser, Sanatorien, theologische Ausbildungsstätten und Kollektivwirtschaften durften nicht betrieben werden.18

Diese Religionsgesetzgebung wirkte sich fatal auf alle Konfessionen aus. Christen realisierten es damals kaum, dass gegen sie ein Damoklesschwert gerichtet war. Das Religionsgesetz von 1929 hatte letztlich zum Ziel, die Religionsausübung auf dem gesamten sowjetischen Territorium zum Stillstand zu bringen. Die von Stalin eingesetzte berühmte Troika verurteilte zwischen 1929 und 1941 rund fünfundzwanzigtausend Baptisten, hunderttausende von Russisch-Orthodoxen Priestern und Nonnen; man weiß, dass die lutherischen und katholischen Christen ein ähnliches Schicksal traf, viele Tausende Pfingstler, Mennoniten19, Adventisten und Angehörige anderer Religionsgemeinschaften wurden für die angebliche „antisowjetische Propaganda“ zum Tode bzw. zu 25 Jahren verurteilt und ins Gefängnis gesteckt . Die Baptisten berichten davon, dass von den 25 000 verhafteten Glaubensgenossen nur 3 000 die

Grauen der kommunistischen Gefängnisse überlebten, 22 000 von ihnen kamen ums Leben.20

16 http://de.wikipedia.org/wiki/Glawnoje_Polititscheskoje_Uprawlenije

17 Detlef Brandes: “Von den Verfolgungen im Ersten Weltkrieg bis zur Deportation.“ In: Gerd Stricker (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Russland. Berlin: Siedler Verlag 1997, S. 181.

18 Vgl. Religionsgesetzgebung. Moskau: Rechtswissenschaftliche Literatur 1971, S. 83-97.

19 Vgl. Julia Hildebrandt, Heinrich Klassen und Gerhard Woelk, (Hrsg.) Aber wo sollen wir hin. Briefe von Russlandmennoniten aus den Jahren ihrer Gefangenschaft, Verbannung und Lagerhaft in der Sowjetunion. Frankenthal: Verlag Hirtenstimme, 1998, S. 32-33.

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Abbildung 9. Stalin

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Wie bereits erwähnt setzten bereits unmittelbar nach der Oktoberrevolution blutige Verfolgungen von Geistlichen und Gläubigen ein, die ihre Fortsetzung bis 1940 in zahlreichen Verhaftungen, Repressionen und einer staatlich organisierten Antikirchlichen Propaganda (»Gottlosenbewegung«) fanden. Erst die mit dem deutschen Angriff auf die UdSSR entstandene Situation bewirkte eine Umorientierung der staatlichen Kirchenpolitik, da die russisch-orthodoxe Kirche in der Unterstützung der für die Befreiung der »heiligen russischen Erde« kämpfenden Truppen ihre ureigene Pflicht sah. Einige Repressionen wurden zurückgenommen, 1943 die Wahl eines neuen Patriarchen der ROK gestattet.21

So hat sich seit dieser Zeit die kommunistische Politik zur Glaubensausübung verändert. Denn 1942 war die deutsche Wehrmacht im Begriff, militärische „Erfolge“ auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zu verbuchen. Der moralische Zustand der sowjetischen Soldaten und

Partisanen war miserabel und sie brauchten eine transzendentale Hoffnungsspritze.22 Der ehemalige Theologiestudent Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili23 (nämlich Stalin) muss das realisiert haben.

Er ließ einen Rat für religiöse Angelegenheiten beim Ministerrat gründen.24 Die sowjetischen Funktionäre wurden beauftragt, solche Geistliche aus den kommunistischen Straflagern auf freien Fuß zu setzen, die bereit wären, mit ihnen, wie es hieß zur „Rettung der Kirche“, zu

kooperieren.25 Die aus dem Gefängnis und Straflagern von Kolyma u.a.m. entlassenen baptistischen Geistlichen gründeten den Allunionsrat der Evangeliumschristen- und Baptistengemeinden und integrierten in ihre Reihen die Pfingstchristen (1945) und Mennoniten-Brüder (1963)26. Nach dem Krieg zählte man etwa 5000 Baptistengemeinden, nur ein Drittel von ihnen (1696) wurde registriert.27

Gerd Stricker schreibt:

20 " " (Хроника текущих событий Die Chronik der laufenden Ereignisse, New York: Verlag Chronik, Nr. 35, S. 15), - , a " " ( ), 35, . 15; *(Нью Йорк изд тельство Хроника ХТС с Archiv Samisdat des Radio „Freiheit“, München (AS) Nr.

871, k, S. 32, Band 15) " ", , ( ), № 871, , . 32 ( . 15).Архив Самиздата Радио Свобода Мюнхен АС к с т

21 http://lexikon.meyers.de/meyers/Russisch-orthodoxe_Kirche Stand: 31.01.2008.

22 Vgl. http://www.rian.ru/online/20060622/49902416.html Stand: 01.02.2008.

23 Vgl. http://biographer.ru/biographies/54.html Stand: 01.02.2008.

24 Segej Nikolskij: «Kak w Sowetskom Sojuse potschti postroili “Prawoslawny Vatikan”. Auf der Internetseite: http://ts.omnicom.ru/2006/12/8.html Stand: 01.02.2008.

25 Segej Firsow: „Kompromiss wo imja spasenija zerkwej“. (Ein Kopromiss zur Rettung der Kirche) In: Prawoslawnoje informationnoje Agentstwo. (Russisch-Orthodoxe Informationsagentur). 26. Mai 2004.

26 Vgl. http://works.fio.ru/Volgograd/r2/index8.html#metka6 Stand: 01.02.2008.

27 " ". . (Verdeutscht: Архив Самиздата Радио Свобода Мюнхен Archiv des Samisdat des Radio „Freiheit“ in München). ( ) № 770, . 123; № 771, . 18 ( . 14). Verdeutscht: Band 14, Nr. 770, S. 123; Nr. 771, S. 18.АС с с т

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„Die Pfingstchristen litten von Anfang an unter der ihnen von den Sowjetorganen aufgezwungen Mitgliedschaft im "Allunionsrat der EChB", der ihnen ihre gemeindliche, vor allem aber ihre

spirituelle Freiheit nahm. Viele Pfingstler gingen deshalb in den Untergrund. Der Verfolgung suchte man durch heimliche Wanderungen quer durch die ganze Sowjetunion zu entgehen, andere lenkten durch spektakuläre Auswanderungsgesuche die Weltöffentlichkeit auf ihr Schicksal. Die Spaltung in staatlich anerkannte und die staatliche Anerkennung ablehnende Gemeinden gab es auch unter den Adventisten. Die "Wahren und Freien Adventisten"

stellten sich (wie schon vor dem Krieg) in Gegensatz zu der sowjetkonformen Linie des "Allunionsrats der Adventisten des Siebenten Tages" und versuchten, in Untergrund und

Verfolgung ihre innere Freiheit zu bewahren. Exemplarisch steht das Schicksal des charismatischen Leiters der "Wahren Adventisten", Wladimir Shelkow (1896-1980), der 1978 82jährig im Lager gestorben ist. Während der Perestroika waren die Adventisten die ersten, die ein neues Kirchenzentrum mit theologischem Seminar (bei Tula) errichten konnten“.28

Man darf Stalins Schachzug keineswegs einen geringen Wert beimessen. Die Russisch-Orthodoxe Kirche war immer patriotisch eingestellt gewesen, auch wenn die meisten Geistlichen die atheistisch-kommunistische Ideologie ablehnten. Die Baptisten fühlten sich zwar vom Stalin- genauso wie vom Zarenregime schikaniert und verfolgt, aber es gab wohl kaum eine baptistische Familie, die nicht einen Verwandten im Krieg bereits verloren hatte. Darum beteten alle sowjetischen Christen aus allen möglichen Konfessionen für den Sieg der Roten Armee. Die Mennoniten, häufig auch die Baptisten und Adventisten, weigerten sich zwar, eine Waffe zu tragen29, aber sie waren willens, als Sanitäter und Krankenpfleger in der Roten Armee tätig zu sein, um den verwundeten Soldaten beizustehen und ihnen zu helfen. Der Sieg der Roten Armee über die Nazis Deutschlands war ohne religiösen Beistand der russischen Hierarchen und freikirchlichen Geistlichen wohl kaum möglich gewesen, auch wenn die offizielle Propaganda diese wichtige Information absichtlich verschwiegen und unterschlagen hat und die Geschichtsschreiber ungern oder sogar gar nicht einmal daran denken wollen.30

28 Vgl. jedoch Gerd Stricker: „Russische Freikirchen im Rückblick“. In: Zeitschrift Glaube in der 2. Welt. 13. Januar 2002.

29 http://sda-books.narod.ru/books/001/001-00.htm#_VPID_31 Stand: 01.02.2008.

30 Hier sei verwiesen z.B. auf die Weihnachtsbotschaft des Patriarchen Russlands und Mitropolit vom Gebiet Moskau Sergi ( , . 13 Патриарший местоблюститель Сергий митрополит Московский Ульяновск декабря 1942 ).года

7

Abbildung 10. Ein Bethaus in der Region von Nowosibirsk

http://slds.narod.ru/meetinghouse.html

Abbildung 11: Lobpreisteam: Konferenz der Pfingstgemeinden in der russischen Stadt Vladimir am

05.11.2007

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Die sowjetische Regierung kannte genau das geistliche Potential, das die Kirchen besaßen. Nach dem Krieg wollte man, wie mir KGB-Funktionäre während der Untersuchungshaft gesagt haben, keineswegs zulassen, dass innerhalb des sowjetischen Staatsimperiums die Kirchen den „zweiten Staat“ bzw. eine Parallelgesellschaft darstellen. Die Kirchen sollten nicht nur dem sowjetischen Staat loyal bleiben, sie sollten auch die kommunistische Ideologie sich zu eigen machen. Das vom

Präsidium des obersten Sowjets am 28. März 1961 verabschiedete Gesetz sollte die Kirchen auf subtile Weise ganz unter die Regie des Rates für kirchliche Angelegenheiten stellen, und sie sollten kein Eigentum besitzen.31

Weitgehend unbemerkt von der sowjetischen und internationalen Öffentlichkeit war im Juni 1975 in der Sowjetunion ein neues Religionsgesetz in Kraft getreten, das die grundlegenden Beziehungen zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften ordnete und insofern für

den Bewegungsspielraum der Kirchen in der sowjetischen Gesellschaft und die Alltagswirklichkeit von größter Bedeutung war. Das neue Gesetz war bisher kaum beachtet worden, weil es lediglich im Gesetzblatt der Russischen Unionsrepublik publiziert wurde.32

Die sowjetischen Massenmedien haben es - soweit mir bekannt ist - mit Stillschweigen übergangen.33 Deshalb ist dieser Vorgang auch von den Auslandskorrespondenten in Moskau praktisch nicht verzeichnet worden.34 Was

bedeutete dieses Religionsgesetz für die Christen?

Ich erwähnte bereits, dass nur ein Drittel der etwa 5000 Baptistengemeinden nach dem Krieg staatlich registriert war, und nur sie besaßen ihre eigenen Bethäuser bzw. Kirchengebäude. Der Staat hatte wenig Einblick in das Leben der nichtregistrierten Baptisten-, Mennoniten-, Pfingst- und Adventistengemeinden. Die nichtregistrierten Gemeinden tauften gläubige Teenager (dem Gesetz nach durfte kaum jemand unter 30 Jahren getauft werden), sie führten missionarische Maßnahmen durch und entzogen sich der staatlichen Kontrolle soweit wie nur möglich. Der Allunionsrat der EChB war machtlos gegenüber diesem Phänomen.35

31 http://law-news.ru/cp/c20/page_188.html. 28.03.1961.УКАЗПрезидиума ВС РСФСР от

32Ukaz Prezidiuma Verchovnogo Soveta RSFSR. 0 vnesenii izmenenij i dopolnenij v postanovlenie VCIK i SK RSFSR ot 8 aprelja 1929 goda, “O religioznych objedinenijach", in: Vedomosti Verchonogo Soveta RSFSR, XIX, 1975, Nr. 572, S. 487-491, vom 23. Juni 1975.

33 Bis auf eine Erwähnung in der staatlichen Zeitung: Izvestija, 31.1. 1976.

34 Ausnahmen: Neue Zürcher Zeitung, 19. 11. 1975; Radio Liberty, Referativnyj Bjulleten', Nr. 13, 1. 10. 1975, S. 10.

35 Vgl. Doklad general'nogo sekretarja VSEChB A. V. Kareva 0 žizni i dejatel'nosti Sojuza evangel'skich christian-baptistov v SSSR [Referat des Generalsekretärs des Allunionsrates der Evangeliumschristen-Baptisten (AREChB). A. W. Karew über das Leben und die Tätigkeit des Bundes der Evangeliumschristen-Baptisten in der UdSSR], in: Bratskij vestnik, 6/1966, S. 15-36).

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Abbildung 12. Soldaten der Roten Armee aus dem 2. Weltkrieg

Montag, 02.04.2007

Putin beruft Baptisten in Religionsrat

Moskau. Russlands Präsident Wladimir Putin hat am Samstag den Baptisten Alexander Semtschenko in den präsidialen Rat für die Zusammenarbeit mit religiösen Vereinigungen berufen. Semtschenko arbeitet als Sekretär für Öffentlichkeitsarbeit beim russischen Baptistenverband.

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Der hierarchisch strukturierte Führungsstil des AUREChB war dem staatlichen angepasst und verärgerte viele Christen, die von einer Autonomie der Ortsgemeinden träumten.36

Ein Schisma, eine Spaltung des Baptistenbundes war unvermeidlich und begann bereits 1961 an Intensität zu gewinnen und sollte eine der schlimmsten Christenverfolgungen der 60-er Jahre

unter Chruschtschow auslösen,37

Die Baptisten zählen heute in den GU Staaten 250 000 Mitglieder in 3460 Gemeinden, die staatlich registriert und statistisch erfasst sind und über 1500 Gemeinden bzw. 60 000 nichtregistrierte Baptisten, die immer noch einer Phobie unterliegen, das Blatt nach der Perestroika könnte sich wenden und der Kommunismus eine neue Renaissance mit schrecklichen Folgen für die Christen erleben.38 Nach den Worten des heutigen Präsidenten des russischen Baptistenbundes Jurij Sipko sollen nur 50 % der Baptisten ihre eigenen Gotteshäuser im Besitz haben und 50 % mieten sich für Gottesdienstzwecke irgendwelche Säle von öffentlichen Gebäuden.39

Nikita Chruschtschow hat in seinem Bericht auf dem 22. Parteikongress (17.- 31. Oktober 1961) den Hinweis gemacht, dass das Christentum der schlimmste Feind der kommunistischen Ideologie sei und man alles dran legen müsse, den christlichen Glauben auszurotten. Es wurden 1000 Pfarreien der ROK, 60 Klöster und 5 Theologische Seminare geschlossen. Die Baptisten durften keinen unter 30 Jahren taufen. Der Presbyter war verpflichtet, alle kirchlichen

Veranstaltungen von dem staatlichen Beauftragten für religiöse Kulte genehmigen zu lassen.

„Kanzeltausch“, missionarische Aktivitäten, christliche Kinder-, Jungschar-, Teenie- und Jugendarbeit wurden strengstens untersagt. Nachdem der AUR der EChB sich verpflichtet hatte, diesen Gesetzen Folge zu leisten, kam es zu einem Schisma nicht nur im Baptistenbund, sondern auch in allen anderen Freikirchen. Der autoritäre Führungsstil hat sich unter den Schismatikern absolut nicht verändert.40

36 Die Statuten der Evangeliumschristen und Baptisten betonten stets die Unabhängigkeit der Ortsgemeinden. Sie waren jedoch weit fern von der Praxis und Realität. Vgl. „Ustav Sojuza evangel'skich christian-baptistov v SSSR”, in: Bratskij vestnik. 6/1966, S. 50-S3.

37 Vgl. Boris Meissner, Russland unter Chruschtschow. München, R. Oldenbourg, 1960. 8vo. XV, 699 S. OLwd (St.a.Vorsatz). (Forschungsinstitut der deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik. Dokumente und Berichte, 15).

38 Julia Jakuschewa: Referat „Baptismus in Russland“. Siehe: 2.3 Die Situation der russischen Baptisten Ende des XIX und XX Jh. Staatliche Universität für Führungs- und Personalkräfte. Das Institut der Soziologie und der gesellschaftlichen Querverbindungen. Moskau 2002.

39 Vgl. “International Religious Freedom Watch”. Internetseite: http://www.internationalreligiousfreedomwatch.org/archives/2005-11-11.htm. Stand: 22.01.2008. Ebenso: „ Swetilnik“. http://www.biblelamp.ru/news/?id=200511154. Stand 22.01.2008.

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Abbildung 13. Nikita Chruschtschow

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Die nichtregistrierten Christen – sie waren damals in der Mehrzahl - wollten sich keineswegs der staatlichen Kontrolle unterziehen oder unter der Regie des autoritären regimetreuen AUREChB ihren Dienst tun41. Etwa 3000 dieser Christen fristeten ihr Leben zur Regierungszeit von Nikita Chruschtschow in Gefängnissen und Straflagern.42

Chruschtschow realisierte nicht, dass die Christen einer marxistischen Ideologie skeptisch gegenüber standen, weil sie die Religion als Opium für das Volk definierte. Die feindselige Haltung des Marxismus zur Religion hatte an sich zur Folge, dass besonders die Christen die

kommunistischen Ideale für märchenhafte Ideen hielten. Sie passten sich der Gesellschaft zwar an, stellten die beste Arbeiterklasse dar, aber sie glaubten an die kommunistische Ideologie nicht. Sie bildeten eine Parallelgesellschaft und flüchteten sich in das „Jenseits“, wissend, dass sie früher oder später unter die Räder der Christenverfolgung kommen und ausgerottet werden könnten.43

2. Persönliches Schicksal

Plötzlich verhaftet und verurteilt zu 5 Jahren Straflager mit strengem Regime

2.1 Die ersten Erfahrungen im Gefängnis

Im Mai 1962 zog ich in die Stadt Semipalatinsk (heute heißt die Stadt Semej) im Osten von Kasachstan.44 In meiner Heimatstadt Omsk wurde es für mich zu „heiß“: der KGB war mir auf den Fersen, weil ich gemeinsam mit anderen Jugendlichen in den Hauskreisen über den Inhalt der Bibel diskutierte. In Omsk gab es bis 1965 keine registrierte Baptistengemeinde, dafür aber 18 nichtregistrierte. Darum schloss ich mich in Semipalatinsk einer nichtregistrierten Gemeinde an. Am 24. Nov. 1962 wurde ich als einer der

sechs anderen Schwestern und Brüdern verhaftet und am 28. Nov. vor Gericht gestellt. Im Haftbefehl war zu lesen: „die sieben baptistischen Aktivisten haben religiöse Propaganda geführt und sind dafür

zu bestrafen“. Damals war ich knapp 20 Jahre alt, zwei andere Männer waren Väter von 7 bzw. 9 Kindern, und wir drei wurden zu 5 Jahren Straflager, zwei Frauen zu je einem Jahr auf

40 Ebenda. Vgl. Michail Newolin: „Das Schisma innerhalb der baptistischen Bewegung in der UdSSR zwischen den Jahren 1959-1963.” In: Almanach. Nr. 9. Moskau: Verlag „Schandal“ 2005.

41 Vgl. Eugen Voss: “On the Situation of the Christians in the Soviet Union - An Analysis of New Materials”. In: Eastern Europe (07/1969). (Osteuropa. Nr. 7/1969.)

42 Vgl. Mark Smirnov: „Dvulikij Iljitsch“. Internetseite: http :// www . portal - credo . ru portal - credo . ru Stand 22.01.2008.

43 Vgl. : “Протоиерей Владислав Цыпин Русская Православная Церковь в период Хрущевских гонений“. In: История Русской Церкви, . IX. Deutsch: Vladislav Züpin: „Russisch Orthodoxe Kirche in der ZeitТ der Verfolgung unter Nikita Chruschtschow“. In: Die Geschichte der Russisch Orthodoxen Kirche, Band IX.

44 http://semipalatinsk.bestcities.ru/ Stand: 01.02.2008.Die Stadt Semipalatinsk wurde am 21 Juni 2007 in Semej umbenannt.

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Abbildung 14. Wappenzeichen der

Stadt SemejAbbildung 15. Foto

von Hermann Hartfeld: Mai 1962

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Bewährung, ein 19-jähriger und ein älterer Mann zu je einem Jahr Straflager verurteilt. Es kam alles sehr überraschend; denn keiner von uns war sich einer Schuld bewusst. Meine persönliche Anklage in der richterlichen Begründung hieß: „Her http://www.gulag.memorial.de/maps/map9.html mann Hartfeld war ein ideologischer Leiter der Baptistenkirche“.45 Ich empfand die Begründung mehr als lächerlich, aber jeder Protest meinerseits wäre sinnlos

gewesen.46

Gefängnisse und Straflager waren damals für mich eher interessant als schreckerregend. Darum betrat ich die Zelle Nr. 2 des Gefängnisses von Semipalatinsk mit gewisser Neugierde: eine einzige Pritsche für sieben Personen; in der Zelle zählten wir jedoch mit uns drei Baptisten insgesamt 14 Insassen. Es machte Eindruck auf uns; denn man erzählte uns, dass in dieser Zelle der russische Schriftsteller Fjoder Dostojewski für eine gewisse Zeit gewesen sein soll, allein versteht sich. Diese Mutmaßung stimmte jedoch nicht. Er stand auf der Hauptwachte und war jedoch nicht im Gefängnis von Semipalatinsk.47

In der Zelle begrüßten wir jeden mit einem Händedruck und stellten uns als Baptisten vor. Die Insassen hatten bereits von uns in der Presse gelesen, nämlich, dass wir Kinder opfern würden, um sie bei der Feier des Abendmahls zu verspeisen. „Kannibale“ begegnet man ja nicht täglich. Meine Glaubensgenossen Rudnew und Kriwoschejew drückten die Hand auch eines Mannes, der unter der Pritsche lag. Die Zelleninsassen waren empört und schrien: „Stopp! Er ist ein

Päderast!!!“ Wir kannten den Begriff nicht, und ich reichte ihm auch die Hand und sagte: „Willkommen im Club der Sünder!“ Nach etwas Zögern fragte ich:

„Was bedeutet Päderast?“ Die Antwort kam beinahe von allen Anwesenden unisono: „Päderast ist ein Homosexueller, der die Rolle der Frau übernimmt!“ Wir verstanden Bahnhof. „Na und?“ fragte Rudnew. „Wir sind doch ohne Jesus Christus alle pervers und verdorben“. „Aber nicht alle homosexuell!“ kam die Reaktion zurück. Später mussten wir lernen, dass „anständige Heterosexuelle“ keinen Kontakt mit Homosexuellen pflegen dürfen und jeder Versuch von uns, mit Homosexuellen Gemeinschaft zu haben, zwangsläufig zu unserer Vergewaltigung führen würde. Ich war entsetzt und meinte: „Aber jeder Mensch braucht doch Jesus Christus, um sinnvoll leben zu können!“ „Halt den Mund!“ und eine Faust setzte mich außer „Gefecht“.48

Nichtsdestotrotz haben wir drei entschieden, mit diesem Homosexuellen Gespräche zu führen, teilten mit ihm den letzten Bissen Brot und warteten ab, was die übrigen Insassen gegen uns unternehmen würden. Nachts hörte ich das Geflüster: „Wir können nichts tun. Sie sind doch Kannibalen und könnten auch einen von uns verspeisen.“ Ich erzählte das meinen

45 Vgl. http://www.memo.ru/history/diss/perecen/diss_09.htm#n889 Stand: 01.02.2008. Gleb Jakunin, Lew Regelson: “Appell an die Delegierten der 5. Vollversammlung des Weltkirchenrates“ am 16.10.1975. Die Autoren des Appells konnten ja nicht wissen, dass ich bereits in Deutschland war.

46 Vgl. Hermann Hartfeld: Glaube trotz KGB. Seewis/Uhldingen: Stephanus Verlag, 2. Auflage 1978, S. 54-72.

47 Siehe: http://www.fedordostoievsky.com/aleman/aleman1.htm Stand: 01.02.2008. „Er wurde 1854 vom Gefängnis befreit und wurde gefordert, im sibirischen Regiment zu dienen. Dostojewski reichte die folgenden fünf Jahre wie Stabsunteroffizier herüber, und kürzlich als Leutnant, im Bataillon der Siebten Linie des Regimentes parkte in der Stärke von Semipalatinsk in Kasachstan“. http://www.caravan.kz/article/?pid=87&aid=3534 Stand: 01.02.2008. Vgl. Hermann Hartfeld: Glaube trotz KGB, S. 107f.

48 Vgl. Konstantin Kostenko: Claustrophobia. http://az.gay.ru/articles/news/kostenko_lodz.html. Stand: 15.01.2008.11

Abbildung: 16. Wachturm

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Glaubensgenossen, und wir amüsierten uns nicht wenig darüber. Dann erzählten wir den Insassen, wer wir wirklich sind und entlarvten die kommunistische Propaganda als eine Lüge. Die Gespräche über Jesus Christus dauerten Stunden und tagelang, bis wir voneinander getrennt und in diverse Straflager transportiert wurden. Der „Päderast“ wurde vom Gericht freigesprochen, weil er fälschlicherweise angeklagt war. Er lebt heute als 80jähriger in Moskau und hat sechs Enkelkinder, die alle zu diversen Baptistengemeinden gehören.

2.2 Die Erfahrungen mit Christen aus anderen Konfessionen

Im Straflager 154/11 wurden wir am Tor begrüßt von einem Häftling, der uns zu unserer Überraschung umarmte und sagte: „Ich bin auch ein Kind Abrahams!“49 Jeder von uns dachte wohl: „Gott sei Dank! Es gibt außer uns noch andere Baptisten im Straflager!“ Wie waren wir doch später darüber erstaunt, dass es in diesem Straflager keinen einzigen Baptisten gegeben hat! Es gab einen Reformadventisten, den Pastor Iwan Lalujew, Afanasij Drabkow, den Pastor einer Pfingstgemeinde, und einen Mönch der Russisch-Orthodoxen Kirche, Sergej Kaschirin und viele „ihrer“ Konvertiten.50

49 Vgl. Hermann Hartfeld: Glaube trotz KGB, S. 168f.

50 Vgl. Hermann Hartfeld: Glaube trotz KGB, S. 185-202.12

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Der Pfingstpastor Drabkow teilte uns gleich mit: „Wir treffen uns zum Gebet an jedem Freitag um 20 Uhr!“ Beten mit einem Pfingstpastor? Der will uns doch nur für sein „Lallen“ gewinnen, tauschten wir später unter uns aus. Mit „Lallen“ meinten wir das Sprachengebet. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass Drabkow überhaupt keine Absicht hatte, uns zum Zungengebet einzuladen. Ähnlich reagierte der Adventistenpastor Lalujew.51 Der Mystiker und Mönch Sergej Kaschirin reagierte beim ersten Treffen lächelnd: „Ikonen habe ich im Straflager keine, es sei denn ihr malt mir welche“. Sehr vorsichtig „tasteten“ wir uns gegenseitig ab und hatten intensive ökumenische Diskussionen und Gebetsgemeinschaft miteinander. Diese Kontakte waren außerhalb der Straflager absolut nicht möglich. Die

Russisch-Orthodoxe Kirche verschrie uns als Sektierer, und Kontakte zu Pfingstlern und Adventisten waren für meine Glaubensgenossen auch suspekt. Ich fand es immer

amüsant, wie der Adventist Lalujew, Leiter der ost-sibirischen Vereinigung, mich im Straflager mit seiner Enkelin verkuppeln

wollte und der Pfingstpastor Drabkow mir mit Handauflegung das Zungenbeten beibringen oder von Gott schenken lassen wollte. Weder das eine noch das andere passierte, weil ich von Kants Vernunftkritik als dem Hinterfragen der Möglichkeitsbedingungen von Erfahrung beseelt war. Die mystischen Erfahrungen waren mir fremd.52

Erstaunlicherweise glaubte der sowjetische KGB, dass wurde an dieser unsere Begegnungen mit Vertretern anderer Konfessionen zu Streitigkeiten und Animositäten führen würden. Das war jedoch nie der Fall. Der Adventistenpastor Iwan Lalujew starb 1964 an Hypertonie im Alter von 70 Jahren. Er verbrachte

insgesamt 20 Jahre in den kommunistischen Straflagern.53 Der orthodoxe Mönch Sergej Kaschirin starb im Alter von 70 Jahren in Kaliningrad. Der Pfingstpastor Drabkow lebte bis zu meiner Ausreise in den Westen in der Nähe der Hauptstadt Usbekistans und leitete eine Pfingstgemeinde. Die Jugend unserer Baptistengemeinde von Taschkent hatte mit der Jugendgruppe „seiner“ Pfingstgemeinde sehr gute Kontakte, aber kein Jugendlicher von unseren Baptisten wurde „pfingstlerisch“ und umgekehrt.

51 Iwan Jewdokimowitsch Lalujew war Delegierter der Adventisten von Ostsibirien, der am 5. Kongress der Adventisten des Siebenten Tages teilgenommen hat, der vom 16. bis 23. August 1924 im 3. Haus der „Sowjets“ stattgefunden hat. Seine Unterschriften stehen heute noch unter allen Dokumenten der Kongressentscheidungen. Ich traf seinen Enkel vor etwa 10 Jahren in Omsk, dieser aber zeigte wenig Interesse für seinen Großvater. Siehe: „Deklaration des 5. Kongresses der Siebentags Adventisten vom 16. bis 23. August 1924“. http://sda-books.narod.ru/books/other/kn/izist/i04.htm. Stand: 15.01.2008.

52 Vgl. Hermann Hartfeld: Glaube trotz KGB, S. 202-216. Vgl. auch zeitgenössischen Kritiker der Vernunft den F. Huisken: „Zur Kritik Bremer ´Hirnforschung´. Hirn determiniert Geist - Fehler, Funktion, Folgen“, in: Schriftenreihe des AStA der Uni Bremen , 2003, S.21ff.

53 Vgl. Hermann Hartfeld: Glaube trotz KGB, S. 347-357.13

Stelle unser Straflager 154/57 aufgebaut.

Abbildung 17: Hermann Hartfeld und Nikolai Kriwoschejew/ Viktor Rudnew(Baptisten), Iwan Lalujew

(Adventist), Afanasij Drabkow (Pfingstler) Anfang 1963

Abbildung 19: Sergej Kaschirin, Mönch der Wahren Orthodoxen

Kirche in Belowodsk in der Nähe von Hauptstadt, Kirgisien, 1972.

Abbildung 18: Abbildung 18. 1963 der Ort des Straflagers 154/57

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Wir befanden uns in den letzten zwei Jahren etwa 200 km von der heutigen Hauptstadt Kasachstans Astana entfernt. Wir stampften ab 1963 die neue Stadt Stepnogorsk aus dem Boden und arbeiteten untertage, förderten Uranerz, reicherten Uran an und wussten nicht, dass die Urananreicherung vielen von uns das Leben bzw. die Gesundheit stark beeinträchtigen wird.54 Ernst Buder schreibt, dass die heutige wichtigste Initiative hinsichtlich der Demontage und Konversion der Biowaffen - Einrichtungen in Stepnogorsk von den USA unterstützt wird.55 Wir haben von den Gefahren und Konsequenzen der Herstellung von Plutonium und Biowaffen in Stepnogorsk nichts gewusst oder es war uns auch egal. Menschen starben massenweise, wir scharrten die Leichen unter die Erde und lebten unbekümmert weiter, wissend: wir könnten die nächsten Opfer sein. Es gab für Häftlinge keine Schutzbekleidung.56

Der christliche Zionist Sawow unter uns weigerte sich, sich am Samstag bzw. Sonntag am Bau der Anreicherungsanlagen von Uran zu beteiligen. Er wurde im Winter bei 27 Grad unter Null zur Arbeit geschleift, aber er blieb sich treu. Das führte dazu, dass er für den Rest seiner Haftzeit von uns getrennt und in das Betongebäude für Schwerverbrecher gebracht und isoliert wurde. Dass dieser Mann trotzdem überlebte, grenzt nicht nur an Wunder, es ist ein Wunder.57

Im Juni 1965 wurden wir alle rehabilitiert und aus den Straflagern entlassen. Wir hatten eine Menge Freundschaften unter den Kriminellen geknüpft. Die Verabschiedung von ihnen war

herzzerreißend, aber notwendig. Jeder von uns wusste, dass eine Begegnung und ein Wiedersehen eher Zufall als Realität werden könnte.58

2.3 Die Erfahrungen mit der Einzelzelle im KGB-Gefängnis von Taschkent

Das Leben in der Freiheit sollte nicht lange andauern. Mit 23 Jahren entschied ich mich, als junger Mann in der Hauptstadt

von Usbekistan Taschkent zu leben. Ich stand vor der Frage: Wie soll es weitergehen? Meine Bekannten informierten mich, dass es in der Stadt drei Baptistengemeinden gäbe: Die Zentralgemeinde zählte sich zum Allunionrat der EChB, die ande re befand sich im Stadtteil Kara-Su und war seit den 50-er Jahren autonom und nicht bei den staatlichen Organen registriert, die dritte befand sich im Stadtteil Kuiljuck und hatte sich zu den Schismatikern

54 Erhard Geißler: Hitler und die Biowaffen. Berlin/Hamburg/Münster: LIT Verlag 1998, S. 75 ff. Ernst Buder: Möglichkeiten und Grenzen der Konversion von B-Waffen-Einrichtungen. Berlin/Hamburg/Münster: LIT Verlag 200, S. 125f.164.244ff.253f.

55 Ernst Buder: Möglichkeiten und Grenzen der Konversion von B-Waffen-Einrichtungen. S. 255.

56 Vgl. http://stepnogor.boom.ru/history.htm. Stand: 22.01.2008.

57 Vgl. Hermann Hartfeld: Glaube trotz KGB, S. 357-363.

58 Vgl. Hermann Hartfeld: Glaube trotz KGB, S. 387.14

Abbildung 20. 1985: Die Baptisten in Taschkent feiern ihr 85. Jubiläum (1985) Die Zentralgemeinde der EChB

35Панченко

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gesellt. Ich besuchte zuerst die Zentralgemeinde. Der Superintendent der Baptistengemeinden von Zentralasien Samotugin nahm sich Zeit, mir zuzuhören. Ich erzählte ihm meine Lebensgeschichte und zeigte ihm meinen Entlassungsschein aus den Straflagern. Samotugins Reaktion war etwas seltsam: „Ich empfehle dir zu einer der nichtregistrierten Baptistengemeinden zu gehen. Wenn du dich bei uns anschließt, wird der KGB mir Tag und Nacht keine Ruhe geben, dich zu protegieren und zu einem Spitzel zu machen“. „Na so was!“ reagierte ich verwundert. „Das würde den Erzengeln nicht einmal gelingen. Ich verabscheue Verrat von Brüdern und gebe niemals eine Beichte von Kriminellen den Behörden preis“. „Darum, bitte ich dich, gehe zu den nichtregistrierten Baptisten!“ sagte Samotugen, stand auf und ließ mich mit meiner Entscheidungsfrage allein. Am nächsten Sonntag war ich in der Kara-Su Baptistengemeinde. Der Vorstand der Gemeinde lud mich auf meinen Wunsch hin zu einem Gespräch ein. Die Gemeinde hatte unlängst einige Geschwister ins Gefängnis verabschiedet. Der Vorstand fragte mich, was ich in der Gemeinde gern tun würde. Ich sagte, dass mir die Jugendarbeit sehr ans Herz gewachsen sei. Die Brüder sagten, dass die Gemeinde genügend Mitarbeiter für die Jugendarbeit hätte und sie mir empfehlen möchten, mich der Baptistengemeinde von Kuiljuk anzuschließen. Diese Gemeinde werde vom Presbyter Nikolai Chrapow geleitet, der sogar Frauen im Vorstand der Gemeinde hätte und ihnen gewährt auch zu predigen59. Das klang etwas seltsam im Jahre 1965. Meine Neugierde zwang mich, diese Gemeinde zu besuchen, und da wurde ich nett und liebevoll aufgenommen und integriert. So begann ich mit Chrapow und Co. zusammen zu arbeiten.

Wir veranstalteten Jugendtreffen mit allen drei Gemeinden, tauschten Informationen über Gemeindeaufbaumodelle aus und vieles mehr.60 Am 18. Mai 1966 wurde Chrapow plötzlich vom KGB verhaftet.61 Das Informationsnetz wurde so gut zwischen den drei Gemeinden ausgebaut, dass alle drei Gemeinden am gleichen Tag von dieser Info erfuhren. Es versammelten sich am KGB-Gebäude etwa 300 Christen, die in Chören die Freilassung von Chrapow forderten. Die KGB-Beamten waren perplex: solche „Frechheit“ war für sie unerhört. Wir hatten irgendwie keine Angst, weil viele ehemalige christliche Gefangene nach jahrelangem Einsitzen aus den Straflagern freigelassen wurden. Nun pochten wir auf Religionsfreiheit. Die KGB-Beamten verhielten sich ruhig. Einige näherten sich uns, nahmen die Petitionen entgegen und baten höflich, die Kundgebung zu beenden und nach Hause zu gehen. Einer der Beamten guckte mich an und sagte: „Sie können auch ihre Sachen packen. In wenigen Tagen holen wir Sie ab!“62 Diese Worte machten mir keine Angst, eher jedoch machten sie mich nachdenklich. „Wieso gerade ich wieder? Aktiver als alle anderen bin ich doch gar nicht?“ Das half mir nicht weiter. In zehn Tagen wurde ich abgeholt und in die Einzelzelle des KGB-Gefängnisses gesteckt.63

59 Vgl. Die Zeitschrift „Evangelist“ Nr. 39 (3), S. 40f. (4-5). Siehe auch die Diskussion über das jeweilige Thema auf der Internetseite http://old.baptist.org.ru/forums/archive/index.php/t-176.html. Stand: 26.01.2008.

60 Vgl. http://www.liveinternet.ru/users/schwesterchen/post34969856. Stand: 26.01.2008.

61 http://www.liveinternet.ru/users/schwesterchen/post34969856. Stand: 26.01.2008.

62 Vgl. Nikolaj Petrowitsch Chrapow: Golos Prawdy. Sbornik: Stichi, Gimny, Prosa (Die Stimme der Wahrheit. Sammelband: Gedichte, Hymnen, Prosa. Samisdat: 1977. Wheaton, Illinois, USA: Verlag Jewangelskoje Slowo (Evangelisches Wort) 1996.

63 http://dic.academic.ru/dic.nsf/lower/16688. Stand: 26.01.2008. - -Одиночная Камера в уголовно ; , исполнительном праве одна из мер взыскания применяется к осужденным которые нарушают

. . 115 установленный порядок отбытия лишения свободы Согласно ст УИК перевод в O.K. 15

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Die Einzelzelle war nicht gerade attraktiv für einen freiheitsliebenden Menschen, der ich ja in meiner Überzeugung war, weil ich nach wie vor glaubte, dass die Freiheit eines der wichtigsten Dinge im Leben ist. Ohne sie ist alles andere wertlos. Jemand, der wie ich im Gefängnis gewesen ist, hat keine Freiheit dort hinzugehen, wohin er will. Er ist isoliert und in seiner persönlichen Entfaltung eingeschränkt. Jemand, der nicht frei ist, seine Meinung sagen zu dürfen, fühlt sich

unterdrückt. Das Letztere war für mich schlimmer als die Einzelzelle.64

Alles war wie ein böser Traum. Am 28. Mai 1966 wurde ich von meiner Arbeitsstelle im riesigen elektrotechnischen Werk von KGB-Beamten abgeholt. Sie gaben mir keine Möglichkeit, meine Mutter und Schwester zu informieren, dass ich verhaftet bin. Zufällig sah ich am Tor des Werkes

einen Glaubensbruder Winokurow und bat ihn, meine Verwandten und Freunde über die Verhaftung in Kenntnis zu setzen. „Mund halten!“ zischte neben mir ein KGB-Beamter. Sie wollten kein öffentliches Aufsehen erregen. In einer KGB-Limousine waren wir in wenigen Minuten am Ziel. Das KGB-Gebäude steht im Zentrum der Stadt Taschkent. Ich guckte mich um,

warf einen Blick auf das Gebäude links, das früher dem Bruder des Zaren, Konstantin, gehört hatte, nun aber befindet sich dort irgendeine KGB-Abteilung. Beide Gebäude werden durch unterirdische Gänge verbunden. Es gab drei Etagen im unterirdischen KGB-Gefängnis. Ganz unten in der dritten stellte man mich an die Zelle 00, und ich sollte warten. Es sah alles sehr ungewöhnlich aus. Die Gänge waren mit Teppichen ausgestattet, und es herrschte eine beinahe tödliche Stille. Die Beamten unterhielten sich halblaut, so dass ich sie nicht hören konnte.

Dann kam ein Aufseher, öffnete die Zelle und bat mich höflich, aber bestimmt, sie zu betreten. Es war eher ein Geflüster seitens der Beamten, als wenn man die tödliche angst machende Ruhe nicht stören wollte.65

In der Zelle schaute ich mich um. Die Wände aus Beton, ein künstliches Fensterverlies, an der Tür der Latrinenkübel; die Zelle war vier Meter lang und ca. zwei Meter breit. Anstelle eines Stuhls ein Hocker aus Beton. Ich sah kein Bett und klopfte an der Tür. Es erschien in wenigen Augenblicken der Aufseher: „Was fehlt Ihnen?“ „Wasser und eine Pritsche“, antwortete ich. Gesprochen wurde leise, so galt der Befehl. „Warten Sie einen Augenblick!“ reagierte der Aufseher und schloss die Tür hinter sich. Es schien für mich eine Ewigkeit vergangen zu sein, als die Tür sich öffnete und eine Kanne mit Wasser auf den Hocker gestellt wurde. Schweigend verließ der Aufseher die Zelle. Dann hörte ich, wie eine Schlafbank geräuschlos aus der Wand

, возможен на срок до шести месяцев и только в отношении мужчин содержащихся в .исправительных колониях особого режима

64 Vgl. Frau Prof. Dr. Phil. Irmgard Bruns: „Vorlesung über Ethik, Moral, Freiheit und die Entstehung des Gewissens“.

65 http://dic.academic.ru/dic.nsf/lower/16688. Stand: 26.01.2008. - -Одиночная Камера в уголовно ; , исполнительном праве одна из мер взыскания применяется к осужденным которые нарушают

. . 115 установленный порядок отбытия лишения свободы Согласно ст УИК перевод в O.K. , возможен на срок до шести месяцев и только в отношении мужчин содержащихся в

.исправительных колониях особого режима16

Abbildung 21. Eine Einzelzelle, aber nicht von einem KGB-

Gefängnis.

Abbildung 22: Ein sowjetisches Straflager

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kam. Verwundert darüber, aber zu müde, um darüber nachzudenken, legte ich mich hin und schlief ein. Ich wurde geweckt und über alle möglichen Treppen in den Innenhof geführt, um die Füße zu vertreten. Nach der Vorschrift sollten es dreißig Minuten sein. Ich sah den klaren Himmel, kein Wölkchen, nur Sonne, die meinen Augen wehtat.66 Gedankenlos bewegte ich mich zehn Schritte nach vorn und zurück. Der viereckige Hof, die Wände aus Brettern und vier Türme mit Soldaten, jeder mit einer Kalaschnikow, die demonstrativ auf mich gerichtet waren. Ich schmunzelte und winkte ihnen zu. Keine Reaktion ihrerseits. Und so ging es Tag für Tag, bis ich letztlich vergaß, mir die Wochentage zu merken.67

„Wo ist mein Presbyter Chrapow?“ fragte ich mich nach etwa einer Woche. Den russischen Generator vom Morsealphabet kannte ich noch aus meiner ersten Haftzeit. Unter dem Fensterverlies war ein Heizkörper, von ihm gingen Röhren in die nächsten Zellen. Ich machte mich an die Arbeit und begann leise zu klopfen. Bald erfuhr ich, dass in der Zelle 01 ein Zeuge Jehovas saß und in der 02 ein Pfingstler. Aber auf unserer Etage war Chrapow nicht ausfindig zu machen. Erstaunlicherweise wurden wir Tag und Nacht über die Monitore beobachtet, aber man ließ uns ruhig kommunizieren. Bleistifte und Papier hatten wir nicht. Es musste alles auswendig festgehalten werden. Es war sehr mühsam, aber Übung macht den Meister. So erfuhr ich, dass die Einzelzellen auf dieser Etage für religiöse und politische Dissidenten vorgesehen waren. Eine ganze Menge Krimtataren68 und Tschetschenen war vorhanden, die von Stalin entrechtet und nach Zentralasien verschleppt wurden. Diese begannen seit den 60-er Jahren des letzten Jahrhunderts in Taschkent für das Recht, in ihre Heimat zurückzukehren, zu demonstrieren. Die Aktivisten kamen alle in das KGB-Gefängnis.69

Nicht alle kannten das Morsealphabet. Darum gestaltete sich die Kommunikation schwierig. Die KGB-Beamten erhofften sich durch unsere Kommunikation, mehr von unseren Aktivitäten zu erfahren. Sie irrten sich mächtig. Die Verhöre wurden überwiegend nachts getätigt, von 18h abends bis 8h morgens. Die Beamten lösten einander ab und stellten immer wieder die gleichen Fragen: „Wer hat mit Ihnen zusammen Jugendtreffen am Karasukanal organisiert? Wer kam von Ihnen auf den Gedanken, christliche Jugendtreffs in den Schluchten der Tjan-Schan-Gebirge durchzuführen.

66 Vgl. http://www.ombudsmanrf.ru/doc/vistup8/spravka.shtml Stand: 04.02.2008.

67 Vgl. http://www.hrc.nabrk.kz/gsdl/cgi-bin/library?e=d-000-00---0HRCru--00-0-0--0prompt-10---4------0-0l--1-fr-50---20-help---00031-001-1-0windowsZz-1251-00&a=d&cl=CL1.12&d=HASH31dd0e3f7222b575243aaf.3 Stand: 04.02.2008.

68 Vgl. Крымскотатарская энциклопедия, , 1993-95.составитель РефикМузафаров Симферополь

69 http://www.pereplet.ru/text/CECNJA.html Stand: 04.02.2008.17

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Es war ziemlich ätzend, die gleichen Fragen gestellt zu bekommen und die gleiche Antwort zu geben: „Das müssen Sie schon selbst herausfinden. Ich will Sie ja nicht um Ihr Brot bringen. Wenn ich Ihnen alles verraten würde, blieben Sie noch ohne Arbeitsstelle.“ Mein Verhalten war sicherlich frech. Aber es tat mir irgendwie gut, sie auf diese Weise zu verhöhnen. Eines Tages kam die Schlafbank nicht mehr aus der Wand… Ich hatte aber immer noch mein

Kommunikationsmittel, das Morsealphabet.70

Die Gebirge Tjan-Schan und Pamiro-Alaj waren wunderbare Orte, wo wir beinahe ungestört die christlichen Jugendtreffen durchführen konnten. Organisiert wurden sie so, dass nur drei Personen wussten, wo sie stattfinden würden. Man teilte der Jugend den Ort mit, wo man sich am Rande der Stadt traf, und dann wurden die Jugendlichen von den drei Personen in die entsprechende Richtung

geführt. Ich hatte immer einen schlechten Orientierungssinn. Darum bat ich meine Freunde, mich für die Führungen nicht einzusetzen. Der KGB wusste davon und wollte über mich die

Namen von den anderen Organisatoren wissen. Es gab jedoch unter uns Christen die Vereinbarung, sich keinen Nachnamen, sondern nur den Vornamen zu merken. Darum konnten wir auch im Schlaf sie nicht ausplaudern.71

Eines Tages wurde ich um zehn Uhr morgens zum Verhör gebracht. Zu meiner Überraschung saß im Verhörzimmer Lydia Sch. Ich ging auf sie zu und nahm sie in die Arme. Sie heulte laut los und sagte: „Ich habe dich verraten!“ „Das macht doch nichts, Lydia. Ich komme sowieso nicht ungeschoren aus diesem Gebäude raus.“ Die Beamten registrierten die Szene, stellten Lydia mehrere Fragen, und sie bestätigte unter Tränen nochmals, dass ich für die Jugendtreffs angeblich verantwortlich war. Ich wusste, dass ich geliefert war. „Grüß die Eltern und die Gemeinde von mir. Und bitte, mach dir keine Vorwürfe“. Ich wurde nie wieder zum Verhör gerufen. Man brachte mir die Protokolle vorbei, die ich unterschreiben sollte. Ich winkte ab: „Für wen halten Sie mich? Es kommt gar nicht in Frage!“ Meine Schlafbank kam wieder aus der Wand, ohne Matratze, ohne Kissen, aber immerhin nicht der „kahle“ nasse Betonfußboden.

70 http://everyday.com.ua/digilet/morse.htm Stand: 04.02.2008.

71 Vgl. Tageszeitung: Die Junge Welt. Montag, 4. Februar 2008, Nr. 330.18

Abbildung 23. Die Gebirge Tjan-Schan

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Dr. Hermann Hartfeld: Freikirchliche Märtyrer in der ehemaligen Sowjetunion – Vortrag am 13.02.2008 um 19.30 Uhr in EFG Hameln

Der Gerichtsprozess war eine Farce. Das Fernsehen, Journalisten und etwa 600 Zuschauer sahen sich das Spektakel an. 150 Zeugen wurden geladen, die nichts Inkriminierendes gegen uns aussagen konnten. Man hat ein Gespräch von mir abgehört, in dem ich gesagt haben soll, dass Chrapow72 und ich sehr gut zusammengearbeitet haben und er mir die Jugendarbeit anvertraut hatte. Man versuchte uns gegeneinander auszuspielen, nämlich mich gegen Chrapow und umgekehrt. Zwei Schwestern, die Invaliden Maja Belan und Nadja Matjuchina, wurden zu je drei Jahren Haft für die Sonntagsschularbeit, ich zu vier und Chrapow zu fünf Jahren verurteilt. Mühsam an der ganzen Sache war, dass wir rein physisch und psychisch in den zehn Prozesstagen überfordert waren. Das verlesene Urteil wurde für uns alle als eine Erleichterung empfunden. Wir konnten wieder in den Zellen friedlich schlafen, denn Schlimmeres als bereits geschehen, war kaum zu erwarten.73

2.4 Schlussnotiz

Straflagerleben war mir vertraut. Die Begegnung mit den Pfingstlern Johann Wall und zwei seiner Glaubensbrüder war für mich eine Bereicherung: Austausch und Gebetsgemeinschaft hielten uns aufrecht. Meine Begegnungen nach der Entlassung mit Johann Wall, die in Kirgisien und Deutschland stattfanden, haben uns beiden geholfen, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Die zwei seiner Glaubensgenossen wurden nach der Entlassung psychisch krank. Einer litt derart an Depression, dass er sich erhängte. Der zweite, ein Veteran des 2. Weltkrieges, Held der Sowjetunion, begann heimlich zu trinken und kam durch einen Unfall ums Leben. Viele Christen überlebten die kommunistischen Schikanen nicht. Aber die Christenverfolgung hat auch etwas Positives bewirkt: Wir wurden als Freikirchler toleranter zueinander, und das ist gut so.

Anhang

72 Vgl. http://www.blagovestnik.org/books/00310.htm#1 Stand: 04.02.2008.

73 Vgl. Missionsnachrichten, Gummersbach, September/Oktober 2006.19

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Dr. Hermann Hartfeld: Freikirchliche Märtyrer in der ehemaligen Sowjetunion – Vortrag am 13.02.2008 um 19.30 Uhr in EFG Hameln

Gedicht von N. P. Chrapow „Empfang des Freiheitsberaubten“. Stimme der Wahrheit. Sammelband: Gedichte.

Lieder Prosa. Wheaton, Illinois, USA: Verlag „Jevangelskoje Slovo“ 1996.

Herrmann Hartfeld, dem Leidens-Bruder gewidmet, zur Haftentlassung nach vierjähriger Haft. Der Jugendliche

wurde für die Erziehung von Kindern und Jugendlichen in der Lehre des Herrn verurteilt.

Er stand, gezeichnet von den Stürmen der vergangenen Leiden,

Vor der lärmenden Menge auf der Weggabelung.

Er stand mit einem fragenden Blick auf sein Schicksal

Und dachte: „Wem soll ich mich anschließen?“

Zu seinen Füßen lagen in dem Schmutz der Heuchelei

Die zerschlagenen Ketten und Fesseln

Und Freunde wie Feinde bewegte die Frage:

Welchen Weg wird er nun wählen?

Nach rechts geht ein breiter, verlockender Weg

Der verbrecherischen Ideen des Abfalls,

Man wählt ihn unbesorgt,

Wenn man die Gebote Christi verworfen hat.

Links stehen in einer pharisäischen Mauer

Die blinden Sklaven der Selbstgerechtigkeit.

Sie brüsten sich hochmütig mit kaltem Herzen,

Mit Steinen der Anklage und der Feindschaft in der Hand.

Der Wege geradeaus führt zum Vaterhaus hin

Zwischen steilen Klippen und Dornen.

Ihn wählen nur die Verachteten aus,

Das ist ohne Frage dein Schicksal!

Für die Pharisäer wirst du ein Stolzer sein,

Für die Abtrünnigen – ein Verbrecher.

Doch im Kreis der betrübten, zerschlagenen Herzen

Wird man dich leise „Verteidiger“ nennen!

Sein Mutig, du Kämpfer, und schreite voran

Zu neuen Heldentaten eines vorbildlichen Lebens!

Der Sieg eines bewährten Glaubens

Bringt dich zum goldenen Siegeskranz.

Wenn du auch zweifellos müde geworden bist, mein Bruder,

in der Trennung von deinen Lieben zu wandern,

Es gibt nur ein Los das du wählen kannst:

Dienen! Lieben und Kämpfen!

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