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Freistellung vom Kartellverbot(Gruppenfreistellung und Einzelfreistellung)
Vorlesung Europäisches und deutsches Kartellrecht
RA Dr. Jochen BernhardWürzburg, den 19. November 2015
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Inhalt
A. Wiederholung
B. Terminologie: „Freistellung vom Kartellverbot“
C. Gruppenfreistellung
D. Einzelfreistellung
A. Wiederholung
Wiederholung: Die drei Säulen des Kartellrechts (vereinfacht)
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)
Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)
Art. 101 AEUV / § 1 GWB: Kartellverbot
Wettbewerbsbeschrän-kende Vereinbarungen und abgestimmte Verhaltensweisen zwischen Unternehmen sind verboten.
Art. 102 AEUV/ § 19 GWB: Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung
Die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch ein oder mehrere Unternehmen ist verboten.
Europ. Fusionskontroll-verordnung / §§ 36 ff. GWB: Fusionskontrolle
Ein Zusammenschluss, von dem zu erwarten ist, dass er zu einer erheblichen Behinderung des Wettbe-werbs führt, ist von der zuständigen Kartellbehörde zu untersagen.
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Tatbestandsvoraussetzungen einer Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot (Art. 101 AEUV / § 1 GWB)
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A. Wiederholung
1. Wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise zwischen Unternehmen oder Beschluss einer Unternehmensvereinigung
2. Art. 101 AEUV: Eignung zu einer spürbaren Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in der EU
§ 1 GWB: Keine Eignung zu einer spürbaren Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in der EU
3. Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung (de minimis / Bagatellgrenze)
4. Keine Freistellung vom Kartellverbot nach Art. 101 Abs. 3 AEUV / § 2 GWB
a) Gruppenfreistellung (§ 2 Abs. 2 GWB)
b) Einzelfreistellung (§ 2 Abs. 1 GWB / Art. 101 Abs. 3 AEUV)
Tatbestandsvoraussetzungen einer Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot (Art. 101 AEUV / § 1 GWB)
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A. Wiederholung
1. Wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise zwischen Unternehmen oder Beschluss einer Unternehmensvereinigung
2. Art. 101 AEUV: Eignung zu einer spürbaren Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in der EU
§ 1 GWB: Keine Eignung zu einer spürbaren Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in der EU
3. Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung (de minimis / Bagatellgrenze)
4. Keine Freistellung vom Kartellverbot nach Art. 101 Abs. 3 AEUV / § 2 GWB
a) Gruppenfreistellung (EU-Gruppenfreistellungsverordnungen (GVO) / § 2 Abs. 2 GWB)
b) Einzelfreistellung (Art. 101 Abs. 3 AEUV / § 2 Abs. 1 GWB)
Terminologie:
„Freistellung“ ist korrekt„Rechtfertigung“ ist im Kartellrecht nicht korrekt
„Die Vereinbarung erfüllt den Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV. Sie könnte aber gerechtfertigt sein.“
„Die Vereinbarung erfüllt den Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV. Sie könnte aber vom Kartellverbot freigestellt sein.“
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B. Terminologie
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Im Kartellrecht gelten andere Grundsätze als im normalen Leben!
Grundsatz: Alles ist verboten („Kartellverbot“)
Ausnahme: Das Gesetz erlaubt ein bestimmtes Verhalten („Legalausnahme“)
FREISTELLUNG = AUSNAHMETATBESTAND
Im normalen Leben gilt:
„Was nicht verboten ist, ist erlaubt.“Friedrich Schiller, Wallenstein
B. Terminologie
Im Kartellrecht gilt:
Grundsatz der „Selbstveranlagung“:
Jedes Unternehmen muss (ggf. anhand Zuhilfenahme qualifizierter Rechtsberater) vorab selbst entscheiden, ob sein Verhalten kartellrechtlich freigestellt ist oder nicht (Art. 2 Satz 2 VO 1/2003).
ABER: Die Selbstveranlagung bringt keine Rechtssicherheit
=> Sehen die Kartellbehörden keine Anhaltspunkte für eine Freistellung, besteht für das Unternehmen ein erhebliches Bußgeldrisiko (§ 81 GWB / Art. 23 VO 1/2003)
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B. Terminologie
IMMER UNTERSCHEIDEN:
1. „Gruppenfreistellung“ = Bestimmte Arten von Vereinbarungen sind bei Einhaltung bestimmter Voraussetzungen nach der einschlägigen GVO – trotz Wettbewerbsbeschränkung – stets zulässig
=> Voraussetzungen für Freistellung stehen in einer „EU-Gruppenfreistellungs-Verordnung“ => EU-Gruppenfreistellungs-Verordnungen sind nach § 2 Abs. 2 GWB unmittelbar im
deutschen Kartellrecht anwendbar
2. „Einzelfreistellung“ = Vereinbarung erfüllt ausnahmsweise die Kriterien des Art. 101 Abs. 3 AEUV oder § 2 Abs. 1 GWB und ist daher –trotz Wettbewerbsbeschränkung – im Einzelfall zulässig
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B. Terminologie
Nochmals zur Terminologie:
4. „Die Vereinbarung erfüllt den Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV. Sie könnte aber vom Kartellverbot freigestellt sein.“
a) „Die Vereinbarung könnte die Voraussetzungen einer Gruppenfreistellung nach der Gruppenfreistellungsverordnung XXX erfüllen.“
b) „Da es an den Voraussetzungen einer Gruppenfreistellung fehlt, kommt nur eine Einzelfreistellung vom Kartellverbot nach XXX in Betracht.“
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B. Terminologie
Freistellungsmöglichkeiten im Kartellrecht
Art. 101 Abs. 3 AEUV / § 2 Abs. 1 GWB: Individualfreistellung
Vier kumulative Voraussetzungen nach Art. 101 Abs. 3 AEUV (EU-Recht) oder § 2 Abs. 1 GWB (deutsches Recht) müssen erfüllt sein
Hilfestellung (Innenrecht) im EU-Kartellrecht:- Horizontal-Leitlinien- Vertikal-Leitlinien- Technologietransfer-Leitlinien- Kfz-Leitlinien
EU-GVO / § 2 Abs. 2 GWB: Gruppenfreistellung
- Vertikal-GVO 330/2010- FuE-GVO 1217/2010- Technologietransfer-GVO
316/2014- Spezialisierungs-GVO
1218/2010- Kfz-GVO 461/2010- Versicherungs-GVO
267/2010
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B. Terminologie
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Beispielsfall: „Bestpreisklausel“
Sachverhalt (abgewandelt nach OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.1.2015, Az. VI-Kart 1/14 (V)):
Das Hotelvermittlungsportal HRS forderte in Verträgen mit Hotels eine „Meistbegünstigung“: Die Hotels
mussten sich gegenüber HRS verpflichten, auf keinem anderen Vertriebskanal günstiger anzubieten als
auf HRS. Zudem mussten die Hotels Zimmer, die auf anderen Vertriebskanälen als verfügbar angezeigt
waren, immer auch bei HRS verfügbar machen.
Das Bundeskartellamt sah diese Vertragsklausel als unzulässige Wettbewerbsbeschränkung an. HRS
berief sich auf eine Freistellung vom Kartellverbot.
Im Vorjahr der kartellbehördlichen Entscheidung des Bundeskartellamts im Juli 2013 lag der
Marktanteil von HRS bei 29,7 %, im Vorjahr der letzten mündlichen Verhandlung des OLG Düsseldorf im
Dezember 2014 bei 30,3 %.
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Prüfungsaufbau für die Gruppenfreistellung:
1. Ist der Anwendungsbereich einer Gruppenfreistellungsverordnung eröffnet?
2. Sind die Marktanteilsschwellen für eine Gruppenfreistellung nicht überschritten?
3. Schließt eine „Kernbeschränkung“ in (irgendeiner) Klausel des Vertrags die Gruppenfreistellung des gesamten Vertrags aus?
4. Schließt eine „nicht-freigestellte Beschränkung“ in der konkret zu prüfenden (ganz bestimmten) Klausel des Vertrags die Gruppenfreistellung der betreffenden Klausel aus?
5. Liegen sonstige Gründe für den Ausschluss einer Gruppenfreistellung vor?
C. Gruppenfreistellung
1. Anwendungsbereich einer GVO eröffnet?
„Immer die richtige Abbiegung finden!“
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Vertriebsvertrag => Vertikal-GVO
Forschungs- und Entwicklungsvertrag => FuE-GVO
Lizenzvertrag zur Herstellung eines Produkts => Technologietransfer-GVO
C. Gruppenfreistellung
1. Anwendungsbereich einer GVO eröffnet?
Vermittlungsvertrag als „Vertriebsvertrag“ i.S.v. Art. 1 Abs. 1 lit. a) Vertikal-GVO?
„Vereinbarungen, […] zu denen die beteiligten Unternehmen Waren oder Dienstleistungen beziehen, verkaufen oder weiterverkaufen dürfen“
HRS vermittelt Zimmer und verkauft diese nicht
Hotels als Anbieter von Zimmerkontingenten und HRS als Abnehmer?
HRS als Anbieter von Vermittlungsdienstleistungen und Hotels als Abnehmer? (OLG Düsseldorf: (+))
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C. Gruppenfreistellung
2. Werden die Marktanteilsschwellen der GVO eingehalten?
Art. 3 Abs. 1 Vertikal-GVO
„Die Freistellung nach Artikel 2 gilt nur, wenn der Anteil des Anbieters an dem relevanten Markt, auf dem er die Vertragswaren oder -dienstleistungen anbietet, und der Anteil des Abnehmers an dem relevanten Markt, auf dem er die Vertragswaren oder -dienstleistungen bezieht, jeweils nicht mehr als 30 % beträgt.“
Maßgeblicher Zeitpunkt für Berechnung der Marktanteile?
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C. Gruppenfreistellung
Art. 7 lit. b) Vertikal-GVO: „Marktanteile werden anhand der Angaben für das vorangegangene Kalenderjahr ermittelt.“
ABER: § 70 GWB – Das Gericht erhebt Beweis in der mündlichen Verhandlung nach § 69 GWB!
3. Schließt eine Kernbeschränkung die Gruppenfreistellung aus?
Kernbeschränkungen nach Art. 4 Vertikal-GVO:
- Beschränkung der Möglichkeit des Abnehmers, seinen Verkaufspreis selbst festzusetzen
- Kundengruppen- oder Gebietsbeschränkung- Querlieferungsverbot im selektiven Vertrieb- Verkaufsbeschränkung bzgl. Ersatzteilen
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C. Gruppenfreistellung
Bundeskartellamt sah anhand von ökonomischem Gutachten Anhaltspunkte für Einschränkung der Preissetzungsfreiheit des Abnehmers: Hotelier wird seine Preise in der Eigenvermietung aufgrund der Meistbegünstigungsklausel stets so hoch kalkulieren, dass er trotz Berücksichtigung von Provisionszahlungen (falls der Kunde das betreffende Zimmer über HRS bucht) wirtschaftlich arbeiten kann („Theory of harm“ – sehr umstritten!)
4. Liegt eine nicht-freigestellte Beschränkung vor?
Nicht-freigestellte Vertragsklauseln nach Art. 5 Vertikal-GVO:
- Wettbewerbsverbote während der Vertragslaufzeit mit Dauer von > 5 Jahren
- Nachvertragliche Wettbewerbsverbote mit Dauer von > 1 Jahr (und weitere Voraussetzungen)
- Markenzwang im selektiven Vertrieb
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C. Gruppenfreistellung
Im vorliegenden Fall sind keine „nicht-freigestellten Beschränkungen“ einschlägig
5. Bestehen sonstige Ausschlussgründe für eine Freistellung?
Entzug der Gruppenfreistellung nach Art. 6 Vertikal-GVO möglich:
„… in Fällen, in denen mehr als 50 % des relevanten Marktes von parallelen Netzen gleichartiger vertikaler Beschränkungen [verschiedener Unternehmen] abgedeckt werden…“
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C. Gruppenfreistellung
Im vorliegenden Fall Entzug der Gruppenfreistellung unter Berücksichtigung vergleichbarer Vereinbarungen von booking.com und weiteren Hotelvermittlungs-Portalen durchaus denkbar
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Prüfungsaufbau für Einzelfreistellung (Art. 101 Abs. 3 AEUV / § 2 Abs. 1 GWB)
D. Einzelfreistellung
Zwei positive und zwei negative kumulative Voraussetzungen:
1. Beitrag zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts („Effizienzgewinne“) und
2. Angemessene Beteiligung der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn und
3. kein milderes Mittel als auferlegte Wettbewerbsbeschränkung („Unerlässlichkeit“) und
4. keine Möglichkeit, durch die betreffende Vereinbarung den Wettbewerb für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren auszuschalten
Einzelfreistellung = Einzelfallentscheidung
EINE RECHTSSICHERE ABSCHÄTZUNG EINER EINZELFREISTELLUNG IST KAUM MÖGLICH.
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(1) Effizienzgewinne (I)Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung …
Synergieeffekte (ökonomischer Vorteil durch gemeinsame Nutzung komplementärer
Kapazitäten/Techniken), z.B. durch Zusammenlegung komplementärer Geschäftsaktivitäten
Skaleneffekte (Kostensenkung durch gemeinsame Nutzung eines Guts für mehrere Produkte), z.B.
durch gemeinsame Beladung eines Lkw zur Ausfuhr mehrerer Produkte
„Just in time“-Lieferung: Senkung von Lagerkosten, Auslastung von Produktionskapazitäten
Kostensenkung: z.B. Senkung von Vertriebskosten durch gemeinsamen Vertrieb
Markteinführung: Befristete Preisbindung der zweiten Hand erlaubt, wenn Markteinführung eines
Produkts eines festen Eingangspreises bedarf, um dem Produkt Marktgeltung zu verschaffen
D. Einzelfreistellung
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(1) Effizienzgewinne (II)… oder Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts
Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen
Technologietransfer: Lizenznehmer kann neue oder bessere Produkte herstellen
Gemeinschaftsunternehmen zur Entwicklung und ggf. zu gemeinsamer Produktion eines besonders
sichereren Reifens mit verschiedenen Luftkammern
Bankenkooperation, die den innereuropäischen Zahlungsverkehr erleichtert und beschleunigt
D. Einzelfreistellung
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(2) Angemessene Beteiligung der Verbraucher am entstehenden Gewinn
Gesamtbilanz der Vor- und Nachteile maßgeblich
Verbraucher: Alle Nutzer, d.h. Endkunden, Produzenten, Großhändler und Einzelhändler
Gewinn: Alle denkbaren Vorteile, nicht nur Preissenkungen, sondern auch größere Auswahl, größere
Markttransparenz etc.
Angemessenheit: Nachteile werden mindestens kompensiert („Nettowirkung“), Zeitfaktor
D. Einzelfreistellung
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(3) Unerlässlichkeit der Beschränkung
Keine Möglichkeit, die Effizienzgewinne auch mit einer weniger wettbewerbsbeschränkenden
Vereinbarung zu erzielen
D. Einzelfreistellung
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(4) Keine Ausschaltung des Wettbewerbs
Vorrang Wettbewerbsschutz vor potenziellen Effizienzgewinnen
Je weniger Wettbewerb vor der Vereinbarung existierte, umso niedriger die Schwelle für Ausschaltung
des Wettbewerbs
Berücksichtigung von Marktanteilen und weiteren Faktoren
D. Einzelfreistellung
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Laut OLG Düsseldorf KEINE Freistellung für Bestpreis-Klauseln(OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.1.2015, Az. VI-Kart 1/14 (V) – HRS)
Bestpreisklausel führt zu Wettbewerbsbeschränkung im Markt für Hotelvermittlungs-leistungen, da andere Hotelvermittlungsportale keine günstigeren Preise erhalten dürfen
=> Anreiz für „Provisionenwettbewerb“ zwischen Portalen wird verringert
=> Neueintritt von Wettbewerbern in den Markt wird erschwert
Bestpreisklausel führt zu Wettbewerbsbeschränkung im Markt für die Vermietung von Hotelzimmern, da der Hotelier seine Preise in der Eigenvermietung stets so hoch kalkulieren wird, dass er trotz Risikos einer Buchung desselben Zimmers über HRS und daraus resultierender Provisionspflicht wirtschaftlich arbeiten kann (so BKartA – sehr umstritten)
Gruppenfreistellung wegen Überschreitens der Marktanteilsschwelle nicht möglich
Einzelfreistellung nicht möglich, da Voraussetzungen nach § 2 Abs. 1 GWB nicht erfüllt
=> Bestpreisklausel ist nicht unerlässlich und schaltet zudem den Wettbewerb aus
D. Einzelfreistellung
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Dr. Jochen BernhardRechtsanwalt / Compliance Officer (Univ.)
E-Mail: [email protected]
Telefon: (0711) 86040-611
Kartellrecht
Compliance
Antikorruptionsrecht
Externer Ombudsmann
Viel Erfolg!