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I. Shipspotting

Freuden und Mühen der Arbeit

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1.

Man stelle sich einen Tiefflug über eine der großen Städte der mo-dernen Welt vor, etwa über London an einem besonders grauenMontag gegen Ende Oktober, und gleite über die Verteilerzentra-len hinweg, die Wasserspeicher, Parkflächen und Leichenhallen.Man werfe einen Blick auf die Kriminellen der Stadt und auf diesüdkoreanischen Touristen. Sehe die Sandwich-Fabrik im Indus-triegebiet Park Royal, die Anlage eines Catering-Dienstleisters fürFluggesellschaften in Hounslow, das DHL-Zustelldepot in Batter-sea, die Gulfstreams auf dem City-Airport und die Wäschewagenvom Zimmerservice im Holiday Inn Express am Smuggler’s Way.Man lausche auf das Gekreisch im Speisesaal der GrundschuleSouthwark Park und betrachte die verstummten Kanonen im Im-perial War Museum. Man stelle sich die Fahrschullehrer vor, dieGas- und Stromableser und zaudernden Ehebrecher, verharre ei-nen Moment in der Entbindungsstation des St. Mary’s Hospitalund sehe sich Aashrita an, die dreieinhalb Monate zu früh zurWelt kam und, an Schläuche angeschlossen, in einem Plastikkastenschläft, hergestellt im Schweizer Kanton Obwalden. Man schauein den Prunksaal des Westflügels vom Buckingham Palace, bewun-dere die Königin, wie sie mit zweihundert behinderten Sportlernzu Mittag isst und beim anschließenden Kaffee eine Rede überEntschlusskraft hält. Man folge dem Regierungsminister ins Par-lament, wo er eine Gesetzesvorlage zur Vereinheitlichung derHöhe von Steckdosen in öffentlichen Gebäuden einbringt. Manbetrachte die Kuratoren der National Gallery, wie sie für den Er-werb eines Gemäldes des italienischen Malers Giovanni Panini ausdem achtzehnten Jahrhundert stimmen. Man mustere die Gesich-

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ter der angehenden Weihnachtsmänner, die im Untergeschoss vonSelfridges in der Oxford Street instruiert werden, und wunderesich über die Diktion des ungarischen Psychoanalytikers, der imFreud Museum in Hampstead eine Vorlesung über Stillen und Pa-ranoia hält.

Am östlichen Rand der englischen Hauptstadt nimmt unterdes-sen ein weiteres Ereignis seinen Lauf, das im öffentlichen Be-wusstsein keine Spur hinterlassen und außer bei den unmittelbardaran Beteiligten weiter keine Aufmerksamkeit erregen wird, un-ser Interesse aber dennoch verdient. The Goddess of the Sea ausAsien läuft in den Hafen von London ein. Ein Jahrzehnt zuvorwurde sie von Mitsubishi Heavy Industries in Nagasaki gebaut, ist390 Meter lang, grauorange gestrichen und trägt ihren Namen mittrotzigem Stolz, gibt sie sich doch nur wenig Mühe, jene Grazieund Schönheit heraufzubeschwören, die gemeinhin einer Göttinder Meere nachgesagt werden. Sie ist kompakt, bringt es auf 80 000

Tonnen, ihr Heck plustert sich auf wie ein pralles Kissen, und inihrem Laderaum stapeln sich turmhoch mehr als tausend Stahl-container in den verschiedensten Farben, randvoll mit einer Fracht,die aus Fabriken entlang des Kobe-Korridors wie aus Wäldern imAtlas-Gebirge stammt.

Dieser Leviathan ist nicht zu den besser bekannten Flussab-schnitten unterwegs, dorthin, wo Touristen sich im Gestank vonDieselmotoren Eiscreme kaufen, sondern zu einer Gegend, in dersich das Wasser schmutzigbraun färbt und Anlegestellen undLagerhäuser die Ufer zernarben – ein Industriegebiet, in das nurwenige Hauptstadtbewohner jemals vordringen, obwohl der ge-ordnete Ablauf ihres Lebens und nicht zuletzt die gesicherte Ver-sorgung mit Tango-Limonade oder Zement-Zuschlagstoffen vonseinen komplexen Operationen abhängt.

Unser Schiff hat spät am gestrigen Abend den Ärmelkanal er-reicht und ist dem Bogen der Küste Kents zu einer Stelle wenige

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Meilen nördlich von Margate gefolgt, an der es dann bei Tagesan-bruch die letzte Etappe seiner Fahrt über die untere Themse durcheine gespenstisch aussehende Gegend begann, die Gedanken an dieUrzeit wie an eine schreckensvolle Zukunft heraufbeschwor. EinOrt, an dem man halb damit rechnet, einen Brontosaurier hinterdem Skelett einer ausgebrannten Autofabrik hervorstampfen zusehen.

In diesem augenscheinlich so großzügig breiten Fluss gibt es inWahrheit nur eine einzige schmale, schiffbare Fahrrinne. Ge-wohnt, aberhundert Meter Wasser zum freien Spiel vor dem Bugzu haben, schleicht das Schiff nun so vorsichtig dahin wie ein stol-zes Geschöpf der Wildnis, das sich plötzlich in ein Zoogehege ein-gesperrt sieht; das Echolot stößt eine unablässige Folge scheuerPieptöne aus. Oben auf der Brücke mustert der malaysische Kapi-tän mit kritischem Blick eine Seekarte, die jede Untiefe und Unter-wasserrinne von Canvey Island bis Richmond verzeichnet. DasUfer hingegen – selbst dort, wo es von Baudenkmälern und städ-tischen Gebäuden nur so wimmelt – sieht aus wie die mit ›terraincognita‹ markierten Gebiete auf den Landkarten früher For-schungsreisenden. Beidseits des Schiffes wirbeln Plastikflaschen,Federn, Kork, glattgeschliffene Bohlen, Filzstifte und ausgebliche-nes Spielzeug im Wasser.

Kurz nach elf Uhr dockt The Goddess im Tilbury ContainerTerminal an. Angesichts der Strapazen, die hinter ihr liegen, hätteman erwarten können, dass sie von einem wenigstens zweitran-gigen Würdenträger oder gar einem ›Exultate, jubilate‹ singen-den Chor begrüßt wird. Doch gibt es nur einen Willkommens-gruß vom Dockvorarbeiter, der einen Stapel Zollerklärungen anein philippinisches Mannschaftsmitglied aushändigt und wiederverschwindet, ohne auch nur zu fragen, wie die Morgendämme-rung in der Meerenge von Malakka war oder ob vor Sri LankaDelphine gesichtet wurden.

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Allein schon die zurückgelegte Route ist beeindruckend. DreiWochen zuvor wurden in Yokohama die Anker gelichtet, und seit-her hat das Schiff in Yokkaichi angelegt, in Shenzhen, Mumbai,Istanbul, Casablanca und Rotterdam. Erst Tage zuvor, als auf dieHallen von Tilbury ein trostloser Regen niederging, hatte TheGoddess unter gnadenloser Sonne ihre Fahrt das Rote Meer hinaufbegonnen, umsegelt von Störchen aus Dschibuti. Die Kräne, diesich jetzt über ihrem Rumpf bewegen, entladen eine bunt zu-sammengewürfelte Fracht aus Heißluftherden, Laufschuhen, Ta-schenrechnern, Neonröhren, Cashewnüssen und Plüschtieren inleuchtenden Farben. Bei Tagesanbruch wird es in York neue Fern-sehgeräte geben. Und die Kisten mit marokkanischen Zitronenfinden sich noch am selben Abend in den Regalen von LondonsGeschäften wieder.

Kaum ein Konsument macht sich Gedanken darüber, woherdiese Früchte kommen, und noch weniger fragen sich, wer ihreHemden genäht hat oder wo die Rohrschellen hergestellt wurden,die den Duschschlauch mit dem Boiler verbinden. Für Herkunftund Reiseweg unserer Einkäufe haben wir meist nur Desinteresseübrig, auch wenn – zumindest für die Phantasievolleren unter uns –ein feuchter Fleck am Boden eines Kartons oder ein merkwürdiger,auf ein Computerkabel gedruckter Code auf Produktionsprozesseund Transportwege verweist, die oft weit nobler und mysteriöser,staunens- und erkundenswerter als die gekaufte Ware selbst sind.

2.

The Goddess of the Sea ist nur eines von einem Dutzend Schiffen,die sich an diesem Oktobertag ihren Weg die Themse hinauf su-chen. Ein finnischer Dampfer trifft aus der Ostsee ein, beladen mitPapierrollen groß wie Eisenbahntunnel, die für die geschwätzigen

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Druckerpressen von Wapping und West Ferry bestimmt sind.Beim Tilbury-Kraftwerk liegt ein Frachter tief im Wasser, derfünftausend Tonnen kolumbianischer Kohle geladen hat – genug,um bis Neujahr Strom für die Schnellkocher und HaartrocknerOstenglands zu liefern.

Am Kai öffnet ein Transporter seine breitmauligen Ladeluken,um dreitausend Familienlimousinen auszuspeien, die zwanzigTage auf See verbracht haben, seit sie das Montagewerk in Ulsanauf der koreanischen Halbinsel verließen. Diese nahezu identi-schen, nach frisch gepresstem Plastik und Kunstfaserteppich rie-chenden Hyundai-Amicas werden einmal Zeuge von Brotmahlzei-ten und Streitigkeiten sein, von Liebe und Autobahngesängen.Man wird sie zu schönen Aussichten fahren, und auf Schulpark-plätzen wird sich Laub auf ihnen sammeln. Einige werden ihreBesitzer töten. Ein Blick in diese unberührten Fahrzeuge, derenSitze noch in braunes, mit ebenso eleganten wie kryptischen ko-reanischen Schriftzeichen bedecktem Packpapier gehüllt sind, gibteinem das Gefühl, sich einer Unschuld zu nähern, wie man sieüblicherweise eher dem Schlaf von Neugeborenen zuschreibt.

Der Hafen lässt jedoch nur wenig Raum für lyrische Assozia-tionen. Rund um Tilbury bieten Schifffahrtsgesellschaften mit un-verblümter Offenheit ihre Dienste aus rauchglasverhüllten Unter-nehmenszentralen an. Um Kunden anzulocken und in Sicherheitzu wiegen, gibt man ihnen zu verstehen, dass die Fahrten derDampfer – selbst solche, bei denen man im Winter Kap Hoorn um-rundet oder dreißig Düsenmotoren über den Pazifik befördert –ungefähr so aufregend seien wie eine Fahrt von einer U-Bahn-Station zur nächsten.

Allerdings kann keine Kaianlage je gänzlich banal wirken, dasich der Mensch im Vergleich mit den großen Ozeanen stets win-zig fühlen wird. Deshalb birgt oft allein schon die Erwähnung fer-ner Häfen das wirre Versprechen, dort könne es faszinierendere

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Leben als jene geben, die wir kennen. Ein romantischer Beiklanghaftet Namen wie Yokohama an, Alexandria oder Tunis – Orte, diein Wahrheit natürlich keineswegs frei von Langeweile und Kom-promiss, aber doch so fern sind, dass sie uns wenigstens eine Weilekonfuse Tagträume vom Glück gestatten.

3.

Das Fahrtziel der Schiffe ist eigentlich kein einzelnes, zusammen-hängendes Hafengebiet, sondern eine Abfolge von Frachtabferti-gungsterminals und Fabriken, die in unregelmäßigen Abständendas Themseufer zwischen Gravesend und der Anlegestelle derWoolwich-Fähre säumen. Kontinuierlich treffen hier Frachter ein,Tag und Nacht, ob feuchter Sommer oder nebliger Winter, um ei-nen Großteil von Londons Kies und Betonstahl anzuliefern, Soja-bohnen und Kohle, Milch und Zellstoff, Zuckerrohr für Kekse undDiesel für Generatoren – eine Gegend, die so bemerkenswert wienur irgendein Museum der Stadt ist, in den Reiseführern aberstets verschwiegen wird.

Viele Fabriken stehen direkt am Flussufer, nahe genug, um Roh-materialien unmittelbar aus den Schiffsbäuchen aufzusaugen odereinzuschaufeln und einige der eher unbeachteten Ingredienzien fürdas reibungslose Funktionieren unserer nutzorientierten Zivilisa-tion zu produzieren: Polyole, die der Zahnpasta zugefügt werden,damit sie feucht bleibt, Zitronensäure, mit der man Waschmittelstabilisiert, Isoglucose zum Süßen von Cornflakes, Glyzerintri-stearat, um Seife herzustellen und Xanthan, um die Zähflüssigkeitvon Bratensoße zu garantieren.

Die Aufsicht über diese Herstellungsprozesse führen Inge-nieure, die ihre angeborene Müßigkeit überwunden haben, umsich schwerwiegenden Problemen der Chemie und Physik zu stel-

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len, Leute, die womöglich zwanzig Jahre damit verbracht haben,sich auf die Lagerung leicht entzündlicher Lösungsmittel zu spe-zialisieren oder auf die Reaktion von Zellstoff auf Wasserdampf –und die in ihrer Freizeit im Hazardous Cargo Bulletin blättern,dem weltweit einzigen Monatsmagazin, das sich ausschließlichdem Umgang mit Ölen und Chemikalien und deren sicheremTransport widmet.

Obwohl Größe und Umfang der Hafenanlagen beinahe un-menschlich wirken, sind es letztlich doch unsere recht prosaischenWünsche, der sie ihre Entstehung verdanken. Eine Uferfabrik mitRöhren, die sich wie Hydra-Tentakel um ihre Mitte schlängeln, er-füllt keinen unheimlicheren oder esoterischeren Zweck, als Käse-Biskuits herzustellen. Ein Tanker hat von Rotterdam aus die schlam-mig braune Nordsee durchquert, um jenes Kohlendioxid zu liefern,mit dem man in Kinderlimonade Blasen erzeugt. Der stahlgraueKasten der Fabrik Kimberly-Clark in Northfleet, acht Stockwerkehoch und groß genug, um einen Flugzeugträger darin verschwin-den zu lassen, stellt kistenweise zweilagiges Toilettenpapier her.Unsere kollektiven Vorlieben für Süßigkeiten und Nüsse, Getränkeund Papiertaschentücher sind es, die Schiffe aus fernen Kontinen-ten herbeirufen und jene Industrietürme wachsen lassen, die esmit dem Dom der St Paul’s Cathedrale aufnehmen können.

Die Vorgänge rund um den Hafen sind so obskur, dass ein ein-zelner Mensch nie hoffen kann, mehr als nur einen Bruchteil ihrerGesamtheit begreifen zu können. Ein Schiffskapitän mag exzellentüber den Verlauf der unteren Themse Bescheid wissen. Kaum hater jedoch seinen Frachter angedockt, kommt ihm nur mehr derStand eines Hilfsbeobachters zu, wenn es etwa um Hafenlogistikoder die langfristige Kühlung von Zitrusfrüchten geht – seinMachtbereich endet so abrupt wie die Eintragungen auf seinerSeekarte.

Jeder Kummer aber, den das Verschwinden von Generalisten in

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uns aufkommen lassen könnte, wird durch die Erkenntnis gelin-dert, dass unsere Zeit uns Zugang zu wahrhaft unanfechtbarenMeistern ihres Faches bietet, etwa jenem der Bitumenlagerungoder jenem der Konstruktion von Förderbändern zur Schiffsbela-dung. Was doch gewiss ebenso tröstlich ist wie der Gedanke, dasses Professoren der Medizin gibt, die sich ausschließlich auf dieFunktionsweise von Enzymen der menschlichen Leber konzen-trieren, oder die Vorstellung, dass zu jeder gegebenen Zeit auf derganzen Welt mehrere hundert Gelehrte nichts anderes als die späteMerowingerzeit in der fränkischen Geschichte erforschen, um ihreErkenntnisse später in der Zeitschrift für Archäologie des Mittel-alters zu publizieren, einem akademischen Journal, das von dergeisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen her-ausgegeben wird.

Der Hang zur Spezialisierung existiert auch auf maschinellerEbene. Das Hafengebiet ist voll mit Maschinen, die für die allge-meine Öffentlichkeit gar nicht so ohne weiteres zu erwerben sindund die weder die Flexibilität noch die dilettantischen Schwächengewöhnlicher Transportmittel wie etwa LKWs oder Lieferwagenaufweisen. Sie ähneln seltsam aussehenden Tieren, deren isolierteLebensräume eigenartig Talente in ihnen hervorgebracht haben.Manche besitzen etwa die Fähigkeit, durch die Nase Käfer aus demSchlamm zu saugen oder mit dem Kopf nach unten über einem un-terirdischen Fluss zu hängen, während es ihnen dafür zugleich aneher profanen Eigenschaften mangelt. Der R30XM2-Hubwagender Hyster Corporation in Cleveland, Ohio, mag es zwar nur aufeine Höchstgeschwindigkeit von fünf Kilometern die Stunde brin-gen, doch huscht er im engen Umfeld einer Lagerhalle anmutigüber den Betonboden dahin und legt eine schon fast ballettöseGelenkigkeit an den Tag, wenn es darum geht, aus den oberstenRegalen beidseits eines schmalen Ganges Papierrollen herauszu-holen.

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Es scheint nur natürlich, Geduld und Mut jener Leute zu be-wundern, die das nötige Geld aufbrachten, diese verlängertenGliedmaßen der Industrie zu schaffen, etwa die zweihundertfünf-zig Millionen Dollar, die allein benötigt werden, den Kiel einestransatlantischen Containerschiffs zu Wasser zu lassen. Die Inves-toren wissen, dass es weder unplausibel noch vermessen ist, Sum-men in Höhe der Lebensersparnisse von Postboten oder Kranken-schwestern einer ganzen Nation aufzubringen und dieses Geld fürdie Finanzierung von Lagerhäusern in Panama oder Back Officesin Hamburg zu bewilligen. Sie können ihre Geldmittel beruhigtfür ein Jahrzehnt oder länger aus dem Blick verlieren und denHänden von Kapitänen und Ersten Offizieren überantworten, diedank ihnen die Wendekreise des Krebses und des Steinbocks que-ren, den Long Island Sound oder das Ionische Meer durchfahrenund in den Containerhäfen von Aden und Tanger anlegen, ohne jein ihrer Zuversicht wanken zu müssen, dass die Investition letzt-lich auch zu ihnen zurückgespült kommt, vermehrt um dieFrüchte von Fleiß und Geduld. Sie wissen, in Wahrheit sind ihreAusgaben sinnvoll und weit weniger problematisch angelegt, alsversteckte man Geld unterm Bett, wo es doch letztlich nur zu un-ser aller Verarmung und unserem Ruin beitrüge.

4.

Warum aber werden Frachtschiffe und Hafenanlagen außer vonjenen, die unmittelbar mit ihnen zu tun haben, kaum wahrgenom-men – obwohl sie für uns doch nicht nur praktische Bedeutung ha-ben, sondern durchaus auch eine emotionale Resonanz auslösen?

Es liegt nicht nur daran, dass sie schwer zu finden und sträflichschlecht ausgeschildert sind. So manch eine Kirche in Venedig liegtähnlich versteckt, wird aber dennoch massenhaft besichtigt. Schiffe

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und Häfen dagegen machen ein Vorurteil unsichtbar, dem zufolgejemand als ein wenig merkwürdig gilt, sollte er allzu offen Bewun-derung für einen Gastanker oder eine Papierfabrik – oder über-haupt für irgendeinen Aspekt der Arbeitswelt – bekunden.

Doch lassen sich nicht alle davon abhalten. In Gravesend stehenam Ende eines Piers fünf Männer im Regen. Sie tragen wasserfestePlastikjacken und Schuhe mit dicken Sohlen. Stumm und ange-spannt starren sie hinaus auf den nebelverhangenen Fluss, umeinen Umriss zu beobachten, hinter dem sich, wie ihnen ihre Fahr-pläne verraten haben, die Grande Nigeria verbirgt. Sie wissenaußerdem, dass sie nach Lagos unterwegs ist, Ford-Ersatzteile fürden afrikanischen Markt geladen hat, von zwei 900er Sulzer Die-selmotoren angetrieben wird und von Heck bis Bug zweihundert-vierzehn Meter misst.

Sie haben keinen praktischen Anlass, den Frachter so aufmerk-sam zu beobachten. Es gehört nicht zu ihren Aufgaben, seinenLiegeplatz für das nächste Schiff vorzubereiten, auch nicht – das istSache der Besatzung des nahen Kontrollturms – ihm eine Route fürdie Fahrt zur Nordsee zuzuweisen. Sie wollen die Grande Nigeriaeinfach nur bewundern und ihre Durchfahrt festhalten. Für diesesStudium des Hafenlebens legen sie eine Hingabe an den Tag, wieman sie sonst oft nur noch im Bereich der Kunst kennt; lässt ihrVerhalten doch darauf schließen, dass sie der Ansicht sind, Krea-tivität und Intelligenz könnten ebenso beim Transport von Ach-sen entlang der Küste der Westsahara zum Ausdruck kommen wiein der Verwendung von Impasto beim Zeichnen eines weiblichenAktes. Wie launenhaft aber wirken dagegen Museumsbesucher, diesich so ungeduldig für Cafeterias interessieren, sich so leicht vonMuseumsläden ablenken lassen und nur allzu bereitwillig die Sitz-bänke in Anspruch nehmen. Und wie oft steht schon jemand zweiStunden in regnerischem Unwetter vor Hendrickje badet am Flussmit nichts als einer Thermoskanne Kaffee zur Stärkung?

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Zugegeben, die Schiffsgucker reagieren nicht gerade besonderseinfallsreich auf die Objekte ihrer Begierde. Ihre Welt ist die derStatistik, und ihre Aufmerksamkeit richtet sich auf An- oder Ab-legetag und Schiffsgeschwindigkeit, auf das Vermerken von Turbi-nenanzahl und Achslänge. Sie benehmen sich wie jemand, der sichverliebt hat und die Angebetete bittet, seiner Neigung nachzu-geben und bei ihr die Entfernung zwischen Ellbogen und Schul-terblatt messen zu dürfen. Indem sie ihre Leidenschaft in eineAnsammlung von Fakten übertragen, folgen die Schiffsguckerdurchaus etablierten Vorbildern, wie man sie auch aus der akade-mischen Welt kennt. In einer Welt, in der ein Kunsthistoriker, dendie zärtliche Heiterkeit, die er im Werk eines florentinischen Ma-lers des vierzehnten Jahrhunderts wahrnahm, derart zu Tränenrührt, dass er beginnt, eine ebenso untadelige wie blutleere Mono-graphie über die Geschichte der Farbherstellung zu Zeiten Giottoszu schreiben. Offenbar ist es einfacher, auf unsere Begeisterungmit Fakten zu reagieren, als sich der eher naiven Frage zu stellen,wie und warum unsere Gefühle geweckt wurden.

Mögen die Schiffsgucker ihre Leidenschaft auch noch so inad-äquat ausdrücken, beweisen sie dennoch ein angemessenes Gespürfür die erstaunlichsten Aspekte unserer Zeit. Sie wissen, was anunserer Welt so besonders ist, dass sie einen Marsianer oder einKind zu fesseln vermöchte. Es gefällt ihnen, angesichts der umfas-senden Intelligenz des modernen kollektiven Verstandes die eigeneWinzigkeit und Unwissenheit zu spüren. Vor einem Schiff imDock, den Kopf im Nacken, um die stählernen Aufbauten hoch imHimmel verschwinden zu sehen, fallen sie wie Pilger vor denStrebepfeilern der Kathedrale von Chartres in einen Zustandstummen, zufriedenen Staunens.

Sie schämen sich auch keineswegs, exzentrisch zu wirken, wennes ihre Neugier gebietet. Sie kauern sich hin, um einen Blick aufSchiffsschrauben zu werfen, und fragen sich beim Einschlafen, wo

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auf den weiten Meeren ein bestimmter Tanker jetzt wohl seinkönnte. Ihre Konzentration erinnert an die eines kleinen Mäd-chens, das mitten in einer überfüllten Einkaufspassage einfachstehen bleibt – weshalb die Passanten der Kleinen ausweichenmüssen –, um sich zu bücken und mit der Aufmerksamkeit einesBibelscholaren, der sich über die Seiten eines in Pergament einge-schlagenen Buches beugt, ein auf dem Pflaster zerdrücktes Kau-gummi zu betrachten oder den Verschlussmechanismus ihrerManteltasche zu untersuchen. Wie Kinder sind sie auch in ihrerSkepsis gegenüber den herkömmlichen Vorstellungen von einemguten Arbeitsplatz, schätzen sie doch gewisse Möglichkeiten, dieihnen eine Stelle bietet, oft höher als die relativen materiellen Vor-züge ein, etwa wenn sie besonderes Interesse am Posten einesKranführers auf einem Container-Terminal zeigen, da ihnen des-sen Kabine einen guten Aussichtsplatz über Schiffe und Hafenan-lagen bietet – so wie ein Kind vielleicht Lokführer werden möchte,weil es das Zischen der hydraulischen Zugtüren so verführerischfindet, oder Leiter eines Postamtes, weil es ihm gefällt, Airmail-Sticker auf pralle Umschläge zu kleben.

Das Hobby der Schiffsgucker geht zurück auf die Angewohn-heiten prämoderner Reisender, die, kaum in einem neuen Landangekommen, dazu neigten, besonderes Interesse etwa an Korn-speichern, Aquädukten, Häfen und Werkstätten zu zeigen. Siefanden es ebenso stimulierend, Arbeitsprozesse zu beobachten wiesich ein Stück auf der Bühne oder ein Bild an einer Kapellenwandanzusehen – eine wohltuende Abweichung von der zeitgenössi-schen Ansicht, die Tourismus eher dem Spiel gleichstellt und un-ser Interesse deshalb von Aluminiumschmelzereien und Abwas-seranlagen fort und hin zu den vielgelobten Vergnügungen vonMusical und Wachsfigurenkabinett lenkt.

Die Männer unten am Fluss haben sich von solchen Erwar-tungen befreit und bekunden freimütig ihre Neugier für Fracht-

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bewegungen und rumpelnde Fließbänder. Wo ein gewöhnlicherZuschauer von ihrem Platz auf der Pier vermutlich nur drei Last-kraftwagen sieht, die vom Fabrikgelände fahren, haben sie gelernt,darin eine Etappe der fortdauernden Odyssee einer Schiffsladungbrasilianischen Zuckerrohrs zu sehen, die, vom Frachter Valeriageliefert und zu Zucker verarbeitet, nun Silbertowns Tate andLyle-Raffinerie in Richtung einer Fabrik für Rosinenkuchen inDerby verlässt. Die Befriedigung, die ihnen solches Wissen bietet,mag mit jener eines Ornithologen vergleichbar sein, der, wenn erdurch sein Fernglas ein Geschöpf entdeckt, das die meisten Men-schen als einen dieser vielen blaugrauen Vögel abtun würden, desFrühjahrs erste Sichtung eines phylloscopus trochilus feiert, derhier nach einer Reise von fast sechseinhalbtausend Kilometern ausseinem Winterquartier an der Elfenbeinküste Rast einlegt.

5.

Wie unwissend sind dagegen die meisten von uns, umgeben vonMaschinen und inmitten von Arbeitsabläufen, von denen wireine nur höchst ungefähre Kenntnis haben; wir, die wir nichts überPortalkräne und Großraumfrachter wissen, für die Wirtschaft-liches nur eine Reihe von Zahlen ist, die jedes genauere Studiumvon Schaltanlagen, Weizenlagerung und jede nähere Bekannt-schaft mit den Fertigungsabläufen bei der Herstellung von hoch-festem Stahl vermieden haben. Wie viel könnten wir doch von je-nen Männern am Ende eines Piers am Stadtrand von Londonlernen.

Sie, diese Männer, haben zu diesem Buch angeregt, von dem sichder Autor erhofft, es möge ein wenig wie eine jener Stadtland-schaften des achtzehnten Jahrhunderts wirken, die Menschen beider Arbeit auf dem Kai oder im Tempel zeigen, im Parlament oder

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Kontor, Panoramen wie jene von Canaletto, auf denen man, voneinem einzigen Rahmen umschlossen, Schauermänner beim Ent-laden von Kisten sieht, auf dem Marktplatz verhandelnde Kauf-leute, Bäcker vor ihren Öfen, nähende Frauen im Fenster und denim Palast tagenden Ministerrat – inklusive Szenen, die uns daranerinnern, welchen Platz die Arbeit jedem von uns im menschlichenGewimmel zuweist.

Die Männer am Pier haben mich zu dem Versuch inspiriert, eineHymne auf die Vielfalt, Eigenart, Schönheit und die Schrecknissemoderner Arbeit anzustimmen, nicht zuletzt wegen ihres außer-ordentlichen Anspruchs, neben der Liebe wichtigster Quell für dieBedeutung des Lebens zu sein.

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Unverkäufliche Leseprobe aus:

Alain de BottonAlain de BottonAlain de BottonAlain de Botton Freuden und Mühen der ArbeitFreuden und Mühen der ArbeitFreuden und Mühen der ArbeitFreuden und Mühen der Arbeit Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012