49
Gerlitz, Peter, (1926-): Mensch und Natur in den Weltreligionen: Grundlagen einer Religionsökologie. Darmstadt, Wiss. Buchges., 1998. <109:> Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte Jesu im Markusevangelium „Und sogleich führte ihn der Geist in die Wüste hinaus. Und er weilte vierzig Tage in der Wüste und wurde vom Satan versucht. Er lebte unter den wilden Tieren, und die Engel dienten ihm" (Mk 1,12 u. 13). Im Unterschied zu Matthäus, der sie ausführlich und in aller Plastizität schildert (vgl. Mt 4,1- 11), widmet Markus, der älteste der Evangelisten, der Versuchungsgeschichte Jesu nur zwei Verse, die jedoch genügen, um in uns sogleich ein unvergeßliches Bild hervorzurufen und eine Fülle von Assoziationen zu wecken. Wie bei Matthäus, so geht auch dieser kleinen Markusversion die Taufe und damit die Berufung Jesu voraus: Johannes vollzieht auch hier die Taufe im fließenden Wasser des Jordan, und der Geist Gottes schwebt einer Taube gleich auf Jesus herab. Es sind auch die gleichen Worte, mit denen Jesus berufen wird, Worte, die aus dem Himmel über ihn gesprochen werden: „Du bist mein lieber Sohn; an dir habe ich Wohlgefallen." Aber es gibt da einen kleinen Unterschied: Bei Markus redet die Gottesstimme Jesus selbst an (Mk 1,11), während sie bei Matthäus (Mt 3,17) so klingt, als würde sie sich an die Umstehenden, an die Mittäuflinge wenden, die auf Jesus schauen sollen. Markus, könnte man sagen, schildert die unmittelbare Beziehung des Vaters zum Sohn, Matthäus macht die Taufe zu einem Zeichen der Verkündigung an die Umstehenden, die hier bereits als eine Gemeinde angesprochen werden. Diese unmittelbare Beziehung zwischen Gott und Jesus von Nazareth scheint bei Markus auch während der Versuchung fortzubestehen, ja, die Versuchung wird eigentlich nur angedeutet und nur am Rande erwähnt mit dem unscheinbaren und doch so schwerwiegenden Nebensatz: „er wurde vom Satan versucht". Dann folgt sofort die Mitteilung: „und er lebte

Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

  • Upload
    others

  • View
    3

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

Gerlitz, Peter, (1926-): Mensch und Natur in den Weltreligionen: Grundlagen einer Religionsökologie. Darmstadt, Wiss. Buchges., 1998.

<109:> Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen JudentumEine Auslegung der Versuchungsgeschichte Jesu im Markusevangelium

„Und sogleich führte ihn der Geist in die Wüste hinaus. Und er weilte vierzig Tage in der Wüste und wurde vom Satan versucht. Er lebte unter den wilden Tieren, und die Engel dienten ihm" (Mk 1,12 u. 13). Im Unterschied zu Matthäus, der sie ausführlich und in aller Plastizität schildert (vgl. Mt 4,1-11), widmet Markus, der älteste der Evangelisten, der Versuchungsgeschichte Jesu nur zwei Verse, die jedoch genügen, um in uns sogleich ein unvergeßliches Bild hervorzurufen und eine Fülle von Assoziationen zu wecken. Wie bei Matthäus, so geht auch dieser kleinen Markusversion die Taufe und damit die Berufung Jesu voraus: Johannes vollzieht auch hier die Taufe im fließenden Wasser des Jordan, und der Geist Gottes schwebt einer Taube gleich auf Jesus herab. Es sind auch die gleichen Worte, mit denen Jesus berufen wird, Worte, die aus dem Himmel über ihn gesprochen werden: „Du bist mein lieber Sohn; an dir habe ich Wohlgefallen." Aber es gibt da einen kleinen Unterschied: Bei Markus redet die Gottesstimme Jesus selbst an (Mk 1,11), während sie bei Matthäus (Mt 3,17) so klingt, als würde sie sich an die Umstehenden, an die Mittäuflinge wenden, die auf Jesus schauen sollen. Markus, könnte man sagen, schildert die unmittelbare Beziehung des Vaters zum Sohn, Matthäus macht die Taufe zu einem Zeichen der Verkündigung an die Umstehenden, die hier bereits als eine Gemeinde angesprochen werden.Diese unmittelbare Beziehung zwischen Gott und Jesus von Nazareth scheint bei Markus auch während der Versuchung fortzubestehen, ja, die Versuchung wird eigentlich nur angedeutet und nur am Rande erwähnt mit dem unscheinbaren und doch so schwerwiegenden Nebensatz: „er wurde vom Satan versucht". Dann folgt sofort die Mitteilung: „und er lebte unter den wilden Tieren, und die Engel dienten ihm". Der Satan spielt in der Versuchungsgeschichte <109:> des Markus so gut wie keine Rolle; was er sagt, wozu er Jesus verführen will, welche Listen er anwendet, bleibt unerwähnt. Das alles aber sind für Matthäus wichtige und notwendige Herausforderungen, denen sich Jesus stellen und die er bewältigen muß, wenn sich seine Messianität als glaubwürdig und wahrhaftig erweisen soll. Für Markus hingegen genügt es, die Versuchung zu erwähnen. Der Leser bzw. Hörer mag selbst ahnen, was hinter dem Nebensatz steht. Dem Evangelisten scheint es aber eigentlich um etwas anderes zu gehen: Er möchte mit der Erzählung vom Wüstenaufenthalt zu verstehen geben, daß Jesus mit seiner Verkündigung gleichsam an der Schöpfungsgeschichte anknüpft und daß die Verkündigung Jesu diese Schöpfungsgeschichte ganz im Sinne des Schöpfers fortsetzen will.Das Chaos, welches am Anfang war, erscheint auch hier wieder. Die Wüste mit ihrer Lebensfeindlichkeit, ihrer Wasserlosigkeit, ihrer Einsamkeit erscheint bei Markus noch einmal als das „Wüste und Leere", von dem die Bibel am Anfang spricht. Jesus betritt als der von Gott gesandte und berufene Sohn die tödliche Leere der Wüste Juda. Vierzig Tage, Tage der Versuchung und der Heimsuchung, braucht Jesus, um dem Satan, diesem Prinzip alles Bösen, zu widerstehen. Die Kraft dazu erhält er von Gott. Aber dieser Gott sendet ihm seine Helfer, die wilden Tiere und die Engel, die ihm dienen. Die Tiere sind nicht etwa dazu da, das Ambiente der Wüste, in der sich Jesus aufhält, anzureichern und auszuschmücken; sie sind nicht „Staffage der menschenlosen Wüste", wie Julius Wellhausen einmal gesagt hat (Wellhausen 1909, S. 7); sie sind aber auch keine Zeichen des Schreckens, die den lebensfeindlichen Charakter der Wüste unterstreichen sollen, und „Satans Verbündete", wie Ernst Lohmeyer meinte (Lohmeyer 1957, S. 27 f.), oder gar Jesu Feinde, die sein Werk in

Page 2: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

Frage stellen wollen und die er hier souverän beherrschen und abwehren kann. Diese Interpretationsversuche sind fragwürdig, da bei ihnen eine negative Typologie überwiegt. Die Interpreten und Ausleger gehen nämlich davon aus, daß es sich bei den hier erwähnten „Tieren" um bösartige, aggressive Raubtiere handeln müsse. Aber theria, das in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, gebräuchliche griechische Wort für „Tiere", bedeutet einfach „wild lebende Landtiere", worunter man hauptsächlich jene Tiere zu verstehen hat, die Gen 2,19 vorkommen. Dort werden sie von Gott dem Adam zugeführt, damit er ihnen Namen gäbe (Gräßer 1986, S. 149). Im übrigen deutet das griechische Umstandswort meta für „mit", „unter" oder „bei" darauf hin, daß sich<110:> Jesus in der Wüste „unter den Tieren", „gemeinsam mit den Tieren", „unter den gleichen Bedingungen, wie sie Tiere haben", befand, also wie sie dem Hunger und dem Durst ausgeliefert war und wie sie um das Überleben kämpfte.Erich Gräßer macht noch auf einen weiteren Zusammenhang aufmerksam. Er sagt mit Recht: „Die Tiere stehen in typologischer Beziehung zu Gen 2ff." (Gräßer 1986, S.150ff.). Diese Typologie läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß der erste Adam den Tierfrieden zerstörte und der zweite (Jesus) ihn wiederherstellt, indem er das messianische Reich heraufführt. Gräßer nennt dazu u. a. die Apokalypse des Mose, eine apokryphe Schrift, die davon berichtet, wie sich die Tiere nach der Gebotsübertretung des Adam gegen den bzw. die ersten Menschen erheben und revoltieren. Mit einem Wort: In der Urzeit gab es einen Frieden zwischen Menschen und Tieren. Aber die Menschen, vor allem Adam, der Prototyp aller Menschen, reißen durch ihre Schuld die Tiere mit ins Verderben (vgl. Gräßer 1986, S. 152) und machen sich dadurch zu Feinden der Tiere. Seitdem besteht jene ambivalente Beziehung zwischen dem Geschöpf Mensch und den anderen. Geschöpfen, in der die Tiere „Gefährten und Feinde des Menschen" sind, wie der Titel eines jüngst erschienenen theologischen Buches über „Das Tier in der Lebenswelt des alten Israel" (Janowski/Neumann-Gorsolke u. a. 1993) lautet.Aber die Auseinandersetzung zwischen Mensch und Tier findet nur während einer Zeit statt, die als die Zeit des alten oder des ersten Adam charakterisiert wird. Christus, „der neue Adam", hat mit der Versöhnung zwischen Gott und den Menschen auch eine Versöhnung in und mit der Natur bewirkt. Und er selbst lebt diese Versöhnung, indem er mitten in der Wüste, während er vom Satan versucht wird, vierzig Tage seines Lebens mit den Tieren in Eintracht zubringt. Die hier aufgezeigte Typologie spricht gleichsam von einer neuen Schöpfung: Der erste Adam wollte sein wie Gott und wissen, was gut und was böse ist; er zerstörte den Frieden in der Schöpfung, so daß es noch in der Geschichte vom Bund Gottes mit Noah heißen kann: „Furcht und Schrecken vor euch [gemeint sind die Söhne Noahs, d. h. die Menschen insgesamt] sei über allen Tieren auf Erden und über allen Vögeln unter dem Himmel, über allem, was auf dem Erdboden wimmelt, und über allen Fischen im Meer; in eure Hände seien sie gegeben. Alles, was sich regt und lebt, das sei eure Speise" (Gen 9,2 u. 3). Aber der zweite Adam, Christus, ist gehorsam gegenüber Gott und stellt den Bund Gottes mit der Natur wieder her und bewirkt damit den Schöpfungsfrieden, indem er — wie es im Kolos-<111:> serbrief (Kol 1,20) heißt — alles im Himmel und auf Erden miteinander versöhnt. In der Endzeit stellt Christus die Urzeit wieder her; das Paradies, das am Anfang war, kommt in der Endzeit wieder. Die Typologie der Versuchung Christi bei Markus stellt diese Verbindung von Urzeit und Endzeit her: Daß Jesus während seines Aufenthalts in der Wüste mit und unter den Tieren lebt, ist ein Hinweis auf den Paradieseszustand, den unsere Erde einst besaß und einmal wieder besitzen wird (vgl. Gräßer 1986, S. 152). Der Messias führt diesen messianischen Zustand herbei; denn er besteht die Versuchungen, in die ihn der Satan führt. Darum kommen jetzt die Engel, um ihm zu dienen. Die Versuchung ist für den Satan ein Mittel, um die alten Strukturen wiederherzustellen, nämlich die Herrschaftsstrukturen des ersten und alten Adam, die in der Herrschaft des Menschen über die Natur bestanden. Der

Page 3: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

Satan wehrt sich gegen die von Jesus verkündigten und gelebten neuen Gesetze, die alle in einem umfassenden Schöpfungsfrieden gipfeln. Indem Jesus dem Ansinnen des Satan widersteht, bezeugt er, daß seine Herrschaft im Frieden der gesamten Schöpfung besteht, also eine Herrschaft ohne die alten Herrschaftsstrukturen ist, welche in Ausbeutung und Unterdrückung bestanden. Zum messianischen Friedensreich gehören Menschen, Tiere und Pflanzen sowie die sogenannte „unbelebte Natur". Die großen Heiligen der christlichen Kirche werden sich später dieser Stelle im Markusevangelium erinnern und in Jesus das Beispiel eines Menschen entdecken, der im Einklang mit der Natur war, weil er mitten in einer lebensbedrohlichen Situation, in der seine Botschaft und er selbst auf dem Spiele standen, bei den wilden Tieren Zuflucht suchte und mit ihnen zusammenlebte.Auch das Neue Testament und das Christentum haben also ihr >Mettäparamitä<. Wie der Buddha umgeben ist von wilden Tieren und sie mit seiner Herzensgüte bezwingt, so daß weder bei ihm noch bei den Tieren Furcht aufkommt, so lebt auch Christus unter den wilden Tieren in Frieden mit ihnen. Natürlich gibt es Unterschiede: Der Buddha erfährt sich als Friedensbringer und Allversöhner erst, nachdem er den Weg zur Überwindung des Leidens gefunden hat und auch Mara, seinen Versucher, längst abgeschüttelt hat; für ihn ist der Friede in der Natur erst das Ergebnis eines langen Weges. Für Christus hingegen ist dieser Friede eine Bedingung für sein Auftreten und seine Botschaft und vor allem eine Prüfung, zu der ihn der Geist Gottes in Gestalt der Versuchung durch den Satan auffordert. Auch der Ort und die Situation sind bei beiden Religionsstiftern<112:> verschieden: Der Buddha begegnet den wilden Tieren in einem offenbar von Früchten und anderen Nahrungsmitteln strotzenden tropischen Wald, während Christus unter und mit den Tieren in einer lebensfeindlichen Wüste lebt, in der es weder Nahrung noch Wasser gibt. Beide jedoch empfinden das Leben unter den wilden Tieren als eine Prüfung, die nur durch die Macht der Herzensgüte zu bestehen ist. Mettä, die Macht der Herzensgüte, die das Neue Testament agape, „Liebe", nennt, ist das Neue, mit dem beide Religionen anfangen. Mettä und agape überwinden die alte Weltordnung, in der der Mensch noch ein Feind der Natur war und die Natur ein Feind des Menschen, und setzen neue Maßstäbe, die das Verhältnis von beiden neu ordnen und die beiden Feinde miteinander versöhnen. Der Buddha wie der Christus bewirken durch ihre Liebe den Frieden in der Natur, welcher Menschen und Tiere, Pflanzen und die Elemente umfaßt; und wer mit und unter den Tieren leben kann, der kann auch mit und unter den Menschen leben.

Die Natur als metaphorische Kulisse im Neuen Testament

Tiere als Botschafter GottesZahlreich sind die Stellen im Neuen Testament, an denen Jesus Tieren und Pflanzen eine metaphorische und allegorische Bedeutung zuweist. Sie machen seine Predigt anschaulich, sie dienen der Interpretation seiner prophetischen Handlungen, sie veranschaulichen die Letzten Dinge, das Reich Gottes und das Jüngste Gericht, sie werden zur Darstellung der Hoffnung und Ermutigung, aber auch zur Warnung vor Ungerechtigkeit und Untergang gebraucht. Die Metaphern sind ubiquitär, die Bilder von Tieren und Pflanzen allgegenwärtig: Jedesmal verbirgt sich hinter einem „natürlichen" Objekt eine geistige Wirklichkeit, die die Menschen meint und sich auf ihre Situation bezieht. Immer stellen die Metaphern aus der Natur Bilder dar, die sich auf das Leben und Leiden der Menschen anwenden lassen und es mit ihrer Rettung oder ihrer Verdammung zu tun haben.Unter den Tieren spielen die Haustiere eine besondere Rolle in der Predigt Jesu. Das Volk Israel ist zur Zeit des Neuen Testaments bereits ein Volk der Bauern. Längst hat es die Verhaltensweisen der nomadischen Vorfahren abgestreift und ist seßhaft geworden. Zum seßhaften Bauern gehören die Haustiere, die als Arbeits- und Nutz-<113:> tiere mit den Menschen zusammenleben und eine Art Lebensgemeinschaft bilden.

Page 4: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

Dabei fällt zunächst auf, daß das Großvieh, die Rinder, nie Erwähnung findet und z. B. Pferde nur im Jakobusbrief und in der Apokalypse des Johannes vorkommen. Es ist immer nur von Kleinvieh, Schafen und Ziegen, und natürlich den Eseln die Rede, den Gefährten der Menschen aus ihrer nomadischen Vergangenheit, Tieren, die auch den Bauern treu geblieben sind. Sie bedeuten dem biblischen Menschen alles: Sie sind Besitz, Tauschobjekt, Nahrungsspender, Statussymbol und Währung zugleich. Und sie dienen gerade wegen ihres außerordentlichen Wertes für Jesus als Metapher, mit der sich letzte Wahrheiten und die Wirklichkeit der Erlösungsbotschaft ausdrücken lassen.Das Gleichnis vom verlorenen Schaf (pröbaton)' ist dafür ein besonders gutes Beispiel: „Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste läßt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet? Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen" (Lk 15,4-7). Es läßt sich unschwer erkennen, daß das eine Schaf, das verlorenging, für den Hirten einen außerordentlichen Wert darstellt, so daß es sich für ihn lohnt, dem verlorenen Tier nachzusteigen, bis er es gefunden und zur Herde zurückgebracht hat. Aber eben: Das Schaf ist hier – wie überall im Neuen Testament – nur Metapher, auf deren Hintergrund eine andere Wirklichkeit sichtbar werden soll, die Wirklichkeit des erbarmenden Gottes, der den Sünder nicht aufgibt, mag er ihm auch noch so weit entrückt sein.Metaphern sind auch die Schafe und Böcke, die beim Weltgericht erwähnt werden: „Alle Völker werden vor ihm [dem Menschensohn] versammelt werden, und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet. Und er wird die Schafe zu seiner Rechten stellen, die Böcke aber zu seiner Linken" (Mt 25,32 u. 33).Warum aber stehen hier die Schafe für „die Gesegneten" Gottes (Vers 34) und die Böcke für die von Gott „Verfluchten" (Vers 41)? Gewiß nicht deshalb, weil die Schafe mehr wert sind als die Böcke, weil sie Milch geben und Junge werfen, sondern weil das Bild der<114:> Trennung von Schafen und Böcken bei jedem Juden sofort Assoziationen hervorruft, die es mit Gottes Gericht zu tun haben. Und Gericht heißt im neutestamentlichen Griechisch nichts anderes als krisis, nämlich Scheidung, Trennung in Gute und Böse, Berufene und Verworfene, Erwählte und Verdammte. Das eschatologische Gericht, bei dem Christus als Weltenrichter auftritt, scheidet die Menschen in zwei Gruppen, wobei der einen Gruppe verheißen wird: „Nehmt das Reich in Besitz, das euch seit der Grundlegung der Welt bereitet ist" (Mt 25,34), der anderen Gruppe aber der Prozeß gemacht wird mit den Worten: „Hinweg von mir, Verfluchte, in das ewige Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist" (Mt 25,41). Mit den Schafen schließlich sind Menschen gemeint, die Gottes Willen tun, die Nächstenliebe und Barmherzigkeit üben, mit den Böcken aber Menschen, die sich der Nächstenliebe entziehen und unbarmherzig mit ihresgleichen verfahren. Die Scheidung zwischen Schafen und Bökken wird zum Bild für die eschatologische Scheidung zwischen Erwählten und Verdammten.Schließlich wird das Schaf bzw. das Lamm in seiner Unschuld und Demut gar zum Bild für Jesus und seine Passion: Jesus ist „das Lamm Gottes (ho amnös tü theü), das der Welt Sünde trägt" (Joh 1,29). Im Hintergrund dieses Bekenntnisses steht die berühmte Stelle bei Jesaja, wo die Leiden des Gottesknechts geschildert werden:Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen.Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten,und durch seine Wunden sind wir geheilt.Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn.

Page 5: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird,und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.(Jes 53,5-7)Das Lamm ist bei Jesaja und schließlich im Neuen Testament Bild und Ausdruck für das Ertragen von Leid und Schn brz. Es vermag wie kein anderes Tier demütig und ergeben in sein Schicksal die ihm zugefügten Leiden zu tragen, ja auf sich zu nehmen und dennoch standzuhalten. Es verstummt zwar, wenn es zur Schlachtbank geführt wird und läßt den Tod über sich ergehen, aber es bleibt seinem Wesen treu. Und dieses Wesen ist die Demut.Das Neue Testament übernimmt dieses Bild und überträgt es auf<115:> Jesus und seine Passion: Jesus ist der stille Dulder, der wie ein Passahlamm auf seinem messianischen Weg leidet und den Opfertod stirbt.Von dem leidenden Messias reden Jes 53 und die Alte Synagoge, das Frühe Judentum: Unbekümmert um alle Gefahren, nicht aufbegehrend gegen seine Peiniger trägt „das Lamm Gottes die Sünde der Welt"!Zumal in der Offenbarung des Johannes erscheint das Bild vom geopferten Lamm Gottes immer wieder und wird zum Inbegriff von Demut und Duldung. So respondieren die Engel in Offb 5,12 die aus Händels „Messias" bekannten Worte: „Würdig ist das Lamm, das geschlachtet ward, zu empfangen Macht und Reichtum und Weisheit und Kraft und Ehre und Herrlichkeit und Lobpreis". Das Blut des Lammes reinigt von allen Sünden, so daß — wie es Offb 7,14 heißt — die besudelten Kleider in seinem Blute weiß werden.Das Lamm Christus steht in engster Beziehung zu Gott, ihm wird zusammen mit Gott als Retter gehuldigt (Offb 7,10); es steht auf dem Berge Zion, dem Weltenberg und Gerichtsberg, umgeben von den 144 000 Geretteten, die seinen und Gottes Namen auf ihren Stirnen geschrieben tragen (Offb 14,1). Von seinem Throne schließlich wird in der paradiesischen Endzeit das Wasser des Lebens ausgehen. „Dann", so heißt es Offb 22,3-5, „wird nichts Verfluchtes mehr sein. Und der Thron Gottes und des Lammes wird in der Stadt sein, und seine Knechte werden ihm dienen und sein Angesicht sehen, und sein Name wird an ihren Stirnen sein. Und es wird keine Nacht mehr sein, und sie bedürfen keiner Leuchte und nicht des Lichts der Sonne: denn Gott der Herr wird sie erleuchten, und sie werden regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit."Herdentiere wie Schafe und Ziegen stehen aber auch schon am Anfang der Geschichte Jesu. Die Weihnachtsgeschichte des Lukas (Lk 2,8) berichtet, daß in der Nacht der Geburt des Heilands „in derselben Gegend Hirten auf dem Felde" waren, „die Nachtwache hielten bei ihrer Herde". Hirten sind die ersten Menschen, die die Botschaft von der wunderbaren Geburt durch den Engel erfahren; die Hirten und ihre Tiere, die einfachen Leute vom Lande und die Herdentiere, mit denen sie leben und leiden, sind die ersten, die den Weg zum Stall von Bethlehem finden und das Kind anbeten. Über den Evangelientext hinaus haben Legenden die Tiere stark in das Geschehen einbezogen. Besonders kommt dies in der Anbetung von Ochse und Esel zum Ausdruck, die die Kunst in unzähligen Bildern dargestellt hat. Die Legende erinnert so an ein Bild aus den Anfän-<116:> gen der Schöpfung, als Gott dem Menschen die Tiere als dessen Gehilfen zugesellte und der Mensch sie benannte, und kann auf diese Weise zu einer Besinnung auf die schöpfungsmäßige Zusammengehörigkeit von Menschen und Tieren anregen.Ist vielleicht die Geburt Jesu selbst auch ein Zeichen dieser Zusammengehörigkeit? Das Lukasevangelium (Lk 2,7) berichtet, daß das Christuskind – wie jedes neugeborene Menschenkind – in „Windeln gewickelt" wird; aber es berichtet auch, daß dieses Kind – ganz im Gegensatz zu allen anderen Neugeborenen – in einem Stall zur Welt kommt und von seiner Mutter in eine Futterkrippe gelegt wird. Es heißt zwar „denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge", aber das könnte eher eine rationale Erklärung des Evangelisten sein. Es wäre auch denkbar, daß diese Bemerkung („und legte ihn in eine Krippe") vielsagender ist,

Page 6: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

als wir gemeinhin annehmen. Könnte mit dem Symbol der Krippe womöglich angedeutet werden, daß dieses Kind für Menschen und Tiere in die Welt gekommen ist? Daß die Krippe damit gleichsam zu dem Ort wird, an dem sich Mensch und Tier begegnen, einem Ort, der uns wie kein anderer die enge Zusammengehörigkeit beider vor Augen führt: Hier ist der Ort, an dem bereits das Erlösungswerk Jesu Christi beginnt. Und dieses Erlösungswerk umfaßt Menschen und Tiere, ja die gesamte Natur. Der Stall von Bethlehem würde damit zu einer Metapher für ein universales Geschehen, in das alle Lebewesen einbezogen sind. Bethlehem kann so als Beginn der Heilsgeschichte gesehen werden, an dem das „Seufzen der Kreatur" ein Ende findet und der Friede in der Schöpfung anbricht.Wenden wir uns jetzt einigen besonders symbolträchtigen Tieren des Neuen Testaments zu.In besonderer Weise erhält der Esel in der biblischen Heilsgeschichte Bedeutung. Auf ihm zieht der Messias in Jerusalem ein: „Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir, gerecht und siegreich. Demütig ist er und reitet auf einem Esel, auf dem Füllen einer Eselin (önos)" (Sach 9,9). Dieses Motiv kehrt wieder beim Einzug Jesu in die Heilige Stadt. Vorausschauend trägt Jesus den Jüngern auf, in Bethphage eine Eselin und ihr Junges zu suchen, die sie losbinden und zu ihm bringen sollen. „Und wenn euch jemand etwas sagt, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer, und sogleich wird er sie senden" (Mt 21,1-3). Bezeichnenderweise wird in den Markus- und Lukasparallelen (Mk 11,1-3; Lk 19,28-31) von dem Eselsfüllen (pölon) gesagt, daß noch niemand<117:> auf ihm gesessen habe. Damit ist es als Reittier des eschatologischen Königs ausgewiesen: Wer auf einem noch nicht zugerittenen Reittier in Jerusalem einreitet, der offenbart sich als Messias.' Das wird an der Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem besonders deutlich: „Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus geboten hatte, und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf, und er setzte sich darauf. Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Die Menge aber, die voranging und nachfolgte, schrie: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!" (Mt 21,6-9).Der Esel wird also im wahrsten Sinne des Wortes zum Träger des Messias. Das, was der Prophet Sacharja in einer Vorwegnahme der Endzeit aussprach, wird von Jesus aufgegriffen und zur Erfüllung gebracht. Damit wird der Esel als Reittier des messianischen Königs zum Medium des Heilswerks Jesu. Das ist eine wichtige Erkenntnis, die wir aus diesem Text gewinnen: Das Tier tritt aus dem Bereich der Metaphern heraus und ist nun nicht mehr nur Folie, auf und vor der sich das Werk Jesu abspielt, es hat vielmehr selbst an diesem Werk Anteil. Ihm kommt gerade bei der Erhöhung und am Anfang der Passionsgeschichte eine wichtige Bedeutung zu.Das Haustier Hund (ho kyön) hingegen hat im Neuen Testament sowie im Talmud nur eine ambivalente Stellung, wie sich an zwei Stellen im Neuen Testament verdeutlichen läßt. Zum einen wird seine Treue gepriesen, mit der der Hund seinen Herrn begleitet und dessen Herden bewacht (vgl. Lewysohn 1858, S. 84 u. 86), zum anderen wird er als das „ärmste aller Tiere" bezeichnet (Lewysohn 1858, S. 83), das „verachtetste, frechste und' elendeste Geschöpf" (Strack/Billerbeck 31.961, I, S. 722), das, gefeit gegen Hunger und Quälerei, in keiner menschlichen Wohnung geduldet (übrigens im Gegensatz zur Katze, he ailaros) und auch sonst sehr unfreundlich behandelt wird (vgl. Lewysohn 1858, S. 85 f.). Diese Ambivalenz läßt sich auch in den Evangelien erkennen.Im Gleichnis vom Reichen und Armen werden die Hunde als die einzigen Lebewesen bezeichnet, die gegenüber dem Armen Barmherzigkeit üben. Sie, deren sich niemand erbarmt und die von den Menschen mit Füßen getreten werden, haben „Verständnis" für die Leiden des Armen: „Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag voll von Geschwüren vor seiner (des reichen Mannes) Tür, und

Page 7: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

<118:> ihn verlangte, seinen Hunger mit dem zu stillen, was von dem Tisch des Reichen fiel; es kamen sogar noch die Hunde (alla kai hoi kynes) und leckten an seinen Geschwüren. Als aber der Arme starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen" (Lk 16,19-31). Das Lecken der Hunde an den Wunden des Armen ist Zeichen tiefster Demütigung. Denn nicht nur, daß der Arme vor der Tür des Reichen liegt, ist erniedrigend, sondern daß „auch noch die Hunde" seine Wunden lecken, wird zum Ausdruck abgrundtiefer Verachtung seitens des reichen Mannes. Die Hunde aber, selbst erniedrigt und von den Menschen immer wieder gequält, gedemütigt und verachtet, tun ein Werk der Barmherzigkeit: Sie lindern das Leid des Leidenden, sie erbarmen sich des Erbarmungswürdigen, sie bekunden damit dem Armen, daß er in seiner Armut nicht allein ist, und sie werden solidarisch mit ihm in Elend und Not. Die Tiere sind es, nicht die Menschen, die dem armen, vor der Tür des reichen Mannes liegenden Lazarus helfen.Hunde dienen andererseits als Metaphern für die Unerlösten, die Heiden. In der Begegnung mit der Kanaanäerin (Mt 15,21-28; vgl. die Parallele Mk 7,24-30) übernehmen Hunde die Rolle der Heiden und werden ihnen gleichgestellt. Die kanaanäische Frau stammt aus der Gegend von Tyrus und Sidon; sie gehört also nicht zum jüdischen Volk, zu dem sich Jesus zu allererst und vor allem gesandt weiß. Aber sie vertraut darauf, daß Jesus ihre Tochter von einem Krankheitsdämon befreien kann. Unaufhörlich trägt sie ihm die Bitte um Heilung vor; aber Jesus hört nicht, ja, er scheint sie überhaupt nicht einmal wahrzunehmen, so daß sogar die Jünger ihn darum bitten: „Willfahre ihr; denn sie schreit hinter uns her!" (Mt 15, 23). Schroff klingt darauf die Antwort Jesu: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt" (Mt 15,24). Und als sich die Frau vor ihm niederwirft und ihn um Hilfe bittet, entgegnet er hart und unerbittlich: „Es ist nicht recht, daß man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde!" (Mt 15,26). Mit anderen Worten: Das Evangelium ist an das Volk Israel, das Volk Jesu, gerichtet, die „Heiden" haben keinen Anspruch auf die Frohe Botschaft. Als „Hunde" bezeichnete man seit alters die „Gottlosen". Der, „der mit einem Götzendiener zusammen ißt, ist wie einer, der mit einem Hunde zusammen ißt", heißt es Pirque Rabbi Eliezer 29 (Strack/Billerbeck 31961, I, S. 725). Zumindest müssen zuerst die Kinder gesättigt sein, ehe man die Hunde mit dem füttert, was die Kinder übriggelassen haben. Doch die Frau gibt nicht nach: „Ja, Herr, aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tische ihrer Herren fallen." Mit anderen Worten: Auch die „Hei-<119:> den", auch die Völker, die außerhalb der jüdischen Ökumene leben, haben ein Recht auf geistige Nahrung. Damit nimmt die Geschichte eine unvorhergesehene Wendung: Hunde und Kinder werden durch das Brot, nach dem es beide verlangt, auf ein und dieselbe Stufe gestellt. Sie leben ja auch im gleichen Haushalt zusammen und sind – wie ein neutestamentlicher Kommentator schreibt – „beide Gegenstand der Fürbitte, wenngleich einer abgestuften" (Lohmeyer 1956, S. 255). Kinder und Hunde, Juden und Heiden leben im gleichen Hause zusammen und ernähren sich von den gleichen Speisen. Wie sollte es da nicht möglich sein, ein krankes kanaanäisches Mädchen zu heilen? Das, was Jesus an den Worten der Frau überwältigt, besteht darin, daß sie diese verborgenen Gedanken von dem „gemeinsamen Hause", in dem Menschen und Tiere zusammenleben, hervorhebt und darin die Erlösung begründet sieht. „Sie spricht nicht von dem Brot, sondern von den Krumen; sie wehrt auch die Unterscheidung zwischen Kindern und Hunden nicht ab; sie rührt auch nicht an den Gedanken der Pflicht, von dem Jesus gesprochen hatte; sie stellt ihm nur schlicht die Tatsache daß auch die Hunde von ihren Herren leben" – wie die Kinder auch –, „gegenüber" (Lohmeyer 1956, S. 255). Bei Markus lautet die Stelle etwas anders. Hier antwortet die Kanaanäerin: „Ja, Herr; aber doch essen die Hunde unter dem Tisch von den Brocken der Kinder" (Mk 7,28). Das, was die Kinder übriglassen oder fallen lassen, bekommen die Hunde. So werden zuerst die Kinder satt und danach die Hunde. So wird zuerst dem Volk Israel das Evangelium verkündigt und danach den „Heiden". Beide aber wohnen zusammen in einem oikos und haben die gleiche Umwelt; hier leben sie, hier werden sie umsorgt, hier genießen

Page 8: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

sie Schutz, hier bekommen sie die gleiche Nahrung: Brot, das Wort Gottes. Sowohl Jesus, der die Seite Israels vertritt, als auch die Kanaanäerin, die den Typus des Heidentums darstellt, insistieren auf ihrem Standpunkt. Sie bestätigen gleichsam damit, was Rabbi Schim`on ben Laqisch (um 250 n. Chr.) gesagt hat: „Drei Hartnäckige (Unbeugsame) gibt es; das ist Israel unter den Nationen, der Hund unter den Tieren und der Hahn unter den Vögeln."Nicht daß Kinder und Hunde, Menschen und Tiere hier auf ein und dieselbe Stufe gestellt werden, sondern daß beide Geschöpfe Gottes sind und ein Anrecht auf Zuwendung durch Gott haben, ist das unerhört Neue, das hier gesagt wird, ist die „Frohe Botschaft" dieser Heilungsgeschichte. Jesus ist nun überwältigt von so viel Glaubensgewißheit, daß seine Abneigung gegenüber den hündischen Heiden im Nu verfliegt und er nur noch sagen kann: „Dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst!" (Mt 15,28).<120:> Eindeutig negativ besetzt sind im Neuen Testament der Hahn und das Schwein. Der Hahn (ho alektryön) hat sowohl in der jüdischen wie in der frühchristlichen Überlieferung keinen guten Leumund. Im Jerusalem zur Zeit Jesu war sogar die Hühnerhaltung untersagt, weil man befürchtete, das Scharren würde verunreinigendes Gewürm ans Tageslicht bringen, das die Frommen in Versuchung bringen könnte. Priester und deren Familien durften sich überdies nirgends in Palästina Hühner halten (Strack/Billerbeck 1961, I, S. 992). Der Talmud gibt dazu genaue Anweisungen, die strikt zu befolgen waren. Zu der Furcht vor Verunreinigung kam die Furcht vor der Angriffslust der Hähne. So hat z. B. Rabbi Jehuda ben Baba (gest. um 135 n. Chr.) bezeugt, „daß ein Hahn in Jerusalem gesteinigt worden ist, weil er ein menschliches Wesen getötet hat". Ein Mischnatraktat begründet diese Strafe: „Der Hahn sah, wie die Schädeldecke eines Kindes vibrierte, ging hin und durchpickte sie" (Strack/Billerbeck 31961, I. S. 993). Rabbi Schela sieht in der Zeit vor dem Hahnenschrei eine Gefahr für Leib und Leben und sagt: „Wer sich vor dem Hahnenschrei auf den Weg begibt, dessen Blut kommt auf sein Haupt", d. h., der trägt selbst die Verantwortung für etwaiges Unheil. Spitzfindig erläutert dazu Rabbi Joschijja (um 140 v. Chr.): „Bevor er zum zweiten Mal gekräht hat; andere sagen: Bevor er zum dritten Mal gekräht hat" (Strack/Billerbeck 31961, I, S. 993).Mit der rabbinischen Tradition scheint auch die Funktion des Hahnenschreis bei der Verleugnung des Petrus etwas zu tun zu haben. Der Hahn kann zwar für die Verleugnung selbst nicht verantwortlich gemacht werden; denn er ist „nur" ein Tier; aber er leitet sie durch seinen Schrei ein und gibt Petrus gewissermaßen das Zeichen dazu. Zunächst scheint es, als wollte Jesus die Verleugnung durch seinen ersten Jünger zeitlich fixieren: „Wahrlich, ich sage dir: Heute in dieser Nacht, ehe der Hahn zweimal gekräht hat, wirst du mich dreimal verleugnen."' Diese Prophezeiung erfüllt sich, als Jesus vor dem Synhedrion, dem Hohen Rat, steht: „Und Petrus war unten im Hofe; da kommt eine der Mägde des Hohenpriesters, und da sie Petrus sich wärmen sah, schaute sie ihn an und sprach: „Auch du warst mit dem Nazarener, dem Jesus!" Der leugnete und sprach: „Weder weiß ich noch verstehe ich, was du sagst." Und er ging hinaus in den Vorhof.6 Und die Magd sah ihn und fing wieder an und sagte zu den Umherstehenden: „Dieser ist von denen." Er leugnete wieder. Und nach einer kleinen Weile sprachen wieder die Umherstehenden zu Petrus: „Wahrlich, du bist von denen; du bist ja Galiläer." Er aber begann sich zu verfluchen und zu schwören: „Ich kenne den<121:> Menschen nicht, von dem ihr redet!" Und alsbald krähte der Hahn zum zweiten Mal. Da gedachte Petrus an das Wort, das Jesus zu ihm gesagt hatte: Ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er fing an zu weinen" (Mk 14,66-72).Hier ist nichts mehr von einer Zeitangabe, die durch den Hahnenschrei markiert wird, übriggeblieben, hier tritt das ein, was Rabbi Schela befürchtete: „Wer sich vor dem Hahnenschrei auf den Weg begibt, dessen Blut kommt auf sein Haupt." Der Hahnenschrei wird gleichsam zum Medium der Verleugnung: Er macht sie erst dem Petrus bewußt, nachdem sich dieser vor dem Hahnenschrei auf den Weg der Verleugnung gemacht und damit in der Lüge einen Ausweg gesucht hat. Die Zeit vor dem Hahnenschrei gleicht den Stunden,

Page 9: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

in denen Petrus sich von Jesus zu lösen beginnt. Der Augenblick des Hahnenschreis erst bringt ihm zum Bewußtsein, was er durch die Verleugnung angerichtet hat: Ihm wird mit einem Male klar, daß er Jesus damit die Gefolgschaft aufgekündigt hat, und, dieses erkennend, versinkt er in die Tiefe der Gottverlassenheit.Noch eindeutiger ist die negative Besetzung des in Israel und bei den meisten Völkern des Vorderen Orients wegen seiner Unreinheit verachteten und gemiedenen Schweins.'Nach der Mischna des Talmud (>Baba Qama< 7,7, in: Strack/Billerbeck 31961, I, S. 493) ist den Juden die Schweinezucht verboten. „Man darf an keinem Ort (in Israel) Schweine aufziehen", heißt es. Das Verbot der Schweinezucht wird mit einem Vorfall während des Bruderkriegs zwischen den Hasmonäerkönigen Hyrkanus und Aristobul II. begründet, stammt also etwa aus dem Jahre 65 v. Chr. Dabei habe, wie >Baba Qama< 82b berichtet, ein an der Mauer Jerusalems hochgezogenes Schwein seine Pfoten in die Mauerritzen gesteckt und dabei ein gewaltiges Beben verursacht. Seit dieser Zeit heißt es: „Verflucht der Mann, der Schweine züchtet!" (ebenso >Menachoth< 64 b u. >Sota< 49 b, in: Strack/Billerbeck 31961, I, S. 493). Rabbi Jehuda ben Elai (um 150 n. Chr.) scheint die älteste Autorität zu sein, auf die man sich in Israel und unter den Juden beruft, wenn man das „Schweinetabu" begründet. Diese Begründung geht natürlich nicht nur auf mythologische Motive zurück, sondern hat durchaus reale Ursachen: Die Gefahr, durch Trichinen infiziert zu werden, und die Gefahr, von der Schweinepest angesteckt zu werden,' verlangen äußerste Vorsichtsmaßnahmen und die strikte Einhaltung der Abstinenz von Schweinefleisch (vgl. Gerlitz 1954, S. 3f.,15 ff.). Beide Krankheiten wurden nach den Erkenntnissen antiker Veterinärmedizin von Dämonen verursacht.' Diesen Dämonen sagen die Rabbi-<122:> nen den Kampf an, indem sie ein absolutes Verbot über den Genuß von Schweinefleisch verhängen.Die negative Besetzung des Schweins kommt im bekannten Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) besonders scharf zum Ausdruck. Der Sohn zieht in ein „fernes Land" und verdingt sich dort. Sein Herr, so heißt es Vers 15 f., „schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm." Die Verlorenheit und Vereinsamung kommt hier nicht nur dadurch zum Ausdruck, daß der Sohn sich von seinem Vater trennt und sein Erbteil durchbringt, sondern auch dadurch, daß er, der Jude, in einem heidnischen Land die verhaßten unreinen Schweine hüten muß und sogar aus Hunger bereit ist, alle überlieferten jüdischen Tabus zu brechen und Schweinefutter zu essen, sich also mit den minderwertigsten und gefährlichsten aller Tiere gemein zu machen und sich mit ihnen auf eine Stufe zu stellen. Er ist so verzweifelt und hungrig, daß er sich weder um das Tabu noch um die Dämonen kümmert, mit denen er sich dabei anstecken könnte! Erst sein Entschluß: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir" (Lk 15, 18), löst seine Probleme und befreit ihn aus seiner verzweifelten Lage.Wie sehr Schweine (hoi choiroi) als Träger von Dämonen galten, zeigt auch das Wunder von der Heilung der Besessenen von Gadara, das am jenseitigen Ufer des Sees Genezareth lag (Mt 8,28-34; Parallele Mk 5,1-17; Lk 8,26-37). Diese merkwürdige Geschichte (über die zu predigen sich jeder Pastor scheut) handelt im Grunde von der im Altertum gefürchteten Krankheit der „Besessenheit". Die Besessenheit – das Wort drückt es bereits aus – ist eine dämonische Krankheit. Die Kranken werden darum auch daimonizömenoi genannt. Sie sind unberechenbar und „sehr gefährlich", wie der Text sagt. Aber Jesus fürchtet sich nicht vor den Besessenen, ja, er vollzieht sogar den Exorzismus gegen ihren Willen. Die Dämonen bitten ihn zuvor, in dem Lande Gadara bleiben zu dürfen (Mk 5,10; Lk 8,31), was darauf schließen läßt, daß sie im jüdischen Landesteil keine Überlebenschancen haben würden. Dann heißt es (Mt 8,30ff.): „Es war aber fern von ihnen eine große Herde Säue auf der Weide. Da baten ihn die bösen Geister und sprachen: Willst du uns austreiben, so laß uns in die Herde Säue fahren.

Page 10: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

Und er sprach: Fahrt aus! Da fuhren sie aus und fuhren in die Säue. Und siehe, die ganze Herde stürmte den Abhang hinunter in den See, und sie ersoffen im Wasser. Und die<123:> Hirten flohen und gingen hin in die Stadt und berichteten das alles und wie es den Besessenen ergangen war. Und siehe, da ging die ganze Stadt hinaus Jesus entgegen. Und als sie ihn sahen, baten sie ihn, daß er ihr Gebiet verlasse."Die Schweine als Träger todbringender Krankheiten sind den Dämonen ebenbürtig; sie sind selber von Dämonen besetzt und daher prädestiniert, um die Dämonen, an denen die beiden Besessenen leiden, aufzunehmen. Die Krankheitsdämonen wiederum bitten Jesus, in die Schweineherde fahren zu dürfen. Das ist zugleich ihr Verderben: Die Dämonen stürzen mitsamt den Schweinen in den See, und damit sind sie die Kranken los. Es wird jetzt nicht darüber reflektiert, wie die Hirten auf den Verlust ihrer Herde reagieren: Sie flohen in die Stadt, heißt es; und die Bewohner der Stadt, denen die Herde offenbar gehört, erkennen zwar in dem Exorzisten Jesus noch nicht den Messias, aber sie ahnen, daß in ihm eine dämonenvertreibende, eine apotropäische Macht gegenwärtig ist, welche ihnen unheimlich erscheint. Darum bitten sie Jesus, das Land Gadara zu verlassen.Auf dem Hintergrund dieses Szenariums wird auch das Wort Jesu verständlich: „Ihr sollt das Heilige nicht den Hunden geben, und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen, damit diese sie nicht mit ihren Füßen zertreten und sich umdrehen und euch zerreißen" (Mt 7,6). Bei diesem Wort handelt es sich um eine Allegorie: „Das Schwein", so heißt es bei den Rabbinen Pinchas (um 360 n. Chr.), Chilqijja (um 320) und Simon (um 280), „ist nach Leviticus 11,7 Edom" (nämlich Rom); „es käut nicht wieder (das heißt, es wird kein anderes Weltreich mehr nach ihm kommen); denn es preist Gott nicht; und nicht genug, daß es nicht preist, es schmäht und lästert und spricht: Wen gibt es für mich im Himniel!" (Strack/Billerbeck 31961, I, S. 449). Einem solchen unreinen und unheiligen Tier legt man keine heiligen Dinge vor. Jesus von Nazareth nun will mit diesem Wort aus der Bergpredigt sagen: Das Wort Gottes gehört nicht in unreine Herzen und zu Menschen, die Gott leugnen. Jesus verwendet also ein geflügeltes Wort, das die Schweine als unrein, verabscheuungswürdig und dämonisch bezeichnet, um daran den Wert seiner Botschaft darzulegen: Das Evangelium würde Schaden nehmen, wenn man es Menschen verkündigte, die seiner unwürdig sind.Im 2. Petrusbrief kommt es zu einer Steigerung dieses berühmten Wortes. Hier werden die falschen Propheten und die Ungerechten mit Hunden und Säuen verglichen und das Sprichwort zitiert: „Der Hund frißt wieder, was er ausgespien hat; und die Sau wälzt sich nach<124:> der Schwemme wieder im Dreck" (2. Petr 2,22). Offenbar halten sich derartige Stigmatisierungen über Jahrhunderte; denn auch bei uns gelten noch immer die gleichen negativen Besetzungen, mit denen wir Hund und Schwein verbinden. Metaphern und Allegorien sind langlebig und in ihrer Langlebigkeit unerbittlich.Metaphern sind auch die berühmten Gegensatzpaare, die Jesus in seiner Verkündigung verwendet. Dazu gehört die Gegenüberstellung von Schaf und Wolf (ho lykos): „Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe" (Mt 7,15). Aber gerade unter die Wölfe, die falschen Propheten nämlich, sendet Jesus die Schafe, seine Jünger; denn zur Verkündigung des Glaubens gehört der Mut, notfalls dafür auch sein Leben zu opfern.10 Die bekannteste Parabel dafür ist das Gleichnis vom guten Hirten bei Johannes, das zu den Absolutheitssprüchen Jesu gehört und sein Vorbild im 23. Psalm hat, mit dessen Hirtenideal sich Jesus identifiziert: „Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte läßt sein Leben für die Schafe. Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verläßt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –, denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe (Joh 10,11 u.12). Der Gemeinde in ihrer Bedrängnis wird Jesus als der gute Hirte beistehen und sie vor den falschen Propheten retten: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige

Page 11: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen" (Joh 10,27 u. 28).Auch das Gegensatzpaar „Schlangen (hoi öpheis) und Tauben (hai peristerai) " (Mt 10,16) gehört hierher. Den Schlangen wird Klugheit, Schläue, Verschlagenheit unterstellt, während die Tauben „ohne Falsch", treuherzig, naiv genannt werden. Für die Verkündigung des Evangeliums aber muß den Botschaftern beides abverlangt werden, eine Kombination, deren Realisierung natürlich utopisch ist; dennoch sind beide Eigenschaften die notwendigen Voraussetzungen für die Juden- und die Heidenmission.Positiv besetzt und positiv beurteilt werden im übrigen alle Vögel im Neuen Testament. Der Grund ist der gleiche wie später im Koran: Vögel werden durch ihren Flug in die Höhe zu Botschaftern Gottes (vgl. Gerlitz 1992, S. 122ff.). Die Taube (he peristerä) genießt in der Bibel wie im gesamten Alten Orient besondere Verehrung. Sie ist der Vogel, der Noah in der Arche die gute Nachricht vom Ende der<125:> Sintflut bringt (Gen 8,10 u.11), und sie ist das Symbol des Heiligen Geistes. Sie ist der Vogel der Muttergöttin Ischtar und (vielleicht) die weibliche Entsprechung Gottes in der christlichen Trinität.Schon bei der Darstellung Jesu im Tempel spielen Tauben eine wichtige Rolle als Opfertiere (Lk 2,23 u. 24). Das Opfer von zwei Turteltauben oder zwei jungen Tauben war gesetzlich für arme, unbemittelte Eltern vorgeschrieben, die nicht in der Lage waren, ein einjähriges Lamm zu opfern. Das Taubenopfer wird daher schon Lev 5,7 und 12,8 als „Armenopfer" bezeichnet, hat also offenbar nichts damit zu tun, daß Tauben Vögel sind, die sich in die Lüfte erheben und Kunde von Gott bringen können.Anders ist es bei der Taufe Jesu, von der Mt 3,13-17, Mk 1,9-11 und Lk 3,21 u. 22 übereinstimmend berichten: „Und sogleich, als er, Jesus, aus dem Wasser stieg, sah er, daß sich der Himmel auftat und der Geist Gottes wie eine Taube (hos peristerän) auf ihn herabkam." Und da erscholl eine Stimme vom Himmel: Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen" (Mk 1,10 u. 11). Der Geist Gottes steigt gleichsam auf Jesus herab und läßt sich auf ihn nieder, um ihn während der Zeit seiner Verkündigung zu begleiten.Die kirchliche Kunst hat den Heiligen Geist immer als Taube dargestellt und bewußt das „wie eine Taube" übergangen. Sie hat aber dabei offensichtlich an die orientalische Religionsgeschichte angeknüpft, in der die Taube Attribut der weiblichen Gottheit war. Ihr Herabschweben und Schwingen entspricht der Vorstellung, daß der Geist Gottes über den Wassern schwebt, wie zu Beginn der Weltschöpfung, und sich dann auf den Menschen Jesus niederläßt und ihm damit die Messiaswürde verleiht. Die Herabkunft des Geistes markiert auch für das Neue Testament einen Neubeginn, eine neue Schöpfung, die die alte vollendet. Die Taube' fungiert dabei als Metapher. In der Kunst aber ist sie mehr: Dort wird sie als Medium des göttlichen Geistes dargestellt, der sich in ihrer Gestalt auf Jesus herabläßt, um ihn zum Christus zu machen.Zu den gefiederten Haustieren im Neuen Testament gehört natürlich der Sperling (ho struthös). Jesus erwähnt ihn in seiner Rede über die Vorsehung, die Providenz Gottes: „Kauft man nicht zwei Sperlinge um einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde, ohne daß euer Vater es will. Bei euch aber sind sogar alle Haare auf eurem Haupt gezählt! Darum fürchtet euch nicht: Ihr seid mehr wert als viele Sperlinge" (Mt 10,29-31). Die Geringschätzung des Wertes von Sperlingen war sprichwörtlich für die Juden. Aber innerhalb der göttlichen Vorsehung erhalten selbst diese wertlosen<126:> Vögel einen besonderen, unverwechselbaren Wert: Keiner von ihnen stirbt ohne Gottes Willen. Ebenso ist es mit den Haaren der Menschen: Sie sind alle gezählt, und ohne Gottes Willen verliert der Mensch kein einziges Haar.Am Beispiel der Sperlinge macht Jesus deutlich, wie grenzenlos die Macht Gottes ist und wie unbeschränkt seine Vorsehung waltet und Menschen und Tiere, organisches und anorganisches Leben, wertvolles und wertloses und scheinbar „lebensunwertes" Leben

Page 12: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

umfaßt. Zwar ist ein Menschenleben wertvoller als alles andere; aber an diesem kleinen Leben der Sperlinge macht Jesus deutlich, daß alles Leben, ganz gleich, wie wertvoll oder wie wertlos es ist, in Gottes Gedächtnis seinen bestimmten Platz hat und seine Vorsehung und sein Erbarmen erfährt.

Lernen von der Natur und ihren AbläufenDer Notwendigkeit göttlicher Vorsehung entspricht die Unnötigkeit menschlicher Sorge. Auch dieser Gedanke wird von Jesus anhand von Gleichnissen aus der Natur entfaltet:

Darum sage ich euch: Sorget euch nicht um euer Leben, was ihr essen werdet, noch um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel (ta peteinti) unter dem Himmel: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln nicht in die Scheunen, und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr nicht viel mehr als sie? [...] Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Felde an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht vielmehr für euch tun, ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr all dessen bedürft. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, daß jeder Tag seine eigene Plage hat. (Mt 6,25-26 u. 28-34)

An der Natur, den Pflanzen und den Tieren, ihrem Wachsen, Blühen und Gedeihen, sollen sich die Menschen orientieren. Von ihnen können sie lernen, was es heißt, in Gott geborgen zu sein und im Vertrauen auf ihn zu leben. An ihr Beispiel sollen sich die Menschen<127:> halten. Denn wenn Gott trotz der Tatsache, daß sie morgen schon wieder vergangen sind, sie in seine Obhut nimmt, sie schützt und bewahrt, so daß sie jeden Tag Nahrung und Wasser finden, um wieviel mehr wird er sich um die Menschen sorgen. Aber anstatt daß die Menschen von der Schöpfung auf den Schöpfer schließen und daran erkennen, was wirklich not tut, nehmen sie lieber einen Rückfall ins Heidentum hin und suchen dauernd ihre Selbstbestätigung, indem sie sich absichern und versichern und Vorsorge treffen für die Zukunft, dabei aber das Vertrauen in Gott vergessen. Statt nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit zu trachten, suchen sie das Ihre. Dabei ist es „genug, daß jeder Tag seine eigene Plage habe" (Mt 6,34).12Daß die Natur und Kreatur Lehrmeister der Menschen sein können, finden wir – wie schon erwähnt – auch im Buche Hiob, wo es – ganz ähnlich wie Mt 6 heißt: „Frage doch das Vieh, das wird dich's lehren, und die Vögel unter dem Himmel, die werden dir's sagen, oder die Sträucher der Erde, die werden dich's lehren, und die Fische im Meer, die werden dir's erzählen. Wer erkennte nicht an dem allen, daß des Herrn Hand das (nämlich die Natur, die Schöpfung) gemacht hat, daß in seiner Hand die Seele ist von allem, was lebt, und der Lebensodem aller Menschen?" (Hiob 12,7-10).Ein ebenso eindrucksvoller Text findet sich im Buch Henoch, das zu den Apokryphen des Alten Testaments gehört und sowohl von den jüdischen Rabbinen wie von den frühchristlichen Theologen als Quelle der Offenbarung Gottes in der Natur verstanden worden ist:Beobachtet, wie alle Werke am Himmel ihre Bahnen nicht ändern, und wie die Lichter am Himmel alle auf- und untergehen, ein jedes nach (bestimmter) Ordnung zu ihrer festgesetzten Zeit, und an ihren Festtagen erscheinen und ihre besondere Ordnung nicht übertreten. Betrachtet die Erde und betrachtet die Werke, die von Anfang bis Ende auf ihr geschehen, wie sich keines von ihnen auf Erden verändert, sondern alle Werke Gottes zum Vorschein kommen. Betrachtet den Sommer und den Winter, wie (im Winter) die ganze Erde voll Wasser ist und Wolke, Tau und Regen sich über ihr lagern. Beobachtet und seht, wie (im Winter) alle Bäume aussehen, als ob sie verdorrt wären, und (wie) alle ihre Blätter abgefallen

Page 13: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

sind, außer (bei) vierzehn Bäumen, die ihr Laub nicht abwerfen, sondern das alte zwei bis drei Jahre lang behalten, bis das neue kommt. – Beobachtet alsdann, wie in der Sommerszeit die Sonne über ihr (der Erde) ihr gegenübersteht! Ihr sucht dann kühle Plätze und Schatten gegen die Sonnenhitze auf, und auch die Erde ist infolge der sengenden Glut brennend heiß, so daß ihr weder auf den Erdboden noch auf einen Stein wegen seiner Hitze treten könnt. – Beobachtet, wie sich die Bäume mit Blättergrün bedecken und jede Frucht von ihnen<128:> zu Ehre und Ruhm (Gottes dient). Habt acht und merkt auf alle seine Werke, so werdet ihr erkennen, daß der lebendige Gott sie so gemacht hat und bis in alle Ewigkeit lebt. Alle seine Werke,. die er gemacht hat, geschehen von Jahr zu Jahr immerdar so, und alle Werke, die ihm den Dienst verrichten, ändern sich auch nicht in ihrem Tun, sondern so wie Gott befiehlt, geschieht alles. Seht, wie das Meer und die Flüsse in gleicher Weise den Dienst verrichten und ihr Tun seine Worte nicht ändert. – Ihr aber habt nicht ausgeharrt und das Gesetz des Herrn nicht erfüllt, sondern ihr seid abgefallen und habt durch hochmütige und trotzige Worte aus eurem unreinen Mund seine Majestät geschmäht! (Henoch 2,1-5,4; nach: Strack/Billerbeck 31961, I, S. 435 f.)Es ist die Schuld der Menschen, daß sie diese natürliche Offenbarungsquelle verschmäht haben. Darin besteht ihr Sünde – oder sollen wir sagen: ihre Tragik? –, daß sie in den Werken der Schöpfung nicht den Schöpfer selbst erkennen, obwohl doch in seiner Hand „die Seele von allem ist, was lebt und der Lebensodem aller Menschen" (Hiob 12,10). So wird die Natur im Neuen Testament zum Gleichnis für die Wahrnehmbarkeit des unsichtbaren Gottes und zugleich zur Aufforderung, diese einmalige Chance nicht zu verpassen.

Pflanzen – Gleichnisse der EndzeitAuch die Pflanzen sind Metaphern, die die Wahrnehmbarkeit des unsichtbaren Gottes verdeutlichen und sichtbar machen können. Der Unterschied zu den Tieren besteht aber darin, daß die Pflanzengleichnisse im Neuen Testament eine eschatologische, eine endzeitliche Bedeutung, haben, daß sie auf die neue Welt und den neuen Menschen, die kaine ktisis, die „neue Schöpfung", wie Paulus sagen würde (2. Kor 5,17 u. Gal 6,15), hinweisen wollen.Das wird z. B. an der metaphorischen Bedeutung des Weizens (ho sitos) deutlich. Schon Johannes der Täufer hatte in seiner Gerichtspredigt (Mt 3) das Endgericht mit dem Dreschvorgang bzw. dem Worfeln verglichen: „Er hat die Schaufel in der Hand und wird seine Tenne fegen und wird den Weizen (oder das Korn) in die Scheune sammeln; aber die Spreu wird er verbrennen mit unauslöschlichem Feuer" (Mt 3,12). „Er", das ist der eschatologische Richter, der hier die Arbeit des Bauern bei der Ernte übernimmt. Sein Gericht besteht im Worfeln, d. h. in der Trennung von Weizen und Spreu, Frucht und Hülse: Wie in der Ernte der Weizen von den Spelzen, der Spreu, geschieden wird, so wird es auch im Gericht zugehen, wenn die Gläubigen, die Erwählten, von den Ungläubigen, den Verdammten, ge-<129:> trennt werden. Die Gläubigen werden dann in das ewige Leben, „in die Scheuer", eingehen, während die Ungläubigen dem Tod der Verdammten, dem Feuertod, anheimgegeben werden. Auf diese Weise wird die Spreu vom Weizen geschieden.Das Bild scheint damals üblich gewesen zu sein. Jesus gebraucht es, um daran deutlich zu machen, daß auch das Jüngste Gericht einer Ernte gleicht, bei der die Menschen angenommen oder verworfen werden. Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen ist dafür ein treffendes Beispiel:

Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Manne, der guten Samen auf seinen Acker gesät hatte. Während aber die Leute schliefen, kam sein Feind, säte Unkraut dazwischen und ging davon. Als aber die Saat aufging und Frucht ansetzte, kam auch das Unkraut zum Vorschein. Da gingen die Knechte des Hausherrn hin und sagten zu ihm: ,Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er nur das Unkraut?' Der aber antwortete ihnen: ,Das hat ein Feind getan'. Da fragten ihn die Knechte: ,Willst du nun, daß wir hingehen und es sammeln?' Er aber sagte: ,Nein, ihr könntet sonst beim Sammeln des Unkrauts zugleich damit auch den Weizen

Page 14: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

ausreißen. Laßt beides miteinander wachsen bis zur Ernte; wenn dann die Ernte da ist, will ich den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, um es zu verbrennen. Den Weizen aber bringt ein in meine Scheun'. (Mt 13,24-30)

Nur um das Verhältnis von Weizen und Unkraut soll es uns bei der Interpretation dieses berühmten Gleichnisses gehen. Offenbar handelt es sich hier um zwei Gegenspieler: den Gutsbesitzer und seinen Feind. Der Gutsbesitzer sät Weizen, der Feind Unkraut, zizänia, Samen, der jedenfalls sehr widerstandsfähig ist und vor dem Weizen oder mit diesem zusammen aufgeht13: Das Gute und das Böse liegen so dicht beieinander, daß man 'es nicht unterscheiden kann. Vor allem eine Trennung ist nicht oder kaum möglich; alle Versuche, die Guten und die Bösen rechtzeitig zu trennen, damit die gute Saat ungefährdet aufgehen kann, muß ebenso scheitern wie der Versuch, ein ideales Reich, einen Gottesstaat, zu schaffen, aus dem man alle Elemente, die dem Ideal nicht entsprechen, ausmerzt. Erst die Ernte, sowohl die irdische wie die eschatologische, ist vielmehr der Augenblick, in dem zwischen Weizen und Unkraut bzw. den Guten und den Bösen unterschieden werden wird, und zwar von Gott. Die Menschenwelt besteht aus einem Geflecht von Guten und Bösen, über die das letzte Urteil am Ende der Tage gesprochen wird, nicht früher und nicht durch menschliches Eingreifen. Jeglicher Versuch, das Gottesreich auf Erden zu errichten, ist zum Scheitern ver-<130:> urteilt, weil es immer den Keim zu menschlicher Überheblichkeit und damit zur Pervertierung in sich trägt.Das 13. Kapitel des Matthäusevangeliums, das aus lauter ReichGottes-Gleichnissen besteht, könnte man auch als „das Kapitel der Pflanzensymbolik" bezeichnen. Hier findet sich sowohl das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen wie das Gleichnis vom Senfkorn und vor allem das Gleichnis vom Sämann, der scheinbar wahllos das Saatgetreide über die Erde streut und dann erfahren muß, daß „etliches auf den Weg" fiel und von den Vögeln aufgefressen wurde, und „etliches auf felsigen Boden", wo es nicht Wurzel fassen konnte, und „etliches unter die Dornen", die die aufkeimenden Pflänzchen erstickten; aber „etliches auf gutes Land", wo es aufgehen und wachsen und „gute Frucht" tragen konnte (Mt 13,1-9). Hier wird jeder Vorgang zu einer Interpretation des Evangeliums. Und Jesus gibt selbst die Erklärung, eine Erklärung freilich, die bereits die frühchristliche Theologie der Gemeinde ahnen läßt (Mt 13,18-23). Aus vielerlei Gründen wird das Wort Gottes nicht verstanden: Der Satan kann es wegnehmen, Leiden und Verfolgung können es am Wachsen hindern, Sorgen und Plagen können seine Entfaltung beeinträchtigen. „Etliches" aber von den Worten Gottes fällt auf guten Boden, findet den Weg zu den Herzen der Menschen, wo es Wurzeln schlagen, aufgehen und vielfältig Frucht tragen kann, indem es weiterwirkt und sich ausbreitet. Denn noch bedeutet das Wachstum, die Halme und die Ähren und ihr hundert-, sechzig-, dreißigfältiger Körnersegen ein Naturwunder. Dieses Naturwunder will Jesus mit seinem Gleichnis auf Menschen übertragen, die seine Botschaft hören und beherzigen.Im Johannesevangelium versteht sich Jesus gar selbst als Weizenkorn, wenn er im Blick auf seinen Tod, seine Auferstehung und die Verbreitung seiner Botschaft sagt: „Wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es ein einzelnes Korn; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht" (Joh 12,24). Hier wird der natürliche Kreislauf des Werdens und Vergehens und Wiederwerdens beschrieben und auf das Schicksal des Messias bezogen, ein Gedanke, der auch bei Paulus in 1. Kor 15,35-49 wiederauftaucht.14 Mit folgendem Hinweis versucht Paulus die Auferstehung von den Toten und die neue Existenz zu begründen: „Aber es könnte jemand fragen: Wie werden die Toten auferstehen, und mit was für einem Leibe werden sie kommen? Du Narr: Was du säst, wird nicht lebendig, wenn es nicht zuvor stirbt. Und was du säst, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, sei es<131:> von Weizen oder etwas anderem. Gott aber gibt ihm einen Leib, wie er will, einem jeden Samen seinen eigenen Leib" (1. Kor 15,35-38).

Page 15: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

Das Weizenkorn liefert hier das Bild für den Tod und die Auferstehung Jesu Christi und wird darüber hinaus als Beweismittel für die Auferstehung der Christen insgesamt gebraucht: Das „Stirb und Werde" läßt sich aus der Natur ablesen, und analog zur Natur läßt es sich als Verheißung auf die Christen anwenden. Denn „so die Auferstehung der Toten: Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Armseligkeit und wird auferstehen in Kraft. Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib" (1. Kor 15,42-44). Beides, sowohl das Säen wie das Auferwekken, geschieht durch Gott. Das eine ist gleichsam ein irdischer Vorgang, das andere ein transzendenter, ein eschatologischer, ein der Welt mit ihrer Endlichkeit und Vorläufigkeit entrückter Vorgang.Eine andere Identifikation Jesu ist der Weinstock (ho ämpelos). Wiederum geht es dabei um das Fruchttragen, die Vermehrung, die Ausbreitung und Verbreitung der Botschaft Jesu unter den Jüngern und über sie hinaus: „Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weingärtner. Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, wird er wegnehmen; und eine jede, die Frucht bringt, wird er reinigen, daß sie mehr Frucht bringe. Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie müssen brennen" (Joh 15,1-6).In diesem Text wird beides angesprochen: das eschatologische Gericht für den, der Jesus nicht die Treue hält (vgl. Bultmann 1953, S. 411 f.) und die Verheißung des Bleibens in der Liebe. Jesus spricht damit ein Entweder-Oder an: Entweder Getrenntsein und Abgeschnittenwerden von dem „das Leben vermittelnden Stamme" (Bultmann 1953, S. 413) oder das Verbundensein und die Nachfolge; entweder das Verbranntwerden im höllischen Feuer oder das Bleiben in Gott. Am Bilde des Weinstocks und der Reben wird das Verhältnis von Jesus und seinen Jüngern ganz plastisch dargestellt: Was den Reben widerfährt, das widerfährt im übertragenen Sinne auch den Jüngern.<132:> Schließlich dient auch das Bild vom Feigenbaum (he syke) Jesus dazu, um Gericht und Gnade deutlich zu machen. Der Feigenbaum ist für ihn wie ein Seismograph, ein Barometer für das Eschaton: „An dem Feigenbaum lernt ein Gleichnis: wenn seine Zweige jetzt saftig werden und Blätter treiben, so wißt ihr, daß der Sommer nahe ist. Ebenso auch: wenn ihr das alles seht, so wißt, daß er nahe vor der Tür ist. Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht" (Mt 24,32-34).Der Sommer ist hier das Indiz für die Ernte und damit für das Gericht. An der Natur; genauer gesagt: Am („unbewußten") Verhalten des Feigenbaums sollen die Jünger erkennen: Jetzt ist der Zeitpunkt des Menschensohns gekommen, jetzt bricht die neue Weltzeit an. Was im Feigenbaum automatisch vorgeht und an seinem äußeren Verhalten sichtbar wird, das geschieht im übertragenen Sinne durch Gottes Eingreifen in das Weltgeschehen und durch die von ihm ausgelöste Erneuerung der Welt: Der neue Äon löst den alten ab, so wie das Austreiben, Wachsen, Fruchtansetzen und Fruchtreifen die Ernte ankündigt. Und so wie automatisch Jahr um Jahr und ohne Zutun der Menschen auf das Austreiben der Fruchtbäume die Ernte der Früchte folgt, so erfolgt auch nach dem langen Warten und Hoffen das Kommen des Menschensohns, und zwar ohne Zutun der Menschen.Aber auch für die Ungläubigen gibt es noch Chancen und Zeiten des Aufschubs. Am Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum macht Jesus deutlich, daß Gott in seiner Geduld und in seinem Erbarmen das Gericht immer wieder aufschiebt, um den Menschen Gelegenheit zur Umkehr zu geben. Und Jesus ist es, der hier als Mittler auftritt; er ist es, der Gott um dieses Erbarmen bittet: „Es hatte einer einen Feigenbaum (syke), der war gepflanzt in seinem Weinberg, und er kam und suchte Frucht darauf und fand keine. Da sprach er zu dem

Page 16: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

Weingärtner: Siehe, ich bin nun drei Jahre gekommen und habe Frucht gesucht an diesem Feigenbaum und finde keine. So hau ihn ab! Was nimmt er dem Boden die Kraft? Er aber antwortete und sprach zu ihm: Herr, laß ihn noch dies Jahr, bis ich um ihn grabe und ihn dünge; vielleicht bringt er doch noch Frucht; wenn aber nicht, so hau ihn ab" (Lk 13,6-9). Das Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum erhält eine heilsgeschichtliche Relevanz: So wie dieser Fruchtbaum noch einmal vor der Vernichtung gerettet wird, so auch der Mensch durch das Eingreifen Jesu und seine Botschaft von der Vergebung. Jesus setzt damit die Unheilsbotschaft Johannes des Täufers außer Kraft, nach der „jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt,<133:> abgehauen und ins Feuer geworfen wird” (Mt 3,10). Er durchbricht hier die Lehre aller Unheilspropheten bis zu Johannes dem Täufer, die Lehre, welche besagt, daß das Gottesgericht endgültig sei und keinen Aufschub duldet. Er selber gibt den unfruchtbaren Feigenbäumen Israel und den „Heiden" noch eine letzte Chance.Hart, fast brutal klingt dagegen die Begebenheit mit einem Feigenbaum, der trotz seiner strotzenden Gesundheit keine Früchte trägt und darum von Jesus verdammt wird: „Und am nächsten Tag, als sie von Bethanien weggingen, hungerte ihn. Und er sah einen Feigenbaum von ferne, der Blätter hatte; da ging er hin, ob er etwas darauf fände. Und als er zu ihm kam, fand er nichts als Blätter; denn es war nicht die Zeit für Feigen. Da fing Jesus an und sprach zu ihm: Nun esse niemand mehr eine Frucht von dir in Ewigkeit! Und seine Jünger hörten das" (Mk 11,12-14). Eine merkwürdige Geschichte: Jesus sucht Früchte an einem Baum, der zu dieser Jahreszeit gar keine Früchte tragen kann, und verflucht den Baum dafür, daß er keine Früchte trägt. Der Ursprung dieser Geschichte liegt im dunkeln. Möglicherweise ist es eine Geschichte, die von ihren Folgen her erklärt werden muß, also eine ätiologische Legende, nach der urchristlichen Gläubigen an dem Weg, den Jesus am Ende seines Lebens gegangen war, ein „auffälliger vertrockneter Feigenbaum" auffiel (Lohmeyer 141957, S. 234f.) und dessen Zustand damit erklärt wurde, daß dieser Feigenbaum das Mißfallen Jesu erregt habe und bestraft worden sei. Oder die Geschichte hat, im Gegensatz zu Lohmeyer 141957, S. 235, eine symbolische Bedeutung. Sie könnte darin bestehen, daß dieser Baum in seiner Unfruchtbarkeit jenen Menschen ähnelt, die zwar das Wort Jesu gehört haben, „grün sind und Blätter tragen" und in diesem Sinne „lebendig" sind, die es aber nicht beherzigen und keinerlei Taten zeigen. Über sie ergeht daher das Gerichtswort Jesu: „Nun esse niemand mehr eine Frucht von dir in Ewigkeit!"Es gäbe damit also auch für Jesus von Nazareth ein Zu-spät, das keine Gnade mehr rückgängig machen kann. Wie Johannes der Täufer und die Unheilspropheten des Alten Testaments, so verkündigt auch er, daß der Zeitpunkt kommt, wo das Gottesgericht irreversibel, unumkehrbar sein wird.Die gesamte Pflanzenwelt mit ihrem Werden und Vergehen, ihrem Wachsen und Reifen, mit Aussaat und Ernte sowie die Tiere mit ihren Verhaltensweisen, ihrem Paarungsverhalten, der Aufzucht ihrer Jungen, der Nahrungssuche usw. haben für die Botschaft Jesu<134:> eine nicht zu übersehende metaphorische Bedeutung. An der Natur und ihren Abläufen läßt sich menschliches Verhalten deuten und als Heil oder Unheil erkennen. So wird die Verkündigung Jesu, die allein den Menschen gilt, an der Natur abgebildet und gleichnishaft dargestellt: Die Natur bildet die Folie, auf der sich menschliches Verhalten, menschliche Schicksale, Werden und Vergehen, Gericht und Gnade, auf der sich die ganze endzeitliche Bestimmung der Menschen widerspiegeln läßt. So bildet die Natur den Hintergrund, vor dem sich die biblische Anthropologie entwickeln konnte. Damit wird die Natur zugleich zu einem Teil der Menschheit und die Menschheit zu einem Teil der Natur. Beides ist voneinander abhängig, und beides bedingt einander.

Page 17: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

Eine ZwischenbilanzWir begannen dieses Kapitel mit einer Auslegung, die „Jesus unter den Tieren" (Mk 1,13) gewidmet war. Das Thema suggerierte uns ein friedliches Bild, einen paradiesischen Tierfrieden, wie wir ihm auch im 2. Kapitel der Genesis begegnet sind. Aber das friedliche Bild täuscht. Denn Jesus befindet sich in der Wüste, und die Wüste wird für ihn zum Ort der Versuchung. Der Friede zwischen Menschen und Tieren bleibt eine Utopie und wird es bleiben bis ans Ende der Tage. Doch Utopien fordern dazu auf, immer wieder nach neuen Lebensentwürfen zu suchen, durch die auf dieser Welt Leben ermöglicht wird. Es geht darum, immer wieder Antworten zu finden auf die verborgenen Zusammenhänge in einem Biokosmos, der aus der Dreiheit Mensch–Tier–Pflanze besteht, in der ein Glied nicht ohne das andere sein kann. Wenn uns diese Zusammenhänge klar werden, dann hat auch die Utopie von einem paradiesischen Frieden ihren Platz im Glauben und Denken der Menschen und vor allem in ihrer Hoffnung.Die beiden letzten Kapitel der Johannesoffenbarung, die zugleich Abschluß und Ende der gesamten Bibel bilden, sind bezeichnend für eine solche lebensnotwendige Utopie. Das 21. Kapitel schildert die Herabkunft des Neuen Jerusalem als der Stadt Gottes, in der „Gott abwischen wird alle Tränen von ihren (der Menschen) Augen und der Tod nicht mehr sein wird, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz" (Offb 21,3 b u. 4 a). Der Seher Johannes sieht diese utopische Stadt vor sich: Sie glänzt von Gold und Edelsteinen, ihre Mauern sind durchsichtig wie Glas, und ihre Tore bestehen aus Perlen. Und was ihn am meisten beeindruckt: Diese Tore werden nie ge-<135:> schlossen, sie stehen immer offen; denn Feinde gibt es nicht mehr, Lüge und Greueltaten sind für immer verbannt. Garant des Friedens ist Gott selbst, der im Neuen Jerusalem seinen Thron bestiegen hat, um von dort aus gemeinsam mit Christus die Welt zu regieren. Von nun an brauchen die Menschen weder Tempel noch andere Heiligtümer, denn Gott selbst ist zum Heiligtum der Menschen geworden und zur Quelle des Lichts für die Welt. Die Menschen beginnen Gott so zu verinnerlichen, daß sie sein sichtbares Abbild und seine Wohnungen nicht mehr nötig haben.Dann läßt sich der Seher von einem Engel in die Lage und Umgebung der himmlischen Stadt einführen. Dabei offenbart sich ihm die Stadt des göttlichen Lichts auch als die Stadt des göttlichen Lebens: „Und er [der Engel] zeigte mir einen Strom lebendigen Wassers, klar wie Kristall, der ausgeht von dem Thron Gottes und des Lammes; mitten auf dem Platz und auf beiden Seiten des Stromes Bäume des Lebens, die tragen zwölfmal Früchte, jeden Monat bringen sie ihre Frucht, und die Blätter der Bäume dienen zur Heilung der Völker. Und es wird nichts Verfluchtes mehr geben. Und der Thron Gottes und des Lammes wird in der Stadt sein, und seine Knechte werden ihm dienen und sein Angesicht sehen, und sein Name wird an ihren Stirnen sein" (Offb 22,1-4).Uralte Symbole tauchen wieder auf. Die Endzeit weist zurück auf die Urzeit, in der das Wasser des Lebens und der Baum des Lebens Segen spendeten. Im himmlischen Jerusalem ist das Paradies wiedererstanden. Die Quellen des Wassers liegen bezeichnenderweise unter dem Throne Gottes und werden zu Strömen, die zu beiden Seiten von den Bäumen des Lebens flankiert sind. Schon das alte Zentralheiligtum der Babylonier besaß als kultische Symbole den Paradiesesgarten, das Wasser des Lebens und den Baum des Lebens (vgl. Widengren 1969, S. 334 u. ö.). Und schon bei Hesekiel hören wir von einer ganz ähnlichen Vision:

Und er [Gott] sprach zu mir: Du Menschenkind, hast du das gesehen? Und er führte mich zurück am Ufer des Flusses entlang. Und als ich zurückkam, siehe, da standen sehr viele Bäume am Ufer auf beiden Seiten. Und er sprach zu mir: Dies Wasser fließt hinaus in das östliche Gebiet und weiter hinab zum Jordantal und mündet ins Tote Meer. Und wenn es ins Meer fließt, soll dessen Wasser gesund werden, und alles, was darin lebt und webt, wohin der Strom kommt, das soll leben. Und es soll sehr viele Fische dort geben, wenn dieses Wasser dorthin kommt; und alles soll gesund werden und leben, wohin dieser Strom kommt. Und es werden an ihm die Fischer stehen. Von En-Gedi bis nach En-Eglajim wird man die Fischgarne aufspannen; denn es <136:> wird dort sehr

Page 18: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

viele Fische von aller Art geben wie im großen Meer. Aber die Teiche und Lachen daneben werden nicht gesund werden, sondern man soll daraus Salz gewinnen. Und an dem Strom werden an seinem Ufer auf beiden Seiten allerlei fruchtbare Bäume wachsen; und ihre Blätter werden nicht verwelken, und mit ihren Früchten hat es kein Ende. Sie werden alle Monate neue Früchte bringen; denn ihr Wasser fließt aus dem Heiligtum. Ihre Früchte werden zur Speise dienen und ihre Blätter zur Arznei. (Hes 47,6-12)

Das Wasser ist nicht nur klar, sondern auch gesund. Wenn es sich ins Meer ergießt, soll auch das Wasser des Meeres gesund werden, so daß Fische in großer Zahl dort leben können. Auch Hesekiel sieht die Fruchtbäume vor sich, die alle Monate Früchte tragen; auch er erwähnt ausdrücklich ihre Blätter, die als Medizin dienen. Für den Apokalyptiker Johannes sollen sie sogar die Heilung der Völker bewirken. Die Blätter der Bäume des Lebens stellen eine „Himmelsspeise" dar, durch die die Völker von ihren Leiden, aber auch von ihrem Unglauben geheilt werden.

In diesem paradiesischen Garten, zu dem die Erde wieder werden soll, ist alles rein, unverdorben, unverschmutzt. Es gibt keine Wasserverschmutzung, kein Baumsterben, keine Schadstoffbelastungen. Es gibt keine Krankheiten mehr, die auf die Verschmutzung des Was-sers und der Luft zurückzuführen wären, und keine Gefährdung durch chemische Gifte. Die paradiesische Welt ist die reine Welt; „rein" aber nicht nur im Sinne von „sauber", sondern auch im Sinne von treu, gerecht, wahrhaftig, gütig und vertrauensvoll: Der reine Strom, der vom Throne Gottes herabfließt, die herrlichen Fruchtbäume und ihre heilenden Blätter sind Beweise für die Gottesnähe, in der nur Treue, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Güte und Vertrauen gedeihen können.So wird auch das himmlische Jerusalem mit seinen kostbaren Gebäuden und Mauern und seinen natürlichen Ressourcen zur Metapher für ein Gott-gemäßes Leben in der Natur. Das Paradies am Ende der Weltgeschichte reproduziert das Paradies, das am Anfang der Weltgeschichte stand. Beide gleichen einander. Und doch liegt zwischen ihnen eine weltgeschichtliche und menschheitsgeschichtliche Entwicklung, die die Bibel „Sünde" nennt. Das Paradies am Ende der Zeiten ist gleichsam das Ergebnis eines langen Prozesses, der über weite Strecken des Niedergangs führt. Das Paradies am Ende der Zeiten wird den Menschen erst nach einer langen Geschichte der Läuterung zuteil. Das Paradies am Anfang bedeutet einen evolutionären Beginn, das Paradies am Ende wird den Men-<137:> schen nach langen Leiden und schwerer Schuld zuteil. Nach christlicher Glaubensvorstellung befinden sich die Menschen noch immer zwischen den beiden Paradiesen; das eine ist ihnen verlorengegangen, das andere aber besteht noch nicht.

Die Spuren des Schöpfers in der Schöpfung: Röm 1Denn es enthüllt sich der Zorn Gottes vom Himmel her über jede Ehrfurchtslosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit in Ungerechtigkeit gefangen halten. Denn was von Gott erkennbar ist, ist unter ihnen offenbar, weil Gott selbst es ihnen offenbart hat: Seine unsichtbaren Eigenschaften werden von der Schöpfung der Welt an seinen Werken mit der Vernunft erschaut, und das eben ist seine ewige Kraft und Gottheit, so daß sie keine Entschuldigung haben. Denn obwohl sie Gott kannten, haben sie ihm nicht als Gott Ehre gegeben oder ihm gedankt, sondern wurden in ihren Gedanken entleert, und ihr unvernünftiges Herz wurde verfinstert. Während sie behaupteten, weise zu sein, wurden sie zu Narren und vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit dem Abbild der Gestalt des vergänglichen Menschen und der Vögel und der Vierfüßler und der Würmer. (Röm 1,18-23)

Die Forscher sind sich darin einig: Bei diesem Text handelt es sich um eine Missionspredigt, wie sie Paulus häufig vor den sogenannten „Heiden", den Völkern nichtjüdischen Glaubens, gehalten hat.'s Der Aufbau des Abschnitts ist typisch für eine „Heidenpredigt". Er beginnt mit dem programmatischen Lehrsatz: „Es enthüllt sich (apokalyptetai) der Zorn Gottes vom Himmel her über jede Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit (adikia) der Menschen, die die Wahrheit in Ungerechtigkeit gefangen halten (katechönton)" (Röm 1,18).

Page 19: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

Damit ist Gottes Gericht angebrochen. Das gilt für Heiden und Juden gleicherweise (vgl. Röm 2,1-29). Sie stehen alle unter der Herrschaft der Sünde. Darum wird sie Gottes Zorn vom Himmel her treffen. Warum? Was haben Heiden und Juden unterlassen? Was haben sie zu tun versäumt? Sie haben ihre Verantwortung gegenüber dem Gesetz, dem Gottesgebot, nicht ernst genommen, und sie haben Gott nicht in und aus seinen Werken erkannt. Beides, das Gesetz und die Erkenntnis aus den Werken, hätte sie zu Gott hinführen können: „Denn was von Gott erkennbar ist, ist unter ihnen offenbar (phanerön), weil Gott es ihnen selbst offenbart hat: Seine unsichtbaren (aörata) Eigenschaften werden von der Schöpfung der Welt an seinen Werken mit der Vernunft erschaut, und das eben ist seine ewige Kraft und Gottheit, so daß sie keine Entschuldigung haben" (Röm 1,19 u. 20).<138:> Beide, Heiden wie Juden, hatten jahrhundertelang Gelegenheit, Gottes „unsichtbare Eigenschaften" durch einen Vorgang der Erkenntnis wahrzunehmen. Die Werke und Taten, die Gott in der Schöpfung wie in der Geschichte vollbringt, erhalten damit Hinweischarakter, werden zu seinen Zeichen und Spuren, zu vestigia Dei in der Welt. Die unsichtbaren Eigenschaften werden zu Kräften (dynämeis), die man zwar nicht sehen kann, die man aber durch die Vernunft erkennen und vor allem spüren und fühlen kann. Wer weder die Vernunft dazu aufbringt noch das Walten Gottes in den vestigia Dei wahrnehmen kann, der macht sich schuldig; denn er verweigert damit dem Schöpfer die nötige Ehrfurcht, zu der der Mensch als Geschöpf verpflichtet ist. Diese Ehrfurchtsverweigerung zieht das Gericht nach sich. Die apokalyptische Literatur des Judentums macht auf diese Konsequenz immer wieder aufmerksam:

Es sind von Natur alle Menschen nichtig, die von Gott nichts wissen und an den sichtbaren Gütern den, der wirklich Gott ist, nicht zu erkennen vermögen und die, obwohl sie auf seine Werke achten, nicht begreifen, wer der Meister ist, sondern das Feuer oder den Wind oder die flüchtige Luft oder die Sterne oder mächtige Wasser oder die Lichter am Himmel für Götter halten, die die Welt regieren. Wenn sie aber an ihrer Schönheit sich freuten und sie darum für Götter hielten, hätten sie wissen sollen, um wieviel herrlicher der ist, der über das alles der Herr ist. Denn der aller Schönheit Meister ist, hat das alles geschaffen. Wenn sie aber schon über ihre Macht und Kraft staunten, hätten sie merken sollen, um wieviel mächtiger der ist, der das alles bereitet hat. Denn es wird an der Größe und Schönheit der Geschöpfe ihr Schöpfer wie in einem Bild erkannt. Trotzdem sind sie nicht zu sehr zu tadeln; denn sie irren vielleicht und suchen doch Gott und hätten ihn gern gefunden. Denn sie gehen zwar mit seinen Werken um und erforschen sie, aber sie lassen sich durch das, was vor Augen ist, gefangennehmen, weil so schön ist, was man sieht. Doch sind sie damit nicht entschuldigt. Denn wenn sie so viel zu erkennen vermochten, daß sie die Welt durchdringen konnten, warum haben sie nicht viel eher den Herrn über das alles gefunden? (Weich 13,1-9)

Der Text will sagen, daß die Schöpfung die Spuren Gottes an sich trägt. Jeder Baum, jedes Tier, jeder Mensch ist ein vestigium Dei und wurde am Anfang durch das Wort Gottes ins Leben gerufen, ein Vorgang, der noch immer anhält. Das Wort Gottes ist also der eigentliche Schöpfer; und da das Wort Gottes nie verstummt, sondern bis ans Ende der Welt gesprochen wird, verkündigt und ausgerufen wird, geht auch die Schöpfung weiter, und es entstehen neue Arten und neue Formen und damit immer wieder auch neue vestigia, Spuren Gottes in der belebten und unbelebten Natur. Niemand kann<139:> sich entschuldigen, diese Spuren nicht wahrgenommen zu haben. Jeder Mensch ist darum angesichts der Schöpfung und ihrer Herrlichkeit zur Anbetung des Schöpfers aufgerufen. Eindrucksvoll sagt es Psalm 33:Der Himmel ist durch das Wort des Herrn gemachtund all sein Heer durch den Hauch seines Mundes.Er hält die Wasser des Meeres zusammen wie in einem Schlauch und sammelt in Kammern die Fluten.Alle Welt fürchte den Herrn,und vor ihm scheue sich alles,was auf dem Erdboden wohnt.Denn wenn er spricht, so geschieht's; wenn er gebietet, so steht's da. (Ps 33,6-9)

Page 20: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

Im 2. Makkabäerbuch wird geschildert, wie die Schöpfung aus dem Nichts durch das Wort Gottes geschieht: „Ich bitte dich, mein Kind, schaue auf zum Himmel und blicke hin auf die Erde und auf alles, was darin ist! Bedenke, daß Gott dies nicht aus schon Bestehendem gebildet hat und daß auch das Menschengeschlecht so (nämlich aus dem Nichts) entstanden ist!" (2. Makk 7,28).Paulus übernimmt die Schöpfungslehre des Alten Testaments und des Judentums und will seinen Lesern klarmachen, daß man die Wunder der Schöpfung mit allen seinen Sinnen wahrnehmen kann. Nicht nur erkennt man überall die Spuren Gottes, sondern vielmehr bildet sich der Schöpfer auch im Geschöpf ab, so daß der Fromme vom Geschöpf auf den Schöpfer schließen kann: „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk", so beginnt der 19. Psalm. Und 8. Psalm bekennt der Beter ehrfurchtsvoll:

Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk,den Mond und die Sterne, die du bereitet hast:was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst,und des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst?(Ps 8,4 u. 5)

Aber Paulus hat sich auch seiner hellenistischen Umwelt nicht verschlossen, sondern hat ihr Gedankengut in sich aufgenommen, die Parallelen gesehen und damit eine Synthese aus Judentum und Hellenismus geschaffen. Was unseren Zusammenhang betrifft, so hätte er sich z. B. auch auf Plato berufen können, bei dem es im >Timaios< heißt:Es [das Weltall] ist entstanden, denn es ist sichtbar und fühlbar und hat einen Körper; alles so Beschaffene aber ist sinnlich wahrnehmbar, und das<140:> sinnlich Wahrnehmbare [...] erschien uns als das Werdende und Entstandene [...] Den Schöpfer und Vater dieses Alls nun zu finden, ist freilich schwierig [...] Wenn nun aber doch diese Welt schön und vortrefflich und der Meister gut und vollkommen ist, so ist es offenbar, daß er nach dem Ewigen schaute [...]; denn die Welt ist das Schönste von allem Entstandenen, und der Meister ist der beste und vollkommenste von allen Urhebern. So ist denn jene [die Welt] als eine solche ins Leben gerufen worden, die nach dem Urbilde dessen entstanden ist, was der Vernunft und Erkenntnis erfaßbar ist und beständig dasselbe bleibt.Schreiten wir nun auf diesen Grundlagen zur Betrachtung dieser unserer Welt, so ist sie eben hiernach ganz notwendigerweise ein Abbild von etwas. Nun ist es aber bei einer jeden Frage von der höchsten Wichtigkeit, gerade ihren Ausgangspunkt sachgemäß zu behandeln, und so muß man denn auch zwischen der Art, wie man von dem Abbilde, und der, wie man von seinem Urbilde zu handeln hat, sofort feste Grenzen ziehen, indem man erwägt, daß die Darstellungsweise mit den Gegenständen, welche sie zum Verständnis bringen soll, auch selber verwandt ist, und daß daher die Darlegung des Bleibenden und Beständigen und im Lichte der Vernunft Erkennbaren selber das Gepräge des Bleibenden und Unumstößlichen an sich trägt. (Platon >Timaios<, 28 b– 29 b)Aus dem Abbild, dem Geschaffenen, läßt sich also das Urbild, das Ungeschaffene, die prima causa von allem, erkennen. Diese Oberzeugung findet sich sowohl im Judentum wie im Hellenismus. Der neutestamentliche Forscher Otto Michel sieht hier „eine Berührung mit stoischer Terminologie und apologetischen Gedanken des Judentums in vier Punkten" (Michel 1955, S. 55). Zunächst ist es die Kosmologie, die den betrachtenden Menschen zwingt, nach einem Schöpfer zu fragen; die Welt ist so kunstvoll konstruiert, daß der Mensch Anlaß hat, diesen Bau auf eine erste Ursache bzw. einen ersten Verursacher zurückzuführen. Er kann gar nicht anders, als aus der Herrlichkeit des Schöpfungswerkes auf den Schöpfer selbst zu schließen. Dann aber bedeutet zweitens die Erkenntnis des Schöpfers nicht mehr nur die Erkenntnis, daß dieser als die prima causa vorhanden ist, sondern daß damit auch die

Page 21: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit und die Notwendigkeit der Gebote, des nömos, verbunden ist. Das bedeutet drittens: Zur rechten Erkenntnis des Schöpfers gehört die Verehrung Gottes und ein Gott gehorsames Leben. Das wiederum heißt viertens: Wer sich einer solchen Gotteserkenntnis verschließt, sie nicht wahrhaben will, der verfällt der Idolatrie, dem Götzendienst, und einem moralisch verrohten Leben.Der Schluß vom Geschöpf auf den Schöpfer, die analogia entis, die Seinsanalogie, wie die Theologen sagen, wird auch von Paulus<141:> als ein Gottesbeweis angesehen, seine Ablehnung hingegen als Agnostizismus oder gar Atheismus. Um den Gottesbeweis nachvollziehen zu können, bedarf es im Grunde nur der Einsicht (siinesis) und der Erkenntnis (gnösis). Die Menschen hätten dabei unter Juden und „Heiden" genügend Vorbilder gehabt, meint der Apostel, Vorbilder, die ihnen gezeigt hätten, wie leicht man Gott aus der Natur beweisen kann; aber sie wollten diesen Weg der natürlichen Gotteserkenntnis nicht gehen. Darum mußten sie schuldig werden, und darum muß jetzt das Zorngericht Gottes über sie kommen. Es gibt kein Erbarmen: „Obwohl sie Gott kannten, haben sie ihn nicht als Gott gepriesen oder ihm gedankt, sondern haben ihre Gedanken dem Nichtigen (mataiötes) zugewandt, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert worden" (Röm 1,21). Mit anderen Worten: Es ist das eingetreten, was schon in der Weisheit des Alten Bundes beschrieben wird, wie wir gesehen haben: „Es sind von Natur alle Menschen nichtig, die von Gott nichts wissen und an den sichtbaren Gütern den, der wirklich Gott ist, nicht zu erkennen vermögen und die, obwohl sie auf seine Werke achten, nicht begreifen, wer der Meister ist" (Weish 13,1-9).Der jüdische Text bestätigt, was Paulus den Römern vorhält: Die natürliche Gotteserkenntnis wurde von den Menschen nicht wahrgenommen. Dem kosmologischen Gottesbeweis, den schon die klassischen griechischen Philosophen und die Stoiker erbrachten, sind sie nicht gefolgt. Sie haben sich darüber hinweggesetzt und das Werk mit dem Meister gleichgesetzt und das Geschöpf mit dem Schöpfer, so daß sie nun das Bild mit dem Urbild verwechseln, indem sie es zum Götzenbild machen. Sie wollten Gott sichtbar machen, weil sie einem unsichtbaren Gott nichts zutrauten. Aber schon der jüdische Philosoph Philo von Alexandrien hatte gelehrt: Der wahre Gott ist unsichtbar, unsichtbar wie die Seele des Menschen. Und trotz seiner Unsichtbarkeit ist Gott – wie die Seele des Menschen – wirksam.16 Das wollen Juden wie „Heiden" nicht einsehen. Darum sind sie unentschuldbar. Und darum kommt über sie der Zorn Gottes und sein Gericht.Es ist nun eine endzeitliche, eine eschatologische Situation eingetreten. In einer eschatologischen Situation gibt es keine Entschuldigung, keine Verteidigung mehr. Da spricht Gott bereits das letzte Wort: Denn trotz der Tatsache, daß die Menschen Gott auf Schritt und Tritt in der Natur begegnet sind, daß sie überall auf seine Spuren stießen und genug Gelegenheit hatten, von den Schöpfungswerken auf den Meister, den Schöpfer selbst zu schließen, versagten sie Gott<142:> die nötige Anerkennung, Ehre, Anbetung und den Dank. Sie hätten die Gelegenheit gehabt, von den sichtbaren Schöpfungswerken auf die Gebote und die Verheißungen, ja auf sein bevorstehendes Gericht zu schließen. Die sichtbaren Schöpfungswerke hätten die Menschen zu einer tieferen Gotteserkenntnis führen müssen, die hinter die sichtbaren Dinge schaut und „versteht". Aber diese Konsequenz haben die Menschen nicht gezogen und haben Gott nicht als den Schöpfer aller „Dinge" anerkannt, geschweige denn ihm gedankt. Mit einem Wort: Sie waren hochmütig und haben nur auf sich selbst geschaut. Wer Gott aber nicht als Gott verehrt, sondern statt dessen seine Frömmigkeit im Götzentum befriedigen will, der wird im Endgericht der Nichtigkeit, der Leerheit, der mataiötes, und der Verfinsterung des Herzens überantwortet: Die Gottlosen sind bar und leer jeder Gottesfurcht und jedes Gedankens, der Gott den Schöpfer in seiner Schöpfung erkennen könnte. Es ist nämlich ihr Herz, das nicht zur Einsicht kommen will und darum in die Machtsphäre der Finsternis gerät (Röm 1,21).

Page 22: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

Worin besteht nun diese Gedankenleere, diese Herzensverfinsterung? Paulus gibt zur Antwort: „Während sie [die Menschen] behaupteten, weise zu sein, wurden sie zu Narren und vertauschten die Herrlichkeit (döxa) des unvergänglichen Gottes mit dem Abbild der Gestalt (eikön) des vergänglichen Menschen und der Vögel und der Vierfüßler und der Würmer" (Röm 1,23). Der Apostel nimmt hier die Vorlagen des Alten Testaments auf und beruft sich auf Ps 106,29 f.: „Sie machten sich ein Kalb am Horeb und beteten das gegossene Bild an und verwandelten die Herrlichkeit ihres Gottes in das Bild eines Ochsen, der Gras frißt. Sie vergaßen Gott, der sie errettet." Otto Michel bemerkt: „Die Heiden tun, was Israel ausdrücklich verboten wurde, und die Schuld der Heiden ist eine Schuld, die auch Israel in der eigenen Geschichte nachzuweisen ist" (Michel 1955, S. 57). Auch die Alte Synagoge beruft sich auf dieses Psalmwort, und Rabbi `Agiba (gest. etwa 135 n. Chr.) bemerkt dazu. „Die Schrift sagt lehrend: ,der Gras frißt', es gibt nichts Häßlicheres und Greulicheres als einen Stier zu der Zeit, da er Gras frißt" (Strack/Billerbeck 31961, III, S. 47). Die Sünde besteht darin, daß die Menschen Gottes Herrlichkeit, die sie überall wahrnehmen können, gegen das Abbild, gegen die Ikone einer menschlichen oder – hier – tierischen Gestalt eintauschen. Sowohl die Verehrung von anthropomorphen wie von theriomorphen Göttern ist nach biblischer Überzeugung Sünde. Diese Sünde begann für die Israeliten am Berge Horeb, als sie das Goldene Kalb umtanzten: „Denn Götzenbilder zu<143:> ersinnen ist der Anfang der Hurerei, und sie zu erfinden ist des Lek:ns Verderben" (Weish 14,12).Im Grunde müßte jeder wissen: Die Götter der Heiden sind Nichtse, älilim, Nichtigkeiten, habalim, an denen nichts Wesenhaftes ist. Sie wurden erst dadurch zu Herren, als die Menschen sie dazu gemacht haben. Sie sind aus vergänglichen Stoffen hergestellt und sind unfähig, den Menschen zu helfen. Das gilt sowohl für den Sternenkult als auch für den Tierkult und die Verehrung aller anderen Idole (vgl. Strack/Billerbeck 31961, III, S. 53, S. 54-60).Der Zorn Gottes über die Anbetung solcher Nichtigkeiten und die Vernachlässigung des lebendigen Gottes wirkt sich nach Paulus in dreifacher Weise aus: „Darum hat Gott sie dahingegeben, in die Begierden ihres Herzens verstrickt, an die Unreinheit, daß ihre Leiber an ihnen selbst geschändet wurden, weil sie die göttliche Wahrheit mit der Lüge vertauscht und Verehrung und Dienst der Schöpfung erwiesen haben an Stelle des Schöpfers, der in Ewigkeit gepriesen ist [...] Deshalb hat Gott sie dahingegeben an schändliche Leidenschaften [...] So hat Gott sie dahingegeben an einen wertlosen Verstand, so daß sie das Ungebührliche tun, erfüllt von jeder Ungerechtigkeit." (Röm 1,24-31, nach: Michel 1955, S. 51). Die Gottes- und Schöpferlästerung hat unabsehbare Folgen, die alle zur Selbstzerstörung des Menschen führen. Paulus versteht unter „Schändung des Leibes" – wie im biblischen Umfeld häufig – die Homosexualität und bezeichnet sie als widernatürliche Sexualität, die eine Folge des Gottesgerichts ist. Er erklärt sie als Unmoral, Zuchtlosigkeit und Perversion – eine Beurteilung, die zu seiner Zeit, ja bis in die christliche Gegenwart üblich war, und behauptet: Die Vertauschung der Wahrheit Gottes mit der Lüge sei die Voraussetzung für die „Vertauschung" des „natürlichen" Geschlechtsverkehrs mit der „Schändung der Leiber". Die natürliche Sexualität, die Heterosexualität, ist nach Paulus die von Gott gewollte Sexualität, die „widernatürliche", die Homosexualität, hingegen hebe die göttliche Schöpfungsordnung auf (vgl. Michel 1955, S. 59). Der „Lasterkatalog", der nun folgt, erreicht seinen Höhepunkt darin, daß der Apostel von einer Verurteilung „an einen wertlosen Verstand" spricht; gemeint ist wohl „der Trieb, alles zum Schlechten zu kehren" (Michel 1955, S. 61). Auf eine Formel gebracht: Gott setzt Recht und Norm; aber der Mensch hebt sie wieder auf und muß folglich in der Lieblosigkeit und Erbarmungslosigkeit enden.Zweifellos ahnt der Völkerapostel, wohin die Tatsache führen muß, wenn Menschen die Spuren Gottes in der Schöpfung nicht

Page 23: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

<144:> mehr wahrnehmen und darum das Geschöpf mit dem Schöpfer „vertauschen" (metallässein), auch wenn er manche Phänomene, die wir heute völlig anders bewerten würden, als Folgen dieser Schuld deutet. Richtig bleibt jedenfalls seine Beobachtung, daß die Unkenntnis über die Schöpfung und darum ihre Vernachlässigung eine Unkenntnis Gottes und somit eine Gottvergessenheit nach sich zieht, welche für die Menschen unabsehbare Folgen haben muß. Paulus nennt als schrecklichste dieser Folgen die mataiötes, die Nichtigkeit, die Entleerung der Gotteserkenntnis und des Gottesglaubens und damit die Selbstzerstörung, mit der der schöpfungsvergessene Mensch seitdem beschäftigt ist.

Das Seufzen der Kreatur und die Erlösung der Schöpfung: Röm 8,18-27Ganz unvermittelt kommt Paulus im B. Kapitel seines Römerbriefs auf das Leiden in der Schöpfung zu sprechen. Eigentlich hatte er zu einer ganz anderen Thematik Stellung nehmen wollen; denn das Thema des B. Kapitels ist der Geist und das neue Leben (Vers 1-11) bzw. das Leben im Geist, das eine klare Absage an das „Fleisch" bzw. „das Leben in der Sünde" zum Inhalt hat, also einen asketischen Lebensentwurf vorstellt. Das Leben im Geist bedeutet für den Apostel die „Gotteskindschaft", d. h. die Befreiung vom „Geist der Sklaverei" (Röm 8,14 u. 15), der die Menschen bisher unter die Macht der Sünde zwang. Die Zeit der Versklavung an diesen Ungeist Sünde, der nur zum Tode führen kann, hat seit Christus keine Macht mehr. Jetzt heißt es: „Der Geist selbst bezeugt unserem Geist, daß wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, und zwar Erben Gottes und Miterben Christi, wenn anders wir mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm verherrlicht werden" (Röm 8,16).Die Tatsache, daß sich die Gotteskindschaft bzw. Gottessohnschaft einem neuen Geist, dem neuen Geist Gottes verdankt, bildet den Übergang zu unserem Text. Es sieht so aus, als wolle Paulus damit sagen, daß die Menschen, die Christus nachfolgen, allen anderen Kreaturen bereits voraus seien: Das Mitleiden mit Christus trägt bereits seine Früchte: Die Verherrlichung der Christen hat bereits eingesetzt. Nun müssen auch die Leiden in der Natur bald zu Ende sein und die Kreaturen – wie vor ihnen die Menschen – „verherrlicht" werden (vgl. Michel 1955, S. 165). Mit anderen Worten: Auch sie, die<145:> Kreaturen, werden – wie vor ihnen die Menschen – die Gotteskindschaft empfangen. Das ist die visionäre Hoffnung, die Paulus hier an seine Leser weitergeben will: „Denn ich schätze, daß die Leiden der gegenwärtigen Zeit in keinem Verhältnis stehen zu der zukünftigen I lerrlichkeit, die sich an uns offenbaren wird. Denn das sehnsüchtige Ausharren der Schöpfung (ktisis) wartet auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes. Denn der Nichtigkeit wurde die Schöpfung unterworfen, nicht mit eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat, – auf Hoffnung hin; denn auch die Schöpfung selbst wird befreit werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes; denn wir wissen, daß die ganze Schöpfung bis jetzt seufzt und in Wehen liegt. Und nicht nur diese, sondern auch wir selbst, die wir die Erstlingsgabe des Geistes schon besitzen, – auch wir selbst seufzen im Blick auf uns (in uns), weil wir die Sohnschaft erwarten, die Erlösung unseres Leibes. Denn nur auf Hoffnung hin sind wir gerettet. Eine Hoffnung aber, die man sehen kann, ist keine Hoffnung. Denn was einer sieht, was braucht er das noch zu erwarten? Wenn wir aber das erhoffen, was wir nicht sehen, dann warten wir wirklich mit Geduld. Ebenso nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, um was wir bitten sollen, wie es sich gehört. Da tritt der Geist selbst stellvertretend ein mit Seufzern, die nicht in Worte zu fassen sind" (Röm 8,18-26).Was bedeutet hier ktisis, die „Schöpfung"? Es heißt von ihr, daß sie sehnsüchtig Ausschau hält nach der Offenbarung der Kinder Gottes (Vers 19), daß sie mit uns seufzt und gleichsam in Wehen liegt (Vers 22), um eine neue Schöpfung zu gebären, daß sie befreit werden wird von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes (Vers 21), die sich bereits dieser Freiheit erfreuen. Nach den vorangegangenen Versen 1 bis 17 kann es

Page 24: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

sich jetzt nur noch um die außermenschliche Kreatur handeln: Von den Menschen und ihrer Erlösung, j a ihrer Verherrlichung durch Christus war dort die Rede; jetzt geht es um die Erlösung der Kreatur und der Natur. Beide haben unter der Sünde der Menschen zu leiden; denn obwohl sie darin nicht verstrickt sind, sind sie – wie die Menschen – Sklaven ihres „Fleisches" und damit dem Tode verfallen. Aber jetzt, nachdem die Menschen durch Christus befreit sind und den Geist der Gotteskindschaft empfangen haben, steht auch die Befreiung der Natur und der Kreatur bevor. Paulus beschreibt, wie die Natur und der Mensch, die Kreatur und der Mensch, ja der Kosmos und der Mensch aufeinander bezogen sind und voneinander<146:> abhängen. Er „spricht vom Menschen, der mit dem Kosmos verbunden ist, und vom Kosmos, dessen Ergehen durch den Menschen bestimmt ist. Das Verhältnis von Kosmologie und Anthropologie ist für Paulus kein Problem, weil der Mensch in der Schöpfung lebt, in sie eingebettet ist, ja, noch mehr, weil er ein Stück der Schöpfung ist. Darum lassen sich Mensch und Schöpfung nicht trennen" (Friedrich 1982, S. 65).Die beiden Neutestamentler Adolf Jülicher und Theodor von Zahn machten schon um die Jahrhundertwende in ihren Arbeiten darauf aufmerksam, daß die innere Anteilnahme am Seufzen der Schöpfung, die emotionale Betroffenheit durch die Nichtigkeit und Vergänglichkeit der Kreaturen daher rühren könnte, daß der Apostel auf seinen Missionsreisen in felsigen Gebirgen, kargen Wüsten und fruchtbaren Oasen das Seufzen und Klagen der rechtlosen Kreatur und Natur selber vernommen habe. Das habe ihn „tief erschüttert", wie Jülicher schreibt (Jülicher 1908, S. 279). Aus Röm 8,18-25 sprächen geradezu „die für jedermann wahrnehmbaren Schmerzempfindungen und hörbaren Schmerzensäußerungen in der außermenschlichen Kreatur", die „Schmerzenslaute, welche das gequälte oder geängstigte Tier ausstößt", meint Theodor von Zahn zu Recht. Und er fährt fort: „Auch im Reich der Pflanzen, die nicht seufzen, und der Steine, die nicht schreien, kurz, in der ganzen Natur" findet der Apostel das Gegenteil von Natur: die Unnatur (Zahn 1910, S. 405).Es ist durchaus denkbar, daß die Begegnung mit der Unnatur Paulus zu diesen theologischen Überlegungen angeregt hat, daß er gleichsam aus der erfahrenen Nichtigkeit, der mataiötes, und der Vergänglichkeit seine Theologie von der Erlösung der Schöpfung entwickelt hat. Natürlich hat er aus seinen Naturbeobachtungen nicht den Schluß gezogen, daß sich die Menschen anders verhalten müßten, daß sie den Raubbau an der Natur unterlassen und statt dessen aktiven Naturschutz und Tierschutz betreiben müßten; ökologische Fragen zu stellen ist (noch) nicht seine Sache und auch nicht sein Anliegen. „In dem ganzen Abschnitt über die Schöpfung findet sich kein Appell an die Christen, kein Imperativ zur Abstellung von Mißständen", sagt Gerhard Friedrich (Friedrich 1982, S. 66). Aber sein theologisches Anliegen ist doch sehr eindeutig und ganzheitlich konzipiert. Paulus begreift den Menschen als einen Teil der Gesamtschöpfung; er bettet ihn gewissermaßen in die Gesamtheit der Schöpfung ein und macht ihn von dieser abhängig, nicht zuletzt dadurch, daß er immer wieder betont, daß auch der Mensch — wie die<147:> gesamte Schöpfung — dem Werden und Vergehen unterliegt und dennoch auf die Befreiung bzw. Erlösung hofft. „Die Schöpfung ist an das Schicksal des Menschen gebunden. Wie sie durch die Schuld des Menschen gerichtet wird, so ist ihre Erlösung an die ,Präsentation` der Söhne Gottes gebunden" (Michel 1955, S. 173). Gemeinsam mit dem Menschen wurde die Schöpfung von Gott der Nichtigkeit, dem „Leerlauf"" unterworfen, und gemeinsam mit dem Menschen wird sie nun durch den Akt der Erlösung von Gott wieder davon befreit. Daß die Natur unter ihrer Nichtigkeit seufzt, ist nicht Folge eines schuldhaften Verhaltens, söndern „schicksalhaft" bedingt; denn eine Schuld kann nur dem Menschen angelastet werden, weil nur er zur Verantwortung gezogen werden kann. Insofern ist die Natur stumm; sie seufzt nur unter der Last ihrer Vergänglichkeit, aber sie ist nicht verantwortlich zu machen für diesen Zustand (vgl. Gerlitz 1990, S. 28).

Page 25: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

Wer aber war es, der die Schöpfung dem Leerlauf, der Sinnlosigkeit unterwarf? Einige Forscher haben an den Satan und seine Machenschaften gedacht (Friedrich 1982, S. 66 u. S. 105, Anm. 164). Er war ja der Verführer der ersten Menschen und hat die Schöpfung in Not und Elend gestürzt. Aber von einem Satan ist hier nirgends die Rede. Er kann nicht gemeint sein. Man hat auch an Adam gedacht, durch den die Sünde in die Welt kam, wie Paulus nicht müde wird zu betonen, und der — wie Judentum und Christentum übereinstimmend behaupten — am Elend der Menschheit schuld ist. Aber auch das kann nicht sein. Der erste Mensch kann höchstens „die Ursache oder der Anlaß der Unterwerfung, nicht aber das Subjekt der Handlung" sein, wie Gerhard Friedrich betont (Friedrich 1982, S. 67). Ist es dann gar Gott selbst gewesen, der die ganze Schöpfung dem Prozeß des Vergehens auslieferte, weil die Menschen der Sünde anheim-fielen und an ihrer Schuld schuldig wurden? Weil sie Gott den Gehorsam aufkündigten? Die Exegeten scheuen sich gewöhnlich, diese äußerste Konsequenz anzunehmen und weisen sofort darauf hin, daß ja eine solche Verurteilung zur Nichtigkeit nicht ohne die Aussicht auf Befreiung und Erlösung geschehen ist. Aber auch diese Version kann nur stimmen, wenn man den Gerichtsakt als schicksalhaft bedingt und darum Gott als anonym und willkürlich handelndes Schicksal, als Fatum, versteht. Während der Mensch auf Grund seines Verstandes, seiner Gefühle und seiner Fähigkeit zu glauben die Möglichkeit zur Gotteserkentnis gehabt hat, Glaube und Unglaube bei ihm also auf eigener Entscheidung beruhen, wie Röm 1 so eindrücklich betont hat, sind die Kreaturen sowie die gesamte belebte<148:> Natur einer schicksalhaften Gottestat, einem Verhängnis, ausgeliefert worden. Gott übernimmt bei dieser Verurteilung die Funktion eines deus absconditus, eines „verborgenen Gottes", wie Martin Luther sagte; d. h., er handelt als zürnender, strafender, rächender Gott, der ohne Liebe wirkt; er setzt sich gleichsam eine Maske (Luther: larva) auf, um sich unkenntlich zu machen. Sein Name wird nicht genannt. Nur so läßt sich die auf Vergänglichkeit angelegte Existenz der Natur überhaupt christlich-theologisch ausdrücken und für die Gläubigen begreiflich machen.Gleichzeitig darf aber auch das schicksalhafte Phänomen der Interdependenz nicht übersehen werden: Das Vergehen der außermenschlichen Geschöpfe geschieht nicht ohne Zusammenhang mit der Sünde der Menschen. Der für sein böses Tun auf Grund seiner besonderen Stellung innerhalb der geschöpflichen Welt verantwortliche Mensch reißt alle Kreaturen und die gesamte Natur mit sich ins Verderben.Dieser Zusammenhang zwischen Mensch und Natur wird aber nun auch an der Hoffnung auf Erlösung sichtbar: „Die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes" (Röm 8,19).Vom Klagen der Erde über die verlorenen Menschenkinder hören wir auch im 4. Buch Esra: „Frage die Erde, sie wird dir [nämlich einer Frau, die über den Tod ihres einzigen Sohnes klagt] es sagen, daß sie es ist, die über so viele klagen müßte, die auf ihr entsprossen sind. Aus ihr haben wir alle den Anfang genommen, andere werden aus ihr kommen: fast alle aber gehen ins Verderben; ihre Menge wird vernichtet. Wer sollte also mehr klagen: nicht sie, die solche Menge verloren hat? Etwa du, die du nur um den einen Leid trägst? Oder wirst du erwidern: Mein Jammer ist dem der Erde nicht gleich; ich habe meines Leibes Frucht verloren, die ich in Mühen gekreißt und mit Schmerzen geboren habe! Der Erde aber ergeht es nur nach ihrer Natur: Die Menge, die auf ihr lebte, ist dahingegangen, wie sie gekommen ist. Aber ich entgegne dir: Wie du mit Schmerzen gekreißt hast, ebenso hat auch die Erde im Anfang ihrem Schöpfer ihre Frucht, den Menschen, hervorgebracht" (4. Esra 10,9E; Strack/Billerbeck 31 961 , III, S. 255).„Denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes" (Röm 8,21). Wieder kann das Esrabuch als Parallele herangezogen werden. Der 4. Esra klagt einmal darüber, daß die vernunftlose Kreatur besser dran sei als das Menschengeschlecht: „O Erde, was

Page 26: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

<149:> hast du gezeugt, wenn die Vernunft aus dem Staub entstanden ist wie jede andere Kreatur! Besser wäre es gewesen, der Staub selber wäre niemals entstanden, daß die Vernunft nicht daraus gekommen wäre. Nun aber wächst die Vernunft mit uns auf, und dadurch leiden wir Pein, daß wir mit Bewußtsein ins Verderben gehen. So trauere der Menschen Geschlecht, die Tiere des Feldes mögen sich freuen! Mögen alle Weibgeborenen jammern, das Vieh aber und Wild soll frohlocken! Ihnen ergeht`s ja viel besser als uns; denn sie haben kein Gericht zu erwarten, sie wissen nichts von einer Pein, noch von einer Seligkeit, die ihnen nach dem Tode verheißen wäre. Wir aber, was nützt es uns, daß wir einst zur Seligkeit kommen können, aber (in Wirklichkeit) in Martern fallen?" (4. Esra 7,62; Strack/Billerbeck '1.961, III, S. 255). Doch in Wirklichkeit hängen Kreatur und Mensch unauflösbar zusammen.Keine Vergänglichkeit in der Schöpfung ohne die zur Vergänglichkeit führende Schuld der Menschen, aber auch keine Erlösung ohne die Freiheit, die den Menschen verheißen ist. Beides gehört zusammen, so wie Menschen und Kreaturen zusammengehören. Auch die „vernunftlose" Schöpfung lebt – wie die Söhne oder Kinder Gottes – von der Hoffnung auf Befreiung von Knechtschaft und Vergänglichkeit. Gemeinsam leiden sie, und gemeinsam werden sie erlöst.Wie stark auch im Judentum dieses gemeinsame Leiden der Kreaturen empfunden wurde, zeigt die schöne Legende von Rabbi Sussj a, der – wie es heißt – „in der brennenden Liebe seines Herzens" Geld sammelte, um Gefangene freizukaufen. Eines Tages wurden ihm Waldvögel in Käfigen angeboten. Da kaufte er sie und ließ sie frei. Und zu den Umstehenden sagte er: „Wo gibt es eine Gefangenschaft, die größer wäre als diese!" (vgl. Kirchhoff 1987, S. 77).Auch die Erlösung wird sich als ein „gemeinsamer Prozeß" vollziehen: Erst Christus, der erlöste Erlöser, dann die Menschen, dann die gesamte Schöpfung (vgl. Michel 1955, S. 173). Die Schöpfung bzw. die Natur hat also eine andere Qualität als der Mensch. Sie steht auf der untersten Stufe der Erlösungsleiter. Sie folgt dem erlösten Menschen, der sie Dank seiner Erlösung von der Sinnlosigkeit und Leerheit, der mataiötes, befreit. Wie sich die Befreiung vollziehen wird, wie sie sich auswirken wird, wie die Natur ihren „Sinn" erhalten soll, wird nicht gesagt. Es wird von keiner Harmonie in der Natur gesprochen und auch nicht, daß der Mensch ihr Seufzen endlich wahrnimmt und es schließlich stillt. Nirgends nimmt Paulus die Stelle aus Gen 2,15 auf, wo vom Bebauen und Bewahren der Schöpfung die Rede ist, das dem Menschen obliegt. An eine Rückkehr zu pa-<150:> radiesischen Zuständen denkt er ebenso wenig wie an eine Vergöttlichung der Natur (vgl. Gerlitz 1990, S. 29). Aber er spricht von der „zukünftigen Herrlichkeit" (Röm 8,18) und der „herrlichen Freiheit der Kinder Gottes" (Röm 8,21), die sowohl die Menschen wie die gesamte Schöpfung umfassen werde. Diese döxa, diese Herrlichkeit, wird die phthorä, die Vergänglichkeit, überwinden; denn die döxa ist das Wesensmerkmal Gottes. Paulus spricht einmal (Röm 1,23) von der „Herrlichkeit der Unvergänglichkeit"; d. h., die döxa ist etwas Bleibendes, Unsterbliches, etwas, das die Erfüllung gegenüber der Leerheit ausmacht. Diese Erfüllung geschieht nach neutestamentlicher Überzeugung durch Christus an den Menschen;ls aber auch die Schöpfung hat daran Anteil. So kommt es „zwischen Mensch und Schöpfung" zu einer „Solidarität der Not und Hoffnung. Weder die Schöpfung noch der Mensch sind isolierte, für sich existierende Größen, sondern sie sind in Schuld und in Erwartung des Neuwerdens miteinander verbunden [...] Mensch und Welt sind aneinander-gekettet, so daß von dem einen Akt Gottes beide betroffen sind" (Friedrich 1982, S. 68): Schöpfung und Menschen seufzen unter der Nichtigkeit ihres Daseins (Röm 8,22 ff.); darum sehnen sie sich auch beide nach dem Offenbarwerden der Kinder Gottes (Vers 19 u. 23); Schöpfung und Menschheit wollen von der Vergänglichkeit befreit werden (Vers 21 u. 23) und haben die gleiche Hoffnung, eine Hoffnung, die man zwar nicht sehen kann, die aber doch wahr ist (Vers 20 u. 24), und beiden ist die döxa verheißen, die zugleich Freiheit und Sinngebung bedeutet (Verse 17,18 u. 21).

Page 27: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

Was aber die Bewahrung der Schöpfung anbelangt, so macht der Apostel keine Vorschläge. Allerdings: Der Mensch in seiner Sünde, in der er vor Gott steht, ist die Ursache dafür, daß die Natur ihr Gleichgewicht verloren hat und ihr Haushalt (oikos) gestört ist. Die Sünde des Menschen, so sein zu wollen wie Gott, muß bekämpft werden, wenn der Mensch sich wandeln soll und mit ihm die übrige Schöpfung, für die er Verantwortung trägt, bewahrt werden soll. Der Glaube und der Gehorsam gegenüber Gott werden auf diese Weise zur Rettung „aus dem Zustand der Angst und Qual, den vergewaltigenden Zwängen" (Friedrich 1982, S. 69), durch die die Natur an den Menschen gekettet ist. Wenn also der Mensch Gott mehr gehorcht als sich selbst, wenn er sich wandelt und eine neuer Mensch wird, dann beginnt auch die Erneuerung der Schöpfung um ihn her. Dann wird sich die Herrlichkeit, die von Christus ausgeht, auf die, die ihm nachfolgen, und schließlich auf die ganze Schöpfung ausdehnen. Dann wird „Gott alles in allem" sein, wie der Apostel an anderer Stelle (1. Kor 15,28)<151:> sagt. Mit anderen Worten: Dann wird nicht nur der Mensch die Christus-Natur erhalten, sondern auch die Tiere und die Pflanzen, ja, auch die anorganische Welt wird Christus widerstrahlen und christusförmig werden. Darin besteht die Verkündigung des Neuen Testaments und die Überzeugung des Apostels Paulus.In dieser Verheißung kommen sich auch Christentum und Buddhismus ganz nahe: Die Botschaft von der Christus-Natur und die Botschaft von der Buddha-Natur werden zu einer alle Religionen durchdringenden Hoffnung (vgl. Buri 1982). Und das, was das Alte Testament unter dem „Bund Jahwes mit allem Lebendigen" versteht, der Hinduismus mit seiner Lehre von der Gewaltlosigkeit verkündigt und der Koran mit den „Zeichen Allahs" meint, die überall in der Biosphäre anzutreffen sind, wird auf einmal zu einer allumfassenden Botschaft, die ein und demselben „Symbolkosmos" entstammt. In sich haben alle religiösen Botschaften ihre eigenen Hintergründe und Kontexte mit je eigenen Sinnaussagen, eigenen Kulten und Riten. Und was ihr Verhältnis zur Natur betrifft, so ist auch aus den unterschiedlichen Kontexten eine unterschiedliche Lehre von der Interdependenz erwachsen. Aber sobald man die Religionen unter einer gemeinsamen Perspektive betrachtet und ihre Botschaften an interreligiösen Maßstäben mißt, wie dem Maßstab der „Ehrfurcht vor dem Leben", treten sie über ihre begrenzten Kontexte hinaus und erhalten universale Gültigkeit. In einer solchen Perspektive geht die Christus-Natur in die Buddha-Natur über und umgekehrt, und der Bund Gottes mit der Natur wird zu einem Zeichen, das nicht mehr zu übersehen ist, weil die vestigia Dei, die Spuren Gottes, überall auf Erden spürbar sind. Es kommt nur auf die Perspektive an, um sie sichtbar zu machen und um zu verhindern, daß sie verwischen. Eine dieser Perspektiven in der gegenwärtigen Religionsgeschichte wollte ich aufzeigen.

Konkretisierung: Ehrfurcht vor dem LebenLangsam krochen wir den Strom hinauf, uns mühsam zwischen den Sandbänken – es war trockene Jahreszeit – hindurchtastend. Geistesabwesend saß ich auf dem Deck des Schleppkahns, um den elementaren und universellen Begriff des Ethischen ringend, den ich in keiner Philosophie gefunden hatte. Blatt um Blatt beschrieb ich mit unzusammenhängenden Sätzen, nur um auf das Problem konzentriert zu bleiben. Am Abend des dritten Tages, als wir<152:> bei Sonnenuntergang gerade durch eine Herde Nilpferde hindurchfuhren, stand urplötzlich, von mir nicht geahnt und nicht gesucht, das Wort „Ehrfurcht vor dem Leben" vor mir. Das eiserne Tor hatte nachgegeben; der Pfad im Dickicht war sichtbar geworden. Nun war ich zu der Idee vorgedrungen, in der Welt- und Lebensbejahung und Ethik miteinander enthalten sind! Nun wußte ich, daß die Weltanschauung ethischer Welt- und Lebensbejahung samt ihren Kulturidealen im Denken begründet sind.

Mit diesem Erlebnis begründet der große christliche Kulturphilosoph Albert Schweitzer seine Botschaft von der „Ehrfurcht vor dem Leben" (Schweitzer 1935, S. 136). Er hat es in seiner Autobiographie >Aus meinem Leben und Denken< als ein Schlüsselerlebnis bezeichnet, und Ulrich Neuenschwan der, einer seiner Biographen, hat es mit dem Turmerlebnis Martin Luthers verglichen (vgl. Ulrich Neuenschwander in: Schweitzer 1935, S. 108).

Page 28: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

Albert Schweitzer begründet seine Erkenntnis mit dem Liebesgebot Jesu und zugleich mit der Vernunft, mit der Einheit von christlichem Glauben und Denken, wie er in seinen Straßburger Predigten ausdrücklich betont: „Ehrfurcht vor der Unendlichkeit des Lebens – Miterleben, Mitleiden. Das letzte Ergebnis des Erkennens ist also dasselbe im Grunde, was das Gebot der Liebe uns gebietet [...] Und die Vernunft entdeckt das Mittelstück zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zu den Menschen – die Liebe zur Kreatur, die Ehrfurcht vor allem Sein, das Miterleben allen Lebens, mag es dem unseren äußerlich noch so unähnlich sein" (Schweitzer 1966, S. 123 f.).In einem Vortrag mit dem Titel >Das Problem der Ethik in der Höherentwicklung des menschlichen Denkens<, den Albert Schweitzer im Jahre 1922 vor Missionaren und Religionslehrern in Birmingham gehalten hat, wird er noch deutlicher:Es geht uns auf, daß die Ethik es nicht nur mit den Menschen, sondern auch mit den Geschöpfen zu tun hat. Diese haben mit uns ja gemein, daß auch sie Wohlergehen ersehnen, Leiden erleiden und Grauen vor dem Vernichtetwerden haben. Wer sich ein unversehrtes Empfinden bewahrt hat, findet das Bedürfnis der Anteilnahme am Schicksal aller Lebewesen natürlich. Das Denken kann nicht anders als anerkennen, daß gütiges Verhalten der Kreatur gegenüber eine natürliche Forderung der Ethik ist. Daß sie zaudert, es zu tun, hat seine Gründe. Tatsächlich ergeben sich aus dem Beschäftigtsein mit dem Schicksal aller Lebewesen, mit denen wir es zu tun haben, noch vielfältigere und verwirrendere Konflikte, als sie die auf den Menschen beschränkte Hingabe mit sich bringt. Das Neue und Tragische ist, daß wir auf diesem Gebiet fort und fort in die Lage kommen, uns für Töten oder AmLeben-Lassen entscheiden müssen. Der Bauer kann nicht alle Tiere aufziehen, die in seiner Herde geboren werden. Er wird nur so viel behalten, als<153:> er ernähren kann und deren Aufzucht ihm gute Einnahmen sichert. In vielen Fallen sind wir auch genötigt, Lebewesen zu opfern, um andere, die von ihnen bedroht sind, zu retten.Wer einen aus dem Nest gefallenen Vogel aufhebt, findet sich – um ihn Rittern zu können – genötigt, kleine Lebewesen zu töten. Dieses Handeln ist völlig willkürlich. Mit welchem Recht opfert er eine Vielzahl von Lebewesen um eines einzigen willen? Mit der gleichen Willkür verfährt er, wenn er ihm unsympathische Tiere vernichtet, um andere vor ihnen zu schützen.Es ist somit Sache eines jeden von uns, darüber zu entscheiden, ob er auf Grund einer unvermeidlichen, Notwendigkeit Lebewesen zum Leiden oder zum Tode verurteilt und dadurch schuldig wird. Einige Sühne für solche Schuld leistet derjenige, der sich auferlegt, keine Gelegenheit zu versäumen, um in Not befindlicher Kreatur beizustehen. Wieviel weiter wären wir schon, wenn die Menschen sich um das Wohl der Kreatur sorgten und alle dem Übel entsagten, das sie ihr aus Gedankenlosigkeit zufügen. Der Kampf gegen die antihumanen Traditionen und unmenschlichen Gefühle, die in unserer Zeit noch vorhanden sind, ist uns auferlegt.Als Beispiele solcher unmenschlichen Gepflogenheiten, die unsere Zivilisation und unser Gefühl nicht länger dulden sollten, seien die Stierkämpfe in der Arena und die Hetz- und Treibjagden angeführt.Die Ethik, die sich nicht auch mit unserem Verhalten zur Kreatur beschäftigt, ist unvollständig. Den Kampf gegen die Unmenschlichkeit haben wir ganz und stetig zu führen. Es muß dahin kommen, daß Töten als Spiel als Schande unserer Kultur empfunden wird. (Schweitzer 1978, S. 82-84)Albert Schweitzer fordert hier ausdrücklich „ein gütiges Verhalten der Kreatur gegenüber", und er spricht offen aus, in welche ethischen Konflikt der glaubende und denkende Mensch dabei kommt. Dauernd muß sich der Mensch für das Am-Leben-Lassen oder das Töten entscheiden, dauernd vernichtet er Leben, um anderes Leben wiederum zu erhalten. Er befindet sich in einem ständigen ethischen Konflikt, in einer Kollision der Pflichten. Wir Sind

Page 29: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

aber als Menschen aufgerufen, uns zu entscheiden, ob wir die Lebewesen als Mitgeschöpfe erkennen und sie bewahren oder ob wir auf Grund einer unvermeidlichen Notwendigkeit Lebewesen zum Leiden oder zum Tode verurteilen und dadurch schuldig werden.Schweitzer nennt als Beispiele für antikreatürliches Verhalten (er spricht sogar von „antihumanen Traditionen") die Stierkämpfe und die Hetz- und Treibjagden. Er hätte heute sicher die grausame Nutztierhaltung, in der Schlachtvieh und Legehennen ihr Leben fristen, und die furchtbaren Tiertransporte hinzugefügt. Er nennt einen derartigen Umgang mit der Kreatur eine „Schande unserer Kultur" und fordert ein Schuldbekenntnis, eine Sühne. Sie könnte darin bestehen, daß verantwortungsbewußt glaubende und denkende Menschen<154:> „keine Gelegenheit versäumten, um in Not befindlicher Kreatur beizustehen [...] und alle dem Übel entsagten, das sie ihr aus Gedankenlosigkeit zufügen".Ansätze zu einer christlichen Tier- und Pflanzenethik gibt es in Europa schon lange; denn die Jagd von Wildtieren und die Tötung von Haustieren bereitet vielen Jägern und Metzgern Probleme; manche von ihnen empfinden das Töten der Tiere als eine Schuld gegenüber dem Geschöpf und gegenüber dem Schöpfer. Man half sich im Mittelalter mit bestimmten Tötungs- und Entschuldungsriten. Man schlug über dem zu schlachtenden Tier das Kreuz und rief den Namen Jesu Christi an; man entschuldigte sich bei dem Tier und rechtfertigte die Schlachtung mit dem Hinweis darauf, daß das Fleisch des Tieres für den Menschen lebensnotwendig sei, daß man das Tier darum nicht aus Haß oder mutwillig töte usw. Man brachte auch selbst Opfer dar, gab Almosen für die Armen, um die Schuld der Tiertötung wenigstens teilweise abzutragen. Die durch die Tiertötung verletzte Schöpfungsordnung sollte auf diese Weise wiederhergestellt werden. Man hatte also durchaus eine Ahnung davon, daß – um mit Albert Schweitzer zu sprechen – „zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zu den Menschen" immer „die Liebe zur Kreatur" steht, „das Mittelstück", ohne das der christliche Glaube unvollständig und die Schöpfungsordnung nur ein Torso wäre. Aber durch diese Ahnung wurde das Problem nur angesprochen, nicht bewältigt.Ebermut Rudolph hat diese Frage in seiner Dissertation >Schulderlebnis und Entschuldung im Bereich säkularer Tiertötung< religionsgeschichtlich behandelt (Rudolph 1972) und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß sowohl in den Stammeskulturen als auch in den Hochkulturen eine große Sensibilität für dieses Schuldgefühl gegenüber den Tieren besteht. Und er macht gleichzeitig auf den Verlust solcher Sensibilität in der von Industrie und Technik geprägten Neuzeit aufmerksam. „Vielleicht", schreibt Rudolph, „müssen wir Christen heute wieder lernen, was dem Buddhisten seit jeher selbstverständlich war: Daß Menschen dort Schuld auf sich laden können, wo sie lebendige, fühlende und empfindende Wesen töten. Wir können dieser Schuld nicht entrinnen, heute weniger denn je zuvor [...] Darum sollten wir uns, als Gesellschaft und als Kirche, zu dieser Schuld bekennen" (Rudolph 1972, S. 130).Albert Schweitzer hat in seiner Botschaft von der „Ehrfurcht vor dem Leben" ausdrücklich auf die Verflechtung von Schuld und Lebensnotwendigkeit hingewiesen, wenn er die Tötung der Tiere existenzwichtig nannte. Er hat darum nicht von der Alternative Vege-<155:> tarismus gesprochen, nicht davon, daß pflanzliche Nahrung an die Stelle von fleischlicher Nahrung zu treten hätte, wie das einige Schwärmer in unserer Zeit tun, die sich dabei sogar auf die Schöpfungsgeschichte der Bibel berufen. Er hat auch die Schuld der Menschen am Tode der Tiere nicht nivelliert oder neutralisiert, sondern sich ausdrücklich zu dieser Schuld bekannt und sie eine „Tragik" genannt. Wir kommen fort und fort in die Lage, uns für Töten oder Am-Leben-Lassen entscheiden zu müssen.Der Umgang des Menschen mit den Tieren und Pflanzen ist – wie der Umgang des Menschen mit seinesgleichen – nie ohne Schuld denkbar. Er vollzieht sich immer zwischen Bewahren und Verletzen, zwischen Erhalten und Vernichten, zwischen Töten und Leben ermöglichen. Das Seufzen der Kreatur wird nicht verstummen, solange sich Menschen als die Krone der Schöpfung bezeichnen. Albert Schweitzer hat dieses Seufzen in unmißverständlicher Weise wahrgenommen und das Bewußtsein der Schuld gegenüber der Natur in uns geweckt. Darum

Page 30: Frieden in der Schöpfung · Web view Frieden in der Schöpfung. Umweltverantwortung im Neuen Testament und im Frühen Judentum Eine Auslegung der Versuchungsgeschichte

forderte er die Ehrfurcht vor dem Leben als einzige Möglichkeit der Menschen, Sühne zu leisten. Er ist in dieser Hinsicht zum Gewissen der Welt geworden, auch wenn seine Forderung noch lange nicht eingelöst ist.