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8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung
1/23
}tJEUFS
HANDBUCH
DER LITERATURWISSENSCHAFT
in Verbindung mit den Ba11dhem11 rgebem: Norbert Alrenhofer · ugust Buck · Günther Debon ·
\\:rilli Erzgräber· Alfred Estermann · Manfred
Fuhrmann·
Klaus Heitmann ·
Josr
Hermand
\X'alter Hinck ·Hans Hinterhäuser· Thomas Koebner ·Henning Krauß ·Helmut Kreuzer·
Reinhard Lauer· Karl
Roben
Mandclkow · Wolfgang Röllig
·Jürgen
v.
Srackelberg · Ernst
Vogt und den
Autoren:
Peter
Aley · lfred nger· Helmut
Arntzen
·Horst
llaader ·Renate
Ruder· David Bathrick · \\ olfgang Bauer· Evelyn Torton Beck · Ernst Behler · Klaus Leo
Berghahn · Peter Boerner · Elisaberra Bolla · Alexander
v.
Bormann · Gunnar Brandell ·
Dietrich Briesemeister · Mogens Brondsted · Franz Brunhölzl · Emm a Brunner-Traut · Oscar
Büdcl ·Johann Christoph Bürgel · Peter Bürger· Hubert Cancik · Marein Christadler ·
Thomas Cramer · Otto Dann· Geza S. Dombrady ·Joachim Ehlers · Franziska Ehmcke ·
\\ .
Theodor Elwert · Rolf Fiegurh · Hermann Fischer ·Jens Malte Fischer· Craig Fisk ·
. Aleksandar Fiaker· Wilfried Floeck · Armin Paul Frank · Herbert Franke · Wolfgang
Frühwald · Roland Galle· Karsren Garscha · Peter Gerlinghof f ·
Olof
Gigon · Martin Gimm ·
Ingeborg Glicr · Paul Goctsch · Astrid Grewe · Hans Gusta v Güterboc k · Hans Ulrich
Gumbrecht · Rafael Guticrrez-Girardot · \'V'erner
Habicht·
Bodo Heimann · Walrer Heist ·
Heinz-B. Heller · Rainer Hess · Dirk Hoeges · Lothar Hönnighauscn ·Johannes Hösle ·
Hermann Hofer ·Peter Uwe Hohendahl · Hildebrecht Hom mel · Hinri,ch Hudde
·Jürgen
Carl
Jacobs· George FenwickJones · Sven-AageJ0rgensen ·Marc-Rene
Jung·
Gere Kaiser· Alfred
Karnein ·Wolfgang Kasack· Werner Ke ller· Friedrich Knilli · Erich Köhler· Wolfgang
Köhler·
Barbara Könnecker · Karl
Kohut
·
Helmut
Koopmann · Erwin Koppen · Wirold
Kofoy · Hdnz Kosock ·Joachim Krecher ·Dieter Kremers ·Wolfram Krömer ·Johannes
Krogoll ·Manfred Krüger· Margot Kruse ·Bernhard Kytzler · Sang-Kyong Lee· Anton Daniel
Leemann · Eckard Lefcvrc · Erwin Leibfried · Albin Lesky · Eberh ard Leube · Detl ef Liebs ·
Georg Rudolf Lind · Hansjürgen Linke· Dieter Lohmeier · Charles Madison · Han sJoachim
Mäh ·Johann Maier · Mario Mancini · Fritz Martini · Edgar l\fass · Dieter Mehl · Reinder P.
Meijer · Horst Meiler· Anron[n l\ks'fan · \'V'alter Mettmann · Ernst Erich Meuner · Paul
~ i r o n
·Renate Möhrmann ·Ulrich Mölk · Arnaldo Momigliano · Carl Werner Mülle r· Hans
Joachim Müller· Eberhard Müller-Bochac · Rainer Nägek · Dietrich Nau mann · Gcza
DC a
Ncmeth ·RudolfNeuhäuser· Sebastian Neumeister· HansJörg Neuschäfer· HansJoachim
Newiger · Armand Nivelle ·Otto Oberholzer ·James O'Brien ·Horst Oppcl ·Bernhard
Ostcndorf · Kurr Orren · Otto Pöggcler · Klaus Pörd ·
Leo
Pollmann · Horst Prießnitz ·
Orlando Pugliese · Kenneth Quinn · Erica Reiner · Henry H. Remak · Hans-Georg Richen ·
Peter Richter · \V"ha-Seon Roske-Cho
·Oskar
Roth · Kurt Ruh · Patricia Russian · Willy
Schmer· Helmut Scheurer · Kure Schier· Walter Schiffcls · Ulla Schild· Kurt Schlüter ·
\X
alter Schmähling · Peter Leberecht Schmidt· Roland Schneider· Rüdiger Schnell · Franz
Schonauer · Ludwig Schrader · Gerhart Schröder· Ulrich Schulz-Buschhaus · Gustav Adolf
Se
8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung
2/23
Mit
128
Abbildungen
© 1980 by Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, Wiesbaden
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagentwurf: Jür gen Keil-ßrinkmann
Ausstattung: Reinhard van den Hövel, Taunusstein
Prinred in Germany/Impriml: en Allemagne
1980
Gesamrherstellung: Konrad Triltsch, Graph. Betrieb, Würzburg
ISBN
3-7997-0093-5
(Gesamtausgabe)
ISBN
3-7997-0726-3
Register: Renate Steiner
Umschlag: Bibliothcque Nationale, Paris
~
A 6 4 ~
\. ~ \ . ~ 3
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Neues
Handbuch
der Literaturwissenschaft / hrsg.
von Klaus von See. In Verbindung mit d. Bd.-Hrsg.:
Norbert Altenhofer . . .
u.
d. Autoren: Peter Aley
. . .
- Wiesbaden : Akademische Verlagsgesell
schaft Athenaion. •
ISBN 3-7997-0093-5
NE:
See
Klaus von
[Hrsg.];
Aley, Peter (Mitverf.]
Bd. 13. - Europäische Aufklärung III
Europäische
Aufklärung
I I I .- Wiesbaden : Akademische
Verlagsgesellschaft Athenaion.
3. /V.Jürgen
v.
Stackelberg in Verbindung mit
Renate Baader . . . -
1980.
(Neues Handbuch der Literaturwissenschaft ;
Bd.
13)
ISBN
3-7997-0726-3
NE: Srackelberg,Jürgen v. (Mirverf.]
UNIVEP.SITU5
i LIOTHEK
H f l l ~ L B E R G
1
1
1
l
Inhaltsverzeichnis
Vorwort .
Frankreich und Europa im 18.Jahrhundert. Von
Jürgen v.
Stackelberg
Die
französische
Frühaufklärung.
Von Jürgen v. Stackelberg
Glanz und Elend der Herrschaft Ludwigs XIV. 25
-
Regence und Rokoko 30 Von der Mora
lisrik zur Aufklärung: Saint-Evremond 34 -
La
Hontans »Dialoge mit einem Wilden« 35 - Fe-
nelons »Abemeuer des Telcmach«
38 -
Das Frühwerk Marivaux'
40 -
Picrre Baylc, der
Be
gründer der historischen Kritik 42 - Fontenelle, der Erfinder der Populärwissenschaft 44
Die
Entwicklung des Buches zum .r.fassenmedium oder der Glaube an die Macht der
7
9
25
Worte. Von
Edgar
Mas s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Der Leitsatz 51 - Das Interesse an der Buchgeschichte 52 - Der geschichtliche Rahmen 53 - Die
Konkurrenz von Gericht und Kirche
53
-
La
Librairie das Zensurinstrument 55
-
Text und Er-
laubnis
59 -
Der Leser im literarischen
Leben
61
-
Die Schreiber 65
-
Die marerielle Produktion
und Distribucion
68 -
Produktionsstatiscik
74
Die Literatur der Frau oder die
Aufklärung der
kleinen Schritte. Von Renate Baader . 79
Die schreibende Frau - Kontinu ität und Wandel einer vergessenen Tradition
79 -
Die Erziehe-
rin
87 -
Die Moralistin
90 -
Die Erzählerin
94
Die politische Kritik des Literaten Charles
de
Momesquieu. Von Edgar Mass 107
Die Persischen Briefe 107 - Das Schreiben 111 - Die Schichten des Textes 114 - Druck und
Verbreitung
116 -
Die Rezeption
117 -
Die äschecische Organisation politischer Texte
118 -
Die historische Dimension 120 - Der theoretische Diskurs 121
Voltaire:
Aufklärer Klassizist
und Wegbereiter
der
Anglophilie in Frankreich. Von
? -
Jürgen
v.
Stac kelb erg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Das
Urteil der Nachwelt
125 -
Die Karriere eines •Homme de Lerrres«
130 -
Volraires Wi
dersprüche
136 -
Voltaire in nuce: Die »Lerrres philosophiques«
136 -
Voltaire und Shake
speare
143 -
Voltaire als Klassizist
147 -
Voltaire als Historiker
149 -
Voltaires »philosophi-
sche Romane«
151
Theorie und
Erfahrung.
Das
Werk
Jean-Jacques
Rousseaus
und die Dialektik
der
Aufklärung. Von Karlheinz Stie rle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Die Anfänge 159 - Die Abhandlungen zur Theorie der Kultur und der Gesellschaft
163 -
Theorie, Erfahrung und die Form des Romans
173 -
A urobiographie und Subjektivität
190
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3/23
6
Inhaltsverzeichnis
Diderot oder die Dialogisieruns der Aufklärung. Von Roland Galle
Zum narurwissenschaftlich-philosophischen \ Verk 210 - Zum iisthetischen \ Verk 222 - Zum
erzählerischen \Xlcrk 233
Julien Offray de L1mettrie und die Grundlagen des französischen Materialismus im
18 Jahrhundert. Von Dirk Hoege s . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der Kampf um die Autoritäten 249 - Der Med1anismus des Körpers - der Arzt als Schriftstel
ler und »philosophe«
253 -
Gegen die Trennung von
Natur
und Gesellschaft
263
Skizze einer Literaturgeschichte der Französischen Revolution. Von Hans Ulrich
Gumb recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
\X arum eine Literaturgcschichre der Französischen Revolution? 269 - Zur Rezeption der Auf
kfärung in der Französischen Revolution
271 -
Politische Öffentlichkeit
275 -
Revolutions
feste 291 - Theater 298 - Individuelle Lektüre 310 - Literarurgeschichte der Französischen Re
volution: Symptom für ein doppeltes Scheitern der Aufklärung? 323
Die Literatur der italienischen Aufklärung. Von Ulrich Schulz-Buschhaus
Aufklärerische Prosa 330 - Lyrik des Settecenco 337 - Goldonis bürgerliche Komödien 341 -
Alfieris Tragödien der heroischen Freiheit 344
- Der
Verfall des Epos und Parinis »Gior
no« 350
Die Literatur der spanischen Aufklärung. Von Wilfried Floeck
Feijoo und die Frühaufklärung 366 - Luzan und der Neoklassizismus 370 - Moratin und die
Anfänge des bürgerlichen Schauspiels 374 - Aufklärerische
Themen
in Lyrik und Prosa 379 -
Die Wurzeln des sogenannten Spanienproblems 382
Die russische Literatur im 18. Jahrhu ndert. Von Reinhard L1uer
Europäisierung und Aufklärung 391 - Neue Formen des literarischen Lebens 396 - Lomono
sovs Sprachreform
401 Ästhetik
und Poetik
405 -
Die lyrischen Gattungen
411
Tragödie -
Komödie Rührstück 418 - Versepik 424 - Prosalireratur 429
Namenregister mit biographischen und bibliographischen Daten
Bildquellennachweis
209
249
269
329
359
391
439
463
l
1
.
Vorwort
Von den drei Bänden des Neuen Handbuchs der
Literaturwissenschaft
die der Epoche der
Aufklärung g.ewidmet sind, betraf der erste alle europäischen Länder. Der vorliegende
Band, Europäische Aufklärung III gilt vor allem Frankreich. Beiträge über die Literaturen
Italiens, Spaniens und Rußlands schließen sich an. Insofern in diesen Ländern die Aufnah
me französischer Anregungen die größte Rolle spielt, könnte er geradezu den Titel
»Frankreich und seine europäische Wirkung« tragen. Niemand hat mehr für diese getan,
als die nicht-französischen Autoren französischer Sprache, von denen - aus diesem Grund
- gleich in der Einleitung die Rede ist. Einige wenige Bemerkungen zum Jahrhundertwerk
der EnryclopMie Diderots und d Alembercs folgen darauf:
Wie
in einem Brennpunkt sam
meln sich in diesem Werk die aufklärerischen Energien des Jahrhunderts. Nicht zufällig
war es das am weitesten verbreitete und wirksamste Werk der europäischen Aufklärung.
Den drei größten französischen Autoren der Epoche - Voltaire, Rousseau und Didero t -
gelten ausführlichere monographische Artikel. Montesquieu, dessen Hauptwerk, der Geist
der Gesetze
(1748), mindestens ebensosehr in den Bereich der Rechtsgeschichte wie in den
der Literatur gehört, wird knapper behandelt. Verhältnismäßig knapp ist auch der Beitrag
gefaßt, der über die französische Frühaufklärung informiert. Die Artikel über Zensur und
Buchmarkt, über die Literatur der Frau und über die Revolutionsliteratur weichen vom
traditionellen Literaturbegriff zum Teil erheblich ab.
Der
»engagierte« Charakter der Auf
klärungsliteratur
kommt
hier besonders deutlich zum Ausdruck.
Sollte der Leser in diesem Band Informationen über Autoren wie l\farivaux, Lesage oder
Beaumarchais vermissen, so sei er auf den Band 11, Europäische Aufklärung l zurückver
wiesen.
Die
Eigenart dieser Autoren wird am besten im Gattungszusammenhang erkenn
bar, nach dem dieser Band angelegt ist. Für den jüngeren Crebillon oder Laclos gilt das
gleiche.
Die Zeitschriftenliteratur der Epoche soll in Band 12, E11ropäische Aufkliiru11g II be
rücksichtigt werden. Die Anfange der französischen Romantik werden im Z usammenhang
mit der englischen
Naturdichtung
in Band 15,
Europäische
Romantik II dargestellt.
Der vorliegende Band endet mit der Französischen Revolution. Mit ihr
geht
in Frank
reich nicht nur das Zeitalter der Aufklärung, sondern zugleich eine Ära zu Ende, in der die
Literatur, trotz mancherlei Wandels, im Grunde gleichbleibenden Bedingungen unterlag.
Fürsten und Höf e bestimmt en bis dahin weitgehend ihr Aussehen. Im
18
Jahrhundert be
ginnt das Bürgertum durch seine Rezeption die Literatur mitzuprägen. Sieht man Litera
tur, wie das hier zwangsläufig geschieht, in einem politischen Zusammenhang, so liegt es
nahe, politische Ereignisse, wie die Revolution von 1789, als epochale Einschnitte anzuse
hen und dementsprechend die Grenzen zu ziehen. Der Gedanke an die Französische Revo
lution lag den romanistischen Mitarbeitern dieses Bandes ohnehin fast immer im Sinn. Bei
aller Verschiedenartigkeit der einzelnen Beiträge stellt dieser Gedanke eine Gemeinsamkeit
dar, die dem vorliegenden Band jenes Mindestmaß an Geschlossenheit verleiht, das eine
zusammenhängende Lektüre nicht nur möglich, sondern, so hoffen es alle daran Beteilig
ten, auch ersprießlich machen sollte.
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208
Karlheinz Sticrle
9
J.·J.
Rousscau: Emile oder Über die Erziehung. Hg. von
M.
Rang, unter l\fitarbeit
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5/23
21
Roland
Galle
Am 5. Okcober 1713 wird Denis Dideroc in der Provinzscadc Langres geboren: als der ältesce Sohn
eines reche wohlhabenden Messerschmieds, der mic seinem Gewerbe eine schon 200jährige Fami·
liencradicion forcführt. erühmt ist die späce Kindheicserinnerung Diderocs, die sich in einem Brief
an Mlle Volland findet: Aus dem Kolleg, das er besuchte, sei er
am
Tag der Prcisverceilung mit so
viel
Auszeichnungen nach Hause gekommen, daß er sie
kaum
habe tragen können. Der
Vater
sei
ihm encgegengeeilt, weinend vor Rührung.
Diderot kommentiert
diese Erinnerung mit dem Zusatz,
daß es eine schöne Sache sei, einen guten und strengen Mann weinen zu sehen.
In
dieser Form der
Erinnerung mag mitklingen, welches einschneidende Erlebnis es für Dideroc bedeutec haben
muß,
ls er, gerade fünfzehn Jahre alt, nach Paris ins College Hartcourt kam. Immerhin hat
er die Stadt
nur noch selten - und meist
nur
für kurze
Zeit
- wieder verlassen. In Paris ist er auch, am
31.Jul i 1784,gescorben.
den Schriften Rousseaus und Voltaires gegenüber ihr eigenes, unveräußerliches und
auch
besonderes aktuelles Gewicht erlangen. Dies soll im folgenden erwiesen werden, indem
die Hauptwerke Diderots unter der Perspektive der in ihnen eingebrachten Dialogisierung
und-deren Leistung gesichtet werden.
Zum naturwissenschaftlich philosophischen Werk
Im Sinne der Goetheschen Entelechie pflegt man Erstlingswerke häufig als »Keimzellen•
der gesamten späteren Produktion zu verstehen. Für Di derots
Pensees
philosophiques Philo
sophische Gedanken , 1746 von dem damals immerhin schon 33jährigen Verfasser
veröf
fentlicht, scheint dies nur teilweise zulässig zu sein. Mit den Philosophischen Gedanken führt
Diderot sich zwar in die sich bildende Gesellschaft der »philosophes« ein. Er zeigt auch,
daß er souverän den Sprachduktus und das Programm der aufgeklärten Geister der Jahr
hundertmitte beherrscht, indem er aggressiv und pointiert, witzig und überraschend tradi-
\
Diderot - oder die Dialogisierung der Aufklärung 211
tionelle Positionen angreift und ins Leere laufen läßt. Dies gilt zumal, wenn er die Offen
barungsreligionen attackiert und für den Deismus Partei ergreift, wenn er um Duldung
für ein atheistisches Weltverständnis wirbt oder auch die Leidenschaften aufwertet gegen
das überkommene Vernunftprimat. So leicht und überlegen diese Kritik aber auch durch
geführt wird, die damit gegebene Programmatik weist zusammen mit der gewollten
Leichtigkeit der Gedankenführung zugleich doch so deutlich auf eine vom frühen Mon
tesquieu bis zu Voltaire reichende Grundströmung des 18. Jahrhunderts zurück, daß Di
derocs Erstlingswerk zwar als ein weiteres bestechendes Dokument für den Witz und das
Autonomiestreben des
18.
Jahrhunderts gelten darf, dieses schmale Bändchen aber noch
kein vollwertiges Zeugnis für jene nur ihm eigene Beleuchtung der Aufklärung darstellen
kann, wie sie Diderot mit der Großzahl seiner späteren Werke gelingen sollte.
Für eine solche Zuordnung spricht vor allem die Textstrategie, die den einzelnen Ab
schnitten der Philosophischen Gedanken zugrunde liege. Illustrieren läßt sich dies besonders
gut an der späterhin so wichtigen Form des Dialogs, die - ansatzweise - sich auch in die
sem frühen Werk schon findet, in einer Modalität aber, die mehr auf den bereits etablier
ten Aufklärungsstil zurückverweist, als daß sie die für Diderot spezifische Ausprägung
dieser Form schon erkennen ließe. Der sechste Abschnitt zum Beispiel, der als ein exem
plarisches Stück Aufklärungsliteratur betrachtet werden darf und in dem
es
Dideroc dar
um geht, anhand der Lebensform des Eremiten die Religion überhaupt anzugreifen, wird
folgendermaßen eingeleitet:
»Könnte denn das, was an dem einen Menschen den Gegenstand meiner Wertschätzung
bildet, der Gegenstand meiner Verachtung an einem anderen sein? Nein, zweifellos nicht.
[
Soll ich etwa glauben, daß es
nur
einigen vorbehalten sei, vollkommene Handlungen
zu vollbringen, obwohl die
Natur
und die Religion sie allen Menschen ohne Unterschied
gebieten? Nein, e rst recht nicht, denn woher käme ihnen dieses Privileg zu?«
2
•
Mittels zweier rherorischer Fragen und deren Beantwortung wird Einigkeit darüber erzielt,
daß die moralische Bewertung einer H andlung unabhängig von der Person des Handeln
den zu geschehen habe und
es
weiterhin nicht einzelnen Personengruppen vorbehalten sein
dürfe, die Ausführung vollkommener Handlungen für sich zu reklamieren. Aus diesen
Voraussetzungen wird im weiteren die Schlußfolgerung gezogen, daß die Lebensform ei
nes
Eremiten, wenn sie denn vorbildhaft sei, dies auch für die Allgemeinheit
s ~ n
müsse.
Die offenkundige Absurdität dieses Ergebnisses wirCI dann zu einem Umkehrschluß ge-
nutzt, mit dem der
Wert
des sozialen und natürlichen Menschseins gegen die nur als chi
märenhaft angesehene Bedeutung der Religion ausgespielt wird. Ausschlaggebend für den
Aufbau
des
Textes sind die beiden ersten Voraussetzungen,
weil
sie eine Basisübereinstim
mung herstellen, von der aus die weiteren Schlußfolgerungen erst möglich werden. Diese
Basisübereinscimmung und ihre Verbindlichkeit wird - dem Leser gegenüber - dadurch
erreiche, daß aufklärerische Positionen
als
rhetorische Fragen formuliert und von einem
ganz unkonturiert bleibenden Dialogpartner als selbstverständlich bestätigt werden. Für
unseren Zusam·menhang maßgeblich ist, daß der Dialog damit lediglich als ein Mittel ein
gesetzt wird, vorgegebene Inhalte und die Überlegenheit des einen Dialogpartners rheto
risch wirkungsvoll zu bestätigen. Diese Funktion des Dialogs wird in vielen späteren Ar
beiten Diderots zwar noch mitgeführt, hat aber nie mehr die ausschließliche Bedeutung,
die ihr in diesem Erstlingswerk zukommt.
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212
Roland Galle
Die intrikat-vielfältige Funktion, die der Dialog schließlich in Diderots Werk überneh-
men wird, zeichnet
s i ~ h
in wichtigen K o n t u r i e r u g ~ n schon in
s e i n ~ m
.ersten philosophi
schen Hauptwerk ab, m der
Lel/re
sur
/es
aveugles a / usage de ceux qm vo1ent Brief über die
Blinden zum Gebrauch für die Sehenden,
1749).
So eindeutig es ist, daß Diderot den blin-
den Philosophen dieses Stücks eigene Gedanken aussprechen läßt, so ernst muß man
ande-
rerseits seine briefliche Äußerung an Voltaire nehmen, Saunderson dokumentiere
eine ei-
gene, ganz durch sein Blindsein geprägte Weltaneignung
3
•
Von allgemeiner Bedeutung
ist die damit sich abzeichnende Ambivalenz des Diderotschen Sprachduktus, die darin
zu
sehen ist, daß Diderot bevorzugt seine Gedanken objektiviert, indem er sie fremden
Ge-
stalten leiht und dadurch die .Möglichkeit einer Distanznahme den eigenen Positionen
gegenüber strukturell sichert. Die Entfaltung dieses Darstellungsverfahrens fallt
zusam-
men mit der Entfaltung des Dialogs. Für den allmählichen Au sbau des Dialogs nun ist der
riefüber die
Blinden
durch seine literarische Form, durch die dargestellte Befragung eines
Blindgeborenen und schließlich vor allem durch das großangelegte Gespräch
zwischen
einem Geistlichen und dem blindgeborenen M athemati ker Saunderson wichtig.
Indem Diderot nicht die etwa erwartbare Form des Traktats, sondern die
des
Briefes
wählt, wird die aller Literatur implizite Beziehung zum Leser bis zur Form eines
gleich-
sam halbierten Dialogs erweitert. Die Adressatin des Briefes nämlich, Mme de Puisieux,
hat für dessen Inhalt und Argumentationsform durchaus eine gewisse Bedeutung: Ihr ist
der Brief als Entschädigung für eine ursprünglich in Aussicht gestellte Teilnahme
an einer
Augenoperation zugedacht, ihre eventuellen Einwände werden vorweggenommen,
und
für
sie allzu schwierige Probleme - im
Zusammenhang
der Infinite simalrechnung etwa - wer-
den ausgespart. Trotzdem bleibt die Perspektive des Briefschreibers natürlich
beherr-
schend, da die Adressatin nur nach seiner Maßgabe b erücksich tigt wird, und so bricht
sich
in der Gattung des fiktiven B r i e f ~ noch die Tendenz der frühen Aufklärung, einen Dia-
logpartner nur so weit zu entwerfen und gelten zu lassen, wie es der Präsentierung
des ei-
genen durchaus monologischen Weltentwurfs zuträglich ist.
Diese Tendenz durchwirkt auch noch den ersten Hauptteil des Briefes, obwohl dessen
Gegenstand ein Gespräch zwischen Diderot und einem Blindgeborenen ist. Eingeleitet
aber wird die Darstellung dieses Gesprächs d urch den generalisierenden Vorgriff des Brief-
schreibers, er habe nie daran Zweifel gehabt, »daß der Zustand unserer Organe und
unse-
rer Sinne großen Einfluß
auf
unsere Metaphysik und unsere Moral hat« Philosophische
Schriften, Band
1,
S. 58;
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214
Roland Galle
zustand in überraschender Art von dem ihn kennzeichnenden Merkmal her entwickelt,
blind und Mathematiker in einer Person zu sein. Gegen die These von Holmes, das
wun-
derbare und für den menschlichen Verstand nicht auflösbare funktionieren der Welt und
des Menschen erfordere die Vorstellung eines ordnenden Gottes, führt Saunderson seine
alltägliche Erfahrung an, daß er den Sehenden
in
vielerlei Hinsicht, zum Beispiel in seiner
Eigenschaft als Mathematiker, rätselhaft geblieben sei, aus dem Unverständnis des Men-
schen also noch nicht auf einen Gott geschlossen werden dürfe. Dieses Ergebnis verschärft
er zu einem grundlegenden Einspruch dagegen, aus der vermeintlichen oder tatsächlichen
Rätselhaftigkeit der Welt, aus subjektiver Erfahrung - so ließe sich reformulieren - onto
logische Schlußfolgerungen, wie die Existenz Gottes, abzuleiten. Zusammen mit der Ab-
leitung Gottes aus der Natur wird also auch deren axiomatische Voraussetzung, die säku-
lare Entsprechung von \ qclterfahrung und Weltbeschaffenheit, in Frage gestellt, so daß
Saunderson der Providenzthese die Grundlage mit einem Argument entzieht, das für die
erkenntnistheoretische Diskussion der Neuze it maßgebliche Bedeutung gewinnen sollte.
Nicht weniger wichtig als der erkenntnistheoretische ist aber der naturgeschichtliche
Einwand, der gegen Holmes vorgebracht wird; Saunderson führt sich selbst als Beispiel
für moralisch völlig indifferente Mißformungen in der Natur an, die in eine providencielle
Ordnungsvorstellung nicht integrierbar seien, und leitet daraus - gegen die Hauptinten
tion der überlieferten Schöpfungsgeschichte - ab, daß die Welt gerade nicht das Ergebnis
eines harmonischen Ordnungswillens, sondern das eines endlosen Zusammenspiels von
Zufällen sei, als dessen leitendes Prinzip man die Überlebensfähigkeit anzusehen habe. Ist
auch mit Recht bestritten worden, daß in diesem Rekurs auf die Na turgeschichte schon
die Evolutionstheorie vorformuliert sei, so löst Saundersons En twu rf gleich wohl mit
einer
auf Darwin vorweisenden Stringenz die
Natur
und ihr Wirken aus jedweder göttlichen
Absicht und Fürsorge heraus
4
•
Die kontrastive Dialogisierung der Providenzthese durch Saunderson und Holmes setzt
versuchsweise ein Ausspielen extremer Gedanken frei,
auf
die Diderot im einzelnen festzu-
legen sicherlich verfehlt wäre. Der abschließende WiderrufSaundersons, mit dem er sich zu
dem Gott von Clarke und Newton bekennt, sowie die Zustimmung des Verfassers zu die-
ser plötzlichen Sinneswandlung weisen - über die zensurbezogene Dimension hinaus - auf
das Offenhalren inhaltlicher Positionen.
So
wird die Möglichkeit zu einer geistigen Expe-
rimentierhalrung als das wichtigste Ergebnis von Diderots erstem großen philosophischen
Werk und zugleich als entscheidende Neuerung des aufklärerischen Dialogs erkennbar.
freilich zeigt der besprochene Dialog um Providenz und Kontingenz ebenfalls, daß Di-
d e r o t ~
frühe Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft und Naturgeschichte
noch
ganz im Bannkreis traditionsreicher Fragen von Religion und Metaphysik steht. Wird
die-
se überkommene Problemstellung schon in dem gegen Maupertuis gerichteten Werk
De
/ Interpretation de l nature (Gedanken zur Interpretation der Natur, 1754) in den Hinter
grund gedrängt, so wird sie vollends überwunden in dem nun exemplarisch zu bespre
chenden Spätwerk e Reve
de
d Alembert (D Alembem Traum). Entstanden ist dieses drei-
teilige Werk in der so überaus schöpferischen Phase, die dem Abschluß der Enzyklopiidie
~ 1 7 6 5 folgt und der Rußlandreise (1773) vorausgeht; vollständig veröffentlicht worden
ist
es
erstmals 1830, nachdem 1782 zumindest wi chtige Partien, anonym allerdings, in der
für die Fürstenhöfe reservierten »Correspondance litterairec erschienen waren.
Zieht man die philosophiegeschichtliche Terminologie heran, so geht es in diesem
Diderot - oder die Dialogisierung
der
Aufklärung
215
Werk, das als Höhepun kt von Diderots naturphilosophischen Schriften betrachtet werden
darf, darum, die von Descartes formulierte Zweisubstanzenlehre zu überwinden. Bestand
deren Ausgangspunkt darin, Geis t und Materie als voneinander unabhängig zu denken, so
werden in
D Alemberts Traum
alle Phänomene der Welt auf eine einzige Substanz, die Ma-
terie nämlich, zurückgeführt. Vom Textverlauf her stellen sich die behandelten Probleme
allerdings weniger abstrakt dar und könnten als das Bemühen beschrieben werden, ohne
Rückgriff auf ü b e r n a t ü r l i c ~ . e Erklärungen nicht nur den Übergang von der Materie zum
Leben,
sondern auch den Ubergang vom Leben zum Menschen allgemeinverständlich zu
erörtern, wobei Denken und Identitätsbildung als besondere Leistung des Menschen aner
kannt und mitberücksichtigt werden. Dabei ist die metaphysische Tradition nun bereits
im Ansatz dadurch verabschiedet, daß nicht erst das Ergebnis, sondern schon das Untersu
chungsinteresse ganz auf eine erfahrungsbezogene Auffassung der Welt und des Menschen
gerichtet ist.
Diese Umbildung vollzieht sich zusammen mit einer paradigmatischen Erneuerung der
dialogischen Situation, aus der heraus Fragerichtung und Weltverhältnis entfaltet werden.
Die Dialogpartner sind nicht mehr in einen auktorial geführten Erzählvorgang eingebun
den, sondern konscituieren mit ihren Äußerungen selbständig das Textkorpus; sie sind
auch nicht mehr rollenmäßige Positionsträger, sondern weitgehend individualisiert: Nicht
mehr ein Geistlicher und ein blinder Philosoph füh ren-· zumal noch in dessen Todesstun
de - einen Disput über die letzten Fragen, sondern Diderot und sein Freund d Alemberc
sprechen, nahezu im Plauderton, über eine locker verbundene Vielzahl von Themen, die
der Gang des Gesprächs - und die eigene Phantasie - ihnen zuspielen.
Waren Holmes und Saunderson durch die Welten des Glaubens und der naturwissen
schaftlichen Reflexion getrennt und hatte gerade dieser Kontrast die entschiedene Alterna
tive zur Providenzthese freigesetzt, so stiftet nun der Umstand, daß Diderot und d Alem
bert - die zwei langjährigen gemeinsamen Streiter für das
Enzyklopädie-Unternehmen
- die
Gesprächspartner sind, eine konsensbestimmte Ausgangssituation. Dieser Konsens schafft
eine Atmosphäre einvernehmlicher Intimität, entbindet vom Zwang zur systematischen
Behandlung eines Themas, wie sie in der Tradition der Gattung vorgegeben war, gibt
auch Raum für Elemente des Spielerischen und lädt zu dem ein, was man
als
gesprächsför
mige Erkundungsreisen bezeichnen könnte:
Diderot: Aber das lenkt uns vom ersten Punkt unserer Diskussion ab.
D Alembert: Was macht das aus?
Wir
werden auf ihn zurückkommen - oder auch nicht.
Diderot: Darf ich der Zeit um einige Jahrtausende vorauseilen?
D Alembert: Warum nicht? Die Zeit bedeutet nichts für die Natur.
Diderot:
Also sind Sie damit einverstanden, daß ich unsere Sonne erlöschen
lasse?
D Alembert: Ohne. weiteres, sie ist ja nicht die erste, die erlischt (Band 1,
S.
515; CE vres
philosophiques, S. 268).
Auffallend ist, daß d Alemberc jeweils Diderots vermeintliche Kühnheiten noch überbie
tet: mit der ersten Replik in bezug auf den Gang der Diskussion, dann, indem er - der
Herausgeforderte - die Begründung für die Gedankenblitze seines Gesprächspartners
prompt einbringt. Über die bereits angesprochene Intimität hinaus ( Otfaltet sich.in diesem
s ~ o n t a n e n Zusammenspiel der Gesprächsparcner eine gemeinsame
8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung
8/23
216
Rofand Galle
Aus ihr heraus versucht Diderot sein vitalistisches Gesamtkonzept der Natur
dem
mehr mechanisch orientierten Wissenschaft sbegrif f d Alemberrs ge genüber durchzuset
zen.
Am pointiertesten geschieht dies in einem kühnen ad-personam-Argument, in
dem er
d Alemberrs Biographie als Beleg für sein naturgeschichtliches Konzept vom Menschen
skizziert. Vorbereitet wird dieser Schritt durch die These, daß Materie und Fühlen nicht
substantiell getrennt seien, vielmehr lediglich zwischen einer inaktiven, gleichsam ruhen
den Empfindungsfähigkeit, wie sie der Materie zukomme, und der aktiven Empfindungs
f:i.higkeit von Pflanzen und Tieren zu unterscheiden sei. Bereits dieses Argument wird aus
der gegebenen Gesprächssituation heraus illustriert: An einer im Raum befindlichen
Mar-
morstatue wird demonstriert, daß diese zermahlen, für einige Jahrhunderte dem Erdboden
beigemischt und dann als Nährboden genutzt werden könne,
auf
diesem Umweg aber
an
der Existenz von Pflanzen und - vermittelt durch die Nahrungsaufnahme - auch
an der
~ ~ m Tieren teilhabe. Die bildhafte Argumentatioi:isweise verleiht den Ergebnissen dieser
Uberlegungen - logischen oder erkenntnistheoretischen Einwänden zum Trotz - eine
eige-
ne
Evidenz, wie d Alembert mit seiner Kommentierung bezeugt: »Ob wahr oder
falsch
mir gefällt dieser Übergang vom Marmor zum Humus, vom Humus zum Pflanzenreich
und vom Pflanzenreich zum Tierreich, zum Fleisch.« (Band I, S. 513; (E,uvres philosophi-
ques, S. 263().
Aus dieser Lizenz leitet Diderot nun die Berechtigung ab, das von d Alembert gestellte
weitere Problem, wie nämlich der Übergang vom Fühlen zum Denken verstanden werden
könne, ebenfalls metaphorisch zu beantworten, und zwar durch den schon angesprochenen
Rückgriff aufdie naturgeschichtlich erläuterte Biographie seines Gegenübers:
D Akmbert: Trotz alledem ist das empfindungsfähige Wesen noch kein denkendes Wesen.
Diderot: Darf ich Ihnen, bevor wir einen Schritt weitergehen, die Geschichte eines der
größten Mathematiker in Europa erzählen? Was war dieses hervorragende Wesen zu-
erst? Nichts.
D Akmbert:
Wieso nichts? Aus nichts wird nichts.
Diderot: Sie fassen dies zu wörtlich auf. Ich meine: bevor seine Mutter, das schöne und
sündige Stiftsfräulein Tencin, das Pubertätsalter erreicht hatte und bevor der Soldat -
touche zum Jüngling wurde, waren die Teilchen, welche die ersten Ansätze
zu
meinem
Mathematiker bilden sollten, in den jungen und schwachen Maschinen der beiden ver
streut (Band I, S. 514;
muvres
philosophiques,
S.
264 ). .
Mit dem Anspruch, den eingangs benannten
Weg
vom »Nichts«
zu
dem »hervorragenden
Wesen« aus der vitalistischen Einheitsthese heraus nachzuzeichnen und zu erklären fährt
Dide_rot f?rt, e d i n ~ u n g und Ent stehung von d Alemberts Existenz als eine F o l ~ e von
phys10log1sch
aufwe1sbaren Phasen zu skizzieren. Wichtiger aber als die hier und im wei-
~ e r e n
Textverlauf sehr detailliert ausgeführten biologischen Hypothesen und ihre hoch
interessante Metaphorisierung, auf die nur verwiesen werden kann ist für uns die Modali
t ~ t . mit der die These eingeführt wird. Indem Diderot das g e s e l l s ~ h f t l i c h e Tabu der
ille-
g1.t1men Geburt ebenso wie den auf der Mathematik begründeten gesellschaftlichen Ruhm
~ m c s . Gegenübers in seinen Entwurf einer naturgeschichtlich gewendeten Biographie zu
m t e g n e r e ~ v e r m a ~ verleiht er seiner These, dank der Dialogsituation, eine gleichsam ei-
gendynam1sche Evidenz. D Alembert erkennt diese Wirkung einerseits an, indem er natur-
Diderot - oder die Dialogisierung der Aufklärung
217
wissenschaftliche Konsequenzen, die sich aus Diderots Theorie ergeben, selber formuliert,
hält andererseits aber an einem wesentlich nüchterneren, mathematisch-mechanischen
Wissenschaftsbegriff fest, was sich ansatzweise. schon daran zeigt, daß er die persönlichen
Implikationen von Diderots Argumentationsweise ignoriert.
Der zentrale und häufig bewunderte Kuns tgriff Diderots liegt n un darin, daß d Alem
bert erst im zweiten Teil des Werkes - und zwar in einem Fiebertraum, der auf die Unter
redung mit Diderot folgt - seine Zurückhaltung aufgibt und seinerseits eine vitalistische
Weltkonzeption entwirft. Als indirekten Gesprächspartner hat d Alembert seine Geliebte
Mlle
de
L Espinasse, für die seine Äußerungen allerdings zunächst völlig konfus sind und
die daher - in Sorge um seinen Geisteszustand - noch den Arzt Bordeu herbeiholt. Bor
dcu übernimmt die Funktion, die Traumfragmente, die Mlle de L Espinasse aufgezeichnet
hatte, ihr gegenüber verständlich zu machen, so daß sie auf diese Weise an den im Traum
gewonnenen Einsichten d Alemberts teilhat und sie schließlich selbständig weiterentwik
kelt, bis hin zu den im dritten Teil gezogenen moralischen Folgerungen. Dieser Ge
sprächskonstellation, die dahingehend zu schematisieren wäre, daß d Alembert die Einheit
von Welt und Materie träumt, Bordeu sie erklärt und Mlle de L Espinasse sie- mit zuneh
mender Selbstbeteiligung - versteht, _kommt unter ästhetischem Gesichtspunkt eine
Schlüsselfunktion zu. Sie erhellt nämlich, daß weder die argumentativen Bemühungen
noch
die
Traumvision für sich genommen eine adäquate und das heißt in der Aufklärung
allemal eine vermittlungsfähige Einsicht in die Beschaffenheit der Welt zu sichern vermö
gen, daß vielmehr erst das Ineinandergreifen von Traum und Ratio zu dem erstrebten Ziel
hinführt. Traum und Ratio aber - und ihre wechselseitige Notwendigkeit - stehen in Ana-
logie zum Gegenstand der durch sie beförderten Einsicht: Indiziert der Traum
als Me-
dium der Erkenntnis, daß eine mechanisch-rationalistische Auffassung der Welt unzurei
chend ist, so liegt in der rationalisierenden Argumentationsform Bordeus ein gewichtiges
Korrektiv gegenüber den Tendenzen zu einem mystifizierenden Vitalismus, wie er sich in
d Alemberts Traummonolog ankündigt. Kerngedanke dieses Monologs ist eine zyklische
Lebensauffassung, von der her die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten des
Lebens, ja am Ende selbst die zwischen
tot
und lebendig sein, aufgehoben wird: •Jedes
Tier ist mehr oder weniger Mensch, jedes Mineral mehr oder weniger Pflanze, jede Pflanze
mehr oder weniger Tier. In der Natur gibt es nichts Endgültiges [
e
(Band I,
S.
538;
rEuvres philosophiques,
S. 311). Isoliert betrachtet deutet dieser Monolog - nicht zuletzt
durch seine hymnische Form -
auf
ein Abrücken von dem Weg, den die modernen Natur
wissenschaften seit dem Ausgang der Renaissance beschritten hatten.
War
nämlich die
Naturphilosophie der Renaissance noch von Ganzheitsvorstellungen bestimmt und war
ihr Erkenntnisstreben noch darauf gerichtet, die einheitsbildenden Kräfte der
Welt
zu er-
fassen, so beschränken sich die Naturwissenschaften im Anschluß an Descartes zuneh
mend auf die Aufgabe, eine mechanisch bestimmte Fixierung der Wdt nach Klassen und
Arten zu erreichen woraus sich schließlich der Verzicht
auf
Wesenserkenntnis überhaupt
ergeben sollte: D i ~ in der Renaissance substantialistisch gestellte Wahrheitsfrage wird in
der Modeme durch operationalisierbare Hypothesenbildungen abgelöst.
Vor diesem Hintergrund nun fällt auf, daß die Hauptintention von D Alemberts Traum
offensichtlich darin liegt, die vitalisierte :Materie wiederum so zu interpretieren, daß sie zu
einer ganzheitlichen Antwort auf gleichsam alle Fragen der Welt und des Lebens wird.
Dieser offenkundigen Resubstantialisierung wirkt aber entgegen, daß dieser Monolog in
einen witzig argumentativen und wissenschaftlich hypothetisch verlaufenden Dialog zwi
8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung
9/23
21
Roland Galle
sch n Bordeu und Mlle de L'E pinasse einges hachrelt ist,
damit
aber auch
di
e Vision
d Alembert parrialisierc , v r allem perspekrivisch
gebro
chen wird.
In dieser Brechung aber gewi
nnt
die zunächst
obsolet
erscheinende
Re
substantialisie
run für den heurigen
Le
er eine besondere Aktualität : ie wird nun nämlich zur Auffor
derung außer dem me hanischen auch das hyporheri eh operarionalisierende Wissen
chaft ver tändnis zwar nicht preiszugeben wohl aber in seiner Defizienz - als Verzicht
auf
die Dimension ganzheitlicher Fragestellungen - wieder wahrzunehmen. Als weitrei
chend te Funktion des
Did
ero t hen Dialogs zei
hnet
sich
damit
ab, d
aß
durch diese Dar
tel ungsform lineare
Fort chritt
konzepte problemati iert
und ei
n verkürzter Aufklä-
rung begriff überwunden wird.
Die nahezu irritierende
Kluft
, die trotz zeitlicher ähe,
D A/emberts Traum
von der
hrift Supplement
au
vovage
de
Bo11gain
vi
L
e
( achrrag zu Bougainvilles Reise,
1796)
zu
trennen scheint, kann ein wenig überbrückt werden, wenn man sich die durchaus ver
glei hbare pannung vergegenwärtigt, die in beiden
Werken
zwischen
Mon
olog und Dia
log besteht. Entstanden ist der
ach
trag B
o11ga
invi/Les R
eise -
eine der bedeutendsten
kulturkritischen chrifren der Aufklärung - aus einer Rezensio n, die Did eror zu einem
zeitgenössi eben Be t eller Bougainvilles, des en Thema die Eindrücke ei ner W eltumsege
lung aus den Jahren 1766-1769 waren, für die » orrespondance litterai re« sein
es
Freundes
Grimm
geschrieben hatte. In der literarischen
Ausführun
g dieser Be
sp
r
echung
dem
ach-
t
ra
g
also wird die Fiktion vermittelt, daß wesentliche Teile, nämlich die große Rede eines
seherhaft auftretenden Eingeborenen sowie das Gespräch zwischen einem chiffskaplan
und einem
ei
ngeborenen Familienvater,
auf
dem
authentischen
Beri
cht
Bougainville
be-
ruhten und daß lediglich die beiden Rahmenkapitel , in denen
A. und
B. kommentiere
nd
e
Diskussionen über das Verhältnis von
atur und
Zivilisation führen, gleichsam euro
pä-
ische Zugaben seien. Diese fiktionale Authentifizierung des upplement ist deswegen so
wichtig weil durch sie d
ie
Funktionen von Mon olog , kontrastivem und schließ lich auch
problemari ierendem Dialog in besonders reiner Form hervortreten.
Die große Verdammung rede des
Alt
en, mit der dieser sein Volk vor den europäischen
Eindringlingen warnt, ist durch eine Seguenz von Gegensatzpaaren bestimmt , durch die
die
Welt
der Eingeborenen jeweils als beispielhaft gegen die depravierte Welt der Europä
er abgesetzt wird. D
as
grundlegends te dieser Ge
ge
nsa tzpaare bezieht sich auf die natür
lichen und die kün srlichen Bedürfnisse. Die D egenerieru ng Europas beruhr demnach vor
allem darauf, daß das Maß an Bedürfnisbefriedigung, wie die arur
es
vorgeschrieben hat,
durch die zivilisarorische Entwicklung au dem Blickfeld ge raten ist und dieser Orientie
rungsverlust -
auf
kollektiver und auf individueller Ebene - phys ische und psychische Un
ordnung hervorgerufen
hat
: Einerseits seien
dur
ch den individuellen Anspruch
auf
B
es
itz
und die sich daraus ergebende Bedürfnisexplosion
Kri eg
und
Zerstörung
entstanden,
an-
dererseirs habe das Verbor freier Sexualirär Reu e, Angsr und schlechtes Gewissen al
Si-
gnale innerer
Zerrüttung
hervorgebracht.
Die
sem Urreil des Alren lieg t ei n regulariver
aturbegriff zugrunde, der von dem Ursprünglichkeirsparhos der Aufklärung - als einem
ihrer wesentlichen Impulse - herrührt und nun von Dideror dem vorgeblich aurhenti
schen Propheten von Tahiri in den Mund gelegt wird. Daß nun aber ein normatives a-
rurkonzept rousseauistischer Prägung, demzufolge der »
pur
insrincr de
Ja
nature« CEttvres
phi/01ophiq11es,
S.
466)
zur Richrschnur allen menschlichen Handelns erhoben zu
w r ~
verdient, in der Form des appellativen Monologs vorgetragen wird , weisr diese Posirion als
Dideror - oder die Dialogisierung der Aufklärung
219
Eine zentrale Rolle in der ko
ll
ekriven Phanra ·ie des l Jahrhunderrs nimm r der bon sauvage , der
gu re \Xli
ld
e ein. Di e ß erichre der Enrdecku ng reisenden und die Zivili arion müdig · cm al
ten Konri nenr b efördern die Vorstellung eines repre sion freien narurbezogenen und harmoni chen
Lebens auf Tahiti . Begründer wird damir der »Ta hici-M •rho s«, der bi in un ser Jahrhunderr hinein
immer wieder als Proresr
gegen
die europäi chen Leben formen wachgerufen worden i
r.
W oh l nie
mand har ihn o lebendig gehalren wie Gauguin. H ier sein Bild :
»
fädchen
mit
Mangoblüren«.
8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung
10/23
220
Roland Galle
eine perspektivische Zuspitzung aufklärerischer Weltaneignung aus, bei der Diderotes_
wie ansonsten - auch in diesem Werk nicht bewenden läßt. . · ·
Zunächst . reilich sieh t es so aus, als habe das dem Monolog des Alten folgende
Ge
spräch zwischen dem Schiffskaplan und dem eingeborenen Familienvater lediglich die
Funktion, die These über die normative Gülti gkeit der Natur zu belegen und zu verdeut
lichen. Am bündigsten spricht dafür die wegen ihrer Anschaulichkeit so berühmte Ein
~ n g s s z e ~ e in der die ~ e l t der E i n g e b o r e ~ e n und die der Europäer auf besonders sugge
stive Weise dadurch m1temander konfrontiert werden, daß der Gastgeber seine Frau
und
seine drei Töchter, alle nackt, dem Kaplan zuführt und ihn auffordert, sich für die Nacht
diejenige auszusuchen, die ihm am besten gefalle, der Kaplan aber antwortet, »seine Reli
gion, sein Stand, die guten Sitten und die Ehrbarkeit erlaubten ihm nicht, solche Angebo
te anzunehmen« (Band II S. 210; CEuvresphilosophiques,
S.
475).
Dieser Einleitung gemäß wird im weiteren die Kontrastierung der beiden Welcen
so
fortgeführt, daß restriktive Verhaltensregeln der europäischen Zivilisation - die eheliche
Treue, das Inzesccabu, aber auch die Begründung von Aut ori tät - der Lächerlichkeit preis
gegeben werden, indem sie jeweils am Prüfstand der Natur, der »souveraine maitresse«
CEuvres philosophiques, S. 476), gemessen und von daher ihrer Willkürlichkeit überführt
werden. Wichti ger als diese mehr explikative For tführung des ersten Teils ist aber, daßim
Rahmen der erläuternden Dialogisierung die These von der normativen Verbindlichkeit
der Natur ihre appellative Funktion, die sie im Monolog des Alten innehatte, verliert
und
zunehmend
zu
einem utilitaristischen Vorschlag für die Bewältigung sozialer Probleme
ausdifferenziert wird:
Kaplan: Aber welches von all den Kindern, die du außerhalb deiner
Hütte
gezeugt haben
magst, fällt dir zu?
Oru:
Das vierte, ganz gleich, ob Junge oder Mädchen. Bei uns ist eine Zirkulation
von
Männern, Frauen und Kindern, aber auch von Fäusten und Armen jeglichen Alters und
B_erufes entstanden, die eine ganz andere Bedeutung hat
als
die Zirkulati on von Waren,
die nur
das
Produkt der Arme und Fäuste sind.
Kaplan:
Ich verstehe. Welche Bewandtnis hat
es mit
den schwarzen Schleiern die mir zu-
weilen auf efallen sind?
Oru: Ein Kennzeichen der Unfruchtbarkeit, sei sie nun die Folge eines Geburtsfehlers oder
v o r g e ~ c k t e n
Alters. Die Frau, die diesen Schleier ablegt und sich unter die Männer
mischt, gil t als unzücht ig; der Mann, der diesen Schleier lüft et und sich derUnfrucht
baren nähert, gilt ebenfalls als unzüchtig (Band II,
S.
220f.; CEuvres philosophiques,
S. 494).
Indem also unter dem V ~ r z e i c h e n
des
Naturbegriffes ein in sich bündiges regulatives
Verhal
t e n s s y ~ t e m entw?rfen wird, als dessen Fluchtpunkt sich schließlich die Verbesserung der
e u g e r u s ~ h e n B e ~ m g u n ? e n herausstelle, verändert die dialogisierende Ausformung den Na
t ~ r b e g n f f
auch
1nhal_thch:
Bildet er im Monolog des Alcen im wesentlichen eine hypothe
tische Denkfigur, die vor allem zu einer vernichtenden Kritik der europäischen Gesell
s_chaft führte,. s ~ ü ß t er d.urch
_die
Konkrerisierung im Dialog einen Teil seines ursprüng
lichen Negattvitatspotennal s em, provoziert seinerseits beim Leser Widerstände - auch
und. gerade, wenn der Kaplan sie nicht einbringt - und gi bt damit eine differenziertereRe
flexion auf
das
Verhältnis von Natur und Zivilisation frei.
Didcrot - oder die Dialogisierung der Aufklärung
221
Eine solche erweiterte Reflexion dokumentiert das abschließende Gespräch zwischen
A.
und B., wie schon die eher beiläufige Kommentierung der Eifersucht zeigt, die sich
im
Rahmen einer umfassenden Kritik an zivilisationstypischen Verhaltensweisen findet:
A Und die Eifersucht?
B: Die Leidenschaft eines bedürftigen und gierigen Tiers, das fürchtet, entbehren zu müs
sen; ein Gefühl, das des Menschen nicht würdig ist; eine Folge unserer falschen Sitten
und der Ausd ehnung des Eigent umsrechts au f einen freien, empfindenden, denkenden
und wollenden Gegenstand.
A Also existiert die Eifersucht - Ihrer Ansicht nach - nicht in der Natur?
B:
Das behaupte ich nicht. Laster und Tugend, alles existiert gleichermaßen
in
der Natur
(Band 11 S. 230; CEuvres philosophiques, S. 507).
In seiner ersten Entgegnung führt B. eine Analyse der Eifersucht auf der Grundlage eta
blierter Aufklärungspositionen durch, indem er normativ die Würde des Menschen be
tont, kritisch die europäischen Sitten relativiert und intellekcuell-analytisch einen Bezug
zwischen europäischen Besitzverhältnissen und sozio-psychologischen .Mechanismen her
stellt, womit er gleichsam eine rationalistische Applikation der pathetisch vorgetragenen
Position des Alcen vornimmt. Die Pointe der herangezogenen Stelle liegt nun aber darin,
daß diese Analyse, die durchaus auf der Höhe aufklärerischer Reflexion liegt, eine dezi
dierte Schlußfolgerung für die Beziehung zwischen Eifersucht und Natur nahelegt, die
von
A
auch formuliert, überraschenderweise von B. aber nicht geteilt wird. Mit seiner
Weigerung, die von A. gefolgerte Trennung von
Natur
und Eifersucht zu bekräftigen,
macht B. den Dialog zu einem Instrument, kurzgeschlossenen Ergebnissicherungen auf
klärerischer Denkbewegung entgegenzusteuern und also eine Komplexität festzuhalten,
die - ohne der Analyse selbst im Wege zu stehen - reduktionistische Folgerungen zu ver
hindern vermag.
In welchem Maß diese Doppelbewegung den von A. und B. geführten Gedankengang
des Schlußteils konstituiert, zeigt sich sehr deutlich auch in zentralem Zusammenhang:
Nachdem B. in ausführlichen Analysen die Legitimation politischer Machtausübung be
stritten und deren pervertierende Folgen angesprochen hat, stellt A. die Gretchenfrage, ob
denn nun der Zustand der rohen und wilden Natur der Zivilisat ion vorzuziehen sei. Er er
hält von B. aber nur eine ausweichende Antwort, die schließlich noch durch einen refor
mistischen Vorschlag für die politische Praxis ergänzt wird. Entscheidend ist wohl we
niger, wie im einzelnen Diderot dieses reformistische Modell gedacht hat, als vielmehr der
Umstand, daß die im Monolog des Alten und partienweise auch in der kontrastiven
B e ~ e g -
nung zwischen Oru und dem Kaplan angelegte Hypostasierung der Natur gerade mcht
als Ergebnis des Textes eingebracht wird. Diese monologische Botschaft wird vielmehr in
dem Sinne dialogisiere, daß sie schließlich
als
eine Option der Aufklärung, nicht
als
deren
Summe erscheine. Optionen aber, als monologische, werden fruchtbar erst dadurch, daß
sie
dialogisch angeeignet, und
das
heißt - so könnte wohl der Schlußteil gedeutet werden
-
einer relativierenden Problematisierung unterzogen werden.
Unter dem Stichwort der Problematisierung sei zumindest noch auf ein Werk hinge
wiesen, das die dialogische Auseinandersetzung mit einer programmatischen. P o ~ i t i o ~
de r
Aufklärung schon im Titel anzeigt und dann sehr detailliert ausführt. Gememt ist dieRe-
8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung
11/23
222 Roland
Galle
/111tttion suivie de
l'Ouvrage d Heldtius intitrdf »L
Homme«
(Fortlaufende Widerlegung
von
Helvctius \V erk »Vom J\fenschen«), 1773- 1775 ent standen , erst 1875 in der Diderot
Ausgabe von Assczat veröffentlicht, cine Are kommentierender Dialog mit dem Werk,
das man als »Fibel des .Materialismus« bezeichnen kann. Diderots Abhandlung verfolgt
hier nun wiederum das Ziel, die vereinfachenden Schematisierungen des Helvetius zu
durchbrechen und für die anthropologische Diskussion der Aufklärung eine Komplexität
zurückzugewinnen, die r durch die Übertragung der Gesetze der Mechanik auf die Lehre
vom Menschen verspielt sah.
Wichtiger noch
als
die Auseinandersetzung
mit
Helvctius ist wohl der
Seneca-Essay,
ein
recht unterschiedlich bewerretes Spätwerk aus den Jahren 1778-1782, das noch Rosen
kranz kaum der Erörterung für würdig befand, das in jüngster Zeit aber sehr an Reputa
tion gewonnen hat und sogar mit Rousscaus Confmions (Bekenntnisse, postum erschienen
1782-1789) verglichen worden ist. Angeregt wird der Vergleich mit den Confessions durch
den Umstand, daß Diderot in den Seneca-Essay eine scharfe Abrechnung mit Rousseau
ein-
geflochten hat, dessen befürchteten Indiskretionen und Schmähungen aus dem nur ge-
rüchtweise bekannrgewordenen zweiten Teil der Confessions er zuvorkommen wollte.
Maß-
geblicher ist aber, daß ein solcher Vergleich geeignet ist, die unterschiedliche künstleri
sche Darstellungsweise der ehemaligen Freunde scharf hervorzuheben: Ist in den
Confes
siom die Sammlung von Weltaneignung in der einzig wichtigen Perspektive monologi
scher Selbsterfahrung gestaltet, so objektiviere Diderot die Summe seines Weltbezugs in
einer Apologie des Seneca, die ihm bei aller Neigung zur Identifikation mit seinem Hel-
den gleichwohl für eine am Anderssein reflektierte Selbstporcrätierung Spielraum und Di
stanz einräumt.
Wahrend Rousseaus Selbstverteidigung mit einer Weltverkü rzung zusammenfällt, die
schließlich im Verfolgungswahn kulminiere, aktualisiert Diderot die Apologie des
Seneca
durch ein facettenreiches Gemälde des alten Rom gewinnt also seine Argumente zur
Ver-
teidigung des Seneca gerade von einer Wirklichkeitsauffaltung her und kann seine Haupt
gegner, diejenigen nämlich, die Seneca in unterschiedlichsten Zeiten selbstgerecht verur
teilt haben, der Engstirnigkeit und Beschränktheit überführen. Eingelöst finden wir damit
aber nc >ch einmal die Funktion des Dialogs, die sich - wie wir gesehen haben - zuneh
mend in Diderots philosophischem Werk herausgebildet hat u nd die am bündigsten
viel-
leicht als Perspektivenerweiterung zu kennzeichnen ist oder, negativ formuliert, als die
Abwehr aller apodiktischen und reduktionisti schen Denk- und Urceilsprozesse.
Zum
ästhetischen
Werk
Die
untersuchten Stationen von Didero ts philosophischem
Werk
konnten als Formen der
Dialogentfaltung gelesen werden: Von der nur rhetorischen Funktion einer unselbständi
gen Gegenstimme, wie sie sich in einzelnen Stücken der Philosophischen
Gedanken
artiku
liere führte uns der
Weg
über eine zunehmende Konturierung des Gegenüber zur schließ
lichen Gleichrangigkeit der Dialogpartner, die sich im
Blindenbrief
abzeichnete und in
D'Alemberts Traum konstitutive Bedeutung gewann. Diese potentielle Gleichrangigkeit
der Partner fiel mit einer perspektivischen Brechung zusammen, aus der eine neuartige
Aktivierung des Lesers folgte, was außer an
D'Alemberts Traum
auch am
Nachtrag zu
Bou
gainvilles ise gezeigt werden konnte.
Dideror - oder die Dialogisierung der Aufklärung
223
Dieser neuartige Gebrauch des Dialogs bezeichnet Diderots zentralen Beitrag zur Auf
klärung: Mit Hilfe der dialogischen Gestaltung pointiert
r
den antimetaphysischen Impe
tus seiner Zeit, indem er ehemals vorgegebene Wahrheiten entsubstantialisiert und so ver-
deutlicht, daß der neue Wahrheitsbegriff als ein - sich wandelndes - Resultat intersubjek
tiven Bemühens zu verstehen ist. Dieses Ergebnis erscheint geeignet, den Übergang vom
traditionellen zum modernen Weltzugang auf prägnante Weise zu kennzeichnen. Beruht
die traditionelle Weltaneignung - wie vermittelt auch immer- auf einer mit Totalitätsan
spruch ausgestatteten autoritativen Setzung, so markieren die Diderotschen Dialoge den
Umstand, daß moderne Weltaneignung perspektivisch gebrochen und jeweils partial sich
vollzieht. An die Stelle einer substanzhafren Wahrheit tritt ein per se unabschließbarer
und kommunikativer Prozeß der Wahrheitsfindung.
Dieser Prozeß hat sein für die Entwicklung der modernen Kunst gewichtiges Seiten
stück darin, daß Diderot den Dialog - als Prinzip ästhetischer Gestaltuni- auch dazu ein
setzt, die Geschlossenheit überkommener Erzählformen paradigmatisch aufzulösen, die
durch Anfang, Mitte und Ende bestimmte teleologische Fabelstruktur zugunsten eines
.be-
liebigen Anfangs und eines beliebigen Endes zu verabschieden und somit in der dialogi
schen Erzählform jene strukturelle Offenheit zu fundieren, die die traditionelle Trennung
von Fiktion und Wirklichkeit gegenstandslos macht. Damit begründet sie den wohl er
sten Höhepunkt einer epochalen und für die Modeme höchst wichtigen Tradition, in der
Kunst
d a s ~ a t h o s
ihrer Selbstbestimmung daraus gewinnt, daß sie für sich in Anspruch
nimmt, die Ernsthaftigkeit von Wirklichkeitserfahrung in sich aufzunehmen und womög
lich zu überbieten.
Wie
wichtig die vor diesem Hintergrund zu sehende dialogische Form auch für Dide-·
rots ästhetisches Werk ist,
geht
schon daraus hervor, daß die entscheidenden Stationen
seiner kunsttheoretischen Konzeption, die
Entretiens
sur le Fils nature/ {1757; Unrerhal
tungen über den natürlichen Sohn - deutsch publiziert unter dem Titel »Dorval und
Ich«), Le Paradoxe sur le comMien (Das Paradox über den Schauspieler, entstanden 1773)
und die Salom (Kunstausstellungsberichte, 1759-1781) _dialogisch oder q u a s i d i a l ~ g i s c h
verfaßt sind, sich zu diesen Werken zwar mehr traktathafre Gegenstücke finden wie der
Discours
sur
la poesie dramatique (Von der dramatischen Dicht kunst, 1758) und die Essais
sur la peinture (Versuche über die Malerei, 1766)
5
,
auf
deren Behandlung hier aber verzich
tet werden kann, da sie an Originalität und Bedeutung hinter die dialogisch verfaßten
Werke zurückfallen.
In
ihnen nämlich hat Diderot seinen Beitrag zur Ästhetik des 18.
Jahrhunderts in der unverwechselbar ihm eigenen Diktion eingebracht.
Ex
negativo zeigt die Bedeutung der dialogischen Präsentarionsform der Artikel
Recher
ches philosophiques
sur
l'origine et la
nature du
beau
(Philosophische Untersuchungen über
den Ursprung und die Natur des Schönen), der
1751
im ersten Band der
Enzyklopädie
er
schien und im folgenden
Jahr
von Diderot separat veröffentlicht worden ist. In Fortfüh
rung von Crousaz und Andre, in Auseinandersetzung mit Hutcheson und Shafresbury
stellt sich Diderot dem für die Ästhetikdiskussion des
18.
Jahrhundem zentralen Pro
blem, inwieweit die konkurrierenden Ansprüche von Subjektivität und Objektivität in
eine Bestimmung des Schönen gemeinsam eingebracht werden könnten. In seinem Bemü
hen, eine psychologisierende Verkürzung seines Gegenstandes ebenso zu vermeiden wie
die klassizistische Gleichsetzung von Wahrheit und Schönheit, findet Diderot zu der
fol-
genden Formulierung:
\
8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung
12/23
224
Roland Galle
»J'appelle donc
beau hors de moi,
tout ce qui contient en soi de quoi rC:veiller dans mon
en
tendement l idC:e de rapports; et beau
par
rapport amoi,
tout
ce qui
rC:veille
cette idC e«
CE11t1res esthftiqrm,
S.
418).
(Als »Schönes außer mir« bezeichne ich also alles, was in sich irgend etwas hat,
das in
meinem Verstand die Idee von Beziehungen zu erwecken vermag, und »Schönes in Bezie
hung auf mich« nenne ich alles, was diese Idee in mir erweckt .Asthetische
Schriften,
Band I,
s
120.)
Berühmt geworden ist diese Bestimmung vor allem deswegen, weil Diderot mit ihr die
traditionelle Konzeption, daß die Schönheit eine metaphysische Qualität sei, aufgibt
und
sie nun als das Ergebnis von Beziehungen faßt. Nachdem er aus einer anthropologisch
be
gründeten Mangelsituation die Universalität der zentralen Kategorie »Beziehung« abgelei
tet, diesen Begriff als Einheit von Anordnung, Symmetrie, Proportion und Übereinstim
mung fundiert und somit seine sensualistische Ausgangsposition auf durchaus eigenstän
dige Weise entworfen hat, eröffnet er selbst die verwirrende Kommentierungsgeschichte
seines angeführten Kernsatzes, indem er die Vorste llung eines »beau absolu« (eines abso
luten Schönen) zwar abweist, zugleich aber die eines »beau red«
(eines
gegenständlichen
Schönen),
das
unabhängig von der Wahrnehmung des Rezipienten bestünde, durch einen
Verweis auf die Fassade des Louvre zu retten versucht. War
es
Diderots Absicht, mit sei
nem Definitionsvorschlag die Disjunktion von Subjektivität und Objektivität in bezug
auf das Schöne zu überwinden, so gelingt ihm dies bezeichnenderweise nur in der völlig
formalisierten Kerndefinition. Schon mit seiner
eigenen
Erläuterung fällt er - wenn dabei
auch gleichsam am Rande so wirkungsmächtige Konzeptionen wie die des »beau
a p e r ~ u «
(des wahrgenommenen Schönen) und vor allem die des »beau relatif« (des relativen Schö
nen) profiliert werden - in die ungelösten Probleme seiner
Zeit
zurück.
Hat
Diderot in
der Erläuterung seines sensualistischen Ansatzes vornehmlich Klassifizierungsschemata
und analytische Differenzierungsmuster eingebracht, die offenkundig der noch metaphy
sisch orientierten Kunsttheorie des
17.
Jahrhunderts entlehnt sind, so wird dadurch der
Umstand konturiert, daß er in seinem späteren Werk eine diskursiv-analytische Eingren
zung des Schönen nicht fortgesetzt hat, vielmehr konkreter Kunsterfahrung, wie sie sich
für ihn am Theater, an der Schauspielkunst und an den Gemäldeausstellungen entzün,det,
Gestalt gibt. Erreicht wird diese Konkretisierung vor allem durch die dialogische Form.
Als Dialog ist denn auch Diderots erste theatertheoretische Schrift verfaßt, die
Entre-
tiens sur l Fils nature/. Dorval und Moi erörtern in diesen Unterredungen anhand
des zuge
hörigen Stückes Le Fils
nature
Der natürliche Sohn,
1757)
Grundprinzipien des Theaters
in der Art, daß Mai in wesentlichen Teilen traditionsorientierte Fragen und Einwände
for
muliert, der dominante Dorval aber im Gegenzug das Umfeld einer neuartigen Theater·
konzeption entwirft, die
als
»tragcdie domestique« und »genre
sC:rieux«
für die theater
haften Ausdrucksformen des Bürgertums konstitutive Bedeutung gewinnen sollte. Der
Dialog zwischen Dorval und Mai wird dabei zum Mittel dafür, die neue Theaterposition
kontrastiv einzuführen und besonders wirkungsvoll dadurch zu präsentieren, daß erwart·
bare Einwände des Publikums von Moi antizipiert, von Dorval ausführlich beantwortet
und als neuer Konsens durchgesetzt werden können. Ein deutliches Beispiel bietet das
Plä-
doyer Dorvals für das, was
r
als »tableaux reels• bezeichnet: .
Dorval: Ich meinesteils glaube, die Bühne müßte dem Zuschauer, wenn ein dramatisches
i
i
1
1
'
1
•
\
Diderot -
oder
die Dialogisierung
der
Aufklärung 225
Werk gut gemacht und
gut
aufgeführt würde, ebensoviel wirkliche Gemälde (tableaux
reels) darstellen, als brauchbare Augenblicke für den Maler in der Handlung vorkom
men.
Jch:
Aber die Wohlanständigkeit [deccnce] Die Wohlanständigkeit
Dorval: Ich höre nur i mmer dieses Wort wiederholen. Barnwells Geliebte kommt mit
zer
streuten Haaren [echevclce] in das Gefängnis ihres Geliebten. Die zwei Freunde umar
men
sich und werfen sich zur Erde. Philoktct wälzte sich ehemals vor dem Eingange
seiner Höhle. Sein Schmerz brach in ein unartikuli ertes Geschrei aus. [ Wie? die
Aktion einer Mutter, deren Tochter man opfern will, sollte heftig genug sein können?
[ .. J
Die wahre
Würde,
die mich einzig und. allein
r . ü h r e ~ ,
die
' . 1 1 i c ~
n i e d e r s c ~ l ä g t
[celle
qui me frappe}, ist das Gemälde der mütterlichen Liebem all ihrer Wahrheit (Band 1,
S.
173f.;
(Euvres esthetiques,
S.
90).
Kennzeichnend für das Ungleichgewicht der Gesprächspartner ist vor allem, daß die Posi
tion der Klassik zu einem Schlagwort erstarrt ist und ihr dementsprechend in diesem Dia
log auch nur noch eine negative Kontrastfunktion zukommt. Dorval hat von daher d ~ e
Chance, die Konturen des von ihm angestrebten Theaters ungebrochen zu entwerfen. it
den drei von ihm evozierten Szenen aus Lillos
London Merchant
Der Kaufmann von Lon
don,
1731),
Sophokles'
Philoktet
(4()C) v. Chr.)und Racines Iphigenie
(1674)
zieht er Szenen
aus völlig unterschiedlichen Theaterepochen zum Nachweis für seine These zusammen,
daß die klassischen Regeln über die »bienseance« (Schicklichkeit) zu einer A u s t r o c k ~ u n g
der theatralischen Möglichkeiten geführt hätten, die wiederzubeleben als das allgememste
Ziel dieses Theaterentwurfs bezeichnet werden kann.
Der Impetus, von dem aus die angeführten Beispiele integriert werden: darf in
der.
Pro
pagierung einer neuen Natürlichkeit gesehen werden, die sich zunächst e ~ n m a l n e g ~ u v
als
Gegenbild zu zentralen klassischen Prinzipien b e s t i m m ~ n l.äßt:
8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung
13/23
226
Ro
land
Galle
Dieses Aquarell von Ziezenis stellt die Schlußsze ne
von
Diderots D ra ma »Le Pere de fami
lle«
da
r
Es
häh die emotion erfüllte Dramatik fest, die - z
wi
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hen drohe
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er K atast
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e und schließl ich
harmonischer Auflösung - ihren Au cragungsort im neuen Zenrrum der Gefühlswelt,
in
der Fami
lie
, hat. Angesicht der ähe , die zur Thematik und zur inne
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Beweg
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Bild
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euze
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daß
hier
ver
schiedene Kunstformen
ein
en geme
insa
men Be
zu
gs
punkt
ge
fun
den haben.
alltagsnahen, emotionserfüllten und
ge
neralisierbaren Szene zum Identifikationsangebot
verdichtet ist.
Ihre epochale Wirkung hat die auf dieses Identifikationsangebot zielende Theatertheo
rie Diderots wohl nicht zuletzt dadurch erreicht, daß sie dialogisch vorgetragen wird , und
zwar in einer Fiktion neuer Art, die wahrer als die konventionalisierte
Wirklichkeit
zu sein
beanspruchen kann:
Diderot
bezeichnet das von ihm gewählte Darstellungsverfahren als
eine »Art von Roman« Band
1, S. 275· CE.uvres esthhique
s S.
223),
innerhalb dessen Dorval
und Moi über ein Stück sprechen, das Dorval verfaßt , bei dessen
Aufführung
er mitge
spielt und dessen als real ausgegebene Vorgeschichte er vor allem miterlebt haben will.
Dorvals Position, wie er sie in den Entretiens einnimmt, wird somit bereits durch die für
ihn reklamierten Erfahrungen authentifiziert, und seine persönliche Beglaubigung wird
da
durch noch verstärkt, daß er nicht so sehr als ein Theoretiker des
Dr
amas auftritr, sondern
als ein Mensch mit einem neuen Weltbezug, den er in ein neues Theaterkonzept ummün
zen will. Man könnte, um die Eigenart seines Charakters zu kennzeichnen, von einem sozia
bilisierten Rousseauismus sprechen, ist doch Dorval ebenso tätiger Schlichter von Fami
lienzwistigkeiten wie Enthusiast eines neuartigen aturverhältnisses. Entsprechend ist
auch der von Dorval propagierte Theaterentwurf als
Modellbildung
für sozial-empathi
sches Verhalten zu verstehen. Auf der Insel der Seligen - wie Dorval sie provokativ gegen
Rousseaus Traum von einem theaterlosen Genf entwirft - feiere man den Sabbat durch
Theateraufführungen.
Die
Zu schreibung solch religiöser Funktionen ans
Theater
i t vor
dem Hintergrund zu sehen, daß das Gefühl und die gefü hlsmäßige Ergriffenheit zu einer
·
Dideror - oder die Dialogisierung d
er
Aufklärung 227
quasireligiösen Signatur der frühbürgerlichen Epoche werden und die Entretiem am ehe
sten wohl als Gestaltung einer Theatertheorie aus dieser Epochenerfahrung heraus zu ver
stehen sind.
Wirkt
die lneinssetzung von empathischer Welterfahrung und Theatermodell so über
zeugend, weil sie
durch
die Gestalt Dorvals verbürgt ist, so darf daraus noch nicht - wie
mißverständlicherweise häufig geschehen - auf eine schlichte Gleichsetzung von koncin
gencer Wirklichkeit und künstlerischer Wirklichkeit des Theaters geschlossen werden.
Vielmehr -.yeist der »monde reel«, so wie er für eine empathische Wirkungsmöglichkeit
der
Kunst gefordert wird, auf einen »ordre de
la
nature«, der die ansonsten verborgene Ge
setzmäßigkeit der
Welt
zu enthüllen vermag
6
. Ihren konkreten Widerschein hat diese
moralisch begründete Weltordnung in der gefühlsbezogenen Identitätsfindung des Zu
schauers, auf die d'as neue Theater hinzielt. Das Pathos, mit dem Theater und Theater
theorie in das 18. Jahrhundert hineinwirken, rührt denn auch von dem Anspruch her -
intersubjektiv vermittelt -, durch einen Rückgriff
auf
das Gefühl die ansonsten verlorene
Einheit von elbst und
Welterfahrung
noch einmal zu sichern.
Diese empathische Welterschließung, die übrigens nicht nur den Entretiem , sondern
auch dem En
zyklopädie-Artikel
»Genie« 175 7) und vor allem dem
Elog
e
de Richardson
Lob Richardsons,
1762)
zugrunde liegt, war von Dorval am Beispiel des Schauspielers
folgendermaßen erläutert worden :
»Zum Glück wird eine Schauspielerin, wenn auch ihre Beurteilungskraft ganz einge
schränkt und ihre Einsicht ganz gemein ist , wenn sie nur eine große Empfindsamkeit [sen
sibi
lice}
besitzt, leicht eine Seelenlage erfassen und - o hn e daran
zu
denken - den Akzent
finden, der den verschiedenen Empfindungen gemäß ist, welche hier zusammencreffen und
die Situation ausmachen, die ein Philosoph mit all seiner Scharfsinnigkeit unzerglieden
lassen muß« übe rarbeitete Übersetzung: Band I, S. 184; rE uvres esthhiques
,
S. 104).
In der schieren Umkehrung dieser Position kann das Hauptanliegen des Paradoxe
S f o ~
f e
medien gesehen werden.
Es
handelt sich bei dieser Spätschrift, die 1769 als Buchknak für
die »Correspondance licreraire« entworfen ,
1773
in die nahezu
e n d g ü l t i ~ e
Fassun? umge
schrieben, später noch überarbeitet und erst 1830 veröffentlicht worden ist, um e ~ ~ e
lyse der Schauspielkunst, die an zentralen Stellen auf allgemeine Probleme der Asthetik
hin geöffnet wird. D as leitmotivischeThema ist die
Kritik
der » s e n s i b i l i t e ~ jener G e ~ h l s -
empfänglichkeit und Gefühlsergriffenheit also, die in den frühen ästhenschen Schnften
als gemeinsame Basis für Weltverhältnis, Kunstproduktion und -rezeption_ ~ ~ ~ s e t ~ t wor
den war, nun aber geradezu zum Erkennungszeichen für Mangel
an
Gerualitat
: '1:d .
So
schreibt Diderot schon, als er Grimm die erste Fassung, die für die »Correspondance lirteraire«
also, ankündigt:
»Hätce ich etwas mehr Sorgfalt walten las en, so würde ich w o ~ l was
d.ie
S c h ~ r f s i c h t i g -
keit betrifft, mein Mei cerwerk geschrieben haben. Es handelt sich .um em. ~ ~ ~ n e s ~ a r a -
dox. Ich behaupte darin daß eine durchschnittliche Empfindsamkeit [sens1b1lite] mi.ttel
mäßige eine extrem starke Empfindsamkeit aber au gesprochen schlechte chauspieler
hervorbringt . Kalter Verstand hingegen und ein klarer Kopf scheinen mir die ~ u n d l a g e
· _ · ·
Lt Band I S
102
[ubersetzt
für die erhabenen chauspieler zu sem« vurresponuance
me
1 e
, ·
von R. G.}) .
8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung
14/23
228
Roland Galle:
Verdeutlicht wird diese Kritik an der »sensibilite« in einem den Entretiens insofern ver-
gleichbaren Dialog,
als
auch diesmal der eine Gesprächspartner - Le Premier - die gesamte
Argumentationskraft an sich zieht und der andere - Le Second - m wesentlichen
wieder-
um nur die Bedeutung unterstreichen kann, die der Position des Gegenüber zukommt.
Diese Darstellungsform wird in einer wichtigen Schlußpassage allerdings dadurch überbo
ten, daß Le Premier in einen Dialog mit sich selbst eintritt, womit auf eindrucksvolle
Weise eben die Entzweiung Gestalt gewinnt, die das große Thema des
Paradoxe
ist.
Exemplifiziert wird diese Entzweiung bereits in der Diskussion der beiden Protagonisten,
vornehmlich am Verhalten des Schauspielers:
Der
Erste:
[ wenn sie [1Hle Clairon, die wohl größte Schauspielerin des 18. Jahrhun
derts) sich einmal zur Höhe ihres Phantoms erhoben hat, dann hat sie sich in der Ge-
walt und wiederholt sich ohne innere Bewegung. [ sie ist die
Seele
einer großen
:Marionette [ mannequin
],
in die sie sich gehüllt hat. Die Proben haben die Hülle unlös
lich mit ihr verbunden. Nachlässig auf einem Ruhebett ausgestreckt, mit verschränkten
Armen, geschlossenen Augen, unbeweglich, kann sie, während sie aus dem Gedächtnis
ihrem Traume folgt, sich selbst hören, sehen und beurteilen und kann den Eindruck ab-
schätzen, den sie hervorrufen wird.
Sie
ist in diesem Augenblick ein Doppelwesen:
die
kleine Clairon und die große Agrippina.
Der Zweite:
Wenn man Sie hört, ist dem Schauspieler
auf
der Bühne und bei seinen Proben
nichts ähnlicher als Kinder, die nachts auf den Friedhöfen Gespenster spielen, indem sie
ein großes weißes Laken an einer Stange über ihren
Kopf
halten und unter diesem
Ka-
tafalk schauerliche Laute von sich geben, mit denen
sie
die Vorübergehenden
erschrek-
ken.
Der
Erste:
Sie haben recht Band II, S. 486;
CEuvres esthhiqrm,
S. 308f.).
Die Abwertung der »sensibilite«, so zeigt dieser Passus, setzt zugleich die Einsicht
in den
reflexiven Charakter der Schauspielkunst frei. Dem Begriff des Doppelwesens - eile est dou-
ble, heißt
es
im Original -
kommt
für die These, wie Le Premier sie vorträgt und vertritt,
insofern zentrale Bedeutung zu, als in diesem Begriff die im gesamten Text immer wieder
variierte Vorstellung von der reflexiven Beherrschung, mit der der Schauspieler seine
Rol-
le handhabt, gleichsam zusammengefaßt ist.
Wenn
es später, provokativ, heißt, der Schau-
spieler sei wie ein ungläubiger Priester, der über die Leidensgeschichte Jesu predigt, wie
ein falscher Bettler, der demjenigen flucht, der ihm nichts gibt, wie eine Kurtisane, die
vorgibt, vor Lust zu vergehen, ohne doch irgend etwas zu empfinden, so wird dabei stets
dieser Doppelcharakter vor Augen geführt, die Souveränität betont, die den Schauspieler
von seiner Rolle trennt; zugleich wird aber auch die ganz wesentliche Aufwertung einer
und
sei
es amoralischen lntellektu alität beleuchtet, die - erstmals wohl in dieser Schärfe -
als
Voraussetzung künstlerischer Produktion betont wird.
Sollte in den Entretims, vor allem durch die Person Dorvals, die postulierte Einheit von
Welterfahrung, Dramenproduktion und Theateraufführung beglaubigt werden, so revo-
ziert Le Premier im Paradoxe eben diese Einheit. Indem er verfügt,
es
gebe »drei Modelle:
den Menschen der Natur, den Menschen des Dichters und den Menschen des Schauspie·
Iers«
Band II, S. 534;
CEuvres
esthetiques, S. 376) setzt er sich darüber hinaus von dem im
früheren Werk begründeten Illusions- und Nachahmungsbegrif f ab und wertet mit der
In-
tellektualität zugleich die Imagination auf. Das Phantom der Mlle Clairon, die Gespen-
Didcror- oder die Dialogisierung der Aufklärung
229
sterstaffagen, mit denen die Kinder sich ausrüsten, die nun angeführte Trennung der drei
Modelle, all dies signalisiert einen erheblichen Terraingcwinn von Phantasie- und Einbil
dungskraft dem früheren Nachahmung smodell gegenüber, deutet an, daß Kunst über den
neuen Status der Fiktion und den Modus des »schönen Scheins« sich erst im Rezipienten
realisiert und weist insofern auch auf den Übergang von der Darstellungs· zur Rezeptions
ästhetik voraus. Deren Virulenz zeigt sich, wenn die durch Dorval noch präsentierte Ein
heit von dargestellten und bei den Zuschauern hervorgerufenen Gefühlen im Paradoxe
durch eine strikte Trennung beider Bereiche abgelöst wird.
Wird
vom Schauspieler nun
gesagt, daß ihm im Anschluß an die Aufführung »weder Erregung noch Schmerz, noch
Melancholie, noch seelische Niedergeschlagenheit« Band II, S. 489;
CEuvm esthhiques,
S.
313) bleibe, so wird - an den Zuschauer gewandt - hinzugefügt: »Nur Sie tragen all
diese Eindrücke mit sich fort«. Und eine nahezu gattungsrelevante Bedeutung wird dieser
Trennung zugesprochen, wenn
es
an anderer Stelle heißt: »On
ne
vient pas pour voir des
pleurs, mais pour entendre des discours qui cn arrachent«
Wir
gehen nicht ins Theater,
um Tränen zu sehen, sondern um Worte zu hören, die Tränen entlocken - Band II S. 535;
8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung
15/23
Roland Galle
Wie umsrricrcn sein künsrlerischer Ra h
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irar ur 1e Probleme einfacher Menschen findet Ausdruck in
Dideroc
- oder die Dialogisierung der Aufklärung
23
Genrebildern von denen Dideror gesagt har: »Da ist m rali ·ehe l:tlerei«. Besonders treffend wird
Diderors The e dur h
das
hier :ibgebildere Bei
piel
»Der undankbare ohn• belegt : D:irgestellr ist
nämlich nicht nur
wie
der ohn sich zum lilicärdien r abwerben läßr und seine Familie verläßt
sondern auch das morali hc rreil da - damit über ihn ge prochen wird.
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ · ~ l
8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung
16/23
232
Roland Galle
Die
Salons
gehen zurück
auf
öffentliche Kunstausstellungen. Solche Ausstellungen gab
es verelnzefrbereits
im
i i : a h r h u n - c k ~ r ~ e i t - - 1 7 3 7 fanden sie in der Salle Carrce des Louvre
statt, und
seit 1751
wurden
sie
in
zweijährigem
Abstand durchgeführt. Grimm,
der Her
ausgeber
der
»Correspondance litteraire«,
bat
seinen
Freund Diderot,
diese Kunstausstel
lungen für seine
Zeitschrift zu kommentieren. Mit dem Umstand nun, daß die
»Correspon
dance litteraire« lediglich
an den europäischen Fürstenhöfen
zirkulierte
und
insofern einen
eingeschränkten
Verbreitungsradius hatte,
hängt sicherlich die
Unbeschwertheit
zusam
men, mit der Diderot seinem
Auftrag
nachkam, durfte
er doch
sicher sein,
daß
seine Kriti
ken dem Pariser
Publikum
und vor allem den ihm eng vertrauten Künstlern, bei denen er
großenteils ein- und ausging, unbekannt bleiben würden. Diese Publikationsform vermag
aber nicht nur das
fehlen
einer inneren Zensur zu erklären, sondern auch den für die Salons
so kennzeichnenden Gesprächston. Das Problem, das darin lag, Kritiken für ein Publikum
zu schreiben, das weder die besprochenen Bilder noch das Pariser Kunstmilieu kannte,
meistert
Diderot
nämlich
dadurch, daß er Gesprächspartner einführt, die er
zu seinem
fik
tiven Gegenüber macht, immer wieder anspricht, in Dialoge über seine Urteile miteinbe
zieht
und so auch dem
Leser
die Illusion
einer
direkten Teilhabe
an
den
Kunstausstel
lungen zu vermitteln weiß.
Müssen alle
Versuche
einer
gewaltsamen Vereinheitlichung der
Kunstkritik Diderots
zu einer »Theorie«
auch
scheitern,
so gibt
es
gleichwohl
einige
Grundorientierungen,
die
sich
durch
die vielen
Jahrgänge der
Salons -. Diderot
hat die Ausstellungen
von 1759 bis
1781
kommentiert
-
recht
kontinuierlich ziehen.
Am deutlichsten gilt
dies vielleicht für
die Ablehnung
des
Rokoko,
als dessen bislang
berühmtester
Maler
Boucher
scharf ange
griffen wird, vor allem als Repräsentant einer Gesellschaft
und
Ausdruckslage, die Diderot
für falsch
oder
verlogen hält. Die in diesem Urteil
zum Ausdruck kommenden
Kriterien
treten natürlich auch
in
den positiven Bewertungen,
in der
Zustimmung und
Be
geisterung
Diderots
zutage, wenngleich
so
unterschiedliche Faktoren wie die Sujetge
bung
im Zusammenhang
mit
Greuze),
die
Kolorierung im
Zusammenhang
mit
Char
din)
und
die Illusionsbildung im Zusammenhang
mit
Vernet) dafür ausschlaggebend
sein können.
So wird etwa
Baudouin
vorgehalten,
auf
einem Bild dargestellt zu haben, wie die Braut
das Ehebett besteigt. Angemessen
und
»pathetique« - wie das
immer
wiederkehrende At
tribut
lautet, das zugleich eine
ästhetische und
moralische Norm bezeichnet - wäre es ge
wesen,
den
Abschied
der
Braue
von ihren
Eltern als
Motiv
zu wählen. Erfüllt werden sol
che Erwartungen
und
Bedürfnisse von Greuze, bei
dem
alles
»pathetique
et vrai«
CEuvres
esthetiqrm,
S.
519)
ist und der
daher
auch
zum
Muster der »peinture
morale«
CEuvres esthe-
tiques, S.
524)
erhoben
wird. Kennzeichen dieser moralischen Malerei ist die appellative
Beschwörung intimisierter Familienbeziehungen, wie die