Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung

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    1/23

    }tJEUFS

    HANDBUCH

    DER LITERATURWISSENSCHAFT

    in Verbindung mit den Ba11dhem11 rgebem: Norbert Alrenhofer · ugust Buck · Günther Debon ·

    \\:rilli Erzgräber· Alfred Estermann · Manfred

    Fuhrmann·

    Klaus Heitmann ·

    Josr

    Hermand

    \X'alter Hinck ·Hans Hinterhäuser· Thomas Koebner ·Henning Krauß ·Helmut Kreuzer·

    Reinhard Lauer· Karl

    Roben

    Mandclkow · Wolfgang Röllig

    ·Jürgen

    v.

    Srackelberg · Ernst

    Vogt und den

    Autoren:

    Peter

    Aley · lfred nger· Helmut

    Arntzen

    ·Horst

    llaader ·Renate

    Ruder· David Bathrick · \\ olfgang Bauer· Evelyn Torton Beck · Ernst Behler · Klaus Leo

    Berghahn · Peter Boerner · Elisaberra Bolla · Alexander

    v.

    Bormann · Gunnar Brandell ·

    Dietrich Briesemeister · Mogens Brondsted · Franz Brunhölzl · Emm a Brunner-Traut · Oscar

    Büdcl ·Johann Christoph Bürgel · Peter Bürger· Hubert Cancik · Marein Christadler ·

    Thomas Cramer · Otto Dann· Geza S. Dombrady ·Joachim Ehlers · Franziska Ehmcke ·

    \\ .

    Theodor Elwert · Rolf Fiegurh · Hermann Fischer ·Jens Malte Fischer· Craig Fisk ·

    . Aleksandar Fiaker· Wilfried Floeck · Armin Paul Frank · Herbert Franke · Wolfgang

    Frühwald · Roland Galle· Karsren Garscha · Peter Gerlinghof f ·

    Olof

    Gigon · Martin Gimm ·

    Ingeborg Glicr · Paul Goctsch · Astrid Grewe · Hans Gusta v Güterboc k · Hans Ulrich

    Gumbrecht · Rafael Guticrrez-Girardot · \'V'erner

    Habicht·

    Bodo Heimann · Walrer Heist ·

    Heinz-B. Heller · Rainer Hess · Dirk Hoeges · Lothar Hönnighauscn ·Johannes Hösle ·

    Hermann Hofer ·Peter Uwe Hohendahl · Hildebrecht Hom mel · Hinri,ch Hudde

    ·Jürgen

    Carl

    Jacobs· George FenwickJones · Sven-AageJ0rgensen ·Marc-Rene

    Jung·

    Gere Kaiser· Alfred

    Karnein ·Wolfgang Kasack· Werner Ke ller· Friedrich Knilli · Erich Köhler· Wolfgang

    Köhler·

    Barbara Könnecker · Karl

    Kohut

    ·

    Helmut

    Koopmann · Erwin Koppen · Wirold

    Kofoy · Hdnz Kosock ·Joachim Krecher ·Dieter Kremers ·Wolfram Krömer ·Johannes

    Krogoll ·Manfred Krüger· Margot Kruse ·Bernhard Kytzler · Sang-Kyong Lee· Anton Daniel

    Leemann · Eckard Lefcvrc · Erwin Leibfried · Albin Lesky · Eberh ard Leube · Detl ef Liebs ·

    Georg Rudolf Lind · Hansjürgen Linke· Dieter Lohmeier · Charles Madison · Han sJoachim

    Mäh ·Johann Maier · Mario Mancini · Fritz Martini · Edgar l\fass · Dieter Mehl · Reinder P.

    Meijer · Horst Meiler· Anron[n l\ks'fan · \'V'alter Mettmann · Ernst Erich Meuner · Paul

    ~ i r o n

    ·Renate Möhrmann ·Ulrich Mölk · Arnaldo Momigliano · Carl Werner Mülle r· Hans

    Joachim Müller· Eberhard Müller-Bochac · Rainer Nägek · Dietrich Nau mann · Gcza

    DC a

    Ncmeth ·RudolfNeuhäuser· Sebastian Neumeister· HansJörg Neuschäfer· HansJoachim

    Newiger · Armand Nivelle ·Otto Oberholzer ·James O'Brien ·Horst Oppcl ·Bernhard

    Ostcndorf · Kurr Orren · Otto Pöggcler · Klaus Pörd ·

    Leo

    Pollmann · Horst Prießnitz ·

    Orlando Pugliese · Kenneth Quinn · Erica Reiner · Henry H. Remak · Hans-Georg Richen ·

    Peter Richter · \V"ha-Seon Roske-Cho

    ·Oskar

    Roth · Kurt Ruh · Patricia Russian · Willy

    Schmer· Helmut Scheurer · Kure Schier· Walter Schiffcls · Ulla Schild· Kurt Schlüter ·

    \X

     

    alter Schmähling · Peter Leberecht Schmidt· Roland Schneider· Rüdiger Schnell · Franz

    Schonauer · Ludwig Schrader · Gerhart Schröder· Ulrich Schulz-Buschhaus · Gustav Adolf

    Se

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    Mit

    128

    Abbildungen

    © 1980 by Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, Wiesbaden

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlagentwurf: Jür gen Keil-ßrinkmann

    Ausstattung: Reinhard van den Hövel, Taunusstein

    Prinred in Germany/Impriml: en Allemagne

    1980

    Gesamrherstellung: Konrad Triltsch, Graph. Betrieb, Würzburg

    ISBN

    3-7997-0093-5

    (Gesamtausgabe)

    ISBN

    3-7997-0726-3

    Register: Renate Steiner

    Umschlag: Bibliothcque Nationale, Paris

    ~

    A 6 4 ~

    \. ~ \ . ~ 3

    CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

    Neues

    Handbuch

    der Literaturwissenschaft / hrsg.

    von Klaus von See. In Verbindung mit d. Bd.-Hrsg.:

    Norbert Altenhofer . . .

    u.

    d. Autoren: Peter Aley

    . . .

    - Wiesbaden : Akademische Verlagsgesell

    schaft Athenaion. •

    ISBN 3-7997-0093-5

    NE:

    See

    Klaus von

    [Hrsg.];

    Aley, Peter (Mitverf.]

    Bd. 13. - Europäische Aufklärung III

    Europäische

    Aufklärung

    I I I .- Wiesbaden : Akademische

    Verlagsgesellschaft Athenaion.

    3. /V.Jürgen

    v.

    Stackelberg in Verbindung mit

    Renate Baader . . . -

    1980.

    (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft ;

    Bd.

    13)

    ISBN

    3-7997-0726-3

    NE: Srackelberg,Jürgen v. (Mirverf.]

    UNIVEP.SITU5

    i LIOTHEK

    H f l l ~ L B E R G

    1

    1

    1

    l

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort .

    Frankreich und Europa im 18.Jahrhundert. Von

    Jürgen v.

    Stackelberg

    Die

    französische

    Frühaufklärung.

    Von Jürgen v. Stackelberg

    Glanz und Elend der Herrschaft Ludwigs XIV. 25

    -

    Regence und Rokoko 30 Von der Mora

    lisrik zur Aufklärung: Saint-Evremond 34 -

    La

    Hontans »Dialoge mit einem Wilden« 35 - Fe-

    nelons »Abemeuer des Telcmach«

    38 -

    Das Frühwerk Marivaux'

    40 -

    Picrre Baylc, der

    Be

    gründer der historischen Kritik 42 - Fontenelle, der Erfinder der Populärwissenschaft 44

    Die

    Entwicklung des Buches zum .r.fassenmedium oder der Glaube an die Macht der

    7

    9

    25

    Worte. Von

    Edgar

    Mas s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

    Der Leitsatz 51 - Das Interesse an der Buchgeschichte 52 - Der geschichtliche Rahmen 53 - Die

    Konkurrenz von Gericht und Kirche

    53

    -

    La

    Librairie das Zensurinstrument 55

    -

    Text und Er-

    laubnis

    59 -

    Der Leser im literarischen

    Leben

    61

    -

    Die Schreiber 65

    -

    Die marerielle Produktion

    und Distribucion

    68 -

    Produktionsstatiscik

    74

    Die Literatur der Frau oder die

    Aufklärung der

    kleinen Schritte. Von Renate Baader . 79

    Die schreibende Frau - Kontinu ität und Wandel einer vergessenen Tradition

    79 -

    Die Erziehe-

    rin

    87 -

    Die Moralistin

    90 -

    Die Erzählerin

    94

    Die politische Kritik des Literaten Charles

    de

    Momesquieu. Von Edgar Mass 107

    Die Persischen Briefe 107 - Das Schreiben 111 - Die Schichten des Textes 114 - Druck und

    Verbreitung

    116 -

    Die Rezeption

    117 -

    Die äschecische Organisation politischer Texte

    118 -

    Die historische Dimension 120 - Der theoretische Diskurs 121

    Voltaire:

    Aufklärer Klassizist

    und Wegbereiter

    der

    Anglophilie in Frankreich. Von

    ? -

    Jürgen

    v.

    Stac kelb erg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

    Das

    Urteil der Nachwelt

    125 -

    Die Karriere eines •Homme de Lerrres«

    130 -

    Volraires Wi

    dersprüche

    136 -

    Voltaire in nuce: Die »Lerrres philosophiques«

    136 -

    Voltaire und Shake

    speare

    143 -

    Voltaire als Klassizist

    147 -

    Voltaire als Historiker

    149 -

    Voltaires »philosophi-

    sche Romane«

    151

    Theorie und

    Erfahrung.

    Das

    Werk

    Jean-Jacques

    Rousseaus

    und die Dialektik

    der

    Aufklärung. Von Karlheinz Stie rle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

    Die Anfänge 159 - Die Abhandlungen zur Theorie der Kultur und der Gesellschaft

    163 -

    Theorie, Erfahrung und die Form des Romans

    173 -

    A urobiographie und Subjektivität

    190

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    Inhaltsverzeichnis

    Diderot oder die Dialogisieruns der Aufklärung. Von Roland Galle

    Zum narurwissenschaftlich-philosophischen \ Verk 210 - Zum iisthetischen \ Verk 222 - Zum

    erzählerischen \Xlcrk 233

    Julien Offray de L1mettrie und die Grundlagen des französischen Materialismus im

    18 Jahrhundert. Von Dirk Hoege s . . . . . . . . . . . . . . . . . .

    Der Kampf um die Autoritäten 249 - Der Med1anismus des Körpers - der Arzt als Schriftstel

    ler und »philosophe«

    253 -

    Gegen die Trennung von

    Natur

    und Gesellschaft

    263

    Skizze einer Literaturgeschichte der Französischen Revolution. Von Hans Ulrich

    Gumb recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

    \X arum eine Literaturgcschichre der Französischen Revolution? 269 - Zur Rezeption der Auf

    kfärung in der Französischen Revolution

    271 -

    Politische Öffentlichkeit

    275 -

    Revolutions

    feste 291 - Theater 298 - Individuelle Lektüre 310 - Literarurgeschichte der Französischen Re

    volution: Symptom für ein doppeltes Scheitern der Aufklärung? 323

    Die Literatur der italienischen Aufklärung. Von Ulrich Schulz-Buschhaus

    Aufklärerische Prosa 330 - Lyrik des Settecenco 337 - Goldonis bürgerliche Komödien 341 -

    Alfieris Tragödien der heroischen Freiheit 344

    - Der

    Verfall des Epos und Parinis »Gior

    no« 350

    Die Literatur der spanischen Aufklärung. Von Wilfried Floeck

    Feijoo und die Frühaufklärung 366 - Luzan und der Neoklassizismus 370 - Moratin und die

    Anfänge des bürgerlichen Schauspiels 374 - Aufklärerische

    Themen

    in Lyrik und Prosa 379 -

    Die Wurzeln des sogenannten Spanienproblems 382

    Die russische Literatur im 18. Jahrhu ndert. Von Reinhard L1uer

    Europäisierung und Aufklärung 391 - Neue Formen des literarischen Lebens 396 - Lomono

    sovs Sprachreform

    401 Ästhetik

    und Poetik

    405 -

    Die lyrischen Gattungen

    411

    Tragödie -

    Komödie Rührstück 418 - Versepik 424 - Prosalireratur 429

    Namenregister mit biographischen und bibliographischen Daten

    Bildquellennachweis

    209

    249

    269

    329

    359

    391

    439

    463

    l

    1

    .

    Vorwort

    Von den drei Bänden des Neuen Handbuchs der

    Literaturwissenschaft

    die der Epoche der

    Aufklärung g.ewidmet sind, betraf der erste alle europäischen Länder. Der vorliegende

    Band, Europäische Aufklärung III gilt vor allem Frankreich. Beiträge über die Literaturen

    Italiens, Spaniens und Rußlands schließen sich an. Insofern in diesen Ländern die Aufnah

    me französischer Anregungen die größte Rolle spielt, könnte er geradezu den Titel

    »Frankreich und seine europäische Wirkung« tragen. Niemand hat mehr für diese getan,

    als die nicht-französischen Autoren französischer Sprache, von denen - aus diesem Grund

    - gleich in der Einleitung die Rede ist. Einige wenige Bemerkungen zum Jahrhundertwerk

    der EnryclopMie Diderots und d Alembercs folgen darauf:

    Wie

    in einem Brennpunkt sam

    meln sich in diesem Werk die aufklärerischen Energien des Jahrhunderts. Nicht zufällig

    war es das am weitesten verbreitete und wirksamste Werk der europäischen Aufklärung.

    Den drei größten französischen Autoren der Epoche - Voltaire, Rousseau und Didero t -

    gelten ausführlichere monographische Artikel. Montesquieu, dessen Hauptwerk, der Geist

    der Gesetze

    (1748), mindestens ebensosehr in den Bereich der Rechtsgeschichte wie in den

    der Literatur gehört, wird knapper behandelt. Verhältnismäßig knapp ist auch der Beitrag

    gefaßt, der über die französische Frühaufklärung informiert. Die Artikel über Zensur und

    Buchmarkt, über die Literatur der Frau und über die Revolutionsliteratur weichen vom

    traditionellen Literaturbegriff zum Teil erheblich ab.

    Der

    »engagierte« Charakter der Auf

    klärungsliteratur

    kommt

    hier besonders deutlich zum Ausdruck.

    Sollte der Leser in diesem Band Informationen über Autoren wie l\farivaux, Lesage oder

    Beaumarchais vermissen, so sei er auf den Band 11, Europäische Aufklärung l zurückver

    wiesen.

    Die

    Eigenart dieser Autoren wird am besten im Gattungszusammenhang erkenn

    bar, nach dem dieser Band angelegt ist. Für den jüngeren Crebillon oder Laclos gilt das

    gleiche.

    Die Zeitschriftenliteratur der Epoche soll in Band 12, E11ropäische Aufkliiru11g II be

    rücksichtigt werden. Die Anfange der französischen Romantik werden im Z usammenhang

    mit der englischen

    Naturdichtung

    in Band 15,

    Europäische

    Romantik II dargestellt.

    Der vorliegende Band endet mit der Französischen Revolution. Mit ihr

    geht

    in Frank

    reich nicht nur das Zeitalter der Aufklärung, sondern zugleich eine Ära zu Ende, in der die

    Literatur, trotz mancherlei Wandels, im Grunde gleichbleibenden Bedingungen unterlag.

    Fürsten und Höf e bestimmt en bis dahin weitgehend ihr Aussehen. Im

    18

    Jahrhundert be

    ginnt das Bürgertum durch seine Rezeption die Literatur mitzuprägen. Sieht man Litera

    tur, wie das hier zwangsläufig geschieht, in einem politischen Zusammenhang, so liegt es

    nahe, politische Ereignisse, wie die Revolution von 1789, als epochale Einschnitte anzuse

    hen und dementsprechend die Grenzen zu ziehen. Der Gedanke an die Französische Revo

    lution lag den romanistischen Mitarbeitern dieses Bandes ohnehin fast immer im Sinn. Bei

    aller Verschiedenartigkeit der einzelnen Beiträge stellt dieser Gedanke eine Gemeinsamkeit

    dar, die dem vorliegenden Band jenes Mindestmaß an Geschlossenheit verleiht, das eine

    zusammenhängende Lektüre nicht nur möglich, sondern, so hoffen es alle daran Beteilig

    ten, auch ersprießlich machen sollte.

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    208

    Karlheinz Sticrle

    9

    J.·J.

    Rousscau: Emile oder Über die Erziehung. Hg. von

    M.

    Rang, unter l\fitarbeit

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    21

    Roland

    Galle

    Am 5. Okcober 1713 wird Denis Dideroc in der Provinzscadc Langres geboren: als der ältesce Sohn

    eines reche wohlhabenden Messerschmieds, der mic seinem Gewerbe eine schon 200jährige Fami·

    liencradicion forcführt. erühmt ist die späce Kindheicserinnerung Diderocs, die sich in einem Brief

    an Mlle Volland findet: Aus dem Kolleg, das er besuchte, sei er

    am

    Tag der Prcisverceilung mit so

    viel

    Auszeichnungen nach Hause gekommen, daß er sie

    kaum

    habe tragen können. Der

    Vater

    sei

    ihm encgegengeeilt, weinend vor Rührung.

    Diderot kommentiert

    diese Erinnerung mit dem Zusatz,

    daß es eine schöne Sache sei, einen guten und strengen Mann weinen zu sehen.

    In

    dieser Form der

    Erinnerung mag mitklingen, welches einschneidende Erlebnis es für Dideroc bedeutec haben

    muß,

    ls er, gerade fünfzehn Jahre alt, nach Paris ins College Hartcourt kam. Immerhin hat

    er die Stadt

    nur noch selten - und meist

    nur

    für kurze

    Zeit

    - wieder verlassen. In Paris ist er auch, am

    31.Jul i 1784,gescorben.

    den Schriften Rousseaus und Voltaires gegenüber ihr eigenes, unveräußerliches und

    auch

    besonderes aktuelles Gewicht erlangen. Dies soll im folgenden erwiesen werden, indem

    die Hauptwerke Diderots unter der Perspektive der in ihnen eingebrachten Dialogisierung

    und-deren Leistung gesichtet werden.

    Zum naturwissenschaftlich philosophischen Werk

    Im Sinne der Goetheschen Entelechie pflegt man Erstlingswerke häufig als »Keimzellen•

    der gesamten späteren Produktion zu verstehen. Für Di derots

    Pensees

    philosophiques Philo

    sophische Gedanken , 1746 von dem damals immerhin schon 33jährigen Verfasser

    veröf

    fentlicht, scheint dies nur teilweise zulässig zu sein. Mit den Philosophischen Gedanken führt

    Diderot sich zwar in die sich bildende Gesellschaft der »philosophes« ein. Er zeigt auch,

    daß er souverän den Sprachduktus und das Programm der aufgeklärten Geister der Jahr

    hundertmitte beherrscht, indem er aggressiv und pointiert, witzig und überraschend tradi-

    \

    Diderot - oder die Dialogisierung der Aufklärung 211

    tionelle Positionen angreift und ins Leere laufen läßt. Dies gilt zumal, wenn er die Offen

    barungsreligionen attackiert und für den Deismus Partei ergreift, wenn er um Duldung

    für ein atheistisches Weltverständnis wirbt oder auch die Leidenschaften aufwertet gegen

    das überkommene Vernunftprimat. So leicht und überlegen diese Kritik aber auch durch

    geführt wird, die damit gegebene Programmatik weist zusammen mit der gewollten

    Leichtigkeit der Gedankenführung zugleich doch so deutlich auf eine vom frühen Mon

    tesquieu bis zu Voltaire reichende Grundströmung des 18. Jahrhunderts zurück, daß Di

    derocs Erstlingswerk zwar als ein weiteres bestechendes Dokument für den Witz und das

    Autonomiestreben des

    18.

    Jahrhunderts gelten darf, dieses schmale Bändchen aber noch

    kein vollwertiges Zeugnis für jene nur ihm eigene Beleuchtung der Aufklärung darstellen

    kann, wie sie Diderot mit der Großzahl seiner späteren Werke gelingen sollte.

    Für eine solche Zuordnung spricht vor allem die Textstrategie, die den einzelnen Ab

    schnitten der Philosophischen Gedanken zugrunde liege. Illustrieren läßt sich dies besonders

    gut an der späterhin so wichtigen Form des Dialogs, die - ansatzweise - sich auch in die

    sem frühen Werk schon findet, in einer Modalität aber, die mehr auf den bereits etablier

    ten Aufklärungsstil zurückverweist, als daß sie die für Diderot spezifische Ausprägung

    dieser Form schon erkennen ließe. Der sechste Abschnitt zum Beispiel, der als ein exem

    plarisches Stück Aufklärungsliteratur betrachtet werden darf und in dem

    es

    Dideroc dar

    um geht, anhand der Lebensform des Eremiten die Religion überhaupt anzugreifen, wird

    folgendermaßen eingeleitet:

    »Könnte denn das, was an dem einen Menschen den Gegenstand meiner Wertschätzung

    bildet, der Gegenstand meiner Verachtung an einem anderen sein? Nein, zweifellos nicht.

    [

    Soll ich etwa glauben, daß es

    nur

    einigen vorbehalten sei, vollkommene Handlungen

    zu vollbringen, obwohl die

    Natur

    und die Religion sie allen Menschen ohne Unterschied

    gebieten? Nein, e rst recht nicht, denn woher käme ihnen dieses Privileg zu?«

    2

    Mittels zweier rherorischer Fragen und deren Beantwortung wird Einigkeit darüber erzielt,

    daß die moralische Bewertung einer H andlung unabhängig von der Person des Handeln

    den zu geschehen habe und

    es

    weiterhin nicht einzelnen Personengruppen vorbehalten sein

    dürfe, die Ausführung vollkommener Handlungen für sich zu reklamieren. Aus diesen

    Voraussetzungen wird im weiteren die Schlußfolgerung gezogen, daß die Lebensform ei

    nes

    Eremiten, wenn sie denn vorbildhaft sei, dies auch für die Allgemeinheit

    s ~ n

    müsse.

    Die offenkundige Absurdität dieses Ergebnisses wirCI dann zu einem Umkehrschluß ge-

    nutzt, mit dem der

    Wert

    des sozialen und natürlichen Menschseins gegen die nur als chi

    märenhaft angesehene Bedeutung der Religion ausgespielt wird. Ausschlaggebend für den

    Aufbau

    des

    Textes sind die beiden ersten Voraussetzungen,

    weil

    sie eine Basisübereinstim

    mung herstellen, von der aus die weiteren Schlußfolgerungen erst möglich werden. Diese

    Basisübereinscimmung und ihre Verbindlichkeit wird - dem Leser gegenüber - dadurch

    erreiche, daß aufklärerische Positionen

    als

    rhetorische Fragen formuliert und von einem

    ganz unkonturiert bleibenden Dialogpartner als selbstverständlich bestätigt werden. Für

    unseren Zusam·menhang maßgeblich ist, daß der Dialog damit lediglich als ein Mittel ein

    gesetzt wird, vorgegebene Inhalte und die Überlegenheit des einen Dialogpartners rheto

    risch wirkungsvoll zu bestätigen. Diese Funktion des Dialogs wird in vielen späteren Ar

    beiten Diderots zwar noch mitgeführt, hat aber nie mehr die ausschließliche Bedeutung,

    die ihr in diesem Erstlingswerk zukommt.

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    212

    Roland Galle

    Die intrikat-vielfältige Funktion, die der Dialog schließlich in Diderots Werk überneh-

    men wird, zeichnet

    s i ~ h

    in wichtigen K o n t u r i e r u g ~ n schon in

    s e i n ~ m

    .ersten philosophi

    schen Hauptwerk ab, m der

    Lel/re

    sur

    /es

    aveugles a / usage de ceux qm vo1ent Brief über die

    Blinden zum Gebrauch für die Sehenden,

    1749).

    So eindeutig es ist, daß Diderot den blin-

    den Philosophen dieses Stücks eigene Gedanken aussprechen läßt, so ernst muß man

    ande-

    rerseits seine briefliche Äußerung an Voltaire nehmen, Saunderson dokumentiere

    eine ei-

    gene, ganz durch sein Blindsein geprägte Weltaneignung

    3

    Von allgemeiner Bedeutung

    ist die damit sich abzeichnende Ambivalenz des Diderotschen Sprachduktus, die darin

    zu

    sehen ist, daß Diderot bevorzugt seine Gedanken objektiviert, indem er sie fremden

    Ge-

    stalten leiht und dadurch die .Möglichkeit einer Distanznahme den eigenen Positionen

    gegenüber strukturell sichert. Die Entfaltung dieses Darstellungsverfahrens fallt

    zusam-

    men mit der Entfaltung des Dialogs. Für den allmählichen Au sbau des Dialogs nun ist der

    riefüber die

    Blinden

    durch seine literarische Form, durch die dargestellte Befragung eines

    Blindgeborenen und schließlich vor allem durch das großangelegte Gespräch

    zwischen

    einem Geistlichen und dem blindgeborenen M athemati ker Saunderson wichtig.

    Indem Diderot nicht die etwa erwartbare Form des Traktats, sondern die

    des

    Briefes

    wählt, wird die aller Literatur implizite Beziehung zum Leser bis zur Form eines

    gleich-

    sam halbierten Dialogs erweitert. Die Adressatin des Briefes nämlich, Mme de Puisieux,

    hat für dessen Inhalt und Argumentationsform durchaus eine gewisse Bedeutung: Ihr ist

    der Brief als Entschädigung für eine ursprünglich in Aussicht gestellte Teilnahme

    an einer

    Augenoperation zugedacht, ihre eventuellen Einwände werden vorweggenommen,

    und

    für

    sie allzu schwierige Probleme - im

    Zusammenhang

    der Infinite simalrechnung etwa - wer-

    den ausgespart. Trotzdem bleibt die Perspektive des Briefschreibers natürlich

    beherr-

    schend, da die Adressatin nur nach seiner Maßgabe b erücksich tigt wird, und so bricht

    sich

    in der Gattung des fiktiven B r i e f ~ noch die Tendenz der frühen Aufklärung, einen Dia-

    logpartner nur so weit zu entwerfen und gelten zu lassen, wie es der Präsentierung

    des ei-

    genen durchaus monologischen Weltentwurfs zuträglich ist.

    Diese Tendenz durchwirkt auch noch den ersten Hauptteil des Briefes, obwohl dessen

    Gegenstand ein Gespräch zwischen Diderot und einem Blindgeborenen ist. Eingeleitet

    aber wird die Darstellung dieses Gesprächs d urch den generalisierenden Vorgriff des Brief-

    schreibers, er habe nie daran Zweifel gehabt, »daß der Zustand unserer Organe und

    unse-

    rer Sinne großen Einfluß

    auf

    unsere Metaphysik und unsere Moral hat« Philosophische

    Schriften, Band

    1,

    S. 58;

  • 8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung

    7/23

    214

    Roland Galle

    zustand in überraschender Art von dem ihn kennzeichnenden Merkmal her entwickelt,

    blind und Mathematiker in einer Person zu sein. Gegen die These von Holmes, das

    wun-

    derbare und für den menschlichen Verstand nicht auflösbare funktionieren der Welt und

    des Menschen erfordere die Vorstellung eines ordnenden Gottes, führt Saunderson seine

    alltägliche Erfahrung an, daß er den Sehenden

    in

    vielerlei Hinsicht, zum Beispiel in seiner

    Eigenschaft als Mathematiker, rätselhaft geblieben sei, aus dem Unverständnis des Men-

    schen also noch nicht auf einen Gott geschlossen werden dürfe. Dieses Ergebnis verschärft

    er zu einem grundlegenden Einspruch dagegen, aus der vermeintlichen oder tatsächlichen

    Rätselhaftigkeit der Welt, aus subjektiver Erfahrung - so ließe sich reformulieren - onto

    logische Schlußfolgerungen, wie die Existenz Gottes, abzuleiten. Zusammen mit der Ab-

    leitung Gottes aus der Natur wird also auch deren axiomatische Voraussetzung, die säku-

    lare Entsprechung von \ qclterfahrung und Weltbeschaffenheit, in Frage gestellt, so daß

    Saunderson der Providenzthese die Grundlage mit einem Argument entzieht, das für die

    erkenntnistheoretische Diskussion der Neuze it maßgebliche Bedeutung gewinnen sollte.

    Nicht weniger wichtig als der erkenntnistheoretische ist aber der naturgeschichtliche

    Einwand, der gegen Holmes vorgebracht wird; Saunderson führt sich selbst als Beispiel

    für moralisch völlig indifferente Mißformungen in der Natur an, die in eine providencielle

    Ordnungsvorstellung nicht integrierbar seien, und leitet daraus - gegen die Hauptinten

    tion der überlieferten Schöpfungsgeschichte - ab, daß die Welt gerade nicht das Ergebnis

    eines harmonischen Ordnungswillens, sondern das eines endlosen Zusammenspiels von

    Zufällen sei, als dessen leitendes Prinzip man die Überlebensfähigkeit anzusehen habe. Ist

    auch mit Recht bestritten worden, daß in diesem Rekurs auf die Na turgeschichte schon

    die Evolutionstheorie vorformuliert sei, so löst Saundersons En twu rf gleich wohl mit

    einer

    auf Darwin vorweisenden Stringenz die

    Natur

    und ihr Wirken aus jedweder göttlichen

    Absicht und Fürsorge heraus

    4

    Die kontrastive Dialogisierung der Providenzthese durch Saunderson und Holmes setzt

    versuchsweise ein Ausspielen extremer Gedanken frei,

    auf

    die Diderot im einzelnen festzu-

    legen sicherlich verfehlt wäre. Der abschließende WiderrufSaundersons, mit dem er sich zu

    dem Gott von Clarke und Newton bekennt, sowie die Zustimmung des Verfassers zu die-

    ser plötzlichen Sinneswandlung weisen - über die zensurbezogene Dimension hinaus - auf

    das Offenhalren inhaltlicher Positionen.

    So

    wird die Möglichkeit zu einer geistigen Expe-

    rimentierhalrung als das wichtigste Ergebnis von Diderots erstem großen philosophischen

    Werk und zugleich als entscheidende Neuerung des aufklärerischen Dialogs erkennbar.

    freilich zeigt der besprochene Dialog um Providenz und Kontingenz ebenfalls, daß Di-

    d e r o t ~

    frühe Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft und Naturgeschichte

    noch

    ganz im Bannkreis traditionsreicher Fragen von Religion und Metaphysik steht. Wird

    die-

    se überkommene Problemstellung schon in dem gegen Maupertuis gerichteten Werk

    De

    / Interpretation de l nature (Gedanken zur Interpretation der Natur, 1754) in den Hinter

    grund gedrängt, so wird sie vollends überwunden in dem nun exemplarisch zu bespre

    chenden Spätwerk e Reve

    de

    d Alembert (D Alembem Traum). Entstanden ist dieses drei-

    teilige Werk in der so überaus schöpferischen Phase, die dem Abschluß der Enzyklopiidie

    ~ 1 7 6 5 folgt und der Rußlandreise (1773) vorausgeht; vollständig veröffentlicht worden

    ist

    es

    erstmals 1830, nachdem 1782 zumindest wi chtige Partien, anonym allerdings, in der

    für die Fürstenhöfe reservierten »Correspondance litterairec erschienen waren.

    Zieht man die philosophiegeschichtliche Terminologie heran, so geht es in diesem

    Diderot - oder die Dialogisierung

    der

    Aufklärung

    215

    Werk, das als Höhepun kt von Diderots naturphilosophischen Schriften betrachtet werden

    darf, darum, die von Descartes formulierte Zweisubstanzenlehre zu überwinden. Bestand

    deren Ausgangspunkt darin, Geis t und Materie als voneinander unabhängig zu denken, so

    werden in

    D Alemberts Traum

    alle Phänomene der Welt auf eine einzige Substanz, die Ma-

    terie nämlich, zurückgeführt. Vom Textverlauf her stellen sich die behandelten Probleme

    allerdings weniger abstrakt dar und könnten als das Bemühen beschrieben werden, ohne

    Rückgriff auf ü b e r n a t ü r l i c ~ . e Erklärungen nicht nur den Übergang von der Materie zum

    Leben,

    sondern auch den Ubergang vom Leben zum Menschen allgemeinverständlich zu

    erörtern, wobei Denken und Identitätsbildung als besondere Leistung des Menschen aner

    kannt und mitberücksichtigt werden. Dabei ist die metaphysische Tradition nun bereits

    im Ansatz dadurch verabschiedet, daß nicht erst das Ergebnis, sondern schon das Untersu

    chungsinteresse ganz auf eine erfahrungsbezogene Auffassung der Welt und des Menschen

    gerichtet ist.

    Diese Umbildung vollzieht sich zusammen mit einer paradigmatischen Erneuerung der

    dialogischen Situation, aus der heraus Fragerichtung und Weltverhältnis entfaltet werden.

    Die Dialogpartner sind nicht mehr in einen auktorial geführten Erzählvorgang eingebun

    den, sondern konscituieren mit ihren Äußerungen selbständig das Textkorpus; sie sind

    auch nicht mehr rollenmäßige Positionsträger, sondern weitgehend individualisiert: Nicht

    mehr ein Geistlicher und ein blinder Philosoph füh ren-· zumal noch in dessen Todesstun

    de - einen Disput über die letzten Fragen, sondern Diderot und sein Freund d Alemberc

    sprechen, nahezu im Plauderton, über eine locker verbundene Vielzahl von Themen, die

    der Gang des Gesprächs - und die eigene Phantasie - ihnen zuspielen.

    Waren Holmes und Saunderson durch die Welten des Glaubens und der naturwissen

    schaftlichen Reflexion getrennt und hatte gerade dieser Kontrast die entschiedene Alterna

    tive zur Providenzthese freigesetzt, so stiftet nun der Umstand, daß Diderot und d Alem

    bert - die zwei langjährigen gemeinsamen Streiter für das

    Enzyklopädie-Unternehmen

    - die

    Gesprächspartner sind, eine konsensbestimmte Ausgangssituation. Dieser Konsens schafft

    eine Atmosphäre einvernehmlicher Intimität, entbindet vom Zwang zur systematischen

    Behandlung eines Themas, wie sie in der Tradition der Gattung vorgegeben war, gibt

    auch Raum für Elemente des Spielerischen und lädt zu dem ein, was man

    als

    gesprächsför

    mige Erkundungsreisen bezeichnen könnte:

    Diderot: Aber das lenkt uns vom ersten Punkt unserer Diskussion ab.

    D Alembert: Was macht das aus?

    Wir

    werden auf ihn zurückkommen - oder auch nicht.

    Diderot: Darf ich der Zeit um einige Jahrtausende vorauseilen?

    D Alembert: Warum nicht? Die Zeit bedeutet nichts für die Natur.

    Diderot:

    Also sind Sie damit einverstanden, daß ich unsere Sonne erlöschen

    lasse?

    D Alembert: Ohne. weiteres, sie ist ja nicht die erste, die erlischt (Band 1,

    S.

    515; CE vres

    philosophiques, S. 268).

    Auffallend ist, daß d Alemberc jeweils Diderots vermeintliche Kühnheiten noch überbie

    tet: mit der ersten Replik in bezug auf den Gang der Diskussion, dann, indem er - der

    Herausgeforderte - die Begründung für die Gedankenblitze seines Gesprächspartners

    prompt einbringt. Über die bereits angesprochene Intimität hinaus ( Otfaltet sich.in diesem

    s ~ o n t a n e n Zusammenspiel der Gesprächsparcner eine gemeinsame

  • 8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung

    8/23

    216

    Rofand Galle

    Aus ihr heraus versucht Diderot sein vitalistisches Gesamtkonzept der Natur

    dem

    mehr mechanisch orientierten Wissenschaft sbegrif f d Alemberrs ge genüber durchzuset

    zen.

    Am pointiertesten geschieht dies in einem kühnen ad-personam-Argument, in

    dem er

    d Alemberrs Biographie als Beleg für sein naturgeschichtliches Konzept vom Menschen

    skizziert. Vorbereitet wird dieser Schritt durch die These, daß Materie und Fühlen nicht

    substantiell getrennt seien, vielmehr lediglich zwischen einer inaktiven, gleichsam ruhen

    den Empfindungsfähigkeit, wie sie der Materie zukomme, und der aktiven Empfindungs

    f:i.higkeit von Pflanzen und Tieren zu unterscheiden sei. Bereits dieses Argument wird aus

    der gegebenen Gesprächssituation heraus illustriert: An einer im Raum befindlichen

    Mar-

    morstatue wird demonstriert, daß diese zermahlen, für einige Jahrhunderte dem Erdboden

    beigemischt und dann als Nährboden genutzt werden könne,

    auf

    diesem Umweg aber

    an

    der Existenz von Pflanzen und - vermittelt durch die Nahrungsaufnahme - auch

    an der

    ~ ~ m Tieren teilhabe. Die bildhafte Argumentatioi:isweise verleiht den Ergebnissen dieser

    Uberlegungen - logischen oder erkenntnistheoretischen Einwänden zum Trotz - eine

    eige-

    ne

    Evidenz, wie d Alembert mit seiner Kommentierung bezeugt: »Ob wahr oder

    falsch

    mir gefällt dieser Übergang vom Marmor zum Humus, vom Humus zum Pflanzenreich

    und vom Pflanzenreich zum Tierreich, zum Fleisch.« (Band I, S. 513; (E,uvres philosophi-

    ques, S. 263().

    Aus dieser Lizenz leitet Diderot nun die Berechtigung ab, das von d Alembert gestellte

    weitere Problem, wie nämlich der Übergang vom Fühlen zum Denken verstanden werden

    könne, ebenfalls metaphorisch zu beantworten, und zwar durch den schon angesprochenen

    Rückgriff aufdie naturgeschichtlich erläuterte Biographie seines Gegenübers:

    D Akmbert: Trotz alledem ist das empfindungsfähige Wesen noch kein denkendes Wesen.

    Diderot: Darf ich Ihnen, bevor wir einen Schritt weitergehen, die Geschichte eines der

    größten Mathematiker in Europa erzählen? Was war dieses hervorragende Wesen zu-

    erst? Nichts.

    D Akmbert:

    Wieso nichts? Aus nichts wird nichts.

    Diderot: Sie fassen dies zu wörtlich auf. Ich meine: bevor seine Mutter, das schöne und

    sündige Stiftsfräulein Tencin, das Pubertätsalter erreicht hatte und bevor der Soldat -

    touche zum Jüngling wurde, waren die Teilchen, welche die ersten Ansätze

    zu

    meinem

    Mathematiker bilden sollten, in den jungen und schwachen Maschinen der beiden ver

    streut (Band I, S. 514;

    muvres

    philosophiques,

    S.

    264 ). .

    Mit dem Anspruch, den eingangs benannten

    Weg

    vom »Nichts«

    zu

    dem »hervorragenden

    Wesen« aus der vitalistischen Einheitsthese heraus nachzuzeichnen und zu erklären fährt

    Dide_rot f?rt, e d i n ~ u n g und Ent stehung von d Alemberts Existenz als eine F o l ~ e von

    phys10log1sch

    aufwe1sbaren Phasen zu skizzieren. Wichtiger aber als die hier und im wei-

    ~ e r e n

    Textverlauf sehr detailliert ausgeführten biologischen Hypothesen und ihre hoch

    interessante Metaphorisierung, auf die nur verwiesen werden kann ist für uns die Modali

    t ~ t . mit der die These eingeführt wird. Indem Diderot das g e s e l l s ~ h f t l i c h e Tabu der

    ille-

    g1.t1men Geburt ebenso wie den auf der Mathematik begründeten gesellschaftlichen Ruhm

    ~ m c s . Gegenübers in seinen Entwurf einer naturgeschichtlich gewendeten Biographie zu

    m t e g n e r e ~ v e r m a ~ verleiht er seiner These, dank der Dialogsituation, eine gleichsam ei-

    gendynam1sche Evidenz. D Alembert erkennt diese Wirkung einerseits an, indem er natur-

    Diderot - oder die Dialogisierung der Aufklärung

    217

    wissenschaftliche Konsequenzen, die sich aus Diderots Theorie ergeben, selber formuliert,

    hält andererseits aber an einem wesentlich nüchterneren, mathematisch-mechanischen

    Wissenschaftsbegriff fest, was sich ansatzweise. schon daran zeigt, daß er die persönlichen

    Implikationen von Diderots Argumentationsweise ignoriert.

    Der zentrale und häufig bewunderte Kuns tgriff Diderots liegt n un darin, daß d Alem

    bert erst im zweiten Teil des Werkes - und zwar in einem Fiebertraum, der auf die Unter

    redung mit Diderot folgt - seine Zurückhaltung aufgibt und seinerseits eine vitalistische

    Weltkonzeption entwirft. Als indirekten Gesprächspartner hat d Alembert seine Geliebte

    Mlle

    de

    L Espinasse, für die seine Äußerungen allerdings zunächst völlig konfus sind und

    die daher - in Sorge um seinen Geisteszustand - noch den Arzt Bordeu herbeiholt. Bor

    dcu übernimmt die Funktion, die Traumfragmente, die Mlle de L Espinasse aufgezeichnet

    hatte, ihr gegenüber verständlich zu machen, so daß sie auf diese Weise an den im Traum

    gewonnenen Einsichten d Alemberts teilhat und sie schließlich selbständig weiterentwik

    kelt, bis hin zu den im dritten Teil gezogenen moralischen Folgerungen. Dieser Ge

    sprächskonstellation, die dahingehend zu schematisieren wäre, daß d Alembert die Einheit

    von Welt und Materie träumt, Bordeu sie erklärt und Mlle de L Espinasse sie- mit zuneh

    mender Selbstbeteiligung - versteht, _kommt unter ästhetischem Gesichtspunkt eine

    Schlüsselfunktion zu. Sie erhellt nämlich, daß weder die argumentativen Bemühungen

    noch

    die

    Traumvision für sich genommen eine adäquate und das heißt in der Aufklärung

    allemal eine vermittlungsfähige Einsicht in die Beschaffenheit der Welt zu sichern vermö

    gen, daß vielmehr erst das Ineinandergreifen von Traum und Ratio zu dem erstrebten Ziel

    hinführt. Traum und Ratio aber - und ihre wechselseitige Notwendigkeit - stehen in Ana-

    logie zum Gegenstand der durch sie beförderten Einsicht: Indiziert der Traum

    als Me-

    dium der Erkenntnis, daß eine mechanisch-rationalistische Auffassung der Welt unzurei

    chend ist, so liegt in der rationalisierenden Argumentationsform Bordeus ein gewichtiges

    Korrektiv gegenüber den Tendenzen zu einem mystifizierenden Vitalismus, wie er sich in

    d Alemberts Traummonolog ankündigt. Kerngedanke dieses Monologs ist eine zyklische

    Lebensauffassung, von der her die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten des

    Lebens, ja am Ende selbst die zwischen

    tot

    und lebendig sein, aufgehoben wird: •Jedes

    Tier ist mehr oder weniger Mensch, jedes Mineral mehr oder weniger Pflanze, jede Pflanze

    mehr oder weniger Tier. In der Natur gibt es nichts Endgültiges [

    e

    (Band I,

    S.

    538;

    rEuvres philosophiques,

    S. 311). Isoliert betrachtet deutet dieser Monolog - nicht zuletzt

    durch seine hymnische Form -

    auf

    ein Abrücken von dem Weg, den die modernen Natur

    wissenschaften seit dem Ausgang der Renaissance beschritten hatten.

    War

    nämlich die

    Naturphilosophie der Renaissance noch von Ganzheitsvorstellungen bestimmt und war

    ihr Erkenntnisstreben noch darauf gerichtet, die einheitsbildenden Kräfte der

    Welt

    zu er-

    fassen, so beschränken sich die Naturwissenschaften im Anschluß an Descartes zuneh

    mend auf die Aufgabe, eine mechanisch bestimmte Fixierung der Wdt nach Klassen und

    Arten zu erreichen woraus sich schließlich der Verzicht

    auf

    Wesenserkenntnis überhaupt

    ergeben sollte: D i ~ in der Renaissance substantialistisch gestellte Wahrheitsfrage wird in

    der Modeme durch operationalisierbare Hypothesenbildungen abgelöst.

    Vor diesem Hintergrund nun fällt auf, daß die Hauptintention von D Alemberts Traum

    offensichtlich darin liegt, die vitalisierte :Materie wiederum so zu interpretieren, daß sie zu

    einer ganzheitlichen Antwort auf gleichsam alle Fragen der Welt und des Lebens wird.

    Dieser offenkundigen Resubstantialisierung wirkt aber entgegen, daß dieser Monolog in

    einen witzig argumentativen und wissenschaftlich hypothetisch verlaufenden Dialog zwi

  • 8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung

    9/23

    21

    Roland Galle

    sch n Bordeu und Mlle de L'E pinasse einges hachrelt ist,

    damit

    aber auch

    di

    e Vision

    d Alembert parrialisierc , v r allem perspekrivisch

    gebro

    chen wird.

    In dieser Brechung aber gewi

    nnt

    die zunächst

    obsolet

    erscheinende

    Re

    substantialisie

    run für den heurigen

    Le

    er eine besondere Aktualität : ie wird nun nämlich zur Auffor

    derung außer dem me hanischen auch das hyporheri eh operarionalisierende Wissen

    chaft ver tändnis zwar nicht preiszugeben wohl aber in seiner Defizienz - als Verzicht

    auf

    die Dimension ganzheitlicher Fragestellungen - wieder wahrzunehmen. Als weitrei

    chend te Funktion des

    Did

    ero t hen Dialogs zei

    hnet

    sich

    damit

    ab, d

    durch diese Dar

    tel ungsform lineare

    Fort chritt

    konzepte problemati iert

    und ei

    n verkürzter Aufklä-

    rung begriff überwunden wird.

    Die nahezu irritierende

    Kluft

    , die trotz zeitlicher ähe,

    D A/emberts Traum

    von der

    hrift Supplement

    au

    vovage

    de

    Bo11gain

    vi

     L

    e

    ( achrrag zu Bougainvilles Reise,

    1796)

    zu

    trennen scheint, kann ein wenig überbrückt werden, wenn man sich die durchaus ver

    glei hbare pannung vergegenwärtigt, die in beiden

    Werken

    zwischen

    Mon

    olog und Dia

    log besteht. Entstanden ist der

    ach

    trag B

    o11ga

    invi/Les R

    eise -

    eine der bedeutendsten

    kulturkritischen chrifren der Aufklärung - aus einer Rezensio n, die Did eror zu einem

    zeitgenössi eben Be t eller Bougainvilles, des en Thema die Eindrücke ei ner W eltumsege

    lung aus den Jahren 1766-1769 waren, für die » orrespondance litterai re« sein

    es

    Freundes

    Grimm

    geschrieben hatte. In der literarischen

    Ausführun

    g dieser Be

    sp

    r

    echung

    dem

    ach-

    t

    ra

    g

    also wird die Fiktion vermittelt, daß wesentliche Teile, nämlich die große Rede eines

    seherhaft auftretenden Eingeborenen sowie das Gespräch zwischen einem chiffskaplan

    und einem

    ei

    ngeborenen Familienvater,

    auf

    dem

    authentischen

    Beri

    cht

    Bougainville

    be-

    ruhten und daß lediglich die beiden Rahmenkapitel , in denen

    A. und

    B. kommentiere

    nd

    e

    Diskussionen über das Verhältnis von

    atur und

    Zivilisation führen, gleichsam euro

    pä-

    ische Zugaben seien. Diese fiktionale Authentifizierung des upplement ist deswegen so

    wichtig weil durch sie d

    ie

    Funktionen von Mon olog , kontrastivem und schließ lich auch

    problemari ierendem Dialog in besonders reiner Form hervortreten.

    Die große Verdammung rede des

    Alt

    en, mit der dieser sein Volk vor den europäischen

    Eindringlingen warnt, ist durch eine Seguenz von Gegensatzpaaren bestimmt , durch die

    die

    Welt

    der Eingeborenen jeweils als beispielhaft gegen die depravierte Welt der Europä

    er abgesetzt wird. D

    as

    grundlegends te dieser Ge

    ge

    nsa tzpaare bezieht sich auf die natür

    lichen und die kün srlichen Bedürfnisse. Die D egenerieru ng Europas beruhr demnach vor

    allem darauf, daß das Maß an Bedürfnisbefriedigung, wie die arur

    es

    vorgeschrieben hat,

    durch die zivilisarorische Entwicklung au dem Blickfeld ge raten ist und dieser Orientie

    rungsverlust -

    auf

    kollektiver und auf individueller Ebene - phys ische und psychische Un

    ordnung hervorgerufen

    hat

    : Einerseits seien

    dur

    ch den individuellen Anspruch

    auf

    B

    es

    itz

    und die sich daraus ergebende Bedürfnisexplosion

    Kri eg

    und

    Zerstörung

    entstanden,

    an-

    dererseirs habe das Verbor freier Sexualirär Reu e, Angsr und schlechtes Gewissen al

    Si-

    gnale innerer

    Zerrüttung

    hervorgebracht.

    Die

    sem Urreil des Alren lieg t ei n regulariver

    aturbegriff zugrunde, der von dem Ursprünglichkeirsparhos der Aufklärung - als einem

    ihrer wesentlichen Impulse - herrührt und nun von Dideror dem vorgeblich aurhenti

    schen Propheten von Tahiri in den Mund gelegt wird. Daß nun aber ein normatives a-

    rurkonzept rousseauistischer Prägung, demzufolge der »

    pur

    insrincr de

    Ja

    nature« CEttvres

    phi/01ophiq11es,

    S.

    466)

    zur Richrschnur allen menschlichen Handelns erhoben zu

    w r ~

    verdient, in der Form des appellativen Monologs vorgetragen wird , weisr diese Posirion als

    Dideror - oder die Dialogisierung der Aufklärung

    219

    Eine zentrale Rolle in der ko

    ll

    ekriven Phanra ·ie des l Jahrhunderrs nimm r der bon sauvage , der

    gu re \Xli

    ld

    e ein. Di e ß erichre der Enrdecku ng reisenden und die Zivili arion müdig · cm al

    ten Konri nenr b efördern die Vorstellung eines repre sion freien narurbezogenen und harmoni chen

    Lebens auf Tahiti . Begründer wird damir der »Ta hici-M •rho s«, der bi in un ser Jahrhunderr hinein

    immer wieder als Proresr

    gegen

    die europäi chen Leben formen wachgerufen worden i

    r.

    W oh l nie

    mand har ihn o lebendig gehalren wie Gauguin. H ier sein Bild :

    »

    fädchen

    mit

    Mangoblüren«.

  • 8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung

    10/23

    220

    Roland Galle

    eine perspektivische Zuspitzung aufklärerischer Weltaneignung aus, bei der Diderotes_

    wie ansonsten - auch in diesem Werk nicht bewenden läßt. . · ·

    Zunächst . reilich sieh t es so aus, als habe das dem Monolog des Alten folgende

    Ge

    spräch zwischen dem Schiffskaplan und dem eingeborenen Familienvater lediglich die

    Funktion, die These über die normative Gülti gkeit der Natur zu belegen und zu verdeut

    lichen. Am bündigsten spricht dafür die wegen ihrer Anschaulichkeit so berühmte Ein

    ~ n g s s z e ~ e in der die ~ e l t der E i n g e b o r e ~ e n und die der Europäer auf besonders sugge

    stive Weise dadurch m1temander konfrontiert werden, daß der Gastgeber seine Frau

    und

    seine drei Töchter, alle nackt, dem Kaplan zuführt und ihn auffordert, sich für die Nacht

    diejenige auszusuchen, die ihm am besten gefalle, der Kaplan aber antwortet, »seine Reli

    gion, sein Stand, die guten Sitten und die Ehrbarkeit erlaubten ihm nicht, solche Angebo

    te anzunehmen« (Band II S. 210; CEuvresphilosophiques,

    S.

    475).

    Dieser Einleitung gemäß wird im weiteren die Kontrastierung der beiden Welcen

    so

    fortgeführt, daß restriktive Verhaltensregeln der europäischen Zivilisation - die eheliche

    Treue, das Inzesccabu, aber auch die Begründung von Aut ori tät - der Lächerlichkeit preis

    gegeben werden, indem sie jeweils am Prüfstand der Natur, der »souveraine maitresse«

    CEuvres philosophiques, S. 476), gemessen und von daher ihrer Willkürlichkeit überführt

    werden. Wichti ger als diese mehr explikative For tführung des ersten Teils ist aber, daßim

    Rahmen der erläuternden Dialogisierung die These von der normativen Verbindlichkeit

    der Natur ihre appellative Funktion, die sie im Monolog des Alten innehatte, verliert

    und

    zunehmend

    zu

    einem utilitaristischen Vorschlag für die Bewältigung sozialer Probleme

    ausdifferenziert wird:

    Kaplan: Aber welches von all den Kindern, die du außerhalb deiner

    Hütte

    gezeugt haben

    magst, fällt dir zu?

    Oru:

    Das vierte, ganz gleich, ob Junge oder Mädchen. Bei uns ist eine Zirkulation

    von

    Männern, Frauen und Kindern, aber auch von Fäusten und Armen jeglichen Alters und

    B_erufes entstanden, die eine ganz andere Bedeutung hat

    als

    die Zirkulati on von Waren,

    die nur

    das

    Produkt der Arme und Fäuste sind.

    Kaplan:

    Ich verstehe. Welche Bewandtnis hat

    es mit

    den schwarzen Schleiern die mir zu-

    weilen auf efallen sind?

    Oru: Ein Kennzeichen der Unfruchtbarkeit, sei sie nun die Folge eines Geburtsfehlers oder

    v o r g e ~ c k t e n

    Alters. Die Frau, die diesen Schleier ablegt und sich unter die Männer

    mischt, gil t als unzücht ig; der Mann, der diesen Schleier lüft et und sich derUnfrucht

    baren nähert, gilt ebenfalls als unzüchtig (Band II,

    S.

    220f.; CEuvres philosophiques,

    S. 494).

    Indem also unter dem V ~ r z e i c h e n

    des

    Naturbegriffes ein in sich bündiges regulatives

    Verhal

    t e n s s y ~ t e m entw?rfen wird, als dessen Fluchtpunkt sich schließlich die Verbesserung der

    e u g e r u s ~ h e n B e ~ m g u n ? e n herausstelle, verändert die dialogisierende Ausformung den Na

    t ~ r b e g n f f

    auch

    1nhal_thch:

    Bildet er im Monolog des Alcen im wesentlichen eine hypothe

    tische Denkfigur, die vor allem zu einer vernichtenden Kritik der europäischen Gesell

    s_chaft führte,. s ~ ü ß t er d.urch

    _die

    Konkrerisierung im Dialog einen Teil seines ursprüng

    lichen Negattvitatspotennal s em, provoziert seinerseits beim Leser Widerstände - auch

    und. gerade, wenn der Kaplan sie nicht einbringt - und gi bt damit eine differenziertereRe

    flexion auf

    das

    Verhältnis von Natur und Zivilisation frei.

    Didcrot - oder die Dialogisierung der Aufklärung

    221

    Eine solche erweiterte Reflexion dokumentiert das abschließende Gespräch zwischen

    A.

    und B., wie schon die eher beiläufige Kommentierung der Eifersucht zeigt, die sich

    im

    Rahmen einer umfassenden Kritik an zivilisationstypischen Verhaltensweisen findet:

    A Und die Eifersucht?

    B: Die Leidenschaft eines bedürftigen und gierigen Tiers, das fürchtet, entbehren zu müs

    sen; ein Gefühl, das des Menschen nicht würdig ist; eine Folge unserer falschen Sitten

    und der Ausd ehnung des Eigent umsrechts au f einen freien, empfindenden, denkenden

    und wollenden Gegenstand.

    A Also existiert die Eifersucht - Ihrer Ansicht nach - nicht in der Natur?

    B:

    Das behaupte ich nicht. Laster und Tugend, alles existiert gleichermaßen

    in

    der Natur

    (Band 11 S. 230; CEuvres philosophiques, S. 507).

    In seiner ersten Entgegnung führt B. eine Analyse der Eifersucht auf der Grundlage eta

    blierter Aufklärungspositionen durch, indem er normativ die Würde des Menschen be

    tont, kritisch die europäischen Sitten relativiert und intellekcuell-analytisch einen Bezug

    zwischen europäischen Besitzverhältnissen und sozio-psychologischen .Mechanismen her

    stellt, womit er gleichsam eine rationalistische Applikation der pathetisch vorgetragenen

    Position des Alcen vornimmt. Die Pointe der herangezogenen Stelle liegt nun aber darin,

    daß diese Analyse, die durchaus auf der Höhe aufklärerischer Reflexion liegt, eine dezi

    dierte Schlußfolgerung für die Beziehung zwischen Eifersucht und Natur nahelegt, die

    von

    A

    auch formuliert, überraschenderweise von B. aber nicht geteilt wird. Mit seiner

    Weigerung, die von A. gefolgerte Trennung von

    Natur

    und Eifersucht zu bekräftigen,

    macht B. den Dialog zu einem Instrument, kurzgeschlossenen Ergebnissicherungen auf

    klärerischer Denkbewegung entgegenzusteuern und also eine Komplexität festzuhalten,

    die - ohne der Analyse selbst im Wege zu stehen - reduktionistische Folgerungen zu ver

    hindern vermag.

    In welchem Maß diese Doppelbewegung den von A. und B. geführten Gedankengang

    des Schlußteils konstituiert, zeigt sich sehr deutlich auch in zentralem Zusammenhang:

    Nachdem B. in ausführlichen Analysen die Legitimation politischer Machtausübung be

    stritten und deren pervertierende Folgen angesprochen hat, stellt A. die Gretchenfrage, ob

    denn nun der Zustand der rohen und wilden Natur der Zivilisat ion vorzuziehen sei. Er er

    hält von B. aber nur eine ausweichende Antwort, die schließlich noch durch einen refor

    mistischen Vorschlag für die politische Praxis ergänzt wird. Entscheidend ist wohl we

    niger, wie im einzelnen Diderot dieses reformistische Modell gedacht hat, als vielmehr der

    Umstand, daß die im Monolog des Alten und partienweise auch in der kontrastiven

    B e ~ e g -

    nung zwischen Oru und dem Kaplan angelegte Hypostasierung der Natur gerade mcht

    als Ergebnis des Textes eingebracht wird. Diese monologische Botschaft wird vielmehr in

    dem Sinne dialogisiere, daß sie schließlich

    als

    eine Option der Aufklärung, nicht

    als

    deren

    Summe erscheine. Optionen aber, als monologische, werden fruchtbar erst dadurch, daß

    sie

    dialogisch angeeignet, und

    das

    heißt - so könnte wohl der Schlußteil gedeutet werden

    -

    einer relativierenden Problematisierung unterzogen werden.

    Unter dem Stichwort der Problematisierung sei zumindest noch auf ein Werk hinge

    wiesen, das die dialogische Auseinandersetzung mit einer programmatischen. P o ~ i t i o ~

    de r

    Aufklärung schon im Titel anzeigt und dann sehr detailliert ausführt. Gememt ist dieRe-

  • 8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung

    11/23

    222 Roland

    Galle

    /111tttion suivie de

    l'Ouvrage d Heldtius intitrdf »L

    Homme«

    (Fortlaufende Widerlegung

    von

    Helvctius \V erk »Vom J\fenschen«), 1773- 1775 ent standen , erst 1875 in der Diderot

    Ausgabe von Assczat veröffentlicht, cine Are kommentierender Dialog mit dem Werk,

    das man als »Fibel des .Materialismus« bezeichnen kann. Diderots Abhandlung verfolgt

    hier nun wiederum das Ziel, die vereinfachenden Schematisierungen des Helvetius zu

    durchbrechen und für die anthropologische Diskussion der Aufklärung eine Komplexität

    zurückzugewinnen, die r durch die Übertragung der Gesetze der Mechanik auf die Lehre

    vom Menschen verspielt sah.

    Wichtiger noch

    als

    die Auseinandersetzung

    mit

    Helvctius ist wohl der

    Seneca-Essay,

    ein

    recht unterschiedlich bewerretes Spätwerk aus den Jahren 1778-1782, das noch Rosen

    kranz kaum der Erörterung für würdig befand, das in jüngster Zeit aber sehr an Reputa

    tion gewonnen hat und sogar mit Rousscaus Confmions (Bekenntnisse, postum erschienen

    1782-1789) verglichen worden ist. Angeregt wird der Vergleich mit den Confessions durch

    den Umstand, daß Diderot in den Seneca-Essay eine scharfe Abrechnung mit Rousseau

    ein-

    geflochten hat, dessen befürchteten Indiskretionen und Schmähungen aus dem nur ge-

    rüchtweise bekannrgewordenen zweiten Teil der Confessions er zuvorkommen wollte.

    Maß-

    geblicher ist aber, daß ein solcher Vergleich geeignet ist, die unterschiedliche künstleri

    sche Darstellungsweise der ehemaligen Freunde scharf hervorzuheben: Ist in den

    Confes

    siom die Sammlung von Weltaneignung in der einzig wichtigen Perspektive monologi

    scher Selbsterfahrung gestaltet, so objektiviere Diderot die Summe seines Weltbezugs in

    einer Apologie des Seneca, die ihm bei aller Neigung zur Identifikation mit seinem Hel-

    den gleichwohl für eine am Anderssein reflektierte Selbstporcrätierung Spielraum und Di

    stanz einräumt.

    Wahrend Rousseaus Selbstverteidigung mit einer Weltverkü rzung zusammenfällt, die

    schließlich im Verfolgungswahn kulminiere, aktualisiert Diderot die Apologie des

    Seneca

    durch ein facettenreiches Gemälde des alten Rom gewinnt also seine Argumente zur

    Ver-

    teidigung des Seneca gerade von einer Wirklichkeitsauffaltung her und kann seine Haupt

    gegner, diejenigen nämlich, die Seneca in unterschiedlichsten Zeiten selbstgerecht verur

    teilt haben, der Engstirnigkeit und Beschränktheit überführen. Eingelöst finden wir damit

    aber nc >ch einmal die Funktion des Dialogs, die sich - wie wir gesehen haben - zuneh

    mend in Diderots philosophischem Werk herausgebildet hat u nd die am bündigsten

    viel-

    leicht als Perspektivenerweiterung zu kennzeichnen ist oder, negativ formuliert, als die

    Abwehr aller apodiktischen und reduktionisti schen Denk- und Urceilsprozesse.

    Zum

    ästhetischen

    Werk

    Die

    untersuchten Stationen von Didero ts philosophischem

    Werk

    konnten als Formen der

    Dialogentfaltung gelesen werden: Von der nur rhetorischen Funktion einer unselbständi

    gen Gegenstimme, wie sie sich in einzelnen Stücken der Philosophischen

    Gedanken

    artiku

    liere führte uns der

    Weg

    über eine zunehmende Konturierung des Gegenüber zur schließ

    lichen Gleichrangigkeit der Dialogpartner, die sich im

    Blindenbrief

    abzeichnete und in

    D'Alemberts Traum konstitutive Bedeutung gewann. Diese potentielle Gleichrangigkeit

    der Partner fiel mit einer perspektivischen Brechung zusammen, aus der eine neuartige

    Aktivierung des Lesers folgte, was außer an

    D'Alemberts Traum

    auch am

    Nachtrag zu

    Bou

    gainvilles ise gezeigt werden konnte.

    Dideror - oder die Dialogisierung der Aufklärung

    223

    Dieser neuartige Gebrauch des Dialogs bezeichnet Diderots zentralen Beitrag zur Auf

    klärung: Mit Hilfe der dialogischen Gestaltung pointiert

    r

    den antimetaphysischen Impe

    tus seiner Zeit, indem er ehemals vorgegebene Wahrheiten entsubstantialisiert und so ver-

    deutlicht, daß der neue Wahrheitsbegriff als ein - sich wandelndes - Resultat intersubjek

    tiven Bemühens zu verstehen ist. Dieses Ergebnis erscheint geeignet, den Übergang vom

    traditionellen zum modernen Weltzugang auf prägnante Weise zu kennzeichnen. Beruht

    die traditionelle Weltaneignung - wie vermittelt auch immer- auf einer mit Totalitätsan

    spruch ausgestatteten autoritativen Setzung, so markieren die Diderotschen Dialoge den

    Umstand, daß moderne Weltaneignung perspektivisch gebrochen und jeweils partial sich

    vollzieht. An die Stelle einer substanzhafren Wahrheit tritt ein per se unabschließbarer

    und kommunikativer Prozeß der Wahrheitsfindung.

    Dieser Prozeß hat sein für die Entwicklung der modernen Kunst gewichtiges Seiten

    stück darin, daß Diderot den Dialog - als Prinzip ästhetischer Gestaltuni- auch dazu ein

    setzt, die Geschlossenheit überkommener Erzählformen paradigmatisch aufzulösen, die

    durch Anfang, Mitte und Ende bestimmte teleologische Fabelstruktur zugunsten eines

    .be-

    liebigen Anfangs und eines beliebigen Endes zu verabschieden und somit in der dialogi

    schen Erzählform jene strukturelle Offenheit zu fundieren, die die traditionelle Trennung

    von Fiktion und Wirklichkeit gegenstandslos macht. Damit begründet sie den wohl er

    sten Höhepunkt einer epochalen und für die Modeme höchst wichtigen Tradition, in der

    Kunst

    d a s ~ a t h o s

    ihrer Selbstbestimmung daraus gewinnt, daß sie für sich in Anspruch

    nimmt, die Ernsthaftigkeit von Wirklichkeitserfahrung in sich aufzunehmen und womög

    lich zu überbieten.

    Wie

    wichtig die vor diesem Hintergrund zu sehende dialogische Form auch für Dide-·

    rots ästhetisches Werk ist,

    geht

    schon daraus hervor, daß die entscheidenden Stationen

    seiner kunsttheoretischen Konzeption, die

    Entretiens

    sur le Fils nature/ {1757; Unrerhal

    tungen über den natürlichen Sohn - deutsch publiziert unter dem Titel »Dorval und

    Ich«), Le Paradoxe sur le comMien (Das Paradox über den Schauspieler, entstanden 1773)

    und die Salom (Kunstausstellungsberichte, 1759-1781) _dialogisch oder q u a s i d i a l ~ g i s c h

    verfaßt sind, sich zu diesen Werken zwar mehr traktathafre Gegenstücke finden wie der

    Discours

    sur

    la poesie dramatique (Von der dramatischen Dicht kunst, 1758) und die Essais

    sur la peinture (Versuche über die Malerei, 1766)

    5

    ,

    auf

    deren Behandlung hier aber verzich

    tet werden kann, da sie an Originalität und Bedeutung hinter die dialogisch verfaßten

    Werke zurückfallen.

    In

    ihnen nämlich hat Diderot seinen Beitrag zur Ästhetik des 18.

    Jahrhunderts in der unverwechselbar ihm eigenen Diktion eingebracht.

    Ex

    negativo zeigt die Bedeutung der dialogischen Präsentarionsform der Artikel

    Recher

    ches philosophiques

    sur

    l'origine et la

    nature du

    beau

    (Philosophische Untersuchungen über

    den Ursprung und die Natur des Schönen), der

    1751

    im ersten Band der

    Enzyklopädie

    er

    schien und im folgenden

    Jahr

    von Diderot separat veröffentlicht worden ist. In Fortfüh

    rung von Crousaz und Andre, in Auseinandersetzung mit Hutcheson und Shafresbury

    stellt sich Diderot dem für die Ästhetikdiskussion des

    18.

    Jahrhundem zentralen Pro

    blem, inwieweit die konkurrierenden Ansprüche von Subjektivität und Objektivität in

    eine Bestimmung des Schönen gemeinsam eingebracht werden könnten. In seinem Bemü

    hen, eine psychologisierende Verkürzung seines Gegenstandes ebenso zu vermeiden wie

    die klassizistische Gleichsetzung von Wahrheit und Schönheit, findet Diderot zu der

    fol-

    genden Formulierung:

    \

  • 8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung

    12/23

    224

    Roland Galle

    »J'appelle donc

    beau hors de moi,

    tout ce qui contient en soi de quoi rC:veiller dans mon

    en

    tendement l idC:e de rapports; et beau

    par

    rapport amoi,

    tout

    ce qui

    rC:veille

    cette idC e«

    CE11t1res esthftiqrm,

    S.

    418).

    (Als »Schönes außer mir« bezeichne ich also alles, was in sich irgend etwas hat,

    das in

    meinem Verstand die Idee von Beziehungen zu erwecken vermag, und »Schönes in Bezie

    hung auf mich« nenne ich alles, was diese Idee in mir erweckt .Asthetische

    Schriften,

    Band I,

    s

    120.)

    Berühmt geworden ist diese Bestimmung vor allem deswegen, weil Diderot mit ihr die

    traditionelle Konzeption, daß die Schönheit eine metaphysische Qualität sei, aufgibt

    und

    sie nun als das Ergebnis von Beziehungen faßt. Nachdem er aus einer anthropologisch

    be

    gründeten Mangelsituation die Universalität der zentralen Kategorie »Beziehung« abgelei

    tet, diesen Begriff als Einheit von Anordnung, Symmetrie, Proportion und Übereinstim

    mung fundiert und somit seine sensualistische Ausgangsposition auf durchaus eigenstän

    dige Weise entworfen hat, eröffnet er selbst die verwirrende Kommentierungsgeschichte

    seines angeführten Kernsatzes, indem er die Vorste llung eines »beau absolu« (eines abso

    luten Schönen) zwar abweist, zugleich aber die eines »beau red«

    (eines

    gegenständlichen

    Schönen),

    das

    unabhängig von der Wahrnehmung des Rezipienten bestünde, durch einen

    Verweis auf die Fassade des Louvre zu retten versucht. War

    es

    Diderots Absicht, mit sei

    nem Definitionsvorschlag die Disjunktion von Subjektivität und Objektivität in bezug

    auf das Schöne zu überwinden, so gelingt ihm dies bezeichnenderweise nur in der völlig

    formalisierten Kerndefinition. Schon mit seiner

    eigenen

    Erläuterung fällt er - wenn dabei

    auch gleichsam am Rande so wirkungsmächtige Konzeptionen wie die des »beau

    a p e r ~ u «

    (des wahrgenommenen Schönen) und vor allem die des »beau relatif« (des relativen Schö

    nen) profiliert werden - in die ungelösten Probleme seiner

    Zeit

    zurück.

    Hat

    Diderot in

    der Erläuterung seines sensualistischen Ansatzes vornehmlich Klassifizierungsschemata

    und analytische Differenzierungsmuster eingebracht, die offenkundig der noch metaphy

    sisch orientierten Kunsttheorie des

    17.

    Jahrhunderts entlehnt sind, so wird dadurch der

    Umstand konturiert, daß er in seinem späteren Werk eine diskursiv-analytische Eingren

    zung des Schönen nicht fortgesetzt hat, vielmehr konkreter Kunsterfahrung, wie sie sich

    für ihn am Theater, an der Schauspielkunst und an den Gemäldeausstellungen entzün,det,

    Gestalt gibt. Erreicht wird diese Konkretisierung vor allem durch die dialogische Form.

    Als Dialog ist denn auch Diderots erste theatertheoretische Schrift verfaßt, die

    Entre-

    tiens sur l Fils nature/. Dorval und Moi erörtern in diesen Unterredungen anhand

    des zuge

    hörigen Stückes Le Fils

    nature

    Der natürliche Sohn,

    1757)

    Grundprinzipien des Theaters

    in der Art, daß Mai in wesentlichen Teilen traditionsorientierte Fragen und Einwände

    for

    muliert, der dominante Dorval aber im Gegenzug das Umfeld einer neuartigen Theater·

    konzeption entwirft, die

    als

    »tragcdie domestique« und »genre

    sC:rieux«

    für die theater

    haften Ausdrucksformen des Bürgertums konstitutive Bedeutung gewinnen sollte. Der

    Dialog zwischen Dorval und Mai wird dabei zum Mittel dafür, die neue Theaterposition

    kontrastiv einzuführen und besonders wirkungsvoll dadurch zu präsentieren, daß erwart·

    bare Einwände des Publikums von Moi antizipiert, von Dorval ausführlich beantwortet

    und als neuer Konsens durchgesetzt werden können. Ein deutliches Beispiel bietet das

    Plä-

    doyer Dorvals für das, was

    r

    als »tableaux reels• bezeichnet: .

    Dorval: Ich meinesteils glaube, die Bühne müßte dem Zuschauer, wenn ein dramatisches

    i

    i

    1

    1

    '

    1

    \

    Diderot -

    oder

    die Dialogisierung

    der

    Aufklärung 225

    Werk gut gemacht und

    gut

    aufgeführt würde, ebensoviel wirkliche Gemälde (tableaux

    reels) darstellen, als brauchbare Augenblicke für den Maler in der Handlung vorkom

    men.

    Jch:

    Aber die Wohlanständigkeit [deccnce] Die Wohlanständigkeit

    Dorval: Ich höre nur i mmer dieses Wort wiederholen. Barnwells Geliebte kommt mit

    zer

    streuten Haaren [echevclce] in das Gefängnis ihres Geliebten. Die zwei Freunde umar

    men

    sich und werfen sich zur Erde. Philoktct wälzte sich ehemals vor dem Eingange

    seiner Höhle. Sein Schmerz brach in ein unartikuli ertes Geschrei aus. [ Wie? die

    Aktion einer Mutter, deren Tochter man opfern will, sollte heftig genug sein können?

    [ .. J

    Die wahre

    Würde,

    die mich einzig und. allein

    r . ü h r e ~ ,

    die

    ' . 1 1 i c ~

    n i e d e r s c ~ l ä g t

    [celle

    qui me frappe}, ist das Gemälde der mütterlichen Liebem all ihrer Wahrheit (Band 1,

    S.

    173f.;

    (Euvres esthetiques,

    S.

    90).

    Kennzeichnend für das Ungleichgewicht der Gesprächspartner ist vor allem, daß die Posi

    tion der Klassik zu einem Schlagwort erstarrt ist und ihr dementsprechend in diesem Dia

    log auch nur noch eine negative Kontrastfunktion zukommt. Dorval hat von daher d ~ e

    Chance, die Konturen des von ihm angestrebten Theaters ungebrochen zu entwerfen. it

    den drei von ihm evozierten Szenen aus Lillos

    London Merchant

    Der Kaufmann von Lon

    don,

    1731),

    Sophokles'

    Philoktet

    (4()C) v. Chr.)und Racines Iphigenie

    (1674)

    zieht er Szenen

    aus völlig unterschiedlichen Theaterepochen zum Nachweis für seine These zusammen,

    daß die klassischen Regeln über die »bienseance« (Schicklichkeit) zu einer A u s t r o c k ~ u n g

    der theatralischen Möglichkeiten geführt hätten, die wiederzubeleben als das allgememste

    Ziel dieses Theaterentwurfs bezeichnet werden kann.

    Der Impetus, von dem aus die angeführten Beispiele integriert werden: darf in

    der.

    Pro

    pagierung einer neuen Natürlichkeit gesehen werden, die sich zunächst e ~ n m a l n e g ~ u v

    als

    Gegenbild zu zentralen klassischen Prinzipien b e s t i m m ~ n l.äßt:

  • 8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung

    13/23

    226

    Ro

    land

    Galle

    Dieses Aquarell von Ziezenis stellt die Schlußsze ne

    von

    Diderots D ra ma »Le Pere de fami

    lle«

    da

    r

    Es

    häh die emotion erfüllte Dramatik fest, die - z

    wi

    sc

    hen drohe

    nd

    er K atast

    ro ph

    e und schließl ich

    harmonischer Auflösung - ihren Au cragungsort im neuen Zenrrum der Gefühlswelt,

    in

    der Fami

    lie

    , hat. Angesicht der ähe , die zur Thematik und zur inne

    ren

    Beweg

    un

    g der

    Bild

    er e

    ines Gr

    euze

    bestehe wird

    deurlich,

    daß

    hier

    ver

    schiedene Kunstformen

    ein

    en geme

    insa

    men Be

    zu

    gs

    punkt

    ge

    fun

    den haben.

    alltagsnahen, emotionserfüllten und

    ge

    neralisierbaren Szene zum Identifikationsangebot

    verdichtet ist.

    Ihre epochale Wirkung hat die auf dieses Identifikationsangebot zielende Theatertheo

    rie Diderots wohl nicht zuletzt dadurch erreicht, daß sie dialogisch vorgetragen wird , und

    zwar in einer Fiktion neuer Art, die wahrer als die konventionalisierte

    Wirklichkeit

    zu sein

    beanspruchen kann:

    Diderot

    bezeichnet das von ihm gewählte Darstellungsverfahren als

    eine »Art von Roman« Band

    1, S. 275· CE.uvres esthhique

    s S.

    223),

    innerhalb dessen Dorval

    und Moi über ein Stück sprechen, das Dorval verfaßt , bei dessen

    Aufführung

    er mitge

    spielt und dessen als real ausgegebene Vorgeschichte er vor allem miterlebt haben will.

    Dorvals Position, wie er sie in den Entretiens einnimmt, wird somit bereits durch die für

    ihn reklamierten Erfahrungen authentifiziert, und seine persönliche Beglaubigung wird

    da

    durch noch verstärkt, daß er nicht so sehr als ein Theoretiker des

    Dr

    amas auftritr, sondern

    als ein Mensch mit einem neuen Weltbezug, den er in ein neues Theaterkonzept ummün

    zen will. Man könnte, um die Eigenart seines Charakters zu kennzeichnen, von einem sozia

    bilisierten Rousseauismus sprechen, ist doch Dorval ebenso tätiger Schlichter von Fami

    lienzwistigkeiten wie Enthusiast eines neuartigen aturverhältnisses. Entsprechend ist

    auch der von Dorval propagierte Theaterentwurf als

    Modellbildung

    für sozial-empathi

    sches Verhalten zu verstehen. Auf der Insel der Seligen - wie Dorval sie provokativ gegen

    Rousseaus Traum von einem theaterlosen Genf entwirft - feiere man den Sabbat durch

    Theateraufführungen.

    Die

    Zu schreibung solch religiöser Funktionen ans

    Theater

    i t vor

    dem Hintergrund zu sehen, daß das Gefühl und die gefü hlsmäßige Ergriffenheit zu einer

    ·

    Dideror - oder die Dialogisierung d

    er

    Aufklärung 227

    quasireligiösen Signatur der frühbürgerlichen Epoche werden und die Entretiem am ehe

    sten wohl als Gestaltung einer Theatertheorie aus dieser Epochenerfahrung heraus zu ver

    stehen sind.

    Wirkt

    die lneinssetzung von empathischer Welterfahrung und Theatermodell so über

    zeugend, weil sie

    durch

    die Gestalt Dorvals verbürgt ist, so darf daraus noch nicht - wie

    mißverständlicherweise häufig geschehen - auf eine schlichte Gleichsetzung von koncin

    gencer Wirklichkeit und künstlerischer Wirklichkeit des Theaters geschlossen werden.

    Vielmehr -.yeist der »monde reel«, so wie er für eine empathische Wirkungsmöglichkeit

    der

    Kunst gefordert wird, auf einen »ordre de

    la

    nature«, der die ansonsten verborgene Ge

    setzmäßigkeit der

    Welt

    zu enthüllen vermag

    6

    . Ihren konkreten Widerschein hat diese

    moralisch begründete Weltordnung in der gefühlsbezogenen Identitätsfindung des Zu

    schauers, auf die d'as neue Theater hinzielt. Das Pathos, mit dem Theater und Theater

    theorie in das 18. Jahrhundert hineinwirken, rührt denn auch von dem Anspruch her -

    intersubjektiv vermittelt -, durch einen Rückgriff

    auf

    das Gefühl die ansonsten verlorene

    Einheit von elbst und

    Welterfahrung

    noch einmal zu sichern.

    Diese empathische Welterschließung, die übrigens nicht nur den Entretiem , sondern

    auch dem En

    zyklopädie-Artikel

    »Genie« 175 7) und vor allem dem

    Elog

    e

    de Richardson

    Lob Richardsons,

    1762)

    zugrunde liegt, war von Dorval am Beispiel des Schauspielers

    folgendermaßen erläutert worden :

    »Zum Glück wird eine Schauspielerin, wenn auch ihre Beurteilungskraft ganz einge

    schränkt und ihre Einsicht ganz gemein ist , wenn sie nur eine große Empfindsamkeit [sen

    sibi

    lice}

    besitzt, leicht eine Seelenlage erfassen und - o hn e daran

    zu

    denken - den Akzent

    finden, der den verschiedenen Empfindungen gemäß ist, welche hier zusammencreffen und

    die Situation ausmachen, die ein Philosoph mit all seiner Scharfsinnigkeit unzerglieden

    lassen muß« übe rarbeitete Übersetzung: Band I, S. 184; rE uvres esthhiques

    ,

    S. 104).

    In der schieren Umkehrung dieser Position kann das Hauptanliegen des Paradoxe

    S f o ~

    f e

    medien gesehen werden.

    Es

    handelt sich bei dieser Spätschrift, die 1769 als Buchknak für

    die »Correspondance licreraire« entworfen ,

    1773

    in die nahezu

    e n d g ü l t i ~ e

    Fassun? umge

    schrieben, später noch überarbeitet und erst 1830 veröffentlicht worden ist, um e ~ ~ e

    lyse der Schauspielkunst, die an zentralen Stellen auf allgemeine Probleme der Asthetik

    hin geöffnet wird. D as leitmotivischeThema ist die

    Kritik

    der » s e n s i b i l i t e ~ jener G e ~ h l s -

    empfänglichkeit und Gefühlsergriffenheit also, die in den frühen ästhenschen Schnften

    als gemeinsame Basis für Weltverhältnis, Kunstproduktion und -rezeption_ ~ ~ ~ s e t ~ t wor

    den war, nun aber geradezu zum Erkennungszeichen für Mangel

    an

    Gerualitat

    : '1:d .

    So

    schreibt Diderot schon, als er Grimm die erste Fassung, die für die »Correspondance lirteraire«

    also, ankündigt:

    »Hätce ich etwas mehr Sorgfalt walten las en, so würde ich w o ~ l was

    d.ie

    S c h ~ r f s i c h t i g -

    keit betrifft, mein Mei cerwerk geschrieben haben. Es handelt sich .um em. ~ ~ ~ n e s ~ a r a -

    dox. Ich behaupte darin daß eine durchschnittliche Empfindsamkeit [sens1b1lite] mi.ttel

    mäßige eine extrem starke Empfindsamkeit aber au gesprochen schlechte chauspieler

    hervorbringt . Kalter Verstand hingegen und ein klarer Kopf scheinen mir die ~ u n d l a g e

    · _ · ·

    Lt Band I S

    102

    [ubersetzt

    für die erhabenen chauspieler zu sem« vurresponuance

    me

    1 e

    , ·

    von R. G.}) .

  • 8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung

    14/23

    228

    Roland Galle:

    Verdeutlicht wird diese Kritik an der »sensibilite« in einem den Entretiens insofern ver-

    gleichbaren Dialog,

    als

    auch diesmal der eine Gesprächspartner - Le Premier - die gesamte

    Argumentationskraft an sich zieht und der andere - Le Second -  m wesentlichen

    wieder-

    um nur die Bedeutung unterstreichen kann, die der Position des Gegenüber zukommt.

    Diese Darstellungsform wird in einer wichtigen Schlußpassage allerdings dadurch überbo

    ten, daß Le Premier in einen Dialog mit sich selbst eintritt, womit auf eindrucksvolle

    Weise eben die Entzweiung Gestalt gewinnt, die das große Thema des

    Paradoxe

    ist.

    Exemplifiziert wird diese Entzweiung bereits in der Diskussion der beiden Protagonisten,

    vornehmlich am Verhalten des Schauspielers:

    Der

    Erste:

    [ wenn sie [1Hle Clairon, die wohl größte Schauspielerin des 18. Jahrhun

    derts) sich einmal zur Höhe ihres Phantoms erhoben hat, dann hat sie sich in der Ge-

    walt und wiederholt sich ohne innere Bewegung. [ sie ist die

    Seele

    einer großen

    :Marionette [ mannequin

    ],

    in die sie sich gehüllt hat. Die Proben haben die Hülle unlös

    lich mit ihr verbunden. Nachlässig auf einem Ruhebett ausgestreckt, mit verschränkten

    Armen, geschlossenen Augen, unbeweglich, kann sie, während sie aus dem Gedächtnis

    ihrem Traume folgt, sich selbst hören, sehen und beurteilen und kann den Eindruck ab-

    schätzen, den sie hervorrufen wird.

    Sie

    ist in diesem Augenblick ein Doppelwesen:

    die

    kleine Clairon und die große Agrippina.

    Der Zweite:

    Wenn man Sie hört, ist dem Schauspieler

    auf

    der Bühne und bei seinen Proben

    nichts ähnlicher als Kinder, die nachts auf den Friedhöfen Gespenster spielen, indem sie

    ein großes weißes Laken an einer Stange über ihren

    Kopf

    halten und unter diesem

    Ka-

    tafalk schauerliche Laute von sich geben, mit denen

    sie

    die Vorübergehenden

    erschrek-

    ken.

    Der

    Erste:

    Sie haben recht Band II, S. 486;

    CEuvres esthhiqrm,

    S. 308f.).

    Die Abwertung der »sensibilite«, so zeigt dieser Passus, setzt zugleich die Einsicht

    in den

    reflexiven Charakter der Schauspielkunst frei. Dem Begriff des Doppelwesens - eile est dou-

    ble, heißt

    es

    im Original -

    kommt

    für die These, wie Le Premier sie vorträgt und vertritt,

    insofern zentrale Bedeutung zu, als in diesem Begriff die im gesamten Text immer wieder

    variierte Vorstellung von der reflexiven Beherrschung, mit der der Schauspieler seine

    Rol-

    le handhabt, gleichsam zusammengefaßt ist.

    Wenn

    es später, provokativ, heißt, der Schau-

    spieler sei wie ein ungläubiger Priester, der über die Leidensgeschichte Jesu predigt, wie

    ein falscher Bettler, der demjenigen flucht, der ihm nichts gibt, wie eine Kurtisane, die

    vorgibt, vor Lust zu vergehen, ohne doch irgend etwas zu empfinden, so wird dabei stets

    dieser Doppelcharakter vor Augen geführt, die Souveränität betont, die den Schauspieler

    von seiner Rolle trennt; zugleich wird aber auch die ganz wesentliche Aufwertung einer

    und

    sei

    es amoralischen lntellektu alität beleuchtet, die - erstmals wohl in dieser Schärfe -

    als

    Voraussetzung künstlerischer Produktion betont wird.

    Sollte in den Entretims, vor allem durch die Person Dorvals, die postulierte Einheit von

    Welterfahrung, Dramenproduktion und Theateraufführung beglaubigt werden, so revo-

    ziert Le Premier im Paradoxe eben diese Einheit. Indem er verfügt,

    es

    gebe »drei Modelle:

    den Menschen der Natur, den Menschen des Dichters und den Menschen des Schauspie·

    Iers«

    Band II, S. 534;

    CEuvres

    esthetiques, S. 376) setzt er sich darüber hinaus von dem im

    früheren Werk begründeten Illusions- und Nachahmungsbegrif f ab und wertet mit der

    In-

    tellektualität zugleich die Imagination auf. Das Phantom der Mlle Clairon, die Gespen-

    Didcror- oder die Dialogisierung der Aufklärung

    229

    sterstaffagen, mit denen die Kinder sich ausrüsten, die nun angeführte Trennung der drei

    Modelle, all dies signalisiert einen erheblichen Terraingcwinn von Phantasie- und Einbil

    dungskraft dem früheren Nachahmung smodell gegenüber, deutet an, daß Kunst über den

    neuen Status der Fiktion und den Modus des »schönen Scheins« sich erst im Rezipienten

    realisiert und weist insofern auch auf den Übergang von der Darstellungs· zur Rezeptions

    ästhetik voraus. Deren Virulenz zeigt sich, wenn die durch Dorval noch präsentierte Ein

    heit von dargestellten und bei den Zuschauern hervorgerufenen Gefühlen im Paradoxe

    durch eine strikte Trennung beider Bereiche abgelöst wird.

    Wird

    vom Schauspieler nun

    gesagt, daß ihm im Anschluß an die Aufführung »weder Erregung noch Schmerz, noch

    Melancholie, noch seelische Niedergeschlagenheit« Band II, S. 489;

    CEuvm esthhiques,

    S.

    313) bleibe, so wird - an den Zuschauer gewandt - hinzugefügt: »Nur Sie tragen all

    diese Eindrücke mit sich fort«. Und eine nahezu gattungsrelevante Bedeutung wird dieser

    Trennung zugesprochen, wenn

    es

    an anderer Stelle heißt: »On

    ne

    vient pas pour voir des

    pleurs, mais pour entendre des discours qui cn arrachent«

    Wir

    gehen nicht ins Theater,

    um Tränen zu sehen, sondern um Worte zu hören, die Tränen entlocken - Band II S. 535;

  • 8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung

    15/23

    Roland Galle

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    irar ur 1e Probleme einfacher Menschen findet Ausdruck in

    Dideroc

    - oder die Dialogisierung der Aufklärung

    23

    Genrebildern von denen Dideror gesagt har: »Da ist m rali ·ehe l:tlerei«. Besonders treffend wird

    Diderors The e dur h

    das

    hier :ibgebildere Bei

    piel

    »Der undankbare ohn• belegt : D:irgestellr ist

    nämlich nicht nur

    wie

    der ohn sich zum lilicärdien r abwerben läßr und seine Familie verläßt

    sondern auch das morali hc rreil da - damit über ihn ge prochen wird.

    ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ · ~ l

  • 8/18/2019 Galle (1980) Diderot - Oder Die Dialogisierung Der Aufklärung

    16/23

    232

    Roland Galle

    Die

    Salons

    gehen zurück

    auf

    öffentliche Kunstausstellungen. Solche Ausstellungen gab

    es verelnzefrbereits

    im

    i i : a h r h u n - c k ~ r ~ e i t - - 1 7 3 7 fanden sie in der Salle Carrce des Louvre

    statt, und

    seit 1751

    wurden

    sie

    in

    zweijährigem

    Abstand durchgeführt. Grimm,

    der Her

    ausgeber

    der

    »Correspondance litteraire«,

    bat

    seinen

    Freund Diderot,

    diese Kunstausstel

    lungen für seine

    Zeitschrift zu kommentieren. Mit dem Umstand nun, daß die

    »Correspon

    dance litteraire« lediglich

    an den europäischen Fürstenhöfen

    zirkulierte

    und

    insofern einen

    eingeschränkten

    Verbreitungsradius hatte,

    hängt sicherlich die

    Unbeschwertheit

    zusam

    men, mit der Diderot seinem

    Auftrag

    nachkam, durfte

    er doch

    sicher sein,

    daß

    seine Kriti

    ken dem Pariser

    Publikum

    und vor allem den ihm eng vertrauten Künstlern, bei denen er

    großenteils ein- und ausging, unbekannt bleiben würden. Diese Publikationsform vermag

    aber nicht nur das

    fehlen

    einer inneren Zensur zu erklären, sondern auch den für die Salons

    so kennzeichnenden Gesprächston. Das Problem, das darin lag, Kritiken für ein Publikum

    zu schreiben, das weder die besprochenen Bilder noch das Pariser Kunstmilieu kannte,

    meistert

    Diderot

    nämlich

    dadurch, daß er Gesprächspartner einführt, die er

    zu seinem

    fik

    tiven Gegenüber macht, immer wieder anspricht, in Dialoge über seine Urteile miteinbe

    zieht

    und so auch dem

    Leser

    die Illusion

    einer

    direkten Teilhabe

    an

    den

    Kunstausstel

    lungen zu vermitteln weiß.

    Müssen alle

    Versuche

    einer

    gewaltsamen Vereinheitlichung der

    Kunstkritik Diderots

    zu einer »Theorie«

    auch

    scheitern,

    so gibt

    es

    gleichwohl

    einige

    Grundorientierungen,

    die

    sich

    durch

    die vielen

    Jahrgänge der

    Salons -. Diderot

    hat die Ausstellungen

    von 1759 bis

    1781

    kommentiert

    -

    recht

    kontinuierlich ziehen.

    Am deutlichsten gilt

    dies vielleicht für

    die Ablehnung

    des

    Rokoko,

    als dessen bislang

    berühmtester

    Maler

    Boucher

    scharf ange

    griffen wird, vor allem als Repräsentant einer Gesellschaft

    und

    Ausdruckslage, die Diderot

    für falsch

    oder

    verlogen hält. Die in diesem Urteil

    zum Ausdruck kommenden

    Kriterien

    treten natürlich auch

    in

    den positiven Bewertungen,

    in der

    Zustimmung und

    Be

    geisterung

    Diderots

    zutage, wenngleich

    so

    unterschiedliche Faktoren wie die Sujetge

    bung

    im Zusammenhang

    mit

    Greuze),

    die

    Kolorierung im

    Zusammenhang

    mit

    Char

    din)

    und

    die Illusionsbildung im Zusammenhang

    mit

    Vernet) dafür ausschlaggebend

    sein können.

    So wird etwa

    Baudouin

    vorgehalten,

    auf

    einem Bild dargestellt zu haben, wie die Braut

    das Ehebett besteigt. Angemessen

    und

    »pathetique« - wie das

    immer

    wiederkehrende At

    tribut

    lautet, das zugleich eine

    ästhetische und

    moralische Norm bezeichnet - wäre es ge

    wesen,

    den

    Abschied

    der

    Braue

    von ihren

    Eltern als

    Motiv

    zu wählen. Erfüllt werden sol

    che Erwartungen

    und

    Bedürfnisse von Greuze, bei

    dem

    alles

    »pathetique

    et vrai«

    CEuvres

    esthetiqrm,

    S.

    519)

    ist und der

    daher

    auch

    zum

    Muster der »peinture

    morale«

    CEuvres esthe-

    tiques, S.

    524)

    erhoben

    wird. Kennzeichen dieser moralischen Malerei ist die appellative

    Beschwörung intimisierter Familienbeziehungen, wie die