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kleine Einmaleins des Säens, Düngens und Pflanzens beigebracht werden. „Wir verstehen uns dabei als Landeplatz für alle, die auf der Fre- quenz sind“, sagt Birgit Haas lächelnd. „Diejeni- gen, die dabei mitmachen wollen, tragen auch gemeinsam die Verantwortung für den Garten.“ Im Sommer wollen die Stadtgärtner mit dem Biergarten des Clubs Zollamt sonntags „Anti- stresstage“ starten. Die Zutaten: Liegestühle, ein Sandkasten, Bier, Erde und Schaufeln. Irgend- wann wollen sie dann ernten, was sie gesät ha- ben, nicht nur in Bad Cannstatt. Eine gewundene Treppe führt hinauf in eine auf zwei Etagen verteilte Altbauwohnung, in der Irmgard Lochner-Aldinger gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem vierjährigen Sohn wohnt. Knapp zehn Kilometer trennen die In- selbegrüner auf der anderen Neckarseite von der Professorin, die im Stuttgarter Süden wohnt. Bildungsbürgertum statt Berlin-Mitte-Flair. Doch das Ziel ist dasselbe. Die 42-Jährige blickt vom Balkon aus noch ein- mal auf die Stuttgarter Dachlandschaft. Dann schließt sie die Tür und streift die weißen Hand- schuhe mit dem rot gepunkteten Erdbeermus- ter ab. Vor einiger Zeit hat sie beschlossen, die Wohnzimmerpflanzen aufzugeben, seitdem ist es auf ihren beiden Balkonen voller geworden. Im Herbst leuchteten die Blätter eines Ahorns strahlend rot, er steht neben einem Rosenstock und Johanniskraut. In der Küche wächst neben Thymian, Basilikum und Minze auch eine Bauernrose. Deren Samenkapseln hat Irmgard Lochner-Aldinger im Urlaub von einer kleinen Insel vor der französischen At- lantikküste mitgebracht. Die deutsch-französische Pflanze besitzt für das, was Irmgard Lochner-Aldinger vorhat, Symbolwert. Sie denkt an „internationale Gär- ten“ in Stuttgart – daran, dass Urban Gardening mehr sein kann als nur ein Freizeitvergnügen der von Technik umwucherten Stadtbewohner. Die Ingenieurin hofft, dass sich bei Gemein- schaftsprojekten wie „Inselgrün“ Stuttgarter aus allen möglichen Herkunftsländern begeg- nen, um gemeinsam zu gärtnern. Der Dialog der Kulturen könnte sich dann so anhören: „Was macht ihr eigentlich gegen Schädlinge? Welche Pflanzen vertragen sich in einem Beet?“ So könnte einmal zusammenwachsen, was zusam- mengehört und bislang in der Anonymität der Großstadt oft nebeneinander herlebt. So weit die Theorie. In der Praxis ist das Urban Gardening in Stuttgart bis jetzt ein zartes Pflänzchen, das im Betonmantel der Stadt mühsam seine Ni- schen sucht. In der Vergan- genheit ist es immer wie- der zu Konflikten zwischen pflanzwütigen Anwohnern und dem städtischen Gar- ten- und Friedhofsamt ge- kommen. Den Behörden behagt es mitunter nicht, wenn Bürger auf eigene Faust Beete rund um die Stadtbäume anlegen. „Es besteht schon die Ge- fahr, dass die Leute wieder die Lust verlieren und sich dann nicht um das Angepflanzte küm- mern“, sagt Irmgard Lochner-Aldinger, „des- halb brauchen wir verbindliche Absprachen.“ Noch wichtiger sind jetzt aber Ideen, über die sie nach ihrem Vortrag in der Stiftung Geißstra- ße diskutieren will: Wo gibt es in Stuttgart geeig- nete Flächen, auf denen in der Stadt neues Grün entstehen könnte? Wie können sich die Bürger konkret engagieren? Urban Gardening ist welt- umspannend, aber es nimmt je nach Kulturkreis unterschiedliche Formen an. In New York gab es früher die Community Gardens, die auf Brachen entstanden. Inzwischen wird in Big Apple mehr über grüne Dachlandschaften gesprochen. Auf Kuba wurden die Staats- und Gemeinschaftsgär- ten auch aus der Not heraus geboren, und im Berliner Prinzessinnengarten lebt die anarchis- tische Seite der früheren Mauerstadt fort. Irmgard Lochner-Aldinger wischt mit dem Finger über ihr iPad. Auf einem Foto ist das Dach des Züblin-Parkhauses bei der Leonhards- kirche zu sehen. Doch dort, wo sonst Autos par- ken, wachsen nun Pflanzen aus Kisten und Sä- cken heraus. Grün statt Grau. Noch ist das Foto eine Bildmontage, aber Irmgard Lochner-Al- dinger hat bereits mit einer Künstlergruppe ge- sprochen, die sich vorstellen könnte mitzuma- chen, und auch die Betreiberfirma des Parkhau- ses sei nicht abgeneigt, erzählt sie. Parkhäuser, die sich in städtische Gartenlandschaften ver- wandeln? Das wäre fast eine Geschichte wie aus Tausendundeiner Nacht. D as Märchenreich liegt verborgen hinter einem rostigen Eisentor. An einer Seite wird es von einer struppigen Distelhecke umrankt, deren Blüten wie kleine Watte- bäusche im Gestrüpp hängen. Das trübe Licht der Wintersonne funkelt plötzlich, als es von der Discokugel eines benachbarten Clubs reflektiert wird. In der Krone eines Baums hockt eine buck- lige Krähe, die sich nicht stören lässt vom fernen Lärm der Lastwagen, der leise an diesen verwun- schenen Ort anbrandet. Welche Schätze aber könnten sich hier verbergen, wo Holzlatten, Eisenrohre und Sonnenschirme an der Wand eines rot geklinkerten Backsteinbaus lehnen? Vier Großstadtkinder im Alter von Mitte 30 bis Mitte 40 haben sich an diesem Februarmor- gen auf dem Gelände des alten Stuttgarter Gü- terbahnhofs verabredet. Sie kennen den Zauber- code, der ihnen den Zugang in diese für die meis- ten Stuttgarter entlegene Welt öffnet. Der Code besteht aus den vier Zahlen eines Schlosses, des- sen Bügel lautlos aufspringt. Schon betritt Birgit Haas eine städtische Brache, bei der erste Zei- chen einer Verwandlung unübersehbar sind: Einkaufswagen sind zu einem Kreis angeordnet, in den Wagen lagern Kisten, und in den mit Erde gefüllten Kisten sprießt Ackersalat. Trotz Nachtfrost und gelegentlichem Schneefall. Hier, wo im Club Zollamt sonst das Party- volk seine Nachtschichten verbringt, wo ein Küchenstudio in einem alten Industriebau in friedlicher Koexistenz mit einer Kampfkunst- schule lebt, beginnt in diesem Jahr eines der in- teressantesten Wachstumsprojekte der Stadt: Urban Gardening. „Inselgrün“ nennt sich der Stuttgarter Ableger der Bewegung, die seit Jah- ren rund um den Globus Menschen inspiriert, zu Hacke und Schaufel zu greifen, mit den Händen in krumiger Erde zu graben, sich lustvoll die Finger schmutzig zu machen und dann auf die Belohnung zu warten: dass etwas wächst, am besten etwas Essbares. Gurken, Tomaten und Zuc- chini, Bohnen oder Acker- salat. In diesem Jahr könn- te auch in Stuttgart der endgültige Durchbruch der Bewegung folgen: In Facebook-Gruppen melden sich immer mehr Neugärtner, und die Stiftung Geißstraße lädt in der nächsten Woche zu einem Informationsabend ein: „Grüne Hei- mat – Urban Gardening in Stuttgart“. Birgit Haas wird dabei sein. Sie trägt einen pinkfarbenen Parka mit Kunstfellkragen. Haas ist die Gartenexpertin der Gruppe, die sich an diesem Tag versammelt hat, um darüber zu re- den, wie aus der Industriebrache in diesem Frühjahr und Sommer ein Mitmachgarten wer- den kann. Bei den Teilnehmern dominieren Sneaker und Baseballkappe, Jeans und ein zwangloser Umgangston. Die grünen Novizen stammen aus der Agentur- und Kreativszene. Birgit Haas hat Kunst in Nordirland studiert und zehn Jahre in Belfast gelebt. Inzwischen wohnt sie in Stuttgart, wo sie eine Handelsagentur ge- gründet hat, die sich mit den Chancen von „Gärt- nern ohne Gift“ beschäftigt. „Ich bin bestens in der grünen Branche vernetzt“, erzählt Haas. Die Kontakte wird sie brauchen, noch liegt viel Arbeit vor den Stadtgärtnern, bevor aus der Brache wirklich ein Inselgrün wird, das diesen Namen auch verdient. Die bepflanzte Installa- tion aus Einkaufswagen ruht noch auf einem Teppich aus Moos, Steinen und abgestorbenem Gras. Im vergangenen Sommer entstanden die erste Pläne, den alten Güterbahnhof wieder auf- blühen zu lassen. „Wir sind erst mal mit der Säge hier durchgegangen“, erzählt Franz Gielen. Es war der erste Schritt, um das Dornröschenreich aus einem langen Schlaf aufzuwecken. Am Ende füllten der Wildwuchs und der wilde Müll fünf- zehn Container. Im März steht der nächste Frühjahrsputz auf dem Ge- lände an, und danach be- ginnt die zweite Stufe der Stadtbegrünung. Im Kopf von Birgit Haas summen schon die Ideen herum: „Wir wollen alte Sorten von Nutzpflanzen anbauen, aber auch dekora- tive Blumen sollen hier ihre Heimat finden.“ In Work- shops will sie Kindern beibringen, wie sie zu Hause mit ihren Eltern die Balkone bepflanzen können. Und weil am Rande des Inselgrüns schon jetzt der Schmetterlingsflieder wächst, der in der warmen Jahreszeit die Bienen an- lockt, denken die Inselpioniere darüber nach, ob sie neben den neuen Hobbygärtnern ein Bienen- volk mit aufnehmen wollen. Noch ist das Zukunftsmusik, doch das Pro- jekt „Inselgrün“ scheint in der Stadt auf frucht- baren Boden zu fallen. Kürzlich hat die Stuttgar- ter Messe bei der Initiative angerufen und den jungen Gärtnern einen 80 Quadratmeter gro- ßen Stand angeboten. Schon jetzt ist klar, dass die Messebesucher im April vor einer grünen Begegnung der ungewöhnlichen Art stehen wer- den: „Die Leute können Secondhandklamotten mitbringen, die wir dann mit ihnen bepflanzen werden“, sagt Magali Sureau. Mit den bepflanz- ten Einkaufswagen wollen die Urban Gardener nicht nur auf der Messe, sondern auch auf Stadt- festen in diesem Jahr ihre Kreise ziehen und für das gemeinschaftliche Gärtnern in der Groß- stadt werben. Die Idee hat auch schon einen Na- men: „Garten geht Gassi.“ „Wir sind doch alle Großstadtkinder, die nicht mehr wissen, was man wie anpflanzt“, sagt Magali Sureau. Auf dem Gelände in Bad Cann- statt soll allen, die Lust aufs Gärtnern haben, das Berlin-Mitte-Charme: in Bad Cannstatt bereitet sich das Projekt „Inselgrün“ auf das Frühjahr vor. Fotos: Martin Stollberg Urban Gardening Schrebergärten, Vorgärten oder Parks: in Stuttgart ist nun ein Trend endgültig angekommen, bei dem das Gemeinschaftserlebnis im Garten im Mittelpunkt steht. Eindrücke von einem Frühlingserwachen in der Großstadt. Von Erik Raidt Garten geht Gassi Stuttgarter Dachlandschaften: Irmgard Lochner-Aldinger treibt die Stadtbegrünung voran. Vortrag In der Stiftung Geißstraße spricht Irmgard Lochner-Aldinger am Dienstag, dem 26. Februar, um 19 Uhr über das Urban Gardening in Stuttgart und über „interkulturelle Gärten“. Die Veranstaltung soll dabei helfen, ein Netzwerk von Interessierten aufzu- bauen, die das Gärtnern auf öffentlichen Flächen in der Stadt voranbringen wollen. Irmgard Lochner- Aldinger denkt auch darüber nach, einen Internet- blog zu diesem Thema zu starten. Mitmachen Das Projekt „Inselgrün auf der Kultur- insel Stuttgart“ will auf seiner Facebook-Seite neue Aktionen und Termine sowie Möglichkeiten zum Mitgärtnern bekanntgeben. Weitere Internetseiten, die über Gartenprojekte informieren: www.dein- beet.de und www.meine-ernte.de. Mehr zur Kultur- insel unter www.kulturinsel-stuttgart.de. era EIN NETZWERK FÜR URBANES GRÜN Sie greifen zu Hacke und Schaufel, graben dann lustvoll in krumiger Gartenerde. Bei der Messe können die Besucher im April Turnschuhe und Jeans bepflanzen. Beim Gärtnern könnten sich Menschen aus allen Kulturen begegnen. Grün statt grau: wie sich das Dach eines Parkhauses verwandeln könnte. 30 Nr. 46 | Samstag, 23. Februar 2013 REPORTAGE

Garten geht Gassi - Kulturinsel Stuttgart · PDF fileKchenstudio in einem alten Industriebau in friedlicher Koexistenz mit einer Kampfkunst-schulelebt,beginntindiesemJahreinesderin-teressantesten

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kleine Einmaleins des Säens, Düngens undPflanzens beigebracht werden. „Wir verstehenuns dabei als Landeplatz für alle, die auf der Fre­quenz sind“, sagt Birgit Haas lächelnd. „Diejeni­gen, die dabei mitmachen wollen, tragen auchgemeinsam die Verantwortung für den Garten.“Im Sommer wollen die Stadtgärtner mit demBiergarten des Clubs Zollamt sonntags „Anti­stresstage“ starten. Die Zutaten: Liegestühle, einSandkasten, Bier, Erde und Schaufeln. Irgend­wann wollen sie dann ernten, was sie gesät ha­ben, nicht nur in Bad Cannstatt.

Eine gewundene Treppe führt hinauf in eineauf zwei Etagen verteilte Altbauwohnung, inder Irmgard Lochner­Aldinger gemeinsam mitihrem Mann und ihrem vierjährigen Sohnwohnt. Knapp zehn Kilometer trennen die In­selbegrüner auf der anderen Neckarseite vonder Professorin, die imStuttgarter Süden wohnt.Bildungsbürgertum stattBerlin­Mitte­Flair. Dochdas Ziel ist dasselbe.

Die 42­Jährige blicktvom Balkon aus noch ein­mal auf die StuttgarterDachlandschaft. Dannschließt sie die Tür undstreift die weißen Hand­schuhe mit dem rot gepunkteten Erdbeermus­ter ab. Vor einiger Zeit hat sie beschlossen, dieWohnzimmerpflanzen aufzugeben, seitdem istes auf ihren beiden Balkonen voller geworden.Im Herbst leuchteten die Blätter eines Ahornsstrahlend rot, er steht neben einem Rosenstockund Johanniskraut. In der Küche wächstneben Thymian, Basilikum und Minze aucheine Bauernrose. Deren Samenkapseln hatIrmgard Lochner­Aldinger im Urlaub voneiner kleinen Insel vor der französischen At­lantikküste mitgebracht.

Die deutsch­französische Pflanze besitzt fürdas, was Irmgard Lochner­Aldinger vorhat,Symbolwert. Sie denkt an „internationale Gär­ten“ in Stuttgart – daran, dass Urban Gardeningmehr sein kann als nur ein Freizeitvergnügender von Technik umwucherten Stadtbewohner.Die Ingenieurin hofft, dass sich bei Gemein­schaftsprojekten wie „Inselgrün“ Stuttgarteraus allen möglichen Herkunftsländern begeg­nen, um gemeinsam zu gärtnern. Der Dialog derKulturen könnte sich dann so anhören: „Wasmacht ihr eigentlich gegen Schädlinge? WelchePflanzen vertragen sich in einem Beet?“ Sokönnte einmal zusammenwachsen, was zusam­mengehört und bislang in der Anonymität derGroßstadt oft nebeneinander herlebt.

So weit die Theorie. In der Praxis ist dasUrban Gardening in Stuttgart bis jetzt einzartes Pflänzchen, das im Betonmantel derStadt mühsam seine Ni­schen sucht. In der Vergan­genheit ist es immer wie­der zu Konflikten zwischenpflanzwütigen Anwohnernund dem städtischen Gar­ten­ und Friedhofsamt ge­kommen. Den Behördenbehagt es mitunter nicht,wenn Bürger auf eigeneFaust Beete rund um dieStadtbäume anlegen. „Es besteht schon die Ge­fahr, dass die Leute wieder die Lust verlierenund sich dann nicht um das Angepflanzte küm­mern“, sagt Irmgard Lochner­Aldinger, „des­halb brauchen wir verbindliche Absprachen.“

Noch wichtiger sind jetzt aber Ideen, über diesie nach ihrem Vortrag in der Stiftung Geißstra­ße diskutieren will: Wo gibt es in Stuttgart geeig­nete Flächen, auf denen in der Stadt neues Grünentstehen könnte? Wie können sich die Bürgerkonkret engagieren? Urban Gardening ist welt­umspannend, aber es nimmt je nach Kulturkreisunterschiedliche Formen an. In New York gab esfrüher die Community Gardens, die auf Brachenentstanden. Inzwischen wird in Big Apple mehrüber grüne Dachlandschaften gesprochen. AufKuba wurden die Staats­ und Gemeinschaftsgär­ten auch aus der Not heraus geboren, und imBerliner Prinzessinnengarten lebt die anarchis­tische Seite der früheren Mauerstadt fort.

Irmgard Lochner­Aldinger wischt mit demFinger über ihr iPad. Auf einem Foto ist dasDach des Züblin­Parkhauses bei der Leonhards­kirche zu sehen. Doch dort, wo sonst Autos par­ken, wachsen nun Pflanzen aus Kisten und Sä­cken heraus. Grün statt Grau. Noch ist das Fotoeine Bildmontage, aber Irmgard Lochner­Al­dinger hat bereits mit einer Künstlergruppe ge­sprochen, die sich vorstellen könnte mitzuma­chen, und auch die Betreiberfirma des Parkhau­ses sei nicht abgeneigt, erzählt sie. Parkhäuser,die sich in städtische Gartenlandschaften ver­wandeln? Das wäre fast eine Geschichte wie ausTausendundeiner Nacht.

Das Märchenreich liegt verborgenhinter einem rostigen Eisentor.An einer Seite wird es von einerstruppigen Distelhecke umrankt,deren Blüten wie kleine Watte­

bäusche im Gestrüpp hängen. Das trübe Lichtder Wintersonne funkelt plötzlich, als es von derDiscokugel eines benachbarten Clubs reflektiertwird. In der Krone eines Baums hockt eine buck­lige Krähe, die sich nicht stören lässt vom fernenLärm der Lastwagen, der leise an diesen verwun­schenen Ort anbrandet. Welche Schätze aberkönnten sich hier verbergen, wo Holzlatten,Eisenrohre und Sonnenschirme an der Wandeines rot geklinkerten Backsteinbaus lehnen?

Vier Großstadtkinder im Alter von Mitte 30bis Mitte 40 haben sich an diesem Februarmor­gen auf dem Gelände des alten Stuttgarter Gü­terbahnhofs verabredet. Sie kennen den Zauber­code, der ihnen den Zugang in diese für die meis­ten Stuttgarter entlegene Welt öffnet. Der Codebesteht aus den vier Zahlen eines Schlosses, des­sen Bügel lautlos aufspringt. Schon betritt BirgitHaas eine städtische Brache, bei der erste Zei­chen einer Verwandlung unübersehbar sind:Einkaufswagen sind zu einem Kreis angeordnet,in den Wagen lagern Kisten, und in den mit Erdegefüllten Kisten sprießt Ackersalat. TrotzNachtfrost und gelegentlichem Schneefall.

Hier, wo im Club Zollamt sonst das Party­volk seine Nachtschichten verbringt, wo einKüchenstudio in einem alten Industriebau infriedlicher Koexistenz mit einer Kampfkunst­schule lebt, beginnt in diesem Jahr eines der in­teressantesten Wachstumsprojekte der Stadt:Urban Gardening. „Inselgrün“ nennt sich derStuttgarter Ableger der Bewegung, die seit Jah­ren rund um den Globus Menschen inspiriert,

zu Hacke und Schaufel zugreifen, mit den Händen inkrumiger Erde zu graben,sich lustvoll die Fingerschmutzig zu machen unddann auf die Belohnung zuwarten: dass etwas wächst,am besten etwas Essbares.Gurken, Tomaten und Zuc­chini, Bohnen oder Acker­salat. In diesem Jahr könn­

te auch in Stuttgart der endgültige Durchbruchder Bewegung folgen: In Facebook­Gruppenmelden sich immer mehr Neugärtner, und dieStiftung Geißstraße lädt in der nächsten Wochezu einem Informationsabend ein: „Grüne Hei­mat – Urban Gardening in Stuttgart“.

Birgit Haas wird dabei sein. Sie trägt einenpinkfarbenen Parka mit Kunstfellkragen. Haasist die Gartenexpertin der Gruppe, die sich andiesem Tag versammelt hat, um darüber zu re­den, wie aus der Industriebrache in diesemFrühjahr und Sommer ein Mitmachgarten wer­den kann. Bei den Teilnehmern dominierenSneaker und Baseballkappe, Jeans und einzwangloser Umgangston. Die grünen Novizenstammen aus der Agentur­ und Kreativszene.Birgit Haas hat Kunst in Nordirland studiert undzehn Jahre in Belfast gelebt. Inzwischen wohntsie in Stuttgart, wo sie eine Handelsagentur ge­gründet hat, die sich mit den Chancen von „Gärt­nern ohne Gift“ beschäftigt. „Ich bin bestens inder grünen Branche vernetzt“, erzählt Haas.

Die Kontakte wird sie brauchen, noch liegtviel Arbeit vor den Stadtgärtnern, bevor aus derBrache wirklich ein Inselgrün wird, das diesenNamen auch verdient. Die bepflanzte Installa­tion aus Einkaufswagen ruht noch auf einemTeppich aus Moos, Steinen und abgestorbenemGras. Im vergangenen Sommer entstanden dieerste Pläne, den alten Güterbahnhof wieder auf­blühen zu lassen. „Wir sind erst mal mit der Sägehier durchgegangen“, erzählt Franz Gielen. Eswar der erste Schritt, um das Dornröschenreichaus einem langen Schlaf aufzuwecken. Am Endefüllten der Wildwuchs und der wilde Müll fünf­zehn Container. Im März steht der nächste

Frühjahrsputz auf dem Ge­lände an, und danach be­ginnt die zweite Stufe derStadtbegrünung.

Im Kopf von Birgit Haassummen schon die Ideenherum: „Wir wollen alteSorten von Nutzpflanzenanbauen, aber auch dekora­tive Blumen sollen hier ihreHeimat finden.“ In Work­

shops will sie Kindern beibringen, wie sie zuHause mit ihren Eltern die Balkone bepflanzenkönnen. Und weil am Rande des Inselgrünsschon jetzt der Schmetterlingsflieder wächst,der in der warmen Jahreszeit die Bienen an­lockt, denken die Inselpioniere darüber nach, obsie neben den neuen Hobbygärtnern ein Bienen­volk mit aufnehmen wollen.

Noch ist das Zukunftsmusik, doch das Pro­jekt „Inselgrün“ scheint in der Stadt auf frucht­baren Boden zu fallen. Kürzlich hat die Stuttgar­ter Messe bei der Initiative angerufen und denjungen Gärtnern einen 80 Quadratmeter gro­ßen Stand angeboten. Schon jetzt ist klar, dassdie Messebesucher im April vor einer grünenBegegnung der ungewöhnlichen Art stehen wer­den: „Die Leute können Secondhandklamottenmitbringen, die wir dann mit ihnen bepflanzenwerden“, sagt Magali Sureau. Mit den bepflanz­ten Einkaufswagen wollen die Urban Gardenernicht nur auf der Messe, sondern auch auf Stadt­festen in diesem Jahr ihre Kreise ziehen und fürdas gemeinschaftliche Gärtnern in der Groß­stadt werben. Die Idee hat auch schon einen Na­men: „Garten geht Gassi.“

„Wir sind doch alle Großstadtkinder, dienicht mehr wissen, was man wie anpflanzt“, sagtMagali Sureau. Auf dem Gelände in Bad Cann­statt soll allen, die Lust aufs Gärtnern haben, das Berlin­Mitte­Charme: in Bad Cannstatt bereitet sich das Projekt „Inselgrün“ auf das Frühjahr vor. Fotos: Martin Stollberg

Urban Gardening Schrebergärten, Vorgärten oder Parks: in Stuttgart ist nun ein Trend endgültigangekommen, bei dem das Gemeinschaftserlebnis im Garten im Mittelpunkt steht.

Eindrücke von einem Frühlingserwachen in der Großstadt. Von Erik Raidt

Gartengeht Gassi

Stuttgarter Dachlandschaften: Irmgard Lochner­Aldinger treibt die Stadtbegrünung voran.

Vortrag In der StiftungGeißstraße spricht IrmgardLochner­Aldinger amDienstag, dem26. Februar, um19Uhr über das UrbanGardening in Stuttgart undüber „interkulturelle Gärten“. Die Veranstaltung solldabei helfen, ein Netzwerk von Interessierten aufzu­bauen, die das Gärtnern auf öffentlichen Flächenin der Stadt voranbringenwollen. Irmgard Lochner­Aldinger denkt auch darüber nach, einen Internet­blog zu diesemThema zu starten.

MitmachenDas Projekt „Inselgrün auf der Kultur­insel Stuttgart“ will auf seiner Facebook­Seite neueAktionen und Termine sowieMöglichkeiten zumMitgärtnern bekanntgeben.Weitere Internetseiten,die über Gartenprojekte informieren: www.dein­beet.de undwww.meine­ernte.de.Mehr zur Kultur­insel unter www.kulturinsel­stuttgart.de. era

EIN NETZWERK FÜR URBANES GRÜN

Sie greifen zuHacke undSchaufel,graben dannlustvoll inkrumigerGartenerde.

Bei der Messekönnen dieBesucherim AprilTurnschuheund Jeansbepflanzen.

BeimGärtnernkönnten sichMenschenaus allenKulturenbegegnen.

Grün stattgrau: wiesich dasDach einesParkhausesverwandelnkönnte.

30 Nr. 46 | Samstag, 23. Februar 2013REPORTAGE