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GESUNDHEIT
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P E R S Ö N L I C H K E I T
Ich bin zweiUnser Gehirn führt ein Doppelleben. Seine beiden Hälftenverfolgen unterschiedliche Interessen, glaubt der britischePsychiater Iain McGilchrist. Das prägt unser Denken ebenso wieunsere Kultur.VON Tobias Hürter | 13. Juni 2013 - 08:00 Uhr
Wer bin ich, und wenn ja, wie viele? – Der britische Psychiater Iain McGilchrist hat auf
die populärphilosophische Frage eine klare Antwort: Ich bin zwei. Zwei Persönlichkeiten
leben in uns, hervorgebracht von den zwei Hälften unseres Gehirns. Diese ergänzen sich
ähnlich wie Sherlock Holmes und Dr. Watson, bringen mal geniale Einsichten hervor,
pflegen mal den Blick fürs unscheinbare Detail. Und wenn McGilchrist recht hat, prägt
diese Doppelnatur nicht nur unser Denken, Fühlen und Wahrnehmen, sondern letztlich die
ganze menschliche Kultur.
Was wie abstrakte Theorie klingt, wurde für Vicki P. auf drastische Weise Wirklichkeit.
Bei der Epilepsiepatientin wurde 1979 eine radikale Operation durchgeführt: Um ihre
schweren Anfälle einzudämmen, durchtrennten Chirurgen die Verbindung zwischen ihren
beiden Gehirnhälften, das sogenannte Corpus callosum. Die Anfälle nahmen ab. Dafür
veränderte sich Vickis Alltag dramatisch. Jeder Einkauf im Supermarkt wurde für sie zu
einem Kampf – gegen sich selbst. Wollte sie mit der rechten Hand etwas aus dem Regal
nehmen, so schilderte sie es in einem Interview, "griff die linke Hand ein, und dann rangen
sie miteinander". Es dauerte Stunden, bis Vicki ihre Einkäufe beisammenhatte. Ähnlich war
es morgens beim Anziehen: Linke und rechte Hand konnten sich partout nicht auf einen
Kleidungsstil einigen.
Solche Patientengeschichten sind für Iain McGilchrist der schlagende Beweis für seine
ungewöhnliche These. "Man kann jeder Hirnhälfte eigene Ansichten, Absichten, Ziele,
Werte und Neigungen zuschreiben", sagt der britische Psychiater. Deshalb könne es
mitunter zum Konflikt kommen – sowohl zwischen den beiden Hirnhemisphären als
auch zwischen den beiden Händen, die über Kreuz mit der jeweils gegenüberliegenden
Hirnhälfte verbunden sind.
Am Maudsley Hospital in London, wo McGilchrist jahrelang praktizierte, hat er viele
Schicksale wie das von Vicki P. kennengelernt. Zum Beispiel Menschen, denen ein Tumor
oder ein Schlaganfall die rechte Hirnhemisphäre lahmlegte – und die daraufhin plötzlich
ihre linke Körperhälfte nicht mehr wahrnahmen und nur noch die rechte Seite kämmten,
rasierten oder bekleideten.
Seither treibt Iain McGilchrist die Frage nach der Doppelnatur unseres Gehirns um. Warum
besteht es aus zwei Hälften? Und warum haben diese Hemisphären so unterschiedliche
Aufgaben, dass sie sich im Extremfall geradezu bekämpfen? Der britische Psychiater betritt
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mit solchen Fragen heikles Terrain. Denn die Zweiteilung unseres Denkorgans war einmal
ein Modethema der Hirnforschung – und wie so viele Moden wirkt diese heute etwas
peinlich.
So postulierten einst Forscher, unser Denkorgan lasse sich in eine "analytische" linke und
eine "gefühlvolle" rechte Hälfte trennen. Prompt pries der schwedische Autokonzern Volvo
in einer Anzeige ein "Auto für die rechte Hirnhälfte" an. Andere verstiegen sich zu der
These, in den Hirnhemisphären spiegele sich die Dualität der Welt, Verstand und Gefühl,
männlich und weiblich, Yin und Yang.
Heute weiß man: Das meiste davon ist Quatsch. Es ist nicht so, dass unsere rechte
Hirnhälfte ausschließlich für Impulse und Gefühle zuständig wäre und die linke für
rationales Denken. Tatsächlich sind beide Hemisphären am Denken und Fühlen beteiligt;
sie tauschen sich aus, und fällt eine Hirnhälfte aus, kann die andere zum Teil deren
Aufgaben übernehmen. Von einer strikten Zweiteilung des Gehirns spricht deshalb heute
kaum noch jemand.
Doch eine schlüssige Theorie, warum das Gehirn aus zwei Hälften besteht, fehlt noch
immer. Zwar ist das Gehirn nicht das einzige Doppelorgan. Auch Herz, Nieren, Lunge
und Schilddrüse sind zweifach vorhanden. Beim Gehirn allerdings ist die Zweiteilung
besonders rätselhaft. Denn eigentlich ist das grundlegende Bauprinzip unseres Denkorgans
die Konnektivität: die Maximierung der Verbindungen zwischen rund 100 Milliarden
Neuronen.
Ausgerechnet die beiden Hirnhälften aber sind vergleichsweise schlecht miteinander
verbunden. Die Brücke zwischen ihnen ist im Zuge der menschlichen Entwicklung sogar
immer dünner geworden; das Corpus callosum ist – relativ zum Hirnvolumen – im Laufe
der Evolution nicht gewachsen, sondern geschrumpft. Und das Kurioseste: Mitunter
dient der "Balken" zwischen den Hirnhälften gar nicht der Verbundenheit, sondern der
Hemmung. Eine Hirnhälfte kann über das Corpus callosum die Aktivität der anderen
unterdrücken. Es scheint, als hätten sich die beiden Hemisphären im Laufe der Evolution
auseinandergelebt.
Weil das Gehirn in vielem so rätselhaft erscheint, beschreibt man es gern in Metaphern.
Die bis heute gängigste ist die Maschinenmetapher: Demnach "verarbeitet" das Gehirn die
von den Sinnen einströmenden "Daten" und generiert aus ihnen mentale und physische
Handlungen. In diese Metapher passt die Verdopplung wichtiger Hirnstrukturen wie
etwa Hippocampus, Temporal- und Frontallappen schlecht. Sie wäre vielleicht noch als
Leistungssteigerung oder Ausfallsicherung zu erklären – wenn sie denn eine einfache
Verdopplung wäre. Aber das Gehirn ist bei genauer Betrachtung asymmetrisch. Von oben
gesehen, erscheint es gegen den Uhrzeigersinn gedreht, wobei die vorderen Strukturen
der rechten Gehirnhälfte vergrößert sind und die hinteren der linken Hälfte. Zudem
unterscheiden sich die Hirnhälften in ihrer zellulären Architektur und in der Konzentration
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der chemischen Botenstoffe, die sie steuern. Auch rein physiologisch haben sich die
Hirnhälften auseinandergelebt.
Deshalb schlägt Iain McGilchrist eine andere Metapher vor: Statt als Maschine beschreibt
er unser Denkorgan als ein Team zweier individueller Charaktere, die im besten Falle
zusammenarbeiten, mitunter aber auch unterschiedliche Absichten verfolgen. Für
gewöhnlich merke man davon nichts, sagt McGilchrist, aber es zeige sich, wenn man eine
Hirnhälfte experimentell isoliere. Dann werde klar: "Sie kann selbstständig Bewusstsein
hervorbringen."
Das zeigte sich als Erstes bei "Split-Brain-Patienten", bei denen – wie bei Vicki P. – in den
1960er und 70er Jahren die Verbindung zwischen den Hirnhälften gekappt wurde. Diese
Patienten, so stellte sich heraus, konnten Worte oft nicht erkennen, wenn sie ihnen nur
in ihrem linken Gesichtsfeld präsentiert wurden. In der zugehörigen rechten Hirnhälfte
(die über Kreuz mit der linken Körperseite verbunden ist) ist offenbar das Lese- und
Sprachvermögen extrem schwach ausgebildet. Dafür hat sie andere Fähigkeiten.
In Experimenten legte man Split-Brain-Patienten zum Beispiel das Wort "Schlüsselring"
so vor, dass sie die eine Worthälfte nur mit dem linken, die andere nur mit dem rechten
Auge erkennen konnten. Wurden sie gebeten, es vorzulesen, sagten sie einfach "Ring" –
denn dieses Wort auf der rechten Seite konnte die sprachbegabtere linke Hirnhälfte gut
erkennen. Wurden sie dann allerdings gebeten, mit der linken Hand auf den entsprechenden
Gegenstand zu zeigen, dann deuteten sie auf einen Schlüssel – die rechte Hirnhälfte konnte
das Objekt zwar nicht benennen, aber erkennen.
Der amerikanische Hirnforscher Michael Gazzaniga , der viele solcher Versuche
durchführte, hat die Ergebnisse dieser Forschung ausführlich in seinem Buch Die
Ich-Illusion beschrieben . Dabei kommt Gazzaniga zu ganz ähnlichen Schlüssen
wie McGilchrist. Auch er sieht im Gehirn zwei separate Module am Werk, die einen
unterschiedlichen Blick auf die Welt haben.
Das Gehirn ist sehr geschickt darin, seine Zweiteilung zu verbergen. Im Normalfall
arbeiten die beiden Hälften so gut zusammen, dass sie ein einheitliches Bewusstsein
erzeugen. Nur in ausgeklügelten Versuchen treten die Brüche zutage. In einem Experiment
etwa gaben Forscher Versuchspersonen den Befehl, ans Fenster zu gehen, präsentierten
diesen Befehl aber so, dass ihn nur deren jeweils rechte Hirnhälfte wahrnehmen konnte.
Prompt folgten die meisten Probanden der Aufforderung. Nach dem Grund ihres Handelns
gefragt, gaben sie völlig aus der Luft gegriffene Erklärungen. Etwa: "Ich wollte aus dem
Fenster schauen, weil ich Lärm gehört habe." Offenbar versucht in solchen Situationen die
sprachlich dominante linke Hirnhälfte (die den wahren Grund der Handlung nicht kennt)
eine schlüssig klingende Interpretation zu liefern – auch wenn diese frei erfunden ist.
In seinem Buch The Master and His Emissary vergleicht Iain McGilchrist die Beziehung
zwischen den beiden Hirnhälften mit jener zwischen einem "Herrn" und seinem
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"Gesandten". Demnach gibt die rechte Hemisphäre als Herr die Richtung vor, die
sprachbegabtere linke Hälfte dagegen übernimmt es, dieses Tun in Worte zu fassen. Die
rechte Hemisphäre sieht eher das große Ganze, die linke liefert Begründungen dafür und
beherrscht die Konzentration aufs Detail.
Warum diese Art der Arbeitsteilung sinnvoll ist, beschreibt McGilchrist am Beispiel
eines Vogels, der ein Nest baut. Einerseits muss er sich darauf konzentrieren, akribisch
Zweige ineinanderzuflechten. Gleichzeitig muss er offen bleiben für Unerwartetes – etwa
einen plötzlich auftauchenden Feind. Er muss Ingenieur und Kundschafter zugleich sein.
Um diese Herausforderung zu meistern, habe die Natur die Zweiteilung des Gehirns
erfunden, sagt McGilchrist: "Vögel und andere Tiere benutzen ihre linke Hirnhälfte für eng
fokussierte Aufmerksamkeit auf bereits bekannte Dinge, während sie ihre rechte Hirnhälfte
wachsam halten für alles, was da kommen mag."
Bei Menschen sei es ganz ähnlich. Allerdings sei die Arbeitsteilung zwischen den
Hirnhemisphären nicht so scharf, wie man früher vermutet habe, betont McGilchrist.
Es handele sich eher um Unterschiede im Herangehen an Dinge, so als ob die beiden
Hirnhälften unterschiedliche Charaktere hätten. Auch die rechte Seite könne sich
konzentrieren, auch die linke könne ihren Fokus weiten – nur eben jeweils weniger gut als
die andere.
Auch zu Vernunft und Imagination trügen beide Gehirnhälften bei. Aber ihre Beiträge
unterschieden sich grundlegend: Die linke Hälfte sei der kühle Kalkulierer, die rechte
gleiche einem neugierigen Kind. Der Kalkulierer denkt logisch, schematisch, prozedural.
Das Kind sieht sich ständig nach Neuem um, das nicht ins Schema passt. Der Kalkulierer
ist sich sicher. Das Kind staunt, fragt und zweifelt. Ihre volle Stärke gewinnen beide
Weltsichten, wenn man sie kombiniert. Gemeinsam sorgen die Hirnhälften dafür, dass
Menschen gegenüber der Welt die richtige Distanz behalten. Nicht zu weit weg (rechte
Hälfte), nicht zu nah dran (linke Hälfte).
Seine Patienten am Maudsley Hospital testete McGilchrist oft mit einer einfachen
Aufgabe: Er ließ sie einen Baum zeichnen. Während Gesunde die Bäume in ihrem
ganzen Formenreichtum darstellten, vom groben Umriss bis hin zum kleinsten Ast,
zeigten hirngeschädigte Patienten – je nach Art des neuronalen Ausfalls – spezifische
Verzerrungen. Jene, bei denen nach einem Schlaganfall nur noch die rechte Hirnhälfte
richtig funktioniert, brachten zwar den Gesamteindruck eines Baumes gut zu Papier,
schlampten aber bei den Details. Schlaganfallpatienten mit gesunder linker Hirnhälfte
dagegen zeichneten meist eine sehr detaillierte Struktur, die allerdings einem Baum nur
entfernt ähnelte.
Ende der siebziger Jahre hatte McGilchrist zunächst begonnen, an der Universität Oxford
Literaturwissenschaft zu studieren. Doch die Art der Literaturkritik missfiel ihm. "Ein
Kunstwerk ist etwas, bei dem sein Schöpfer sich bemüht hat, es einzigartig in der Welt zu
machen", sagt er, "es kann weder verwässert noch paraphrasiert werden. Seine Bedeutung
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ist implizit. Dann kommt der Kritiker daher, abstrahiert und generalisiert die Bedeutung."
Das war nicht McGilchrists Sache. Er wollte wissen, wie Menschen das Konkrete,
Körperliche, Unverwechselbare in Kunstwerken wahrnehmen – und beschloss mit 28
Jahren, Medizin zu studieren.
In einem Vortrag des Schizophrenie -Experten John Cutting hörte er erstmals von
den Fähigkeiten der rechten Hirnhälfte: "Cutting sagte, die rechte Hirnhälfte sei viel
besser darin, all die Dinge zu verstehen, die ich im analytischen Denken vermisst hatte:
Metaphern, Körpersprache, Humor, Tonfall, das Implizite, Einzigartige." Für zwei
Jahrzehnte vertiefte McGilchrist sich in die Erkundung der Hirnhälften, dann präsentierte er
seine Überlegungen 2009 in seinem (bislang nur auf Englisch erschienenen) Buch.
Dessen Titel The Master and His Emissary spielt auf eine alte Geschichte von einem
Fürsten an, der seinem Gesandten die Verwaltung seines Reichs überlässt. Der Gesandte
schaltet und waltet – und vergisst dabei, dass er nur im Auftrag seines Herrn regiert. Er hält
sich selbst für den Herrn. Ähnlich sei es auch in unserem Kopf, meint McGilchrist. Die
linke Hemisphäre sei nur der Gesandte der rechten, habe das aber offenbar vergessen und
die Herrschaft übernommen.
Für diese – zugegebenermaßen gewagte – Theorie hat McGilchrist viele Belege aus der
Kultur- und Sozialgeschichte zusammengetragen. "In der klassischen Antike und in der
europäischen Renaissance und Aufklärung waren die Hemisphären im Gleichgewicht",
glaubt der Hirntheoretiker. Nach diesen Blütezeiten unserer Zivilisation jedoch habe
jedes Mal die linke Gehirnhälfte die Oberhand gewonnen. Sogar in der Entwicklung der
Porträtmalerei findet er Hinweise. "In den großen humanistischen Epochen kam plötzlich
Leben in die Gemälde", sagt er, "die Gesichter starren nicht mehr ins Leere, sie blicken
direkt auf den Betrachter oder auf dessen linke Seite, also die Seite der rechten Hirnhälfte."
Sowohl in der Antike als auch in der Renaissance haben Kunsthistoriker diese Belebung
verzeichnet – doch jedes Mal erstarren die Gesichter nach einer Weile wieder.
Im 16. Jahrhundert habe die Dominanz der linken Gehirnhälfte die Menschheit in die
Dekadenz und schließlich ins Dunkel des Mittelalters geführt. Heute, sagt McGilchrist
polemisch, führe das zur Finanzkrise. "Der Kollaps der Märkte war ein perfektes Beispiel
für das blinde Befolgen von Algorithmen, die im Abstrakten als tauglich ›bewiesen‹
waren, die aber völlig entkoppelt waren von der wirklichen Welt." Dass er sich mit solchen
Interpretationen auf dünnem Eis bewegt, stört McGilchrist nicht. Er denkt lieber, so darf
man sagen, rechtshemisphärisch-ganzheitlich. Die linke Gehirnhälfte dagegen ist ihm
weniger sympathisch.
Natürlich bleibt McGilchrists Theorie nicht unangefochten. Die Erkenntnisse der
Hirnforschung seien "viel zu grob, um die psychologischen und kulturellen Folgerungen
zu stützen, die McGilchrist zieht", kommentierte der englische Philosoph A. C. Grayling
. Und der deutsche "Neurophilosoph" Georg Northoff hält McGilchrists Theorie zwar im
Grunde für stimmig, kritisiert aber dessen Begrifflichkeit. "Das eine ist die Rede über das
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Gehirn, das andere ist die Rede über die Person", sagt Northoff, "ich würde ungern beides
vermischen."
Bei Hirnforschern hat es McGilchrist als Fachfremder besonders schwer. Doch er stößt
durchaus auf Resonanz. "Ich glaube, dass McGilchrist auf einer tiefen Ebene recht
hat", sagt Onur Güntürkün, der an der Universität Bochum das Zusammenspiel der
Hirnhälften erforscht. "In den Hemisphären mit ihren unterschiedlichen Komponenten
und Fähigkeiten stecken unterschiedliche Persönlichkeitsschwerpunkte." Die Teilung in
zwei selbstständige Einheiten sei auch funktional sinnvoll, weil sie Zeit spare. "Wir können
beispielsweise Gesichter innerhalb von sechs Millisekunden erkennen", erklärt Güntürkün.
"Die Verbindung zwischen den Gehirnhälften braucht aber etwa 38 Millisekunden. Die
Entscheidung, ob Willi oder Walter vor mir steht, ist von einer Hirnhälfte unendlich
viel schneller erledigt, als es dauern würde, die Gegenseite zu fragen, ob sie auch dieser
Meinung ist."
"Absolut faszinierend" findet der Psychologe Peter Brugger McGilchrists Sichtweise des
geteilten Gehirns. Brugger erforscht am Zentrum für Neurowissenschaft in Zürich seit
Jahrzehnten das Rätsel der Hemisphären. "Es gibt gute Daten dafür, dass die Hälften mit
unterschiedlichen Persönlichkeitseigenschaften korreliert sind", sagt er, "und McGilchrist
hat auch recht darin, seine Theorie auf unsere Gesellschaft anzuwenden." In seinen eigenen
Versuchen hat Brugger festgestellt, dass Menschen, bei denen die rechte Hemisphäre ein
Übergewicht hat, eher zu magischem oder esoterischem Denken neigen.
Dabei hat die Frage nach der Arbeitsteilung im Gehirn auch praktische Bedeutung – etwa
beim Lesenlernen. Seit Jahrzehnten konkurrieren zwei Lernstile: die "ganzheitliche"
Methode, bei der die Schüler die Wörter im Ganzen erfassen sollen, und die synthetische
Methode, bei der sie sich Buchstabe für Buchstabe vorarbeiten. Mal war die eine, mal die
andere Methode angesagt – ein Streit, den Brugger für verfehlt hält. Die ganzheitliche
Methode liege eher Schülern, in deren Denken die rechte Hemisphäre dominiert,
während die synthetische Methode eher der linken Hemisphäre entspreche. "Man sollte
im Leseunterricht beide Methoden vorstellen", sagt Brugger, "und sie jedem Schüler
individuell anpassen."
Bleibt nur die Frage: Wenn McGilchrist recht hat und jeder Mensch aus zwei selbstständig
bewusstseinsbegabten Einheiten besteht – warum bemerken wir davon im Alltag nichts?
Eine plausible Antwort ist, dass die Evolution ein einheitliches Bewusstsein begünstigt hat.
Mehrere autonome Seelen, die in einem Körper miteinander ringen, sind sicherlich kein
Vorteil im Überlebenskampf. Wie die neuronalen Mechanismen das schaffen und wie in
gesunden Gehirnen aus den Zulieferungen beider Hälften ein einheitliches Bewusstsein
entsteht, ist eine Frage, an der die Gehirnforscher wohl noch lange knabbern werden. Denn
die Arithmetik der Gehirne widerspricht der üblichen Logik: 1+1=1.
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