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Geisel des Grauens

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Nr. 399

Geisel des Grauens

Ein Sklave rebelliert gegen die Mächtigen

von Peter Terrid

Nun, da Atlantis-Pthor mittels der neuen eripäischen Erfindung aus dem Korsallo­phur-Stau befreit werden konnte, kommt der »Dimensionsfahrstuhl« auf seiner vor­programmierten Reise der Schwarzen Galaxis unaufhaltsam näher.

Es gibt nichts, was die Pthorer und Atlan, ihr König, tun könnten, um den fliegen­den Weltenbrocken abzustoppen und daran zu hindern, die Schwarze Galaxis zu er­reichen – jenen Ort also, von dem alles Unheil ausging, das Pthor im Lauf der Zeit über ungezählte Sternenvölker brachte.

Wohl aber existiert die Möglichkeit, noch vor Erreichen des Zieles die gegenwärti­ge Situation in der Schwarzen Galaxis, die allen Pthorern unbekanntes Terrain ist, zu erkunden – und Atlan zögert nicht, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Ihm geht es darum, Informationen über den Gegner zu erhalten, mit dem sich die Pthorer bald werden messen müssen.

Doch trotz aller Anstrengungen erweisen sich die bisher eingebrachten Informatio­nen über die Verhältnisse in der Schwarzen Galaxis als ziemlich dürftig. Eine Wende tritt erst ein, als das Organschiff mit Ganzelpohn, dem Biten, auf Pthor landet.

Ganzelpohn ist eine lebende Galionsfigur – eine GEISEL DES GRAUENS …

3 Geisel des Grauens

Die Hautpersonen des Romans:Ganzelpohn - Ein Sklave rebelliert.Eynar - Kommandant eines Organschiffs.Zaleer - Ein Hunod von Welkan.TamanT - Nestältester der Hunods.Atlan - Der König von Pthor empfängt Flüchtlinge aus der Schwarzen Galaxis.

1.

Zaleer zog sich unter das Blätterdach ei­nes Schuppenbaums zurück, als der Regen stärker wurde. Verdrossen sah er auf die kleinen Eruptionen, die die schweren Regen­tropfen auf dem feinkörnigen Sand hervor­riefen. Auf den lanzettenförmigen Blättern des Schuppenbaums trommelte der Regen wie auf einem Blechdach.

Zaleer öffnete unbewußt eine Reihe von Tracheeoiden. Bei einer so hohen relativen Luftfeuchtigkeit fiel das Atmen für einen Hunod schwer. Auch ohne den sintflutarti­gen Regen wäre das Leben schon mühselig genug gewesen.

Zaleer sah sich hilfesuchend um. Bis zum Rand des Waldes war nicht weit zu laufen. Aber Zaleer hatte einige Kohlnüsse zu schleppen, die ihn sehr behinderten. Minu­tenlang der Gewalt des Regens ausgesetzt zu sein – der Gedanke war nicht eben ange­nehm.

Die Nüsse zurücklassen? Das kam nicht in Frage. Die kleine Siedlung litt ohnehin unter einem akuten Mangel an Nahrungsmit­teln, und was Zaleer aufgetrieben hatte, reichte aus, um ein ganzes Gelege zu bekö­stigen.

Der Regen wurde stärker. Das Wasser zerstob, wenn es auf die har­

ten Blätter des Schuppenbaums traf, und diese feinen Wasserschleier rieselten immer stärker auf Zaleer herab. Ihn fror.

Noch einmal sah er zum nahen Wald hin­über, dann schüttelte er traurig den schweren Kopf. Ausgeschlossen, diese Strecke in ei­nem Lauf zurückzulegen.

Zaleer pfiff verärgert und versuchte es sich in seiner gegenwärtigen Lage so be­

quem wie möglich zu machen. Er spürte, wie die Kälte in seinen Körper eindrang und die Glieder langsam steif werden ließ. Die Kälte war der größte Feind der Hunods auf diesem Planeten – und die Nässe.

Sorgfältig stapelte Zaleer die Kohlnüsse auf dem Boden. Die Gebilde aus zähen, mit­einander verflochtenen Pflanzenfasern wa­ren gerade groß genug, daß ein erwachsener Hunod einen Tag lang davon leben konnte. Kohlnüsse waren nicht gerade das Beste, was der Boden Welkans herzugeben hatte, aber sie waren immer noch besser als der na­gende Hunger.

Damals … Der Hunod lehnte sich zurück, scheuerte

den Rücken an den harten Schuppen des Baumes. Die Kälte kroch durch die Glieder und lullte den Geist ein.

Ja, damals … Zaleer begann zu träumen. Er dachte an

die Zeit zurück, da es noch genug gegeben hatte, genug zu essen, genug zu trinken, ge­nügend Wohnraum, genügend Heizwärme. Die Zeit lag sehr weit zurück, und ab und zu empfand Zaleer große Sehnsucht nach die­sem Leben. Wie ihm erging es fast jedem Bewohner des Planeten Welkan. Fast jeder Hunod schwärmte früher oder später von den herrlichen Zuständen vor der großen Tat.

Der Hunod bemerkte nicht, daß der Gang seiner Gedanken sich verlangsamte. Die Kälte sickerte unmerklich in seinen Körper ein. Unterschritt die Außentemperatur einen gewissen Schwellenwert, war ein Hunod im Freien praktisch verloren – bis er überhaupt begriffen hatte, was mit seinem Körper ge­schah, war er schon außer Gefecht gesetzt, eine leichte Beute für die Timiden, die es gerade in diesem Wald zuhauf gab.

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Zaleer pfiff träumerisch. Es war das Gewitter, das ihn weckte. Ein

Blitz tauchte die Landschaft sekundenlang in fahles, bläuliches Licht, dann rollte ein Donner über die Ebene, der schlagartig alle Lebensfunktionen des Hunods aufweckte.

Zaleer schrak auf, und er wußte im glei­chen Augenblick, daß er jetzt um sein Leben zu laufen hatte.

Die Lebensdrüse war aktiviert worden. Zaleer verblieben jetzt zehn Minuten.

Er sprang auf. An die Kohlnüsse ver­schwendete er keine Gedanken mehr. Er be­gann zu laufen, rannte hinaus in den Regen.

Wie ein Keulenschlag traf ein Regentrop­fen auf seinen linken Fühler. Zaleer spürte den Schmerz im ganzen Körper toben, aber er reagierte nicht darauf. Sein Körper wurde von der Lebensdrüse gesteuert, die zehn Mi­nuten lang ein Hormon freisetzte, das alle Lebensvorgänge aufpeitschte. Verschwun­den war das Kältegefühl, verschwunden die damit verbundene Gliederstarre. Die Hor­mone der Lebensdrüse ließen Zaleer rennen, sie schärften seine Gedanken.

Wenn Zaleer nicht binnen zehn Minuten sein Nest erreichte, war er unrettbar verlo­ren. Als ausgebrannte Hülle würde sein Kör­per im Wald liegenbleiben, den Timiden als leichte Beute zugänglich.

Blätter schlugen Zaleers Körper, Zweige peitschten seinen Schädel. Er stolperte, raff­te sich wieder auf und rannte weiter. Seine Tracheen waren weit geöffnet, er brauchte jetzt jedes Molekül Sauerstoff, das sich nur auftreiben ließ.

Der Körper eines Hunods war für solche gewaltsamen Anstrengungen nicht geschaf­fen. Die Lebensdrüse wurde nur in Ausnah­mefällen aktiv, und niemand wußte, wer oder was bestimmte, wann ein solcher Fall vorlag.

Eine Laune der Natur hatte es gewollt, daß das Ende der Hormonausschüttung deut­lich zu spüren war. Für einen kurzen Augen­blick durchzuckte ein Hitzeschauer den ge­schundenen Leib des Hunods, und dieser Augenblick verriet Zaleer, daß er noch eine

Peter Terrid

knappe Minute Zeit hatte. Er erreichte das Nest gerade noch recht­

zeitig. Er fiel mehr, als daß er ging, aber er erreichte die Lichtung, und es gelang ihm auch noch, einen heiseren Schrei auszusto­ßen.

Das letzte, was Zaleer wahrnehmen konn­te, war die Gebärde des Entsetzens bei sei­ner Brutpartnerin, dann umfing eine Ohn­macht den Hunod, und er ließ sich wohlig in die Schwärze fallen.

*

»Du hast unglaubliches Glück gehabt, Za­leer!«

Gegen diese Feststellung ließ sich nichts einwenden. Zaleer wußte selbst, daß er dem Tode nahe gewesen war. Er wußte auch, daß er in den nächsten zwei Monaten sehr sorg­fältig mit seinen Körperkräften würde haus­halten müssen – die Lebensdrüse brauchte Zeit, bis sie sich erholt hatte.

»Habt ihr die Kohlnüsse bergen können?« Gand-Kor, Zaleers Brutpartnerin, machte

eine Geste der Erleichterung. »Wir haben die Kohlnüsse gefunden«,

sagte sie, fügte dann aber mit einer traurigen Bewegung hinzu. »Leider waren sie schon angefault. Immerhin, im Nest ist man der Meinung, daß du dein Bestes getan hast.«

»Pah«, machte Zaleer. Er bewegte sich auf dem Lager. Das Stroh knisterte leicht bei jeder Bewegung. Zaleer brauchte nur einen Blick auf sein Lager zu werfen, um zu wis­sen, daß Gand-Kor auf ihre Zuteilung an fri­schem Lagerstroh verzichtet hatte, um es ihm so angenehm wie möglich zu machen. Zaleer war dies ein wenig peinlich.

»Du warst vier Tage ohne Bewußtsein«, erzählte Gand-Kor weiter. »Die Kinder und ich haben jede Minute an deinem Lager ver­bracht. Vor allem Gamin-Men war sehr um dich besorgt.«

Zaleer machte eine zärtliche Geste, die ihm aber ein wenig schwerfiel.

Irgendwie war der Bruch zu stark, der sich zwischen der alten und der neuen Le­

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bensform aufgetan hatte. Waren die Hunods früher kalt und gleichgültig gewesen, so schwammen sie nun förmlich in Gefühlsse­ligkeit. Eine so enge, gefühlsbetonte Bezie­hung zwischen Brutpartnern wäre früher un­denkbar gewesen.

»Bleib liegen«, forderte Gand-Kor ihren Partner auf. Einmal mehr stellte Zaleer fest, daß sie eine hinreißende Fühlerhaltung hatte, und einmal mehr fragte er sich verwundert, womit er es verdient hatte, daß sich die viel umschwärmte Gand-Kor ausgerechnet für ihn als Brutpartner entschieden hatte.

»Dibiad will noch einmal nach dir sehen, bevor du deine Arbeit wiederaufnimmst«, sagte Gand-Kor.

Als habe er auf das Stichwort gewartet, erschien der alte Dibiad im Eingang. Grau zeichnete sich sein alter, verhornter Körper gegen das Licht des Tages ab. Seine Fühler waren steif geworden vom Alter, aber er trug die Flügel noch genauso glänzend wie in jungen Jahren.

»Wie geht es dir?« fragte Dibiad. Seine Stimme verriet überdeutlich, daß er die Zeit des Brütens bereits lange hinter sich hatte.

»Ich fühle mich ein wenig schwach«, sag­te Zaleer. »Und außerdem stört es mich, daß ich die Kohlnüsse nicht ins Nest bringen konnte. Wäre die Lebensdrüse nicht gewe­sen …«

»Lägest du jetzt leer und ausgehöhlt am Waldrand«, stellte der Alte fest. Mit ge­schickten Klauen klopfte er Zaleers Oberflä­che ab. Der Klang des Panzers verriet dem Kundigen, wie es um die darunterliegenden Organe bestellt war – jedenfalls behaupteten die Medizinleute das.

»Sehr gut«, murmelte Dibiad ein ums an­dere Mal. »Sehr gut.«

Zaleer fand den hohlen Klang eher beun­ruhigend, aber er schwieg, nicht zuletzt, um den alten Hunod nicht zu kränken. Dibiad war der älteste dieses Nestes und hatte An­spruch auf ehrerbietige Zurückhaltung der Jüngeren. So bestimmten es die jahrtau­sendealten Traditionen des Volkes der Hu­nods, und es war seltsam anzuschauen, daß

diese Regeln ausgerechnet von der Gruppe so strikt befolgt wurden, die gegen die Tra­ditionen aufbegehrt hatten. Zaleer und seine Freunde waren so etwas wie konservative Revolutionäre, eine befremdliche Kombina­tion, aber sie war zutreffend.

»Ein paar Tage noch, dann kannst du wie­der sammeln gehen«, versprach der Medizi­ner feierlich. Er richtete sich auf. Es knackte ein wenig, als er die Greifklaue des rechten Armes schloß, auch dies ein Zeichen hohen Alters.

Dibiad verharrte einen Augenblick schweigend. Er wartete, daß man ihm das übliche Honorar zukommen ließ. Gand-Kor kehrte aus der Vorratskammer zurück. Sie trug ein Stück von einem Chawin-Sätling, das letzte, wie Zaleer sehr wohl wußte.

Dibiad nahm das Stück Sätling und be­dankte sich umständlich.

Es war üblich, den Alten für seine gering­wertigen medizinischen Dienste mit Nah­rungsmitteln zu entlohnen. Dibiad war viel zu alt und hinfällig, um für sich selbst sor­gen zu können. Chawin-Sätling aber war ei­ne ausgesprochene Delikatesse, und daß die­se Entlohnung in keinem Verhältnis zur Lei­stung stand, mochte auch der Alte empfun­den haben. Seine Danksagung fiel jedenfalls erheblich länger und schwülstiger aus als es üblich war. Dann sah er zu, daß er sich mit der Kostbarkeit rasch entfernte, bevor sich Gand-Kor zu einem Sinneswandel durch­rang.

Zaleer machte eine dankbare Geste. Er hatte begriffen, was Gand-Kor hatte aus­drücken wollen. Sie hatte Dibiad nicht nach seiner Leistung entlohnt, sondern vielmehr nach ihren Gefühlen von Dankbarkeit und Erleichterung. Sie hatte ausdrücken wollen, wie glücklich sie war, daß Zaleer überlebt hatte.

Er wollte gerade ein Kompliment machen, als in der Tür eine neue Gestalt auftauchte. Zaleer erkannte TamanT, den Nestältesten und Führer des Gelegeverbands. Daß Ta­manT ihn aufsuchte, war mehr als unge­wöhnlich.

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Zaleer grüßte mit dem standardisierten Triller, eine reine Reflexhandlung, weil sich seine Gedanken förmlich überschlugen. Ta­manT antwortete mit einer ungehaltenen Ge­ste. Es war nicht mehr üblich bei den Hu­nods, sich mit dem Gruß zu begegnen, der früher einmal vorgeschrieben gewesen war.

»Verzeih«, sagte Zaleer. »Die Gewohn­heit …«

TamanT lehnte sich gegen die Wand. Sei­ne Fühler vibrierten elastisch. Er war zwar Nestältester, aber das war eine Rangbezeich­nung und keine Altersangabe. Seine Körper­haltung verriet jedenfalls Kraft und Ent­schlossenheit.

»Wir haben ein Problem, Zaleer«, eröff­nete TamanT das Gespräch. Ein kurzer Blick auf Gand-Kor, der nur einen Sekun­denbruchteil dauerte, verriet dem aufmerk­samen Zaleer, daß auch TamanT die neue Lage nicht ganz verinnerlicht hatte. Daß Gand-Kor bei einem wichtigen Gespräch unter Männern im Raum blieb, war ebenfalls eine neuere Gewohnheit der Hunods.

»Wir stehen vor ernsten Aufgaben«, fuhr TamanT fort. Zaleer ließ ihn geduldig ausre­den. Er ahnte, daß sich Wichtiges anbahnte.

»Unsere Nahrungsmittelvorräte werden knapp«, sagte TamanT. »Meine Berechnun­gen haben ergeben, daß wir nur dann eine Chance haben, über den Winter zu kommen, wenn wir die halbe Brut opfern.«

Gand-Kor blieb völlig ruhig. Ihre Fühler zitterten nicht um die Breite einer Blattkan­te.

»Ihr würdet alle Legerinnen mit opfern müssen«, sagte sie ruhig.

»Das wissen wir«, sagte TamanT gelas­sen. »Außerdem sinkt durch diese Maßnah­me die Bevölkerungsquote unter den Wert 1 – wir würden an Zahl abnehmen, und das muß das Problem noch vergrößern. Ich sagte dies nur, weil es der Denkgewohnheit ent­spricht, so zu argumentieren. Ich wollte nicht, daß man uns vorwerfen kann, wir hät­ten nicht logisch, sondern gefühlsbetont ge­handelt.«

»Und wie sähe die Alternative aus?«

Peter Terrid

»Die Hälfte der erwachsenen Bevölke­rung müßte sich freiwillig opfern, dann wäre die Brut für die nächste Periode gerettet. Abe auch das brächte uns nicht weiter. Es gibt allerdings einen Ort, an dem es genug zu essen gibt für uns alle.«

Zaleer machte eine Gebärde des Ab­scheus.

»Niemals kehren wir in die Stadt zurück, niemals!« rief er aus. »Wir haben geschwo­ren!«

TamanT zeigte, daß er zu Recht der Füh­rer des Gelegeverbandes war. Er hatte alle Möglichkeiten durchdacht.

»Es gibt noch einen weiteren Grund für eine solche Aktion«, fuhr er fort. »Und die­ser Grund wiegt schwerer als alle anderen.«

Schweigen breitete sich aus. Jeder im Raum wußte, wovon TamanT

sprach – von der Rache derer, gegen die sich die Rebellion der Hunods gerichtet hatte. Diese Rache lag noch in der Zukunft, aber sie war unvermeidlich, wenn nicht ein Wun­der geschah.

»Was für einen Plan hast du gefaßt?« fragte Gand-Kor.

TamanT schwieg einen Augenblick lang. »Wir werden«, sagte er dann leise, »die

Stadt erobern. Und wenn das Schiff der Rä­cher kommt, werden wir auch dieses Schiff erobern, und wir werden damit diesen Plane­ten verlassen, und wir werden eine neue Welt für uns suchen, und wir werden sie fin­den. Und dort werden wir und unsere Nach­kommen leben und deren Nachkommen und so fort. Wir werden frei sein.«

»Oder tot«, sagte Zaleer ebenso leise. »Der Tod«, antwortete TamanT, »der Tod

kann uns nicht schrecken.«

2.

»In der Küche stinkt es«, sagte Harphan brummig. »Es stinkt ganz entsetzlich.«

Eynar, der Kommandant der GRIET, sah verdrossen auf die Abordnung der Besat­zung. Es war an sich schon ungehörig, daß sich die Leute überhaupt zu beschweren

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wagten. Auf der anderen Seite hatte Eynar die Belästigung selbst schon wahrgenom­men. Es roch wirklich nicht sehr gut in der Küche, und die Ausdünstung übertrug sich nicht nur auf das Personal der Küche, son­dern auch die Speisen hatten ein Hautgout, das selbst den abgebrühtesten unter ihnen den Appetit verschlug.

Selbst die Gelenke des Kommandanten klapperten ab und zu, weil er in den letzten Tagen nichts mehr zu sich hatte nehmen können. Er wartete verzweifelt auf den Tag, da sein Hunger größer sein würde als sein Ekel.

Vor der Mannschaft aber durfte er so et­was nicht zugeben.

»Der Lotse hat Wichtigeres zu tun«, be­schied er die Abordnung. »Er muß die GRIET steuern und lenken und warten und vieles mehr. Er kann sich nicht auch noch um die Küche kümmern.«

»Wer, wenn nicht der Lotse, soll sich dar­um kümmern? Wir etwa?«

»Warum nicht?« »Wir sind Mechaniker, Kommandant, kei­

ne Küchenakrobaten. Es verstößt gegen Zucht, Ordnung und Sitte, würden wir uns in der Küche aufhalten.«

Eynar schwieg betroffen. Natürlich, die Leute hatten recht. Jeder hatte seinen Kom­petenzbereich, und jeder hütete sich, in die Arbeit eines anderen hineinzupfuschen. Zum einen bekam man Ärger, zum anderen konn­te man ohnehin nicht helfen. Harphan bei­spielsweise war einer der besten Kanoniere, die es jemals bei den Hunods gegeben hatte. Er hätte einen Strahlwandler mit divergie­render Düsenmodulation im Schlaf ausein­andernehmen und wieder zusammenbauen können – aber er wäre nicht in der Lage ge­wesen, die Beleuchtung in seiner Kabine zu reparieren, falls sie defekt wurde.

»Und die Küche?« Harphan war der Mutigste in der Abord­

nung, er ging sogar soweit, sich einen spötti­schen Ton zu erlauben.

»Die können nur tiefgefrorene Nahrungs­mittel in ihre Tiegel hineinwerfen und darin

rühren, aber sie wissen nicht, wie es unter­halb der Töpfe aussieht. Diese Burschen wundern sich, daß das Zeug in ihren Töpfen überhaupt heiß wird.«

»Ich verbitte mir diesen Ton«, sagte Ey­nar scharf. »Er ist ungehörig!«

Harphan machte eine Unterwerfungsge­ste. Er wartete, bis der Kommandant ihm er­laubte, sich wieder aufzurichten.

»Was machen die Korrekturdüsen?« frag­te der Kommandant einen Triebwerksme­chaniker. Der Mann machte eine zuversicht­liche Geste.

»Mit Hilfe des Lotsen werden wir es bald geschafft haben. Ganzelpohn ist ein guter Lotse.«

»Die Biten sind alle gute Lotsen«, warf Harphan ein. »Jedenfalls die paar, die ich kennengelernt habe. Ich traue ihm auch zu, daß er herausfindet, warum es in der Küche so erbärmlich stinkt.«

Harphan wartete einen Augenblick lang, dann setzte er zum Sturmangriff an.

»Ich erlaube mir den Hinweis«, sagte er betont langsam, »daß ein Fortdauern dieses Zustands die Kampfkraft des Schiffes erheb­lich beeinträchtigen könnte.«

»Soll das eine Kritik an der Führung die­ses Schiffes sein?«

Harphan verneinte. »Es ist keine Kritik, Kommandant. Es ist

vielmehr ein Hilfeersuchen an die Schiffs­führung, uns bei der Wiederherstellung einer optimalen Kampfbereitschaft behilflich zu sein.«

Geschickt setzte er dann zum Flankenan­griff an.

»Es wäre auch, wenn ich das sagen darf, für die Mannschaft höchst betrüblich, müßte sie feststellen, daß den Fähigkeiten ihres über alle Maßen verehrten Kommandanten Grenzen gesetzt wären – zumal wenn es sich um ein vergleichsweise profanes Problem handelt wie in diesem Fall.«

Eynar schwieg betroffen. »Ich werde sehen, was sich machen läßt«,

versprach er. »Ihr seid entlassen!« Gehorsam verschwand die Abordnung aus

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der Kabine des Kommandanten. Eynar streckte eine Greifklaue aus und stellte eine Verbindung zum Lotsen her.

Wie nicht anders zu erwarten, war Gan­zelpohn hellwach.

»Ich habe ein Problem, Lotse«, sagte Ey­nar ohne Umschweife.

Die Stimme des Lotsen klang freundlich aus dem Lautsprecher.

»Sage mir, was dich beschäftigt. Wahr­scheinlich kann ich dir helfen. Übrigens werden die Korrekturdüsen bald wieder ein­wandfrei funktionieren. Wir sind mit der Ar­beit nahezu fertig.«

»Das freut mich«, sagte Eynar erleichtert. Die Korrekturdüsen hatten ihm in den letz­ten drei Tagen erhebliches Schädelbrummen bereitet. Mit defekten Korrekturdüsen ließ sich der Auftrag der GRIET nämlich keines­falls ausführen, und mit einem Mißerfolg hätte Eynar nicht gewagt, den nächsten Ha­fen anzufliegen. Er trug seine Sorgen vor, und der Lotse hörte geduldig zu.

Auf einem Bildschirm konnte Eynar den Lotsen sehen. Er hatte sich an den Anblick gewöhnt.

Ganzelpohn war ein Bite. Die Biten wa­ren ein aufrecht gehendes, zweibeiniges Volk von Lebendgebärern – soweit Eynar informiert war. Jedenfalls verfügte Ganzel­pohn über zwei Lauf- und zwei Handlungs­gliedmaßen.

Charakteristisch für den Biten aber war seine Haut. Der gesamte Körper des Lotsen war mit Blättern bedeckt, die eine regelrech­te Schuppenhaut bildeten. Die Farbe dieser blattähnlichen Strukturen wechselte von dunklem, intensivem Grün über eine reich­haltige Palette von Brauntönen bis zu fahlem Gelb. Gelbliche Blätter wurden in der Regel abgestoßen und durch nachwachsende grüne Blätter ergänzt.

So jedenfalls dachte sich Eynar den Vor­gang. Selbst gesehen hatte er lediglich, daß sich die schuppenförmigen Blätter aufrichte­ten, wenn es warm war und sich eng an den Körper anlegten, wenn es dem Lotsen zu kalt wurde.

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Zu sehen war von Ganzelpohns Äußerem vor allem der Kopf, der auf einem dünnen nackten Hals saß. Der Kopf erinnerte Eynar an eine gläserne Kugel, allerdings war die Wandung dieser Kugel milchig – man konn­te zwar die einzelnen Organe und die Teile des merkwürdig geformten Gehirns sehen, aber es ließen sich keine Einzelheiten aus­machen. Obendrein sonderten die vier Teile des Gehirns ein seltsames Leuchten ab, das es noch schwerer machte, sich im Schädelin­nern eines Biten auszukennen.

Einigermaßen sicher hingegen war, daß Ganzelpohn um den Hals eine Art Krause trug und daß in dieser Krause das Sprechor­gan des Biten angesiedelt war. In der Nähe dieses Organs und gleichfalls von den eigen­tümlichen Blättern der Halskrause bedeckt, gab es auch eine Öffnung, durch die Ganzel­pohn seine Nahrung aufnahm.

Es verstand sich von selbst, daß Eynar niemals so taktlos gewesen war, sich nach Einzelheiten von Ganzelpohn Anatomie oder Physiologie zu erkundigen. Er war zu­frieden damit, den Lotsen an Bord zu haben, und damit war es genug.

»Ich fürchte«, sagte Ganzelpohn mit leiser Stimme, »daß dieses Problem meine Fähig­keiten ein wenig übersteigt.«

Eynar machte eine erschreckte Geste mit den Fühlern. Er hatte sich nie vorstellen können, daß es Probleme gab, die selbst von der Perfektion eines Organschiffs und seiner Besatzung nicht zu lösen waren.

Der Bite hatte eine völlig andere Gestik als der Hunod, aber er verstand Eynars Be­wegung dennoch.

»Das Problem ist jedenfalls nicht sofort zu lösen«, setzte Ganzelpohn hinzu. Noch immer war seine Stimme leise, und sie klang sogar liebenswürdig. »Ich habe wichtigere Aufgaben.«

Eynar blieb keine andere Wahl, er mußte das Problem in voller Deutlichkeit schildern – und das schloß ein, daß der Kommandant mit seinen Untergebenen nicht mehr einig ging. Ein ungeheuerlicher Vorgang an Bord eines von Hunods bemannten Organschiffs.

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»Es könnte …«, druckste Eynar herum. »Ich meine, vielleicht …«

»Unruhe in der Besatzung?« Eynar machte eine zustimmende Geste. Er

war erleichtert, daß der Lotse das Problem anschnitt, und die Sanftmut in der Stimme des Lotsen ließ den Kommandanten hoffen.

»Es sieht so aus«, sagte Eynar. »Die Ge­fahr ist nicht sehr groß, aber immerhin …«

Der Lotse dachte nach. Fast glaubte Eynar sehen zu können, wie sich etwas im transpa­renten Schädel des Lotsen rührte und be­wegte. Er sagte sich aber, daß man schwer­lich Gedanken würde sichtbar machen kön­nen. Dennoch war es ein gespenstischer An­blick, den der Bite bot.

»Ich werde darüber nachdenken«, ver­sprach der Lotse schließlich. »Und ich wer­de mich melden, sobald ich ein Ergebnis ge­funden habe.«

»Ich danke dir, Lotse«, sagte Eynar, der Kommandant, und er meinte es ehrlich.

»Ich tue nur meine Pflicht«, erwiderte Ganzelpohn, der Lotse, und auch er meinte seine Worte ehrlich.

*

Er war allein, mit sich, mit seinen Gedan­ken, mit dem Schiff und mit dem Univer­sum.

Von sich selbst konnte er nicht viel sehen, dazu war seine Lage zu beengt. Er hatte sich daran gewöhnt; zudem wußte er, wie ein Bi­te aussah. Den eigenen Körper zu betrachten war ein müßiges Unterfangen, und Müßig­gang war dem Wesen des Lotsen fremd.

Auch von dem Schiff, das er führte und lenkte, sah er nichts. Aber er fühlte das Schiff.

Er spürte das Toben der Triebwerke, spür­te die Schritte der Besatzung. Seine Gefühle sagten ihm, ob die Maschinen richtig arbei­teten, ob es genügend Luft, genügend Was­ser an Bord gab. Seine Gedanken setzten Maschinen in Tätigkeit und schalteten sie wieder aus.

Denn er, Ganzelpohn, war das Schiff.

Man konnte den Verbund nicht anders be­zeichnen.

Ganzelpohn verlebte seine Tage in einer transparenten Aufwölbung am Bug des Or­ganschiffs. Von dort aus sah er die Sterne, die er ansteuerte. Die GRIET zu fliegen, zu lenken und zu erhalten war die Aufgabe des Lotsen. Weil er am Bug des Schiffes seinen Platz hatte, nannte man ihn auch die Gali­onsfigur der GRIET.

Verbunden wurden der Bite und das Or­ganschiff zum einen durch ein Lebenserhal­tungssystem, das aus dem Schiff Energie und Nahrungsmittel bezog. Verbunden wa­ren Bite und Schiff auch durch ein kompli­ziertes System von Leitungen, die die ein­zelnen Sektoren des Organschiffs mit den Gliedmaßen des Biten koppelte. Zahllos schienen die Kabel und Drähte, die aus dem Körper des Biten herauszuwachsen schienen und im Rumpf des Schiffes verschwanden.

Es war diese Kombination, dieser einma­lige Verbund, der Schiffe wie die GRIET so perfekt und einzigartig machte.

Jede Reaktion des Schiffes – und das schloß den gesamten Maschinenpark mit ein – konnte die Galionsfigur fühlen, und sie reagierte darauf gefühlsmäßig, wo es nötig war, und logisch denkend, wo solches Vor­gehen angebracht schien. Die Instinktkombi­nation, die Ganzelpohn auf Datenströme in­tuitiv reagieren ließ, gaben den technischen Abläufen an Bord der GRIET ein unerhörtes Tempo. Das ganze Schiff stellte manchmal einen einzigen, riesigen Reflexbogen dar – und genau das war die Absicht der Erbauer dieser Schiffe gewesen. Sie hatten dieses Konzept entwickelt, sie hatten die techni­schen Anlagen geliefert – und sie hatten es auch dem Biten Ganzelpohn ermöglicht, durch das All zu fliegen.

Der Lotse verspürte an einem seiner Blät­ter ein sanftes Brennen. Er versuchte, die leise Schmerzempfindung zu unterdrücken.

Das Brennen rührte daher, daß ein Haupt­reaktor überhitzt worden war; Ganzelpohns gefühlsmäßige Antwort wurde von einem kleinen Rechengehirn in verständliche Spra­

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che umgesetzt und als Bündel von Befehlen an die Hunod-Besatzung weitergegeben. Die Intuitivkombination funktionierte einmal mehr mit der gewünschten Perfektion.

Es ließ sich nicht vermeiden, daß viele Meldungen aus dem Innern der GRIET Gan­zelpohns Körper als Schmerz erreichten, aber das machte dem Lotsen nichts aus. Zum einen pflegte er sehr frühzeitig zu reagieren, zum anderen war er als Bite an das Ertragen von Schmerzen gewohnt. Es gehörte zum Ehrenkodex der Galionsfiguren, daß sie selbst dann noch ihre Organschiffe mit nachtwandlerischer Sicherheit flogen, wenn sie vor Schmerz schon halb besinnungslos waren.

Der wichtigste Grund aber war das Glück, daß sich für Ganzelpohn in dieser Bestim­mung als Galionsfigur sein größter Wunsch erfüllte. Schon immer hatte er davon ge­träumt, durchs All zu fliegen, und in seiner jetzigen Position wurde dieser Wunsch in ei­ner Art und Weise erfüllt, die ihresgleichen suchte.

Denn Ganzelpohn, die Galionsfigur, flog, wie er es sich immer erträumt hatte. Er wur­de nicht durch das All bewegt, er benutzte kein Schiff, kein technisches Gerät. Dank der wunderbaren Leben/Technik/ Leben-Verbindung des Organschiffs war Ganzel­pohn das Schiff.

Er flog, als hätte er nur die Arme ausbrei­ten und sich wünschen müssen, den Sternen entgegenzuschweben.

Er flog selbst, nach eigenen Wünschen und Vorstellungen, er flog mit seinem gan­zen Körper. Er konnte sich in der Schwärze baden, hineintauchen in das funkelnde Meer, sich wünschen, auf einen Stern loszurasen – und der Wunsch wurde erfüllt.

Ganzelpohn verspürte Glück darüber, die­se Aufgabe zu haben. Er empfand Dank für die Macht, die ihm dieses Leben ermöglicht hatte. Es vergnügte ihn, die vielfältigen Äu­ßerungen einer komplizierten Technik am eigenen Leib fühlen zu können. Allein das ungeheure Empfinden von Kraft, das ihn im­mer dann durchströmte, wenn er seine Ma-

Peter Terrid

schinen mit voller Leistung fuhr, das wollü­stige Zucken des ganzen Riesenleibs, wenn er tobende Breitseiten aus den Geschützen verfeuerte … Gefühle dieser Art stießen in Kategorien vor, die normale Lebewesen für immer verschlossen bleiben mußten.

Arme Hunods, ihre Küche stank, und sie wußten sich nicht zu helfen. Was für ein Problem, dachte Ganzelpohn mit sanftem Spott. Er empfand Mitleid mit den Hunods.

Sie waren schon von Geburt an benachtei­ligt – so stellte es sich der Galionsfigur dar.

Ihre Körper waren leicht und zerbrech­lich. Dazu waren sie noch einigermaßen un­beholfen. Sie glichen schlanken Riesenkä­fern, deren Leiber gepanzert waren. Daß sie überhaupt Raumfahrer stellten, verdankten sie der Tatsache, daß sie den oberen Teil des Körpers aufrichten konnten. Auf diese Wei­se konnten sie den Kopf leidlich heben und ihren vorderen Gliedmaßen Bewegungs­spielraum geben.

Eigentlich waren die Hunods an Bord der Organschiffe fast überflüssig. Den größten Teil der anfallenden Arbeiten erledigte oh­nehin die Kombination Galionsfigur/Organ­schiff.

Andererseits aber wäre das Leben für Ganzelpohn recht langweilig geworden. Die Hunods brachten Abwechslung in sein Da­sein, und er erfüllte ihnen gern die vielen kleinen und großen Wünsche. Er sorgte da­für, daß sie es an Bord einigermaßen be­quem hatten, er flog sie, wohin sie auch wollten, er feuerte mit seinen Kanonen auf Schiffe, die sie ihm zeigten.

Ganzelpohn hätte sich kein erfüllteres, kein glücklicheres Leben vorstellen können.

Er lebte dieses Leben schon seit geraumer Zeit. Kreuz und quer hatte er die Hunods durch verschiedene Bereiche der Galaxis ge­flogen. Dutzende von Häfen hatte er gese­hen, aber er war immer wieder froh gewe­sen, wenn die Hunods einen neuen Wunsch hatten, wenn es wieder losging.

Dieser Flug, beispielsweise, führte die GRIET sogar aus dem Bereich der Galaxis hinaus, und das machte diesen Einsatz be­

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sonders interessant und aufregend. Ziel des Fluges war eine Mikrogalaxis,

Tussänth genannt, die der eigentlichen Gala­xis vorgelagert war. Ganzelpohn hatte noch nie eine der vielen vorgelagerten Galaxien angesteuert, und er war gespannt auf das, was sich ihm dort bieten würde.

Er wußte auch, welcher Planet das Ziel des Fluges sein würde. Welkan hieß der Pla­net. Er war schon vor ziemlich langer Zeit von Hunods besiedelt worden. Vor kurzer Zeit war auf Welkan eine Seuche ausgebro­chen, die sich immer wieder einmal bei den Völkern der verschiedenen Galaxien zeigte. Da es gegen diese Geisteskrankheit keinerlei Heilmittel gab, sie aber andererseits hoch­gradig ansteckend war, mußten die Krank­heitsherde stets sehr gründlich gesäubert und ausgebrannt werden. In keinem Fall durfte zugelassen werden, daß das Revolutionsfie­ber auf andere Planeten übergriff und sich zu einer Epidemie entwickelte. Ganzelpohn wußte, daß der rebellische Außenposten auf Welkan nicht sehr groß war. Die Bekämp­fung der Seuche würde also nicht sehr schwer werden. In einigen wenigen Tagen war der Fall mit Sicherheit erledigt.

Ganzelpohn stellte fest, daß er den Be­reich der Heimatgalaxis bereits verlassen hatte und gradlinig die Mikrogalaxis Tus­sänth ansteuerte.

Es gab einstweilen nichts Wichtiges zu tun. Ganzelpohn beschloß, sich mit dem großen Rechengehirn an Bord der GRIET zusammenzuschalten und mit vereinten Kräften dem Problem der stinkenden Küche zu Leibe zu rücken.

In diesem Augenblick überfiel ihn der Schmerz.

3.

»Es ist heller Wahnsinn, was wir hier ma­chen«, murmelte Zaleer. »Selbstmord.«

Sie lagen in den Büschen am Rand des Waldes und spähten zur Stadt hinüber. Deut­lich waren die Mauern zu erkennen, und daß sich die Bewohner der Stadt ihrer Haut zu

wehren verstanden, war gleichfalls offen­kundig. Ein Schirmfeld spannte sich über die Stadt.

Gand-Kor seufzte leise. Unter dem Schirmfeld mußte es herrlich

warm sein, trocken, und in der Luft hingen wahrscheinlich angenehme Gerüche. Es gab vollrobotisierte Brüter und Brutbetreuer, es gab abwechslungsreiche Synthonahrung, es gab Ruhe, Sicherheit, Recht und Ordnung.

Nichts dergleichen hatten die Wald-Hu­nods aufzuweisen. Sie hielten sich nicht an Kopulationspläne, zogen ihre Brut selbst auf, schliefen auf Naturstroh und mußten sich mit einer einfachen, eintönigen Kost be­gnügen. Gand-Kor verstand es immer noch nicht ganz, warum sie sich den Rebellen da­mals angeschlossen hatte.

Zaleer stieß seine Gefährtin an, deren Ge­dankengänge er mühelos anhand ihrer Füh­lerbewegungen deuten konnte. Gand-Kor hing Erinnerungen nach, anstatt sich mit der Zukunft zu befassen.

»Wir können – alles in allem – knapp tau­send Mann auf die Beine stellen«, murmelte TamanT.

»Und das auch nur, wenn die Legerinnen mitkämpfen«, warf Zaleer ein. Der Gedanke, daß Legerinnen Waffen tragen sollten, irri­tierte ihn – er hatte schon genug mit der Tat­sache zu tun, daß Brüter ohne Lizenz mit ge­fährlichen Waffen hantierten.

»Die Städter haben bestenfalls dreihun­dert Kämpfer«, errechnete TamanT. »Wir sind folglich überlegen.«

Zaleer stieß ein böses Kichern aus. »Gehe hin und ringe das Schirmfeld nie­

der, du Überlegener«, spottete er. »Sie wer­den uns dezimiert haben, bevor wir noch an der Mauer angekommen sind. Von uns wer­den vielleicht acht oder zehn übrigbleiben, und auch das nur, weil die da drinnen je­manden brauchen, den sie öffentlich hinrich­ten können – als abschreckendes Beispiel.«

TamanT schüttelte sich bei dem Wort hin­richten. Die Henker der Hunods pflegten ih­res Amtes mit unvorstellbarer Grausamkeit zu walten.

12

»Wir werden es schaffen«, stieß er hervor. »Wir müssen es schaffen, ihr wißt es.«

»Eine List«, sagte Gand-Kor. »Wir müs­sen versuchen, die Städter zu übertölpeln. Wenn es uns irgendwie gelänge, ungesehen in die Stadt hineinzukommen …«

»… dann hätten wir eine gute Chance«, stimmte Zaleer zu. Auch TamanT machte ei­ne Geste des Einverständnisses. Dann wink­te er den anderen zu, in den Wald zurückzu­kehren.

Sie trafen sich zwei Stunden später wieder auf der Lichtung. Die Versammlung war vollständig, alle erwachsenen Rebellen wa­ren erschienen. Auf einem Podest hockte Di­biad, ihm zur Rechten der Nestälteste. Kin­der aus der vorletzten Brutperiode betreuten ihre jüngeren Geschwister.

»Ich möchte nicht, daß irgendeiner in die­ser Runde sich Illusionen macht«, eröffnete TamanT seine Ansprache. »Wir sind in der Terminologie unserer Gegner Rebellen, Ab­trünnige, Verräter. Die Herren der Schwar­zen Galaxis, die unser Volk versklavt haben, kennen keine Gnade; das Wort Erbarmen ist in ihrer Sprache unbekannt. Sie werden erst Ruhe geben, wenn wir tot sind – wenn die Sache der Freiheit tot sein wird.«

»Sollen sie nur kommen«, rief einer aus den hinteren Reihen. Abfälliges Zischen be­antwortete den Zwischenruf.

»Sie werden kommen«, sagte TamanT. »Mit einem Organschiff.«

Durch die Reihen der Versammelten ging ein leises Stöhnen.

»Organschiff?« Der alte Dibiad hatte ein Nickerchen ge­

macht, das ihm niemand verübelte. Bei die­sem Wort aber war er wach geworden und sah nun ängstlich in die Runde.

»Natürlich ein Organschiff.« TamanT ging auf die Frage des Alten nicht ein. »Ich nehme an, daß wir nicht mehr sehr viel Zeit haben werden, bis ein Organschiff über Welkan auftaucht.«

»Wir werden uns verstecken«, rief Gand-Kor. »Sie müßten Jahrtausende suchen, wollten sie jeden einzelnen von uns finden

Peter Terrid

wollen.« TamanT winkte ab. »Sie haben ein besseres Verfahren«, sagte

er darauf. »Sie werden die Stadt evakuieren – und danach werden sie auf Welkan einen atomaren Brand entfachen, den keine Macht des Universums mehr zu Stillstand bringt.«

Zaleer konnte sich einen Einwand nicht verkneifen.

»Glaubst du, daß wir so wichtig sind? Wert, daß man unseretwegen eine ganze Welt vernichtet?«

Kalt antwortete TamanT: »Unsere Unterdrücker würden ganze Son­

nensysteme vernichten, wenn sie damit auch nur einen Rebellen mit Sicherheit töten könnten. Muß ich dir erklären, mit wem wir es zu tun haben?«

Zaleer schüttelte den Kopf. »Mehr noch«, setzte TamanT seine Erläu­

terung fort. »Ich kann sogar vorhersagen, zu welchem Volk die Besatzung des Organ­schiffs gehören wird.«

»Du meinst …« »Selbstverständlich«, sagte TamanT bit­

ter. »Es werden Hunods sein, ich bin mir da ganz sicher.«

Ein leises Stöhnen ging durch die Ver­sammelten.

TamanT machte eine beschwichtigende Geste. Seine Körperhaltung drückte aus, daß er sich des Ernstes der Lage sehr wohl be­wußt, nicht aber bereit war, sich schon jetzt geschlagen zu geben.

»Und eben diese Heimtücke wird uns hel­fen«, sagte der Nestälteste.

»Wie soll das geschehen?« TamanT ließ ein wenig Zeit verstreichen.

Zaleer spürte, wie die Versammlung sich er­regte. Der Nestälteste wartete, bis das Schweigen unerträglich zu werden schien, dann erst begann er wieder zu sprechen.

»Wir werden die Stadt erobern«, sagte TamanT. »So schwer es auch sein wird, wir werden sie erobern.«

»Du wiederholst dich«, warf Zaleer ein. »Und danach«, fuhr TamanT fort, nach­

dem er Zaleer einen verweisenden Blick zu­

13 Geisel des Grauens

geworfen hatte, »werden wir so tun, als wä­ren wir die braven, fügsamen Bewohner die­ser Welt. Wir müssen dafür sorgen, daß möglichst viele Stadtbewohner ins freie Land vertrieben werden. Sie werden dann uns angreifen müssen.«

»Und wir? Sollen wir zurückkehren zu dem schmachvollen Leben vor der Befrei­ung?«

»Allerdings«, sagte TamanT mit er­schreckender Ruhe. »Wir werden wieder so gehorsam sein wie früher, jeder der Regeln befolgen, die Gebote beachten, und wir wer­den auch das Opfern nicht vergessen. Nichts, keine Kleinigkeit, darf andeuten, daß wir die Rebellen sind.«

»Die vertriebenen Stadtbewohner werden uns an die Besatzung des Organschiffes ver­raten!« erinnerte Zaleer. Die Versammlung wurde langsam, aber sicher zu einer Diskus­sion zwischen diesen beiden Hunods.

TamanT machte eine überlegene Geste. »Wie sollten sie?« fragte er zuversicht­

lich. »Sie werden die Stadt und uns angrei­fen, das ist Beweis genug. Und außerdem: wie sollen sie sich in der Wildnis dieses Pla­neten an die Regeln und Gebote halten, die auf ganz anderen Welten entwickelt worden sind. Ohne den Rechner der Stadt werden sie niemals in der Lage sein, Kopulationspläne aufzustellen, Opferstunden regelmäßig abzu­halten und was dergleichen Dinge mehr sind.

Nein, man wird uns für die Loyalen halten und unsere Feinde für die Rebellen. Und wir werden fleißig helfen, gegen diese Rebellen zu kämpfen. Und dann werden wir der Be­satzung in den Rücken fallen, sie überrum­peln und ihnen das Organschiff wegneh­men.«

»Kein schlechter Vorschlag«, mußte Za­leer zugeben. »Vorausgesetzt, wir sind tat­sächlich in der Lage, die Stadt zu erobern. Aber …«

»Was, aber …?« Zaleer machte eine längere Pause. »Es sind Hunods wie wir, die wir be­

kämpfen sollen. Und sie sind Opfer des glei­

chen Tyrannen, dessen Herrschaft wir ent­kommen sind. Dürfen wir sie dem sicheren Tod preisgeben?«

»Sie hindern uns daran, in Freiheit zu le­ben. Sie helfen den Tyrannen!«

»Dürfen wir sie deswegen töten?« In der Versammlung machte sich Betrof­

fenheit bemerkbar. »Unsere Gegner, wer immer sie auch sein

mögen, tun das, was sie für richtig halten. Woher wissen wir, daß unser Standpunkt ge­recht ist?«

»Geh doch zurück, wenn du es hier nicht mehr aushältst!« rief Dibiad empört.

»Ich bleibe hier, weil mir diese Lebens­form besser gefällt. Freunde, überlegt ein­mal: Wir nennen uns selber frei und nehmen uns das Recht heraus, unsere Unterdrücker mit todbringenden Waffen zu bekämpfen. Sie aber nennen uns Hochverräter und Re­bellen, und sie nehmen sich das Recht, uns zu verfolgen und zu töten, wo immer sie un­ser habhaft werden. Auf wessen Seite in die­sem Kampf ist die Wahrheit, wer hat recht? Wenn wir hingehen und sagen, daß wir nach unserem Kenntnisstand das Recht haben, auf unsere Unterdrücker zu schießen – haben diese dann nicht das Recht, nach ihrem Er­kenntnisstand auf uns zu schießen?«

»Mag sein«, wehrte TamanT unwirsch ab. »Aber das sind philosophische Müßigkeiten. Sie helfen uns nicht weiter …«

»Du machst es dir zu leicht, TamanT«, antwortete Zaleer. »Du brütest einen Plan aus, der uns alle in größte Lebensgefahr bringen wird. Du verurteilst in diesem Plan Hunderte von Hunods zum sicheren Tod – und du nennst es Müßigkeiten, wenn ich überlege, ob wir das Recht haben, so mit den Leben anderer zu verfahren?«

»Opfer müssen gebracht werden, und wir haben nicht die Zeit, uns um solche Dinge zu kümmern!«

»Du irrst, TamanT«, sagte Zaleer heftig. »Wir müssen uns diese Zeit nehmen, sonst sind wir so schuldig wie unsere Peiniger. Ich frage dich, wer soll die Opfer bringen, von denen du geredet hast, und wofür?«

14

»Für die Sache der Freiheit!« sagte Ta­manT.

»Hast du die Bewohner der Stadt gefragt, ob sie bereit sind, für eine Sache geopfert zu werden, die wir Freiheit, sie aber Hochverrat nennen?«

»Fragen die Tyrannen uns, bevor sie uns für irgend etwas opfern, das sie uns vorher nicht erklären?«

»Nein«, sagte Zaleer und lächelte. »Das tun sie wahrhaftig nicht. Aber, TamanT, wenn du diesen Standpunkt übernimmst, dann ist unsere Sache nicht mehr wert als die Sache der Tyrannen, dann sind wir nicht besser als sie.«

»Bei allen Göttern«, schrie TamanT wut­entbrannt auf; er sah sich sichtlich in die En­ge getrieben. »Sollen wir uns nicht wehren dürfen? Müssen wir lieber sterben als tö­ten?«

Zaleer schwieg bedrückt. »Eigentlich«, sagte er dann müde, »müßten wir tatsächlich diese Haltung einnehmen. Aber ich gebe zu, ich kann es nicht. Ich habe nicht die Kraft, tatenlos der Versklavung unseres Volkes zu­zusehen. Aber ich habe in diesem Augen­blick auch nicht die Kraft, auf einen Hunod zu schießen, der nur deshalb mein Feind ist, weil er die Fäden nicht sehen kann oder will, an denen er zappelt. Dies ist das, was ich zu TamanTs Plan zu sagen hatte.«

TamanT, zweifelsohne der intelligenteste Nestälteste, den die Hunods auf Welkan je hervorgebracht hatten, versuchte, das Pro­blem in den Griff zu bekommen.

»Ich gebe zu«, sagte er hastig, »daß die Einwände unseres Freundes Zaleer sehr be­denkenswert sind. Aber wir haben einfach die Zeit nicht, uns so viele Gedanken zu ma­chen.«

Zaleer winkte ab. »Auf dieser Ausrede kann man Imperien

aufbauen«, sagte er müde. »Aber ich sehe keinen Weg, der aus dieser Zwickmühle her­ausführte – es sei denn, wir halten uns an folgenden Grundsatz: wir tun das, was wir nach bestem Gewissen für nötig und unab­wendbar halten. Aber dann müssen wir ge-

Peter Terrid

wärtig sein, daß auch unsere Gegner das tun, was sie für richtig halten.«

Er verstummte. Er wußte, daß diesem Ge­dankengang ein anderer folgen mußte, der sich zwangsläufig daraus ergab – die zyni­sche Schlußfolgerung nämlich, daß Moral und Gerechtigkeit eine Frage der Macht wa­ren.

»Ich frage euch, sollen wir TamanTs Plan ausführen?« rief Dibiad hastig. Der Alte be­fürchtete offenbar, daß Zaleers Einwürfe ein Handeln der Hunods ewig verzögern wür­den.

Die Abstimmung war eindeutig. Eine kla­re Mehrheit stimmte TamanTs Plänen zu, nur eine verschwindende Minderheit enthielt sich der Stimme. Der Angriff auf die Stadt war damit beschlossene Sache.

TamanT nahm das Abstimmungsergebnis mit sichtlicher Befriedigung zur Kenntnis.

»Ich schlage vor«, rief er dann, »daß wir einen Planungsstab zusammenstellen, der die Einzelheiten des Angriffs ausarbeitet. Und ich schlage als erstes Mitglied dieses Stabes Zaleer vor.«

Zaleer war von diesem Manöver nicht zu überraschen. Er hatte damit gerechnet. Eine bessere Möglichkeit, ihn außer Gefecht zu setzen, konnte sich TamanT kaum einfallen lassen. Angesichts von soviel Großmut war Zaleer praktisch mundtot.

Wie nicht anders zu erwarten, zeigte sich die Menge begeistert. Die Großherzigkeit des Nestältesten wurde gepriesen, sein Ge­rechtigkeitssinn gelobt. Nur Zaleer war fest davon überzeugt, daß es sich bei TamanTs Vorschlag lediglich um einen Trick gehan­delt hatte.

Er sah, wie ihm Gand-Kor begeistert zu­winkte. Dibiad nickte beifällig. Der Alte ge­fiel sich in seiner Rolle als Weiser und be­nahm sich entsprechend.

Zaleer verließ den Versammlungsplatz. Er war hungrig und auch ein wenig niederge­schlagen. Zaleer spürte sehr deutlich, daß er das eigentliche Problem seiner Lage gar nicht erfaßt hatte. Er tappte am Rand der Problematik herum, ohne davon mehr Ertrag

15 Geisel des Grauens

zu haben als ein gewisses Unbehagen. Er wußte, daß die Stadthunods keine Sekunde zögern würden, wenn sie die Wald-Hunods zu fassen bekamen den Rebellen war in je-dem Fall der Tod gewiß. Zaleer erinnerte sich an die Erzählungen der Alten. Sie hat­ten noch Freunde gehabt in der Stadt. Man stelle sich vor: Freunde, die einander mit Waffen bekriegten!

Gand-Kor schob sich an Zaleers Seite. »Unzufrieden?« Zaleer nickte betrübt. »Ich habe nicht erreicht, was ich erreichen

wollte«, sagte er niedergeschlagen. »Und was schlimmer ist, ich wußte nicht einmal genau, worauf ich hinauswollte.«

»Iß erst einmal, dann wird sich vieles fin­den«, schlug Gand-Kor vor. Sie hatte einen stark entwickelten Sinn fürs Praktische, stellte Zaleer einmal mehr fest.

Das Mahl war kärglich, und Zaleer kaute ziemlich mißmutig auf den zähen Fasern herum. Er ärgerte sich nicht zuletzt deswe­gen, weil er sich die Gedanken seiner Ge­fährtin in diesem Augenblick leicht ausrech­nen konnte – in der Stadt gab es Nahrung in Fülle. Überhaupt, bei allem, was man den Tyrannen an üblem nachsagen konnte: an Nahrung hatte es nie gefehlt. In gewisser Weise war die Despotie leichter zu ertragen gewesen als die Freiheit. Die alte Herrschaft, das war das Regiment der Mächtigen über die Bequemen gewesen. Wer nicht nach­dachte und seine Pflicht tat, lebte ungescho­ren und leidlich glücklich. Die Rebellen leb­ten seit dem Aufstand zwar frei und damit glücklich, aber auch reichlich beschwerlich. Wäre die Tatsache nicht gewesen, daß es grundsätzlich für Rebellen kein Pardon gab – ein großer Teil der Waldbewohner hätte es vorgezogen, sich wieder unter die Herrschaft der Mächtigen zu begeben.

»Glaubst du, daß der Angriff auf die Stadt erfolgreich sein wird?« fragte Gand-Kor plötzlich.

Zaleer machte eine hilflose Geste. »Wenn wir ihn einmal begonnen haben,

wird er erfolgreich sein müssen«, sagte er

düster. »Andernfalls wird es das Ende sein für die Sache. Wir stehen hart an der Gren­ze, wenn wir noch mehr Leute verlieren, werden wir uns in dieser feindlichen Natur nicht behaupten können.«

»Dann haben wir also keine andere Wahl?«

Zaleer spie die letzten ausgekauten Fasern aus. Er machte eine Geste der Ratlosigkeit.

»Wir haben noch viele Möglichkeiten«, antwortete er gelassen. »Wir können uns selbst töten, wir können verhungern … es gibt eine Menge schlechter Möglichkeiten. Vielleicht werden ein paar von uns sich noch jahrelang in den Wäldern verbergen können. Aber in einem Punkt hat TamanT recht – wenn wir eine bessere Zukunft für uns und unsere Brut erreichen wollen, dann haben wir tatsächlich nur einen Weg zu ge­hen, den des bewaffneten Kampfes.«

»Und was heißt in diesem Zusammen­hang besser?«

»Mehr«, sagte Zaleer. »Einstweilen be­deutet das Wort besser nur mehr, einen Zu­wachs an materiellen Dingen. Mehr zu es­sen, mehr zu trinken, mehr Freizeit, mehr Si­cherheit vor den Unbilden der Natur.«

4.

Der Bite schlief nie. Als Lotse und Galionsfigur der GRIET

durfte er sich niemals eine Stunde Schlaf gönnen. Der Bite wußte allerdings, daß kein Bite jemals geschlafen hatte – wahrschein­lich war das genetisch vorprogrammiert, ein Charakteristikum seines Volkes und vermut­lich auch einer der wichtigsten Gründe, wa­rum so viele Biten die ehrenvolle Aufgabe eines Organschifflotsen übertragen worden war.

Der Bite schlief nie. Folglich konnte er auch nicht erwachen.

Aber er spürte plötzlich, während des Fluges nach Tussänth, daß irgend etwas mit ihm geschah. Was in ihm ablief oder sich veränderte, wußte der Bite nicht zu sagen.

Jedenfalls regten sich in seinem Körper

16

Empfindungen, die er nie zuvor gehabt hat­te.

Verständlicherweise war Ganzelpohn sehr betroffen, als er das merkte. Diese Anwand­lungen konnten möglicherweise dazu füh­ren, daß er Fehler machte und die GRIET in Gefahr geriet.

Ganzelpohn überprüfte die Lage. Die Be­satzung der GRIET schlief größtenteils. Nur die Nachtwachen waren noch aktiv. Auch der Kommandant hatte sich zur Ruhe bege­ben.

Ganzelpohn überlegte, ob er Eynar wecken sollte. Er beschloß, diese Maßnah­me zu verschieben. Ihm war zwar nicht sehr wohl in seiner Haut, aber er sah einstweilen noch keinen Grund, Alarm auszulösen.

Ganzelpohn begann über seine Lage nachzudenken. War er vielleicht krank ge­worden? Er konnte sich nicht daran erin­nern, jemals davon gehört zu haben, daß ei­ne Galionsfigur erkrankt sein sollte – aber er konnte sich ausrechnen, daß solche Dinge mit größter Diskretion behandelt wurden. Vielleicht konnten Lotsen allen Gerüchten zum trotz krank werden – und vielleicht war er einer dieser seltenen Fälle.

Jedenfalls fühlte sich Ganzelpohn elend, und dieses Gefühl wurde immer stärker. Es ergriff langsam den ganzen Körper des Bi-ten.

Ganzelpohn wußte nicht, was er davon halten sollte. Die Angelegenheit war ihm unheimlich. Sollte er eventuell umkehren und eine Werft anfliegen, die ihn wieder re­parieren konnte?

Der Bite verwarf den Gedanken. Dieser Ausweg hätte seinen Stolz auf seine Aufga­be und seine Leistungen als Lotse eines Or­ganschiffs stark gedämpft. Nein, eine Um­kehr kam nicht in Frage.

Ganzelpohn beschloß, den Flug fortzuset­zen. Gleichzeitig überprüfte er die Funktio­nen der GRIET.

Dazu brauchte er nicht mehr zu tun, als förmlich in sich hineinzuhorchen. Der wun­derbare Verbund zwischen dem Lotsen, dem Organschiff und den technischen Einrichtun-

Peter Terrid

gen eines solchen Schiffes machte diese Aufgabe leicht und lösbar.

Ganzelpohn brauchte eine halbe Stunde, dann war er zu einem Ergebnis gekommen, das ihn einigermaßen erschütterte.

Die erste Tatsache war, daß an Bord der GRIET alles bestens funktionierte, ausge­nommen davon war lediglich der Gestank in der Küche, aber der konnte unmöglich für Ganzelpohns Zustand verantwortlich sein.

Die zweite Tatsache war ebenso unbe­streitbar. Ganzelpohn ging es schlechter, und dieser Zustand zeigte Tendenz, sich zu verstärken.

Es blieb also tatsächlich nur noch die ab­surde Übereinstimmung, daß es dem Biten schlecht ging – und daß es in der Küche der GRIET stank. Der Bite war gewohnt, lo­gisch zu denken, und wo sein Gehirn versag­te, nahm er die Rechner der GRIET zu Hilfe. Ganzelpohn stellte eine Anfrage an die Spei­cher, ob bei dem Zersetzungsprozeß von Nahrungsmitteln Stoffe freigesetzt wurden, die die organischen Strukturen der GRIET in Gefahr bringen konnten.

Ganzelpohn mußte nicht lange auf das Er­gebnis warten.

Die Auskünfte der Speicher besagten, daß die Nahrung der Hunods, selbst wenn sie in Fäulnis überging, lediglich übelriechende Stoffe produzierte, und selbst der Geruch war nur übel aus der Sicht der Hunods – an­dere Völker hätten sich an den Dünsten er­freut. Giftige Bestandteile waren in den Fäulnisgasen der Hunodnahrung keinesfalls zu erwarten.

Diese Information beruhigte und verwirrte zugleich. Sie beruhigte, weil Ganzelpohn nunmehr sicher sein konnte, daß er sich nicht gleichsam beiläufig durch seine stin­kende Küche vergiftete. Sie verwirrte, weil sich der Zustand des Biten zu verschlechtern begann.

Noch einmal überlegte der Bite, ob er den Kommandanten wecken sollte, aber irgend etwas in ihm hielt ihn davon ab. Ihm war, als sollte er vielleicht ein wenig warten.

Angst begann sich in dem Biten auszu­

17 Geisel des Grauens

breiten. Es war dies ein Gefühl, das den Bi-ten lange nicht mehr berührt hatte. Angst hatte er nur sehr selten einmal gehabt. In sei­ner augenblicklichen Verfassung war dieses Gefühl um so verwunderlicher, als es in wei­tem Umkreis nichts gab, das zu fürchten ge­wesen wäre.

Gut, da war die Mikrogalaxis Tussänth, aber selbst von dort drohten der GRIET kei­nerlei ernstzunehmende Gefahren. Eine Um­schau zeigte dem Biten, daß er seine Hei­matgalaxis schon beinahe verlassen hatte – es war müßig, darüber nachzudenken, ob das die Angst ausgelöst hatte. Der Bite sah das Abbild seiner Heimat auf den Schirmen, und der Anblick löste alles andere in ihm aus, nur keine Furcht.

Schließlich war dies seine Heimat, dort war er geboren, dort hatte er seine Berufung empfangen …

Von einem Augenblick auf den anderen veränderte sich das Bild.

Rasender Schmerz zuckte in dem Biten hoch, und Ganzelpohn mußte alle Beherr­schung zusammennehmen, um nicht laut zu schreien oder unkontrolliert zu zucken. Im­merhin konnte er bei aller Überwindung nicht verhindern, daß die GRIET außer Kurs geriet.

Mochte sie, dachte Ganzelpohn. Schlagartig hatte er begriffen, die Er­

kenntnis durchzuckte ihn wie eine elektri­sche Entladung.

Ganzelpohn war frei, endlich frei – er war frei, seine Unfreiheit erkennen zu können.

*

Der Schmerz war kaum zu ertragen. In seinen Gliedern brannte ein verzehren-

des Feuer. Die GRIET geriet immer mehr außer Kurs, ohne daß Ganzelpohn dem hätte abhelfen können. In den Tausenden von Verbindungen, die ihn an die GRIET fessel­ten, wütete der Schmerz. Jeder Kontakt be­reitete Qualen, und Ganzelpohn wußte, daß der Schmerz so rasch kein Ende nehmen würde.

Aber es gab Schlimmeres. Da war die schreckliche Erkenntnis, daß

er sich getäuscht hatte. Er war nicht frei, er war kein Lotse, der

freudig seine Arbeit erfüllte. Die glückbrin­gende, geniale Verbindung zwischen ihm und der GRIET war eine Schimäre, sie exi­stierte in Wirklichkeit nicht.

Nicht er steuerte das Schiff – das Schiff bewegte ihn. Nicht der Lotse gab die Kom­mandos, er war vielmehr willfähriger Sklave der Besatzung, der Hunods.

Nicht Ganzelpohn bestimmte, wohin die GRIET flog. Eynar war der Kommandant, er steckte den Kurs ab, und die grauenvolle Verbindung Lebewesen/Maschine sorgte da­für, daß der Lotse sich diesen Kommandos willig unterwarf.

Die Symbiose, in der sich Ganzelpohn ge­wähnt hatte, existierte nur in seiner Einbil­dung. Es gab keine Lebensgemeinschaft auf Gegenseitigkeit – die Galionsfigur war der Sklave des Organschiffes und der Besat­zung.

Schmerz quälte den Lotsen, über Schmer­zen wurde auch das Schiff gesteuert. Wenn irgendwo eine Maschine ausfiel – Ganzel­pohn spürte es als Schmerz. Versagte der Antigravschacht, wurde dem Lotsen übel. Fiel der Antrieb aus, zuckten seine Beine, von grauenvollen Qualen gepeinigt. Es gab für die Galionsfigur nur eine Möglichkeit, sich der unausgesetzten Marterung zu ent­ziehen – sie mußte schnell jeden Befehl er­füllen, der ihr aufgetragen wurde. Der Lotse kämpfte einen immerwährenden Kampf ge­gen den Schmerz. Er mußte in sich hinein­horchen, auf das leiseste Anzeichen achten und jeder unangenehmen Empfindung sofort entgegenwirken. Tat er es nicht, erging es ihm schlecht.

»Ewige Qual über euch«, dachte der Bite. Der Lotse war die Geisel. Jede Aufsässig­

keit der Besatzung wurde ihm zur Qual, er mußte jede Rebellion an Bord im Ansatz er­sticken, um den Schmerzen entgehen zu können. Eine echte Rebellion hätte den Lot­sen das Leben gekostet, und Ganzelpohn

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war sich sicher, daß damit auch das Organ­schiff vernichtet worden wäre.

Die Verbindung war irreversibel. Es gab kein Zurück mehr. Lotse und

Schiff waren für immer verbunden. Nur der Tod konnte Ganzelpohn aus die­

ser Sklaverei des Grauens befreien.

*

Ganzelpohn brachte die GRIET auf Kurs, und sofort fühlte er sich etwas besser.

Der Lotse kehrte zu seinem früheren Ver­halten zurück. Er tat, als sei nichts vorgefal­len. Er hatte keine andere Wahl.

Ganzelpohn wollte den Schmerzen entge­hen, und er wollte nachdenken. Über sich und seine Lage. Über die Möglichkeiten, die ihm blieben. Über jene, die ihn zu diesem Leben verdammt hatten, die er nicht kannte, die er aber verabscheute und haßte.

Er wollte auch darüber nachdenken, wa­rum er überhaupt so empfinden und denken konnte.

Es hatte eine Panne gegeben, irgendwo im Schiffsinnern. Vielleicht war eine Schaltung durchgeschmort, ein Kabel gerissen, eine Si­cherung durchgebrannt.

Zum einen war damit jene wohlige Be­nommenheit von Ganzelpohn genommen worden, in der er früher gelebt hatte. Diese Dämmerung hatte verhindert, daß er den Schmerz tatsächlich als solchen empfunden hatte.

Und zum anderen war irgendeine geheim­nisvolle Sperre verschwunden, die ihn bisher daran gehindert hatte, auch nur frei zu den­ken, von freiem Handeln ganz zu schweigen.

Frei. Zum ersten Mal begriff der Bite, was die­

ses Wort bedeuten konnte. Es war eine bös­artige Ironie, daß er erst in dem Augenblick, in dem er zum ersten Mal frei denken konn­te, sich darüber klargeworden war, daß er in einem Zustand der Unfreiheit lebte, die je­des vorstellbare Maß überstieg.

Ganzelpohn ahnte, daß er ununterbrochen belauert wurde. Die Kontrolle zwischen Ma-

Peter Terrid

schine und Lebewesen war mit Sicherheit nicht einseitig. So gut wie er die technischen Anlagen der GRIET überwachte, so gut wurde er wahrscheinlich von der Program­mierung der Bordrechner kontrolliert.

Wenn er etwas unternehmen wollte, muß­te er sehr behutsam vorgehen, fast unmerk­lich.

Vor allem mußte er erproben, wie weit er überhaupt gehen konnte. Was für Manöver konnte er ausführen, ohne daß irgendwelche Automaten seine Entscheidungen einfach stoppten.

Ganzelpohn baute das Schirmfeld auf. Der Verbund funktionierte nach wie vor.

Er brauchte den Befehl nur zu denken, und das Feld baute sich auf.

Mitten im freien Raum war das mehr als ungewöhnlich. Ganzelpohn wartete auf eine Reaktion, aber es kam keine Antwort auf diese unsinnige Maßnahme. Ganzelpohn er­weiterte den Versuch. Er ließ auch die Ge­schütze ausfahren, zog ein Teil Energie vom Antrieb ab und stellte ihn für die Geschütze bereit. Die Fluggeschwindigkeit wurde da­durch erheblich vermindert, und das war be­fehlswidrig.

Nichts geschah. Langsam begann dem Biten zu dämmern,

daß er – innerhalb gewisser Grenzen – Ge­walt über das Schiff hatte.

Zum einen mußte Ganzelpohn herausfin­den, ob er den Befehl des Hunod-Kommandanten einfach verweigern konnte – gedanklich zumindest. Zum anderen muß­te er sich einen Weg einfallen lassen, die Hunods von den Kontrollen der GRIET fort­zulocken.

Wenn Eynar dem Lotsen beispielsweise befahl, die Geschwindigkeit zu verringern – konnte Ganzelpohn, dem Befehl zum Trotz, die Geschwindigkeit heraufsetzen?

Ganzelpohn mußte eine Antwort auf diese Frage bekommen, davon hing alles ab. Nur wenn er in der Tat rebellieren konnte, hatte er eine winzige Chance. Die Hunods durften in keinem Fall merken, daß der Lotse zu ei­genen, befehlswidrigen Handlungen fähig

19 Geisel des Grauens

war. Merkten sie es, konnten sie Ganzelpohn dadurch außer Gefecht setzen, daß sie die Führung des Schiffes übernahmen. Wenn Eynar in seiner Kabine das Licht ausschalte­te, war Ganzelpohn nicht in der Lage, es ge­gen den Willen des Kommandanten einzu­schalten. Wenn Eynar einen wichtigen Schalter betätigte, der Ganzelpohn die Ener­gie entzog, dann war der Lotse nahezu machtlos. Der Kommandant mußte nur auf die einprogrammierten Befehle verweisen, um die Kontrolle über das Schiff überneh­men zu können. Zwar war die GRIET ohne Lotsen nahezu hilflos, aber auch Ganzel­pohn konnte sich dann nicht mehr wehren.

Die Lage, in der sich der Bite befand, war vertrackt. Er hatte nur dann eine Chance, seine gerade erst errungene Freiheit zu be­halten, wenn es ihm gelang, die Hunods zu täuschen.

Ganzelpohn wußte eines: wenn es den Hunods gelang, das schadhafte Relais zu finden, dem Ganzelpohn seine Befreiung wahrscheinlich zu verdanken hatte, dann war der Traum von der Freiheit ausgeträumt. Der Bite würde dann wieder in den Däm­merschlaf der künstlichen Betäubung verfal­len, der ihm vorgaukelte, sein Leben als Lot­se sei die Erfüllung all seiner Wünsche.

Der Bite hatte die Wahl: Frei zu sein – und das hieß, Sorgen, Nöte

und Leiden ertragen zu müssen, mit allen Widerwärtigkeiten des Lebens fertig werden zu müssen – und zu wissen, daß die Verbin­dung zwischen ihm und dem Organschiff niemals zu lösen war.

Zurückzukehren zum vorherigen Zustand – und das hieß, tagein, tagaus in einem woh­ligen Dämmerzustand zu leben, in einem niemals endenden Halbrausch, in einer vor­gegaukelten Glückseligkeit – und zu glau­ben, die Verbindung zwischen ihm und dem Organschiff sei die Erfüllung seines Lebens.

Der Bite brauchte nicht lange für die Ent­scheidung.

Er wählte die Freiheit.

*

Ganzelpohn war hellwach, so konzentriert wie noch nie in seinem Leben. Er mußte jetzt doppelt und dreifach auf der Hut sein. Der kleinste Fehler konnte ihn zurückwerfen – und ein zweites Mal würde er nicht das Glück haben, das ihm zur Freiheit verholfen hatte.

Eines lag klar auf der Hand: wollte Gan­zelpohn die Hunods täuschen, mußte er vor­erst alles tun, was ihm die bereits erteilten Befehle vorschrieben.

Der Anflug auf die Station der Rebellen mußte also fortgesetzt werden.

Erleichtert stellte Ganzelpohn fest, daß dieses Verhalten ihm auch einige Schmerzen ersparen würde. Ruhe vor den peinigenden Impulsen aus den Maschinenräumen der GRIET hatte der Lotse eigentlich nur, wenn das Schiff mit mittlerer Geschwindigkeit auf sein Ziel zuflog. Jede Abweichung davon wurde dem Lotsen in der Transparentkuppel schmerzlich bewußt – und das in des Wortes buchstäblicher Bedeutung.

Noch schlief die Besatzung, von den we­nigen Wachen abgesehen, die sich mehr um sich selbst als um das Schiff kümmerten. Die Hunods wußten, daß die Galionsfigur zuverlässig über das Schiff wachte, wozu hätten sich die Wachen also anstrengen sol­len.

Niemand störte den Lotsen oder hinderte ihn daran, sich mit dem Schiff vertraut zu machen, aber dieses Mal anders, als es von den Erbauern geplant war. Ganzelpohn be­gann das Schiff darauf zu untersuchen, was er mit den Anlagen veranstalten konnte, um seinen Willen durchzusetzen. Wo konnte er seine Fähigkeiten dazu benutzen, den Hu­nods zu schaden? Mit welchen Mitteln konnte er der Besatzung seinen Willen auf­zwingen?

Es war eine völlig neue Erfahrung für Ganzelpohn, als er daran ging, seinen gan­zen Körper systematisch durchzuprüfen. Zwar hatte er das auch früher getan, es ge­hörte zu seinen selbstverständlichen Pflich­ten als Galionsfigur eines Organschiffs. Aber dieses Mal suchte er nicht nach Metho­

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den, das Schiff zum Wohle der Besatzung zu erhalten. Er fahndete nach Wegen, dieser Besatzung Schaden zuzufügen.

Es war eine grauenvolle Aufgabe. Grau­envoll deshalb, weil Ganzelpohn, wenn er sich die Freiheit erkämpfen wollte, die Mit­tel des Schiffes gegen die Besatzung würde verwenden müssen – und jede dieser Zweck­entfremdungen war für ihn unausweichlich mit Schmerzen verbunden.

Er konnte beispielsweise einen Roboter mit gefälschten Befehlen losschicken, der einen bestimmten Gastank zerstörte. Tech­nisch war dies keine besondere Aufgabe für Ganzelpohn. Aber die Zerstörung des Tanks würde er am eigenen Leibe zu spüren be­kommen. Und auch die Maßnahmen der Hu­nods würden ihn selbst treffen. Ganzelpohn war das Schiff, und der Weg in die Freiheit führte unausweichlich über Beschädigungen des Schiffes. Ganzelpohn würde sich selbst schwere Schäden zufügen müssen, um sein Ziel erreichen zu können.

Der Bite blieb ganz ruhig, obwohl er sich insgeheim vor Angst fast schüttelte.

Es war etwas anderes, sehenden Auges gegen eine Wand von Schmerzen anzuren­nen, als unvorbereitet verletzt zu werden. Der Bite zögerte dennoch nicht. Er leitete die ersten Maßnahmen ein, an deren Ende seine endgültige Freiheit stehen sollte.

Die stinkende Küche kam ihm dabei au­ßerordentlich zupaß. Ganzelpohn schlug ei­ne Reparatur der Kücheneinrichtung vor, und prompt wurde ein Trupp Robots losge­schickt, der Ganzelpohns Befehle in die Tat umsetzen sollte.

Der Bite hatte den Kampf begonnen. Ein Zurück gab es jetzt nicht mehr.

5.

»Nun rede endlich, TamanT!« forderte Gand-Kor den Nestältesten auf. »Wie hast du dir die Eroberung der Stadt vorgestellt?«

TamanT rührte sich nicht. Er sah zur Stadt hinüber, auf die Mauer und das Schirmfeld. Mit den technischen Mitteln, die den wildle-

Peter Terrid

benden Hunods zur Verfügung standen, wa­ren diese Hindernisse niemals zu überwin­den. Selbst wenn alle Waffen, über die die Rebellen verfügten, gleichzeitig auf einen bestimmten Ausschnitt des Schirmfelds ab­gefeuert worden wären, hätten die Angreifer keinen Durchbruch erzielen können. Dafür waren die Handwaffen zu leistungsschwach.

»Ich stelle es mir so vor«, sagte TamanT langsam. Er wandte sich um, damit ihn jeder sehen konnte.

Zaleer hatte das Gefühl, daß der Nestälte­ste den Verstand verloren hatte. TamanTs Stimme hörte sich befremdlich an. Er schien geistesabwesend, als stünde er gleichsam ne­ben sich selbst.

»Es wird keine Rebellion geben«, sagte TamanT. »Eine Rebellion unter uns Rebel­len. Eine kleine, tapfere Schar wird versu­chen, in den Schoß der gerechten Sache zu­rückzukehren.«

»Er ist übergeschnappt«, murmelte Gand-Kor.

Zaleer brachte sie mit einer herrischen Geste zum Schweigen.

»Zum Zeichen, daß sie tatsächlich bereit sind, die Herrschaft der Stadthunods anzuer­kennen, werden diese Rebellen Gefangene mitbringen, wenn sie in die Stadt zurückkeh­ren.«

Zaleer spürte, wie etwas eisiges über sei­ne Fühler rann. Was hatte TamanT vor? Er zeichnete sich ein Plan ab, der dem Gehirn eines Geisteskranken entsprungen zu sein schien.

»Was soll das heißen?« fragte Dibiad in höchster Erregung. »Hast du uns deshalb hierhergeführt?«

»Wir werden drei Gruppen bilden«, sagte TamanT, ohne auf den Einwurf zu achten. »Eine Gruppe der Rebellen, eine Gruppe der Loyalen – und eine dritte Gruppe. Diese letzte Abteilung wird die stärkste sein. Sie wird die Stadt erstürmen.«

»Und die beiden anderen Gruppen?« »Die Loyalen werden die Rebellen in ihre

Mitte nehmen, und sie werden hingehen zu den Hunods in der Stadt und zu ihnen sagen:

21 Geisel des Grauens

Seht, hier sind wir, bereit zur Unterwerfung. Und wir haben mit uns gebracht einige von denen, die sich gegen alle Gesetze versün­digt haben. Nehmt sie und verfahrt mit ih­nen, wie es euch Rechtens erscheint.«

Erneut wurde Zaleer von Schauder ge­packt. TamanT hatte sich Formulierungen bedient, die in den Alltagsgebrauch der Hu­nods nicht hineinpaßten. So hatten früher die Propheten geredet, wenn der Geist über sie gekommen war. Zaleer begann sich immer mehr zu fürchten.

»Sie werden die angeblichen Rebellen tö­ten«, rief Gand-Kor. »Und wahrscheinlich auch die vorgeblich Loyalen.«

»Das ist möglich«, gab TamanT zu. »Aber vielleicht werden sie die Loyalen am Leben lassen, denn sie brauchen Leute in der Stadt. Die Loyalen werden dann zu einem passenden Zeitpunkt hingehen, die Zentrale der Stadt erobern und das Schirmfeld ab­schalten. Dann wird die dritte Gruppe die Stadt erobern.«

»Und die Rebellen? Was wird aus de­nen?«

»Sie werden sterben«, sagte TamanT ein­fach.

»Und wer wird das sein?« Die Frage kam nach einer qualvoll langen

Pause. Sie klang leise, verriet Angst und Be­klemmung. Lähmend hatte sich die Stille über die Hunods gelegt.

»Ich werde einer davon sein«, sagte Ta­manT. »Und andere, die sich freiwillig mel­den werden.«

»Ich!« rief Zaleer spontan. Er spürte, wie Gand-Kor nach ihm griff.

TamanT machte eine zustimmende Geste. Zaleer spürte, wie in ihm eine ungeahnte Stimmung auszubreiten begann – eine Art Ehrfurcht vor der eigenen, schicksalhaften Größe, und im gleichen Augenblick wurde ihm bewußt, wie närrisch er gehandelt hatte. Jetzt konnte er nicht mehr zurück, selbst wenn er gewollt hätte. Er wäre einen sozia­len Tod gestorben, wäre er jetzt umgekehrt. Zaleer hatte der Versuchung nicht widerste­hen können, wenigstens einmal ein Hunod

von Bedeutung zu sein, ein Wesen, von dem man im Ton der Ehrfurcht sprach. Als Mär­tyrer wäre er dem Schicksal entgangen, ein namenloser Niemand unter Myriaden na­menloser Niemands zu sein.

Er sah ein, daß ihn dieser Anfall von Gel­tungssucht das Leben kosten würde, auf eine Art und Weise, die er sich gar nicht schreck­lich genug ausmalen konnte.

»Ich werde mitgehen!« Zaleer glaubte zu halluzinieren, als er

Gand-Kors Stimme hörte. Und dann meldete sich auch der alte Dibiad, und noch einer, und wieder ein anderer. Nach einigen Minu­ten standen die drei Gruppen fest, und Za­leer befand sich in der Reihe derer, die sich zum Martyrium bereit erklärt hatten.

Wie betäubt ließ Zaleer über sich ergehen, daß man ihn fesselte, ihm seine Waffen ab­nahm. Er sah nur die ehrfurchtsvoll mitleidi­gen Blicke der anderen, die sich für eine der anderen Gruppen gemeldet hatten. Die gan­ze Situation erschien Zaleer immer absurder.

Was hatte er davon, wenn er sich betrug wie ein Held im Lesebuch für Schulkinder? Er war kein Held. Er fand nichts Angeneh­mes daran, unter Qualen zu sterben, gleich­gültig, ob er anderen damit nützte oder nicht. Eigentlich, wenn er sich selbst genau prüfte, wollte er selbst gern leben und das Heldentum anderer bewundern. Er war be­reit, die Seelengröße der Märtyrer zu preisen und mit leisem Schauder von den Qualen zu berichten, die ihrem Tod vorangegangen wa­ren. Daß er sich selbst zu diesem Schicksal verdammt hatte, er schien ihm absurd, un­sinnig und sinnlos.

»Vorwärts!« Die Rebellen setzten sich in Bewegung,

von den Loyalen streng bewacht. Auch die Loyalen zeigten eigentümliche Mienen. Auch sie fühlten sich in ihrer Haut alles an­dere als wohl. War das Ende der Rebellen vorhersehbar wie das Aufgehen der Sonne, so war der Tod der Loyalen immerhin sehr wahrscheinlich. Es war ein Marsch von To­deskandidaten, der in diesem Augenblick seinen Anfang nahm.

22 Peter Terrid

»Warum hast du das getan?« fragte Gand-Kor ihren Partner. »Warum hast du dich ge­meldet?«

Zaghaft antwortete Zaleer: »Ich weiß es wirklich nicht. Und jetzt

spielt es auch keine Rolle mehr. Weißt du …?«

Gand-Kor zuckte leise mit den Fühlern. »Ich wollte nicht hinter dir zurückstehen«,

sagte sie leise. »Aber es ist so dumm, so un­sagbar dumm. Ich verstehe nicht, was wir hier überhaupt tun. Es ist so unnatürlich.«

Unnatürlich, das war das Wort, nach dem Zaleer gesucht hatte. Es war wider die Na­tur, sich abschlachten zu lassen – und doch marschierte er gefesselt, eingekeilt zwischen Freunden und bewacht von Freunden, und voraus flimmerte das Schirmfeld der Stadt, und hinter diesem Feld wartete der Tod.

Zaleer begann zu hoffen, daß der Plan fehlschlug, daß die Stadthunods das Schirm­feld nicht abschalteten. Oder daß sie die An­kömmlingen massakrierten, ohne sich über­haupt mit ihnen in Verbindung zu setzen. Vielleicht wartete gar nicht der Henker auf ihn, vielleicht fand er ein rasches, fast schmerzloses Ende im Feuerstrahl eines Energiegeschützes.

Ihm kam nicht zum Bewußtsein, daß die­ser Ausgang noch um etliches sinnloser war als das Ende, vor dem er sich fürchtete. Der Opfertod der Rebellen war nur dann sinn­voll, wenn TamanTs verwegener Plan ge­lang.

TamanT. Zaleer sah sich nach dem Nest­ältesten um. Er marschierte stumpfgesichtig wie die anderen; die gleiche Teilnahmslosig­keit wie bei den anderen sprach aus jeder seiner Bewegungen. Zaleer schob sich lang­sam an die Seite des Nestältesten.

»He, du! Keine Faxen, sonst setzt es et­was!«

Entgeistert registrierte Zaleer, daß die an­geblich Loyalen ihre Rollen mit geradezu beängstigender Perfektion spielten. Leise wandte sich Zaleer an TamanT:

»Willst du nicht endlich mit deinem Plan herausrücken?«

TamanT sah ihn entgeistert an. »Was für ein Plan?« fragte er. »Aber …«, stotterte Zaleer, der sich in

seine Idee verbissen hatte, »aber du hast doch nicht tatsächlich vor, uns alle zu op­fern? Das ist doch nur ein Trick, eine List, nicht wahr? In Wirklichkeit weißt du doch einen Ausweg.«

TamanT sah Zaleer finster an. »Es gibt keinen Plan außer diesem«, sagte

er dann ruhig. »Ich meine, was ich gesagt habe. Gereut es dich?«

»Nein«, stotterte Zaleer. »Keineswegs.« Er ließ sich zurückfallen, bis er wieder ne­

ben Gand-Kor marschierte. Die wahnwitzige Hoffnung, die noch vor Minuten in ihm ge­blüht hatte, war zerstört. Zaleer hatte sich an diesen Strohhalm geklammert, hatte ge­glaubt, daß es doch eine Möglichkeit gäbe. Es gab doch immer Möglichkeiten, überall und jederzeit. Warum nicht hier?

Warum war er so grauenvoll blöde gewe­sen, sich für diesen Selbstmord zu melden? Zaleer brauchte nur einen Blick auf die Wächter zu werfen. Deren grimmige Mienen machten ihm klar, wie absolut hoffnungslos seine Lage war. Nein, es gab keinen Trick bei der Sache. Es mußte gestorben werden, jetzt, hier – von ihm.

»Helden«, murmelte Zaleer unhörbar. »Alles Helden.«

Er sah Gand-Kor, deren Bewegungen Mü­digkeit erkennen ließen. Er sah Dibiad, der noch erstaunlich frisch wirkte. Er sah die an­deren, deren Haltung Verzagtheit ausdrück­te. Sie waren alle keine Helden, nicht ein einziger. Jedenfalls verhielt sich keiner so, wie es Helden für gewöhnlich taten – erho­benen Hauptes marschierten sie dem Tod entgegen, ironisch lächelnd oder inbrünstig singend.

Davon war nichts zu sehen. »Halt!« brüllte der Anführer der Loyalen.

Mit Kolbenstößen brachten die Wachen den Zug zum Stehen. Viel härter hätten Stadthu­nods auch nicht zuschlagen können, dachte Zaleer.

Ein halbes Dutzend Schritte trennte die

23 Geisel des Grauens

Gruppe von der äußersten Grenze des Schirmfelds.

Einen Augenblick lang fühlte sich Zaleer versucht voranzustürmen, sich kopfüber in das Feld zu stürzen. Dieser Tod würde nur einen Sekundenbruchteil dauern, er würde ihn gar nicht bewußt erleben.

Bevor er aber dazu kam, diesen Entschluß auszuführen, verschwand das Feld.

Der Weg in die Stadt war frei. Zaleer konnte die Mauern jetzt deutlich sehen. Zahlreiche Hunods standen auf den Zinnen und schauten auf die Ankömmlinge herab. Zaleer konnte sie nicht erkennen, dafür war die Entfernung zu groß. Er versuchte sich vorzustellen, was die Hunods auf den Wäl­len empfinden mochten. Triumph angesichts der Gefangenen? Mitleid? Schadenfrohe Vorfreude auf die öffentlichen Hinrichtun­gen? Erleichterung, weil nun kein Angriff mehr zu befürchten war?

»Sie warten auf uns«, sagte Gand-Kor lei­se. »Und ich glaube, sie freuen sich auf uns.«

»Möglich«, sagte Zaleer. »Sie leiden wie wir unter der Unter­

drückung«, fuhr Gand-Kor fort. Es schien sie nicht zu interessieren, ob ihr jemand zu­hörte. »Und weil sie selbst leiden, kann es sie nicht erschüttern, wenn auch wir leiden müssen.«

»Jeder einzelne ein kleiner Henker!« stieß Zaleer bitter hervor.

Die Kolonne setzte sich wieder in Mar­sch. In der Stadtmauer öffnete sich ein Tor. Bewaffnete wurden sichtbar, dann erschien ein Gebilde, das Zaleer nur vom Hörensagen kannte – ein Schwebefahrzeug. Die Stadtbe­wohner verwendeten diese Geräte, um sich das Laufen zu ersparen. Früher hatte Zaleer soviel Faulheit für verrückt gehalten, aber nach dem Anmarsch auf die Stadt konnte er sich vorstellen, wie angenehm es sein muß­te, sich in einem solchen Gerät fortzubewe­gen.

Mit hoher Geschwindigkeit raste der Glei­ter auf die Kolonne zu. Man brauchte nicht viel Phantasie, sich vorzustellen, wie macht­

voll sich die Hunods in diesem Gefährt vor­kamen, angesichts der Schar sich mühsam dahinschleppender Rebellen. Zaleer mur­melte eine Verwünschung.

An der Vorderseite des Gleitfahrzeugs ragte ein kurzes, dickes Rohr in Fahrtrich­tung. Es stak in einer halbtransparenten Kuppel. Es gehört nicht viel Sachverstand dazu, in diesem Rohr ein Energiegeschütz zu erkennen.

»Hoffnungslos«, murmelte Zaleer. »Gegen diese Übermacht kommen unsere Freunde nie an.«

Gand-Kor schwieg, aber aus ihren Bewe­gungen ließ sich ablesen, wie sehr sie von der Machtentfaltung der Stadtbewohner be­eindruckt war. Die rebellischen Hunods hat­ten zu lange in der Wildnis gelebt, um die Verhältnisse richtig einschätzen zu können. Zwar wußten sie, daß die Stadthunds ihnen technisch überlegen waren – aber so groß und gewaltig hatten sie sich diese Überle­genheit niemals ausgemalt.

Der Gleiter verlangsamte seine Fahrt und paßte sich der Geschwindigkeit der Marsch­kolonne an. Die Wachen machten Demuts­gesten, wie es sich gehörte, während die Re­bellen stumpf ihren Trott fortsetzten.

Ein Hunod in dem Gleiter richtete sich auf. Vermutlich war er der Nestälteste der Stadtbewohner.

»Wer seid ihr, und was wollt ihr?« Der Anführer der Loyalen wiederholte

seine Ergebenheitsbezeigung. Für Zaleers Geschmack fiel die Geste zu echt aus.

»Wir möchten zurückkehren, Herr«, sagte der Anführer. Zaleer kannte nicht einmal den Namen. »Zum Zeichen, daß wir es ernst meinen, haben wir diese hier gefangenge­nommen und mitgebracht. Es sind Rebel­len.«

»Ich sehe es«, sagte der Stadtälteste. Za­leer konnte sich nicht vorstellen, daß ein Hu­nod noch mehr Selbstherrlichkeit und Auto­rität in seine Gesten legen konnte. TamanT – als Führer der Rebellen von je her uneinge­schränkt anerkannt – war niemals auch nur näherungsweise so selbstbewußt aufgetreten.

24 Peter Terrid

»Und wo kommt ihr her?« »Aus der Wildnis, Herr. Es geht fürchter­

lich dort zu, Herr, und darum …« Der Sprecher verstummte. Von den Toren der Stadt war eine Kolon­

ne aufgebrochen, die in diesem Augenblick die heranmarschierenden Rebellen erreichte. Zaleer zählte knapp siebzig Hunods, und al­le waren schwer bewaffnet – eine beachtli­che Streitmacht.

Der Stadtbefehlshaber zögerte einen Au­genblick, dann gab er den Waffenträgern ein Zeichen. Sie schlossen die Waldhunods ein.

»Ihr wißt, daß ihr keine Waffen tragen dürfte«, sagte der Stadtkommandant, und Zaleer glaubte, aus seiner Stimme Spott und Verachtung heraushören zu können. »Wir werden fortan die Aufgabe übernehmen, die­ses Gesindel zu bewachen. Gebt eure Waf­fen ab!«

Zaleer hatte gehofft, daß die Freunde we­nigstens ein paar Augenblick lang anstands­halber zögern würden. Sie zögerten aber kei­nen Augenblick. Hätten sie sich tatsächlich unterwerfen wollen, sie hätten sich nicht willfähriger betragen können. Nach kurzer Zeit waren die Rebellen waffenlos.

Der Marsch wurde fortgesetzt. Zaleer konnte jetzt erkennen, daß die Zinnen der Stadtmauer dicht an dicht von Schaulustigen besetzt waren. Alte und Junge, Brüter und Legerinnen drängten sich auf den Wällen und begafften die Näherkommenden.

Zaleer wußte, daß sie in einigen Stunden, vielleicht Tagen, wieder so stehen und gaf­fen würden – diesmal, um zuzusehen, wie die Rebellen getötet wurden. Fast glaubte Zaleer das Brandeisen schon spüren zu kön­nen. Er verspürte einen unbändigen Haß auf die Gaffer – und auf sich selbst, daß er sich in diese hoffnungslose Lage gebracht hatte mit seiner Voreiligkeit.

Die Gruppe passierte das Tor der Stadt, und als Zaleer sich einen Augenblick lang umwandte, sah er zum einen, daß die Mauer mindestens fünf Meter dick war – und daß sich jenseits der Mauer das undurchdringli­che Schirmfeld wieder geschlossen hatte.

An Flucht war nicht mehr zu denken. Oder … Zaleer schielte auf die Wachen, die mit

grimmigen Mienen ihre Aufgabe erfüllten. Sie würden keinen Augenblick lang zögern, von diesen Waffen tödlichen Gebrauch zu machen. Einmal mehr fühlte sich Zaleer ver­sucht, mit einem raschen Anlauf der zu er­wartenden Qual zu entgehen. In die Schüsse der Wachen hineinzuflüchten, war als Tod sicherlich angenehmer als ein schmähliches Ende unter den harten Fäusten der Henkers­knechte. Und einmal mehr brachte Zaleer den Mut nicht auf, die entscheidenden Schritte zu tun. Mit bitterem Hohn gestand er sich ein, daß er wahrscheinlich aus purer Feigheit so standhaft wirkte, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte.

Die Stadtbewohner bildeten Spalier, als die Gefangenen über die glatten Straßen ge­führt wurden. Wie wohl es tat, diesen beque­men Boden unter den Füßen zu spüren. Und es war warm in der Stadt. Sie wurde von großen Maschinen künstlich erwärmt. Es hatte schon seine Vorzüge, den Herren zu gehorchen und ein folgsamer Hunod zu sein.

Auf Welkan hatten sich die Hunods Häu­ser gebaut, die von außen an halbierte Riese­neier erinnerten, braunschalig und mit klei­nen Fenstern versehen. Aus den offenen Tü­ren schlug der Geruch nach duftigem Nest­material auf die Straße. Zaleer sog den Duft mit Behagen ein. Auf so weichem, ange­nehm riechendem Nestmaterial hatte er noch nie schlafen dürfen; wahrscheinlich handelte es sich um ein Kunstprodukt, das nur denen zugänglich war, die sich dem überkomme­nen Herrschaftssystem bedingungslos unter­warfen.

Der Weg der Gefangenen führte durch die halbe Stadt auf einen großen, gepflasterten Platz. An einem Galgen klapperten die Überreste eines zum Tode Verurteilten. Un­ter dem Galgenbaum stank ein schwärzli­cher Haufen nach verbranntem Chitin. Wahrscheinlich war dort ein Unbotmäßiger dem reinigenden Feuer zum Opfer gebracht worden.

25 Geisel des Grauens

Zaleer wurde von dem Gestank fast übel. Nur mit Mühe beherrschte er sich. Er wußte Gand-Kor an seiner Seite, und es erschien ihm unpassend, vor der Partnerin Anflüge von Feigheit zu zeigen.

Er warf einen Blick auf die Loyalen. Sie sahen verdrossen drein und schielten immer wieder auf ihre Waffen. Vielleicht … noch war nicht alle Hoffnung verloren. Es mußte noch einen Ausweg geben, ein rettenden Trick, eine List, die letztlich doch alles zu einem guten Ende bringen würde …

Mitten auf dem Platz blieb der Gleiter in der Luft stehen. Unter andachtsvollem Schweigen richtete sich der Kommandant der Stadt in dem Fahrzeug auf. Hinter ihm erkannte Zaleer, schwarz und drohend, das Tor eines kantigen Gebäudes aus dunklem Stein, fensterlos und mit Doppelwachen an der Tür. Das Gefängnis.

»Wachen!« Die Bewaffneten präsentierten ihre Waf­

fen. »Führt die Rebellen in den Kerker.« Die Wachen schickten sich an, nach ihren

Gefangenen zu greifen. Mit einer Geste ge­bot der Kommandant ihnen Einhalt.

»Nicht nur diese. Nehmt auch ihre Spieß­gesellen fest.«

Eisiger Schrecken durchzuckte Zaleer. Verloren, alles war verloren.

»Verräterische Brut!« schrie der Stadtälte­ste. »Glaubtet ihr tatsächlich, ich würde auf diesen dummen Trick hereinfallen? Verräter seid ihr, einer wie der andere, und sterben werdet ihr, einer nach dem anderen. Führt sie ab, Wachen, und paßt auf, daß euch kei­ner entwischt, sonst wird einer von euch an der Stelle des Entflohenen sterben!«

Zaleer stand starr. Die Loyalen hoben fle­hentlich die Arme, aber der Kommandant winkte ab. Zaleer sah, daß TamanT schmerzlich zusammenzuckte.

Die Rebellion war endgültig gescheitert, und das Schicksal der Rebellen lag klar auf der Hand.

Nichts konnte die Hunods mehr retten, nichts außer einem Wunder.

An Wunder zu glauben hatte Zaleer ver­lernt. Er senkte den Kopf. Schweigend mar­schierten die Rebellen in die Dunkelheit des Kerkers.

6.

Ganzelpohn brauchte nicht erst nachzu­rechnen. Er wußte, daß die Mikrogalaxis Tussänth erreicht war. Es wurde Zeit zu han­deln.

Der Bite hatte Stunden damit verbracht, sich einen Plan zurechtzulegen, ihn auf jede nur denkbare Lücke hin zu untersuchen, sich genauestens auszurechnen, welchen Schritt seine Gegner auf jeden seiner Schritte unter­nehmen konnten. Was würden die Hunods wahrscheinlich tun, was konnten sie im für Ganzelpohn unglücklichsten Fall unterneh­men? Der Bite wußte: er durfte sich nicht die kleinste Blöße gehen, wenn er das Spiel um sein Leben und seine Freiheit gewinnen wollte. Vor allem bei den ersten Zügen durf­te Ganzelpohn kein Fehler unterlaufen.

»Tussänth ist erreicht«, meldete Ganzel­pohn. Er konnte Eynar sehen, den Hunod-Kommandanten der GRIET. Es war ein merkwürdiges Gefühl, ein Lebewesen zu se­hen, das im Innern des eigenen Körpers leb­te und über diesen Körper teilweise mehr verfügen konnte als der Körper selbst – so jedenfalls stellte sich die Beziehung zwi­schen dem Biten und der Hunod-Besatzung des Organschiffs dar.

»Sehr gut«, sagte Eynar. »Du kennst das Ziel?«

»Welkan«, sagte Ganzelpohn. Beinahe automatisch bekam seine Stimme den Klang, den sie immer gehabt hatte. Die Täu­schung schien zu gelingen. Eynar hatte nicht bemerkt, daß Ganzelpohn in seinen Gedan­ken frei war.

»Es soll dort einen Aufstand gegeben ha­ben?«

»Man sagt so«, erwiderte der Komman­dant. Er schien zu spüren, daß Ganzelpohn eine Unterhaltung anbahnen wollte, hatte aber ganz offenkundig keine Lust, sich auf

26

müßiges Geplauder einzulassen. »Wir wer­den diese Rebellion niederschlagen und zu­rückfliegen. Es wird sehr einfach werden. Vorausgesetzt …«

»Ja?« Eynar schwieg. Ganzelpohn sah seine

Rechnung aufgehen. Die ersten Züge liefen programmgemäß. Würde Eynar so reagie­ren, wie es sich Ganzelpohn ausgerechnet hatte?

»Die Sache mit der Küche«, sagte Eynar schließlich. »Die Besatzung wird immer … gekränkter.«

Ganzelpohn reagierte darauf nicht, ob­wohl er ein Gefühl des Triumphes spürte. Genau so mußte die Unterhaltung beginnen, so und nicht anders.

»Gekränkt ist wohl nicht der richtige Aus­druck«, sagte Ganzelpohn. Eynar mußte den gefährlichen Ausdruck ins Spiel bringen. Der Kommandant mußte das Wort benutzen, nicht der Lotse.

»Nun gut«, sagte der Kommandant nach einigem Zögern. »Die Leute werden unru­hig. Die Schiffsführung wird davon natür­lich nicht beeinträchtigt, das steht außer Zweifel.«

»Ich weiß«, sagte Ganzelpohn sanft. »Und was kann ich in diesem Problemfall tun? Ich habe einen Trupp Roboter losge­schickt, die sich des Problems annehmen werden. In ein paar Tagen ist die Angele­genheit erledigt und vergessen.«

Ganzelpohn legte eine kleine dramatische Pause ein, dann fragte er knapp:

»Oder?« Der Kommandant machte eine Geste, die

Ganzelpohn im höchsten Maß befriedigte. Eynar stak in einer bösen Klemme, und nichts konnte dem Lotsen gelegener kom­men.

»Ich befürchte …« Der Kommandant stockte. »Es könnte vielleicht … die Leute sind beinahe schon widerborstig.«

Ganzelpohn wartete ab. Noch hatte der Kommandant das fragliche Wort nicht be­nutzt, und solange er dieses Wort nicht aus­gesprochen hatte, wollte Ganzelpohn nicht

Peter Terrid

reagieren. Der Lotse konnte warten. Er wuß­te, daß sein Stichwort kommen mußte. Es war nur eine Frage der Zeit.

»Ich befürchte eine Rebellion!« Eynar sprach hastig, und der Seufzer, der

diesem Satz folgte, verriet, wie er mit sich im Kampf gelegen hatte.

Ganzelpohn unterdrückte seine Freude. »Das höre ich nicht gern«, sagte er und

gab seiner Stimme einen scharfen Unterton. »Es ist die Sache der Schiffsführung, solche Entwicklungen im Keim zu ersticken.«

Eynar machte eine Geste der Hilflosig­keit.

»Wenn die Leute schlechtes Essen be­kommen …«, rief er verzweifelt. »Was soll ich tun?«

»Selbstverständlich müssen Lotse und Kommandant in solchen Fällen zusammen­arbeiten«, verkündete Ganzelpohn. Eynar wirkte erleichtert, und der Lotse fuhr fort:

»Man könnte zur Dezimierung schreiten, als einfache Disziplinarmaßnahme. In die­sem besonderen Fall sollte der Kommandant mit gutem Beispiel vorangehen.«

Befriedigt stellte Ganzelpohn fest, daß Eynar zusammengezuckt war, als habe er ei­ne Starkstromleitung berührt. Das war nicht verwunderlich, denn Ganzelpohns Vor­schlag lief darauf hinaus, daß das Los ge­worfen wurde und danach jeder zehnte Mann der Besatzung öffentlich hingerichtet wurde und der Kommandant als erster.

Ganzelpohn fragte sich im stillen, was für eine Geistesverfassung Lebewesen haben mußten, die solche Grausamkeiten nicht et­wa als Strafe für begangene Verbrechen an­drohten, sondern Massenhinrichtungen als Disziplinarmaßnahme anordneten.

»Nun«, stotterte Eynar. »So kritisch ist die Lage nun auch wieder nicht. Es würde genügen, wenn diese Küche wieder normal funktionierte. Ist dieses Problem denn tat­sächlich so schwer zu lösen?«

»Ich fürchte ja«, sagte Ganzelpohn freundlich. Er hatte den Kommandanten da, wo er ihn haben wollte. Das Spiel konnte weitergehen.

27 Geisel des Grauens

Es fiel dem Lotsen nicht ein, dem ver­zweifelten Kommandanten zu erklären, daß der Gestank in der Küche daher rührte, daß ein ungehorsames Mitglied der Besatzung versucht hatte, sich zusätzliche Nahrung zu beschaffen – der Betreffende war ertappt worden und hatte das Diebesgut in einer Lampe verschwinden lassen. Das war die Quelle des Geruchs. Der Übeltäter war vor zehn Tagen bei einem Unfall gestorben, nie­mand konnte sich daher den Gestank erklä­ren. Inzwischen hatten Ganzelpohns Roboter einige Dutzend Liter hochkonzentrierter Reinigungsmittel in den Räumen verspritzt – und dieses Reinigungsmittel hatte Ganzel­pohn von anderen Robotern mit einigen Gramm Butyl-Mercaptan anreichern lassen. Infolgedessen stank es in der Küche jetzt noch grauenvoller, und bei jedem neuen Einsatz von Putzmitteln würde sich das Pro­blem noch verdichten.

»Ich schlage vor, Doppelwachen aufzu­stellen«, sagte der Lotse. »Das wird der Be­satzung klarmachen, daß sie sich ruhig zu verhalten hat.«

»Ich werde sofort die nötigen Befehle er­teilen«, versprach Eynar. »Ganzelpohn, was ist mit dir? Warum krümmst du dich!«

Stöhnend antwortete der Lotse: »Feuer! Feuer in Raum 32 im C-Deck.

Beeilt euch!« Er brauchte den Schmerz nicht zu schau­

spielern. Er wütete tatsächlich im Körper der Galionsfigur, und er war um so unerträgli­cher, als Ganzelpohn diesen Brand durch einen Kurzschluß selbst erzeugt hatte. Er hatte schon seit Minuten die ersten Wellen verspürt, die Schmerzen aber unterdrückt. Jetzt war das Feuer schon so groß geworden, daß er den Schmerz beim besten Willen nicht mehr unterdrücken konnte. Vor allem fehlte ihm in diesem Augenblick die wohli­ge Betäubung, die es ihm früher leicht ge­macht hatte, solche Schmerzen auszuhalten.

»Ihr müßt … abtrennen!« ächzte Ganzel­pohn. »Ich habe … keine Kontrolle … über …«

»Ich verstehe«, sagte Eynar hastig.

Er betätigte eine Reihe von Schaltern. Ein Bildschirm flammte auf und zeigte den Raum, in dem das Feuer ausgebrochen war. Auf den ersten Blick war zu erkennen, daß hier so schnell nichts zu retten sein würde. Kein Wunder, daß die Galionsfigur diese Schmerzen nicht ertrug – und zu kontrollier­ten Reaktionen war Ganzelpohn offenbar nicht mehr fähig.

»Ich schlage vor …«, ächzte Ganzelpohn mühsam. Er beherrschte sich mit äußerster Kraft – er durfte von dem, was er auszuhal­ten hatte, nur einen Bruchteil offenbaren. Für Eynar lebte er ja noch unter der Kontrol­le des Schiffes, die seine Schmerzen stark dämpfte. »Vakuumeinbruch … kontrolliert. Verstehst du?«

»Eine hervorragende Idee«, rief Eynar. Er gab eine Reihe von Befehlen. Obwohl

er mit sich selbst genügend zu tun hatte, schaffte es der Lotse, den Kommandanten scharf im Auge zu behalten. Eynar war unsi­cher geworden. Ob ihm die Schmerzen der Galionsfigur nahegingen, ließ sich natürlich nicht feststellen. Ganzelpohn nahm aber an, daß sich Eynar Sorgen um sein eigenes Wohlergehen machte – denn das hing wei­testgehend von der körperlichen Verfassung des Lotsen ab.

Eynar rief mit einer Stimme, die deutlich aufkeimende Panik verriet, seine Leute aus dem von Brand bedrohten Abschnitt des Or­ganschiffs zurück. Schotte wurden automa­tisch geschlossen.

Ganzelpohn war erleichtert, als er den Be­fehl zum Öffnen geben konnte. Eine Ladelu­ke wurde geöffnet, und einen Sekunden­bruchteil später war aus dem abgeteilten Be­reich jegliche Luft ins Vakuum entwichen. Im luftleeren Raum ging das Feuer natürlich in Sekundenfrist aus, und der Lotse konnte sich ein wohliges Seufzen erlauben.

Auch diesmal brauchte er seine Gefühle nicht zu heucheln. Es tat überaus wohl, die Kälte des Vakuums am Körper des Organ­schiffs zu spüren.

»Wie geht es dir?« fragte Eynar besorgt. »Besser«, erwiderte Ganzelpohn wahr­

28

heitsgemäß. »Allerdings sind, soweit ich es feststellen kann, einige Schäden entstanden, teils durch das Feuer, teils durch den Vakuu­meinbruch.«

»Schäden? Was für Schäden?« fragte Ey­nar alarmiert.

»Es sind Vorräte verbrannt«, wußte Gan­zelpohn zu melden. »Und einige Tonnen Fleisch sind verdorben.«

Der Kommandant des Schiffes stieß einen klagenden Laut aus. Ganzelpohns Meldung traf ihn hart. Nicht nur, daß sich die Leute über den Gestank beklagten, der von den Le­bensmitteln nicht fortzubekommen war – zu allem Überfluß mußten jetzt auch noch die Lebensmittel rationiert werden.

Eynar bewilligte dem Lotsen eine Dosis eines harmlosen Schmerzmittels, dann wandte er sich dem Problem zu, die Vorrats­haltung nachzurechnen.

Ganzelpohn spürte mit wachsender Angst, wie das Analgetikum zu wirken begann. Er hatte sich Eynars Vorschlag nicht widerset­zen können, ohne dabei aus der Rolle zu fal­len. Insgeheim hatte er gehofft, der Kom­mandant würde sich mehr um seine eigenen Problem kümmern, aber das war eine Fehl­kalkulation gewesen. Immerhin erwies sich Ganzelpohns Furcht, das Medikament könn­te auch seine Entschlußfähigkeit beeinträch­tigen, als unbegründet. Das Analgetikum dämpfte den Schmerz, und diese Wirkung konnte Ganzelpohn nur willkommen sein.

»Wie sieht es aus?« fragte Ganzelpohn nach einer kleinen Pause. Was er zu hören bekommen würde, hatte sich der Lotse längst ausgerechnet.

»Entsetzlich«, sagte Eynar ohne Um­schweife. »Wir haben praktisch nur noch die Nahrungsreserven zur Verfügung, und die­ses Zeug ist so widerlich …«

»Kritik an der Schiffsführung?« fragte Ganzelpohn sanft. Er konnte nicht anders. Im Normalzustand kontrollierten sich Lotse und Besatzung gegenseitig, und Ganzelpohn mußte dieses Spiel konsequent weitertreiben – bis zu dem Augenblick, da er die Tarnung nicht länger würde aufrechterhalten können.

Peter Terrid

Aber bis dahin war es noch weit. »Nun ja«, murmelte der Kommandant.

»Ich mache mir ernstliche Sorgen um die Stimmung der Besatzung.«

»Ich schlage vor, weitere Wachen aufstel­len zu lassen – vor allem vor den Nahrungs­depots. Eine denkbare Meuterei muß um je-den Preis verhindert werden.«

»Selbstverständlich«, sagte Eynar sofort. »Nur keine Rebellion!«

Er schüttelte sich bei dem bloßen Gedan­ken daran. Ganzelpohn konnte mit sich und seiner Arbeit zufrieden sein. Er hatte die La­ge fest im Griff, und er war fest entschlos­sen, diesen Griff noch zu verstärken.

*

Ganzelpohn hatte Eynar zehn Stunden zu­gebilligt, aber der Plan des Lotsen vollzog sich rascher und präziser, als sich die Gali­onsfigur das hatte vorstellen können.

Schon nach sieben Stunden meldete sich der Kommandant der GRIET wieder bei der Galionsfigur. Als die Verbindung hergestellt war, sah Ganzelpohn mit stillem Vergnügen, daß Eynar nur noch ein Nervenbündel war.

»Es ist entsetzlich«, stieß Eynar hervor. »Die Leute … sie werden immer unruhiger. Ich befürchte allen Ernstes einen Aufstand.«

Ganzelpohn verstand sehr gut, warum Ey­nar so aufgeregt war. Daß bei einer Meuterei jeder, der den Meuterern in irgendeiner Form half, mit dem Tode bestraft wurde, lag auf der Hand. In der Welt, in der die Hunods und die Biten gezwungen waren zu leben, war es aber auch üblich, daß der Komman­dant des Meutererschiffs hingerichtet wurde, denn er hatte immerhin den Anlaß zur Meu­terei geliefert.

Im Normalfall wäre jetzt auch Ganzel­pohn aufgeregt gewesen. Auch er hätte den Tod zu erwarten gehabt, wäre es zu einem Aufstand der Besatzung gekommen. Es wur­de überhaupt sehr schnell und überaus oft mit dem Tode bestraft, dachte Ganzelpohn.

»Das ist sehr unangenehm«, ließ sich Ganzelpohn vernehmen. »In kurzer Zeit

29 Geisel des Grauens

wird der Planet Welkan in Sichtweite kom­men, jener Planet, auf dem wir einen Auf­stand niederzukämpfen haben. Muß ich dir erklären, was das für Folgen haben wird?«

Eynar machte eine Schreckgebärde. Meuterer im Schiff, Meuterer außerhalb

des Schiffes. Möglich, daß sie sich gar mit­einander verbündeten …

»Unter diesen Umständen«, fuhr Ganzel­pohn fort, »sehe ich keine andere Wahl als die, daß wir die Besatzung systematisch von allen Positionen abberufen.«

»Wirst du das Schiff denn ganz allein lan­den können?«

»Ich traue es mir zu«, sagte Ganzelpohn. »Dem Risiko, daß wir havarieren, steht ge­genüber, daß eine Befehlsverweigerung während des Landeanflugs weit verhängnis­vollere Konsequenzen haben muß.«

»Das stimmt«, beeilte sich der Komman­dant der GRIET zu versichern. »Ich werde die ganze Besatzung in die Hangars stecken. Genügt das?«

»Wahrscheinlich«, sagte Ganzelpohn. »Laß mich wissen, wenn es Schwierigkeiten gibt.«

Er hätte am liebsten triumphierend ge­schrien, so erleichtert war er. Eynar war von der Lage hoffnungslos überfordert, und er arbeitete dem Lotsen in geradezu idealer Weise in die Hände.

Auf den Bildschirmen, die Ganzelpohn zu kontrollieren hatte, tauchte ein Punkt auf. Welkan wurde über normale Optiken sicht­bar. Es konnte nicht mehr lange bis zum Landeanflug dauern.

Auf einem kleineren Schirm verfolgte Ganzelpohn, wie Eynar die Besatzung der GRIET antreten ließ. Roboter mit schußfer­tigen Energiewaffen tauchten auf den Gän­gen auf und trieben die wütend schimpfen­den Hunods vor sich her. Wenn die Leute nicht schon vorher zu einer Meuterei bereit gewesen waren, so wurde ihnen mit diesen Maßnahmen die letzte Hemmung genom­men.

Welkan wurde größer. Ganzelpohn kon­trollierte noch einmal kurz alle Systeme, die

seiner Befehlsgewalt unterstanden. Alles sah danach aus, als werde sein Plan gelingen.

Während sich auf den Schirmen der Punkt in eine winzige Scheibe verwandelte, die langsam ein wenig größer wurde, erschienen die letzten Mitglieder der Besatzung in ei­nem der Beiboothangars. Eynar hatte es tat­sächlich geschafft, die gesamte Besatzung von allen Stationen abzuziehen. Ganzelpohn rechnete nach.

Er brauchte noch etwas mehr als eine hal­be Stunde. Innerhalb dieser Frist konnten seine Pläne von der Besatzung durchkreuzt werden, danach war das Spiel gelaufen – und für die Hunods verloren.

Sechsundzwanzig Minuten. Welkan schi­en näherzukommen. Im Hangar vergrößerte sich die Unruhe. Eynar ließ sich von einem Arbeitsrobot anheben. Wahrscheinlich woll­te er versuchen, die Besatzung mit einer An­sprache zu beruhigen.

Zweiundzwanzig Minuten. Eynar hatte zu reden begonnen, und sein Vortrag schien die Hunods zumindest zu interessieren. Jeden­falls verhinderte der Kommandant, daß sich die Besatzung zusammenrotten und gegen ihn losschlagen konnte. Er redete lang und breit und schwülstig und mit vielen Wieder­holungen.

Siebzehn Minuten. Einzelne Besatzungs­mitglieder wagten Zwischenrufe. Das hätte ihnen mindestens zwei Wochen Arrest ein­getragen. Ganzelpohn sah es mit Befriedi­gung. Die Hunods mußten sich gegenseitig beschäftigen, sonst kamen sie auf Gedanken, die der Lotse überhaupt nicht brauchen konnte.

Dreizehn Minuten. Welkan war eine deutlich erkennbare

Scheibe in Fahrtrichtung. Alle Aggregate liefen einwandfrei. Ganzelpohn begann zu hoffen. Es sah aus, als würde sein Plan ge­lingen.

Elf Minuten. Ganz behutsam wendete Ganzelpohn die

GRIET. Der Hangar, in dem sich die Besat­zung versammelt hatte, zeigte jetzt auf den Planeten, der auf allen Bildschirmen wuchs.

30

Sieben Minuten. Die Sekunden scheinen sich in Ewigkei­

ten aufzulösen. Jede Bewegung wird zer­dehnt, zeitlupenhaft langsam. Eynar dreht sich mitten in seiner Ansprache herum, sieht auf den Bildschirm hinter sich. Besatzungs­mitglieder gestikulieren wild.

Drei Minuten. Eynar macht eine Geste, die Ganzelpohn

nicht ganz verstehen kann. In wenigen Au­genblicken wird das Schiff die Lufthülle des Planeten Welkan berühren. Ganzelpohn hat es unterlassen, die Prallfelder einzuschalten. Der Bordrechner warnt.

Zwei Minuten. Ein Robot, von Ganzelpohn an diese Stel­

le delegiert, gibt einen Feuerstoß auf den Rechner ab. Ganzelpohn spürt einen rasen­den Schmerz durch seinen Körper toben. Er zuckt gequält. Die GRIET gerät aus dem Kurs.

Eine Minute noch. Eynar begreift. Ein Ruck geht durch den

Leib des Schiffes. Eynar öffnet den Mund. Er schreit einen Befehl. Ganzelpohn zuckt ein weiteres Mal zusammen. Lähmendes Entsetzen hat nach ihm gegriffen.

Dreißig Sekunden – eine halbe Minute zu früh.

Eynar hat das Doppelspiel des Lotsen durchschaut. Und auch die Besatzung hat begriffen.

Fünfzehn Sekunden, bevor er das Spiel endgültig gewonnen hätte, steht Ganzelpohn allein da. Einer gegen alle.

Der Kampf um die GRIET ist entbrannt. Und der Lotse schreit. Schmerz, Entset­

zen und Enttäuschung – Verzweiflung eines Gequälten gellt den Hunods aus allen Laut­sprechern entgegen.

Sie zögern nicht einen Augenblick. Die Hunods greifen zu den Waffen, sie feuern.

7.

Finsternis umgab die Hunods. Die Wände waren naß und kalt, der Boden hart. Am schwersten zu ertragen aber war die Ver-

Peter Terrid

zweiflung. Es war still in dem Kerker, in dem sie la­

gen. Nicht in der größten Not hatte Zaleer so elend genächtigt. Aber er klagte nicht. Die Verzweiflung hatte ihn stumm gemacht.

Er wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war, seit man sie in das Gefängnis geführt hatte, einen langen, schwach erleuchteten Gang entlang, dann vier Treppen in eine kal­te und modrige Tiefe hinab, durch eine Tür aus massivem Stahl, hinein in ein Loch, des­sen Ausdünstung Zaleer den Atem verschla­gen hatte.

Schweigend warteten die Hunods auf das Kommende. Sie brauchten nicht zu raten und zu deuten. Was kommen würde, lag auf der Hand; zumindest stand das Ende bereits fest. Der Tod war den Rebellen sicher – fraglich war nur, wieviel sadistisches Ver­gnügen die Stadthunods aus dem Tod ihrer Artgenossen zu ziehen wünschten.

Zaleer entsann sich, von einer Hinrich­tung gehört zu haben, bei der man den De­linquenten sieben Stunden lang gefoltert hat­te, bis er endlich gestorben war. Bei dem bloßen Gedanken an ein ähnliches Schicksal zitterte Zaleer am ganzen Körper.

Nun, ihn würde man so lange nicht miß­handeln können. Sein Körper war noch ge­schwächt von der Aktivierung der Lebens­drüse. Dennoch, Zaleer wurde von Angst ge­peinigt.

Gand-Kor hockte neben Zaleer auf dem Boden und rührte sich nicht. Zaleer hätte sich gerne mit ihr unterhalten, aber er brach­te nicht den Mut auf, das Schweigen im Ker­ker zu durchbrechen.

Außerdem: Was sagte man in einer voll­besetzten Todeszelle, ohne den anderen auf die Nerven zu gehen mit belanglosem Ge­wäsch?

»TamanT!« Das war eine junge Stimme, die nach

Aufregung klang, merkwürdigerweise aber keine Angst verriet.

»Wer spricht?« Zaleer hielt den Atem an. TamanTs Stim­

me klang ruhig und fest.

31 Geisel des Grauens

»Gathar. Ich habe etwas entdeckt. Komm her, TamanT, und fühle selbst.«

Bewegung kam in die Reihen. Es war ein entsetzliches Drängen und Schieben, als Ta­manT sich durch die zusammengepferchten Hunods auf den Sprecher zu bewegte. Zaleer erinnerte sich an den jungen Gathar. Er war vor vier Brutperioden gelegt worden, ein frecher, rauflustiger Geselle, der bei jünge­ren Legerinnen ein beneidenswert leichtes Spiel hatte. Zaleer fragte sich, wie der Frechdachs in diesen Kerker gekommen war – hatte der Tausendsassa tatsächlich den Mut gehabt, sich für ein solches Todeskom­mando zu melden?

Einige Minuten verstrichen. Man hörte merkwürdige Geräusche. Schaben, Kratzen, etwas knirschte – dann ein Seufzer.

»Timidengänge!« flüsterte TamanT. »Wir haben in einer Ecke Timidengänge gefun­den, sieben Stück, und alle dicht nebenein­ander.«

Timiden – Zaleer hatte noch nie einen zu Gesicht bekommen, wußte aber viel über diese Tiere – waren längliche Nager mit braunem, oft auch rötlichem Fell. Sie waren nicht sehr groß, wurden aber durch ihre An­griffswut und durch die Überzahl gefährlich, mit der sie ihre Attacken zu unternehmen pflegten. Ein Hunod mußte schon sehr viel Tapferkeit, Können und Glück haben, um einen Timidenangriff zu überleben.

Zaleer rechnete rasch nach. Wenn es sie­ben Gänge dieser Wühler nebeneinander gab, dann bestand die Möglichkeit … Zaleer spürte, wie sich seine Lebensvorgänge be­schleunigten.

Sieben Gänge nebeneinander waren groß genug, selbst einem unfänglichen Hunod Durchlaß zu gewähren. Leicht würde die Sa­che nicht werden, aber auf diesem Weg war eine Flucht durchaus denkbar.

Und vor allem wußte Zaleer eines ganz gewiß – diese Gänge mündeten irgendwo im Freien. Im Innern der Stadt gab es garantiert keine Timidenbauten, das würden die Be­wohner niemals zulassen.

»Macht euch an die Arbeit!« bestimmte

TamanT. »Die Rebellen gehen als erste!« Zaleer schob sich mit einigem Geschick

in den Vordergrund. Er war wild entschlos­sen, diese letzte Chance zu nutzen.

Mochten in den Gängen noch Timiden hausen, deren Angriffe wahrscheinlich den einen oder anderen Hunod das Leben kosten würde – Hauptsache war, daß die Mehrzahl der Gefangenen den Ausbruch schaffte. Und dann kam Zaleer ein phantastischer Gedanke …

»Halt«, rief er. »Ich habe eine bessere Idee.«

»Laß hören, Zaleer«, forderte ihn TamanT auf. Daß er in dieser Dunkelheit Zaleers Stimme erkannt hatte, sprach dafür, daß er seinen hellwachen Verstand noch nicht ver­loren hatte.

»Ich schlage vor, daß wir nicht fliehen. Wir bleiben vielmehr in diesem Kerker – aber wir schmuggeln von außen Waffen hin­ein. Wir nehmen die Wachen gefangen, wenn sie uns abholen wollen, und dann fal­len wir den Kämpfern der Stadt in den Rücken.«

Zaleer war selbst erstaunt, daß er plötzlich so viel Optimismus aufzuweisen hatte. Die Tatsache aber, daß es jetzt wieder eine klei­ne handfeste Chance gab, dem sicheren Tod zu entgehen, flößte ihm Mut ein.

»Willst du vorangehen?« Mit dieser Frage hatte Zaleer gerechnet. »Selbstverständlich. Macht mir Platz,

Freunde.« Er schob sich durch die Reihen der Ge­

fangenen. Nach kurzer Zeit hatte er Ta­manTs Standort erreicht. Als er sich bückte, um die Löcher zu untersuchen, war ihm sehr bald klar, daß sich Gathar nicht geirrt hatte. Der Geruch war unverkennbar, und es gab nur eine Spezies von Lebendgebärern auf Welkan, die unterirdische Stollen bauten – die Timiden.

Zaleer prüfte die Festigkeit des Bodens. Die Timiden hatten ihre Gänge in einem

Material angelegt, daß sich einigermaßen leicht verarbeiten ließ. Dafür sprach auch, daß sie sich gleich mehrere Stollen gegraben

32

hatten. Das Erdreich zwischen diesen Gän­gen war nicht sehr fest. Haltbar genug, um einen Timiden zu tragen, aber nicht massiv genug, um den Anstrengungen eines Hunods zu widerstehen.

Zaleer begann zu graben, und er war selbst überrascht, wie leicht er vorankam. Zwar verletzte er sich ein wenig an scharf­kantigen Steinen, aber dieser Schmerz war leicht zu ertragen.

Bereits nach wenigen Minuten hatte sich Zaleer einige Meter von dem Kerker ent­fernt. Und nach einigen weiteren Minuten konnte er erfreut feststellen, daß sich drei der Timidengänge sogar zu einem großen Gang verbunden hatten. Wahrscheinlich wa­ren die schwachen Zwischenwände zusam­mengestürzt. Das machte das Fortkommen für den Hunods natürlich noch leichter.

»Wartet«, murmelte Zaleer, als er eine kleine Pause einlegte, um zu Atem zu kom­men. »Ihr werdet euch wundern, wenn wir zuschlagen.« In Gedanken malte er sich die Szenen aus …

Die überraschten Gesichter der Wachen, wenn sie die Todeskandidaten abholten. Wie sich die Rebellen auf die Wachen stürzten, sie entwaffneten und in die Mitte nahmen, als Geiseln und zur Täuschung der Stadtbe­wohner. Wie sie die Treppen hinaufsteigen würden und dann auf den Platz traten, wo bereits eine riesige Menge wartete. Wie sie einen Augenblick zögern würden und sich dann auf die anderen Wachen stürzten, wie der verhaßte Stadtälteste seine Waffe hob und damit auf TamanT zielte, und wie Za­leer den Schurken mit einem gutgezielten Schuß vom Dach holte …

Zaleer kam wieder zu sich. Zu Träumerei­en hatte er jetzt keine Zeit. Er mußte sich auf die Wirklichkeit konzentrieren, und diese Wirklichkeit wurde plötzlich riechbar – der typische Timidengeruch verstärkte sich un­merklich.

Lauerte einer der Nager in diesem Gang? Zaleer begann schneller zu atmen. Der

Stollen, durch den er kroch, war gerade groß genug für ihn – einen Kampf mit einem

Peter Terrid

Timiden konnte er darin niemals austragen. Die weit beweglicheren Nager hätten ihn schnellstens töten können.

Zaleer hatte keine andere Wahl, er mußte weiterkriechen und darauf hoffen, daß er sich getäuscht hatte. Und er durfte auch nicht langsamer werden. Zaleer konnte nicht wissen, wann die Wachen anrücken würden. Die Gefangenen hatten jegliches Zeitgefühl verloren. Zaleer wußte jedoch, daß die Mi­nuten kostbar geworden waren, und darum strengte er sich an.

Er erreichte den Timiden wenig später. Zum Kampf kam es nicht. Der Timide war tot, vor kurzem erst gestorben, wie Zaleer feststellte, als er den steifen Körper des Na­gers beseitigte. Höchstens acht bis zehn Stunden waren seit dem Tod des Timiden vergangen. Von einer Todesursache konnte Zaleer nichts entdecken. Weder war der Timide von einem Artgenossen totgebissen worden, noch hatte er sich anderweitig ver­letzt, und von einer Schlinge hatte Zaleer nichts fühlen können. Sehr alt schien das Tier nicht gewesen zu sein. Nun, es konnte Zaleer gleichgültig sein, woran der Timide gestorben war – Hauptsache, er war tot.

Zaleer entdeckte noch einen zweiten der gefährlichen Nager, diesmal einwandfrei ein junges, starkes Tier, ein Weibchen. Es muß­te praktisch zur gleichen Zeit wie das erste Tier gestorben sein.

Diese befremdliche Übereinstimmung ließ Zaleer vorsichtig werden. Irgend etwas stimmte nicht in diesen Stollen, die hinab­führten in die Tiefe, sich schraubenförmig wieder in die Höhe wandten, nach rechts führten und wieder nach links gekrümmt waren. Zaleer hatte nicht nur das Zeitgefühl völlig verloren – er hätte auch nicht mehr sa­gen können, wo er sich befand, nicht einmal näherungsweise. Er wußte nur eines: diese Kletterei war erheblich anstrengender, als er sich vorgestellt hatte.

Zaleer legte eine weitere Pause ein. Einige Minuten lang blieb er auf dem

Rücken liegen – für einen Hunod sonst eine sehr unbequeme, ja geradezu gefährliche

33 Geisel des Grauens

Haltung. Zaleer genoß die warme, trockene Luft, die es in diesem Gangsystem gab.

Er schrak zusammen, als er ein Knistern hörte, dann einen Ruf: »Zaleer!«

Der Hunod glaubte sich verhört zu haben. Wer rief ihn? Doch nicht etwa …

Es war tatsächlich Gand-Kor, die nach ihm rief, und die ihn wenig später auch er­reichte. (Zaleer hatte sich unterdessen, der Schicklichkeit zuliebe, herumgedreht.)

»Entschuldige«, sagte Gand-Kor ziemlich außer Atem, als sie Zaleer erreicht hatte. »Ich bin dir gefolgt, ich weiß selbst nicht, warum. Bist du mir böse?«

Zaleer machte eine verneinende Geste, dann fiel ihm ein, daß Gand-Kor die Bewe­gung nicht sehen konnte. Es war stockfinster um die beiden Hunods.

»Nein«, sagte er hastig. »Aber du weißt, daß die Sache nicht ungefährlich ist?«

»Was macht das?« fragte die Legerin ver­ächtlich. »Viel gefährlicher als der Kerker wird es nicht sein.«

»Nun ja«, sagte Zaleer, unschlüssig, was er nun machen sollte. Die kurze Pause hatte ihm gutgetan. Er entschloß sich, den Vor­marsch fortzusetzen. Langsam kroch er durch den Stollen.

»Hast du eine Ahnung, wo wir uns befin­den?« fragte Gand-Kor von hinten.

»Nicht den leisesten Schimmer«, gab Za­leer zurück. »Obwohl … hörst du?«

Ein feines, kaum wahrnehmbares Klingen lag in der Luft. Es kam aus der Ferne, aber es ließ sich nicht sagen, aus welcher Rich­tung.

»Merkwürdig«, murmelte Zaleer. »Was kann das sein?«

Er traute der Sache nicht. Die Erfahrun­gen der letzten Zeit hatten ihn gewitzigt. Wenn etwas Unvorhergesehenes geschah, dann war das selten angenehm.

Gand-Kor horchte angestrengt, aber auch sie fand keine Erklärung. Das Geräusch schien konstant zu sein, es wurde weder lau­ter noch leiser.

»Weiter!« entschied Zaleer. »Wir können uns nicht um alles kümmern. Später viel­

leicht werden wir herausfinden, was es da­mit auf sich hat.«

Er kroch weiter. Seine Glieder schmerzten ein wenig, weil er immer wieder an scharfen Kanten vorbeizukriechen hatte. Zwar schützte ihn sein Panzer vor Verletzungen, aber Zaleer bekam langsam Angst, die zahl­reichen Risse und Kratzer in dem Rücken­panzer würden die Chitinschale reißen las­sen.

»Es wird ein wenig lauter«, sagte Gand-Kor.

»Mag sein«, erwiderte Zaleer unwirsch. Er hatte sich einen Fühler gestoßen, das tat höllisch weh und beeinträchtigte obendrein sein Wahrnehmungsvermögen.

»Wir gehen genau darauf zu«, setzte Gand-Kor hinzu.

»Hm!« machte Zaleer. Zu mehr war er einstweilen nicht aufgelegt. Er spürte, daß seine körperlichen Kräfte langsam nachlie­ßen. Das wunderte ihn zwar nicht, aber es verdroß ihn, daß er sehr bald diese Schwä­che seiner Brutpartnerin würde eingestehen müssen. Es gehörte sich nicht, daß ein Brü­ter klagte – jedenfalls nicht in der Gegen­wart von Legerinnen. Diese Tradition hatte sich merkwürdigerweise gehalten, obwohl sie so absonderlich und unlogisch war wie so vieles, was die Hunods über Bord gewor­fen hatten bei ihrer Revolution.

Jetzt aber fiel es auch Zaleer auf, daß das Klingen allmählich zu einem deutlich ver­nehmbaren Brummen geworden war. Ver­geblich versuchte Zaleer sich vorzustellen, was wohl die Quelle dieses Geräusches sein mochte – zumal es sogar hier, tief unter der Oberfläche so deutlich zu hören war.

Endlich kam ihm eine Erleuchtung. »Natürlich!« rief er. »Das Schirmfeld. Wir nähern uns dem Schirmfeld.«

Der Gedanke allein verlieh ihm neue Kraft. Das Geräusch verriet ihm, daß es nicht mehr weit sein konnte. Dann war er wieder frei und sicher.

Zaleer beschleunigte sein Tempo. Der Stollen, den die fleißigen Timiden gegraben hatten, war nun sehr bequem passierbar.

34

»Licht!« rief Zaleer. »Ich sehe eine Öff­nung, dort vorne!«

Gand-Kor stieß einen leisen Jubelschrei aus. Offenbar hatte auch sie ihre Körperkräf­te bis an die Grenze beansprucht. Siedend­heiß fiel Zaleer ein, daß die Legerinnen um diese Jahreszeit ihre Gelege für die kom­mende Brutperiode vorbereiteten. Kein Wunder, daß Gand-Kor einigermaßen unbe­rechenbar und nicht sehr kräftig war.

Zaleer krabbelte hastig voran. Immer nä­her kam der helle Fleck, und dann waren nur noch wenige Meter zurückzulegen.

*

Er streckte den Kopf vor, und er wußte im gleichen Augenblick, daß er verloren war.

Lautes Gelächter brandete ihm entgegen, schrille Pfiffe drangen an sein Ohr, kräftige Klauen packten ihn und zerrten ihn aus dem Licht.

Zaleer brach zusammen. Täuschung war sein einziger Gedanke.

Man hatte ihn hereingelegt, ihn gefoppt, ein grausames Spiel mit ihm gespielt – nicht nur mit ihm. Eben als er den Mund öffnen woll­te, um Gand-Kor zu warnen – und zu ster­ben, denn die Geste mit der Waffe vor sei­nem Gesicht war eindeutig gewesen – da tauchte Zaleers Brutpartnerin auf und wurde festgenommen.

Der Hunod stand auf dem großen Platz mitten in der Stadt, und er hielt sich nur mit Mühe auf den Beinen. Der Schock hatte ihn der letzten Widerstandskraft beraubt.

Nicht Timiden hatten den Stollen gegra­ben. Die Stadthunods hatten ihn angelegt. Sie hatten die ganze Zeit über auf dem Platz gestanden und gewartet, daß einer der Ein­gekerkerten erschien, um sie mit seiner Ent­täuschung zu belustigen.

Und ausgerechnet Zaleer hatte es getrof­fen.

Täuschung! dachte er. Man hatte ihn ge­narrt, und die Peiniger genossen seine De­mütigung. Laut hatten sie gelacht, als er sei­nen Kopf aus dem Schacht gesteckt hatte.

Peter Terrid

Von der Sonne geblendet, hatte er nicht schnell genug reagieren können, um den Hä­schern auszuweichen, die an der Öffnung auf ihn gewartet hatten.

Es hätte auch nichts geholfen. Neben der Öffnung im Boden stand eine Stahlflasche, die ein Gas enthielt – das gleiche Gas, mit dem Stunden zuvor der Stollen von den Timiden gesäubert worden war.

Nur verschwommen sah Zaleer, wie man Gand-Kor heranschleppte und neben ihm abstellte wie eine Gliederpuppe. Nur ver­schwommen sah Zaleer das widerliche Grin­sen des Stadtkommandanten, der sich könig­lich amüsierte. Nur verschwommen die Zu­schauer, die jubelten und klatschten. Ver­schwommen das elende Defilee der anderen Gefangenen, die aus dem Kerker geholt wurden, um zu sterben.

Zaleer sah hinauf in den Himmel. Verein­zelte Sterne waren zu sehen. Sie gehörten zur Mikrogalaxis Tussänth, und diese Gala­xis wiederum gehörte zu einem Verbund von Galaxien, die alle beherrscht wurden von der gleichen Macht, den Herren der Schwarzen Galaxis.

Mehr wußte Zaleer nicht von den Macht­strukturen, in die er eingewoben war. Er wußte nicht, wie sie aussahen, seine Unter­drücker. Er wußte nicht, was sie dachten, ta­ten oder empfanden.

Er wußte nur, daß er um ihretwillen wür­de sterben müssen.

Er würde vergehen, sinnlos, nutzlos. In den nächsten Minuten, vielleicht gar Stun­den, würde er von Interesse sein für die blut­gierige Meute, deren Geschrei er hören konnte. Danach – Vergessenheit.

Das kurze Aufleuchten einer Sternschnup­pe, mehr war Zaleer nicht beschieden.

Wie bei jener Schnuppe, die am Himmel auftauchte, als der Hunod hinaufsah.

Eine Schnuppe, die aber nicht verging, sondern immer größer wurde, leuchtete und strahlte …

… und dann schoß, mitten in die Stadt hinein.

35 Geisel des Grauens

8.

Ganzelpohn war verloren, er wußte es, aber er weigerte sich, dies zuzugeben. Er wehrte sich, mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote standen.

Längst hatten die Hunods begriffen, daß der Lotse meuterte. Und sie hatten auch be­griffen, warum Ganzelpohn sie in den Han­gar gelockt hatte. Als die GRIET in die Lufthülle des Planeten eintauchte und der gewaltige Ruck des abrupten Abbremsens durch das Schiff fuhr, hatte sie sich bereits wieder verteilt. Nur wenige wurden durch den fast leeren Hangar geschleudert, starben oder wurden verletzt. Der Rest aber griff zu den Waffen und ging gegen den Lotsen vor.

Ganzelpohn war nicht allein. Die Roboter des Schiffes kämpften auf seiner Seite. Sie hatten nicht verstanden, daß der Lotse gegen die Besatzung meuterte. Sie hatten nur vom Rechner den Befehl bekommen, dem Lotsen zu gehorchen – und das taten sie.

Sie stellten sich den Hunods in den Weg, erwiderten das Feuer und gingen sogar zum Angriff über.

Ganzelpohn koordinierte diese Aktionen, aber er mußte gleichzeitig auch das Schiff steuern. Die GRIET drohte abzustürzen, und diese Gefahr vergrößerte sich mit jeder Mi­nute, in der an Bord gekämpft wurde.

Nicht nur, daß Aktion und Reaktion für Ganzelpohn mit Schmerzen verbunden wa­ren. Dabei wurden auch Einrichtungen des Schiffes zerstört, die für eine kontrollierte Landung benötigt wurden.

Die Hunods hatten zu früh – für Ganzel­pohn zu früh – bemerkt, was vorgefallen war, und noch hatten sie Chancen, den Spieß umzudrehen.

In dieser mehr als kritischen Lage erwies sich Eynar als durchaus fähiger Komman­dant, auch dies zu Ganzelpohns Leidwesen.

An der Grenze zum Maschinenbereich kam es zum ersten größeren Gefecht an Bord.

Eine Gruppe von siebzig Hunods, mit

Handwaffen ausgerüstet und zu allem ent­schlossen, setzte zum Sturmlauf an.

Ganzelpohn hatte an dieser Stelle sech­zehn Roboter stationiert. Er mußte mit sei­nen Hilfsmitteln haushalten, und mehr hatte er nicht abzweigen können, zumal es noch andere Bereiche gab, die er zu schützen hat­te.

Den ersten Ansturm der Hunods überstan­den die Roboter mit nur geringen Verlusten. Als die Hunods eine zweite, noch erbitterter vorgetragene Attacke starteten, begannen die Reihen der Roboter zu weichen.

Ganzelpohn sah es mit Entsetzen, und er konnte sich dieser Entwicklung nicht wider­setzen. Er war auf immer in die Transparent­kuppel verbannt, von dort aus mußte er kämpfen und seine Angriffe organisieren.

Er hatte nur einen Vorteil – er kontrollier­te das Schiff. Er konnte sehen, wie die Hu­nods vorrückten – auf den Maschinenraum und vor allem auf den Kommandostand.

Dort hatte Ganzelpohn zwei Drittel seiner Truppen stationiert, alle Roboter, die er hatte auftreiben können, darunter etliche Maschi­nen, die eigentlich nur zu Wartungsaufgaben zu gebrauchen waren.

Vor allem aber stand dort der Bordrech­ner, der dank des geschickten Taktierens des Lotsen davon überzeugt war, daß es die Hu­nods waren, die gegen die Herrschaft rebel­lierten. Solange der Rechner diesen Glauben hatte, kämpfte er auf Ganzelpohns Seite – nur so lange hatte Ganzelpohn die Kontrolle über das ganze Schiff.

Und das war bitter nötig. Die Hunods mußten eine kleine Pause

einlegen, bevor sie in den Maschinenraum eindringen konnten. Sie mußten erst warten, bis die Reste der verteidigenden Robots so­weit abgekühlt waren, daß man über sie hin­weg steigen konnte. Diese kurze Pause gab Ganzelpohn Gelegenheit, einen Konter­schlag einzuleiten.

Während sich auf dem Weg zur Zentrale eine weitere Schlacht entwickelte, versuchte Ganzelpohn, den Kurs der GRIET zu stabili­sieren. Er hatte fast die Kontrolle über den

36

Kurs verloren, nur unter Aufbietung aller Energiereserven schaffte er es, die GRIET vor dem Absturz zu bewahren. Immerhin war der Kurs, den das Organschiff jetzt flog, noch gefährlich genug.

Ganzelpohn blendete um, konzentrierte sich auf den Maschinenraum. Dort hätten die Hunods nur einen Hebel umlegen müs­sen – Ganzelpohns Versorgungssystem hätte keine Energie mehr bezogen, und das hätte das Ende bedeutet.

Der Lotse wartete, bis die Hunods den Raum betreten hatten, dann handelte er.

Das Kabel hing schon seit längerer Zeit sehr locker, und es bedurfte nur geringer Mühe, es herabfallen zu lassen. Funken sprühten auf, Ganzelpohn zuckte schmerz­lich zusammen – und die Hunods fielen um. Ganzelpohn konnte den Kriechstrom, den er durch die Metallplatten des Bodens geleitet hatte, gerade noch ertragen, die Hunods nicht.

Wieder blendete der Lotse um. Dieser Kampf stellte seine Fähigkeiten auf eine töd­liche Probe.

Die Zentrale war in Gefahr. Die Repara­turrobots warfen sich todesverachtend in den Kampf und wurden nacheinander zerschos­sen.

Die Kampfrobots waren weit erfolgrei­cher, aber trotz ihrer maschinenschnellen Reflexe wurden sie nach und nach von der Übermacht erdrückt. Eynar wußte, daß die­ser Kampf um Leben oder Tod geführt wur­de, und er scheute sich nicht, seine Unterge­benen rücksichtslos zu opfern.

Im massiven Sperrfeuer der Hunods ver­ging ein Robot nach dem anderen.

Ganzelpohn versuchte es mit einem Trick. Er gab Feueralarm für den gesamten Be­

reich der Zentrale. Aus Hunderten von Dü­sen schoß weißer Schaum, der sich über al­les legte, was sich auf den Gängen und in den Räumen befand. Seifenglatt wurde der Boden, sogar Roboter rutschten aus und bra­chen sich metallene Gliedmaßen.

Vor allem aber wirkte der Schaum auf die Hunods. Er verstopfte ihre Tracheeoiden,

Peter Terrid

durch die sie atmeten, verklebte die Glieder, brannte in den Augen – der Schaum wirkte, aber er war kein Allheilmittel.

Rücksichtslos trieb Eynar seine Truppen durch den Sperrgürtel aus Schaum. Ganzel­pohn schaltete die Klimaanlage herab, so weit es nur irgend ging. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Die Temperatur auf den Gängen sank beständig, und nach zehn Minuten waren die Gänge nicht nur von glattem, gefrorenem Löschschaum be­deckt, auch die Lufttemperatur war in den Minusbereich geraten.

Auch das konnte das Ende nur verzögern, nicht aber abwenden. Eynar, der offenbar mit dieser Maßnahme gerechnet hatte, hatte seine Leute rechtzeitig in Kampfanzüge ge­steckt. Sowohl der Schaum als auch die Käl­te verfehlten ihre Wirkung.

Die Hunods griffen weiter an. Ganzel­pohns Mittel waren begrenzt, von einer Aus­nahme abgesehen – er konnte sich selbst mitsamt dem Schiff sprengen. Der Bite war fest entschlossen, das auch zu tun. Lieber tot als versklavt. Aber mit dem letzten Funken freien Willens wollte er dennoch versuchen, sich nicht nur das Leben sondern auch die Freiheit zu erkämpfen. Noch gab er nicht auf.

Vakuumeinbruch, absichtlich von Ganzel­pohn herbeigeführt.

Auf einem der Decks wurde bei der ex­plosiven Dekompression ein Generator aus seiner Verankerung gerissen. Er durchschlug zwei Wände und blieb in der Nähe eines Notstromaggregats hängen. Als der Genera­tor explodierte, flog auch der Stromerzeuger in die Luft. Ganzelpohn hatte ein Gefühl, als würde er bei lebendigem Leib in siedendes Öl geworfen. Er überstand auch diese Qual, aber sie ließ seinen Willen, sich die Freiheit zu erkämpfen, zu einem beinahe fanatischen Haß auf seine Quäler entarten. Ganzelpohn verspürte eine immer größer werdende Lust, seine Gegner nicht nur zu schlagen – er wollte sie massakrieren.

Einstweilen sah es aber nicht so aus, als werde er Gelegenheit haben, seiner Rache

37 Geisel des Grauens

zu frönen. Nur noch sechs Kampfrobots, vom neuesten besten Typ, stellten sich den Hunods in den Weg. Deren Reihen wiesen zwar auch Lücken auf, aber gegen eine sol­che Übermacht half der Einsatz der Robots nicht sehr viel.

Erfüllt von Haß, Verzweiflung und Ohn­macht mußte Ganzelpohn zusehen, wie Ey­nar einen neuen Stoßtrupp zusammenstellte. Der Hunod-Kommandant kannte sich an Bord der GRIET beinahe so gut aus wie der Bite, er wußte auch, wo Ganzelpohn seine Roboter einfach stationieren mußte. Die Gegner schenkten sich gegenseitig nichts, es war ein Kampf, der im Grunde nur Besiegte haben konnte.

Ganzelpohn überprüfte die Schaltung, mit der er die Selbstvernichtung der GRIET ein­leiten konnte. Diese Verbindung zum Rest des Schiffes bestand noch, an diese Leitun­gen kamen auch die Hunods nicht heran.

Ganzelpohn entfernte die Sicherungen. Durch die Organmasse der GRIET ging

ein entsetztes Schaudern, offenbar durch das Entsichern ausgelöst. Im ganzen Schiff er­klangen Sirenen. Der Boden leitete den Schall weiter, bis zu Eynar.

Der Kommandant stand in der Nähe der Zentrale. Keine Macht konnte ihn mehr dar­an hindern, Ganzelpohn in wenigen Augen­blicken alle Energie zu entziehen.

Da kam dem Lotsen ein Gedanke. Auf einen kleinen Schirm war auf dem Boden des Planeten Welkan ein Gebilde aufge­taucht – die Stadt, von der in den Unterlagen die Rede war. Ein Stützpunkt der Hunods auf einem fremden Planeten – und wie alle Stützpunkte natürlich bewaffnet.

Ganzelpohn ließ die Selbstzerstörungsan­lage ungesichert, aber er wandte sich ande­ren Dingen zu.

Er brauchte nur wenige Augenblicke, dann hatte er die Geschütze der GRIET aus­gefahren.

Einen kurzen Augenblick noch zögerte der Lotse, dann kannte er keine Bedenken mehr. Die halbautomatischen Kanonen hat­ten das Ziel erfaßt – die Stadt.

Ganzelpohn brauchte nur noch den Befehl zum Feuern zu geben.

Er gab den Befehl.

*

Panik. Zaleer konnte nicht fliehen. Er war gefes­

selt und erschöpft. Aber die Menge floh. Sie brauchte die Zeit eines Herzschlags,

um in Panik zu verfallen. In dieser Zeit traf eine ganze Salve aus

den Kanonen des Organschiffs die Stadt. Zum Glück hatten offenbar nur die kleine­ren, halbautomatischen Kanonen gefeuert. Bei einer kompletten Breitseite wäre von der Stadt nicht mehr viel übriggeblieben.

Der größte Teil der auftreffenden Energie wurde von dem Schirmfeld aufgefangen. Nur ein winziger Bruchteil schlug durch.

Im Feuerstrahl verschwand der Stadtkom­mandant mit zwei seiner ranghöchsten Un­tergebenen.

In der Zeit eines Herzschlags starb der Kommandant. In dieser Zeit rannten die er­sten Wachen los, um ihre Gefechtspositio­nen einzunehmen. In dieser Zeit schafften es einige hundert Hunods, sich in nahegelegene Häuser zu verkriechen. In der Zeit eines Herzschlags verwandelte sich der Große Platz in ein Tollhaus.

Zaleer sah, wie die Stadtbewohner ausein­anderrannten, schreiend vor Angst. Legerin­nen vergaßen ihren Nachwuchs, Brüter kreischten um Hilfe. Das Chaos war allge­mein.

Der größte Teil der Truppen rannte aus­einander. Offiziere brüllten Befehle, die kaum einer hörte – und die sich obendrein widersprachen.

Zaleer konnte die Leute verstehen. Was sich abspielte, war in der Geschichte

der Hunods einzigartig. Was sich da feuernd der Stadt näherte, auf

sie herabstieß wie ein Stern, war unzweifel­haft ein Organschiff. Und es feuerte ohne Vorwarnung auf Hunods.

Zaleer sah sich um.

38

Die Verwirrung war komplett. Es wurde Zeit die Initiative zu ergreifen. Zaleer spürte, wie sich Gand-Kor an seinen Fesseln zu schaffen machte. Er wandte den Kopf. Die beiden Wachen, die Gand-Kor gehalten hat­ten, waren davongelaufen.

»Mach schnell!« drängte Zaleer. Er ahnte, daß die allgemeine Verwirrung nicht sehr lange anhalten würde. Nur wenige Minuten blieben ihm und seinen Freunden, wenn sie das Blatt endgültig zu ihren Gunsten wenden wollten. Er stieß einen Seufzer aus, als er endlich die Greifer wieder frei bewegen konnte.

»Wir befreien die anderen!« rief er Gand-Kor zu.

Er selbst rannte auf TamanT los, der ge­fesselt auf dem Platz stand. Zaleer brauchte nur wenige Augenblicke, um die Fesseln zu durchtrennen. Gand-Kor befreite unterdes­sen Gathar.

Danach ging alles furchtbar schnell. TamanT und Zaleer befreiten zwei weite­

re Gefangene und überließen es dann diesen Hunods, die anderen loszubinden. Nach dem Schneeballverfahren konnte es nicht lange dauern, bis alle ihre Fesseln verloren hatten. Unterdessen stürzten sich TamanT und Za­leer auf die Wachen, die große Mühe hatten, von den in Panik geratenen Zuschauern nicht zertrampelt zu werden.

Der Lärm machte Zaleer fast taub. Das Entsetzen saß den Zuschauern tief im Nacken. Gerade noch hatten sie laut johlend Blut sehen wollen – und jetzt stoben sie ang­sterfüllt auseinander, und die Rücksichtslo­sigkeit und Härte wandte sich gegen sie selbst.

Zaleer arbeitete sich von hinten an einen Posten heran und holte aus. Sein Schlag traf, mit aller Härte geführt, den Brüter im Nacken. Wie vom Blitz getroffen sackte er zusammen.

Die Waffe des Postens landete auf dem Boden. Zaleer bückte sich danach, bekam sie auch zu fassen und wurde im nächsten Augenblick umgerissen. Irgendwie schaffte er aber das Kunststück, nicht nur die Waffe

Peter Terrid

festzuhalten, sondern sich auch einigerma­ßen elegant zur Seite abrollen zu lassen. So verhinderte er, daß er unter die Füße anderer geriet.

Zaleer kam auf die Beine. Ein rascher Blick auf TamanT und die Freunde. Minde­stens die Hälfte der Hunods hatte sich be­waffnet. Der Kampf um die Stadt konnte be­ginnen.

»TamanT!« schrie Zaleer. »Kämpfe das Tor frei – wir stürmen die Zentrale!«

»Du lernst es wohl nie!« sagte Gand-Kor neben Zaleer. Sie machte eine Geste des Vergnügens, gemischt mit Müdigkeit. »Vorwärts, du Held!«

Zaleer pfiff halblaut. »Mir nach, Leute!« Er wußte selbst nicht, woher er nun wie­

der die Kraft nahm, einen Stoßtrupp zu füh­ren. Weder verstand er etwas davon, Krieg zu führen, noch fühlte er sich frisch und aus­geruht. Aber irgendwer mußte schließlich den Trupp führen.

Zaleer setzte sich in Bewegung. Wo die Zentrale zu finden war, erwies

sich als zweitrangiges Problem. Gewichtig aber erwies sich die Frage, wie man an das Gebäude herankam, ohne Aufsehen zu erre­gen.

Ein Doppelring von Wachen umgab das Gebäude, das höchste der ganzen Stadt. Za­leer zögerte einen Augenblick, dann steckte er die Waffe in den Gurt und rannte auf die Doppelreihe zu.

Niemand schoß auf ihn. In dem allgemeinen Durcheinander war

die Kleidung der Hunods derart ramponiert worden, daß sich Freund und Feind an sol­chen Dingen nicht mehr identifizieren konn­ten. Sicherster Beweis war daher das Ver­halten – daß Zaleer seine Waffe wegsteckte und schutzlos gradlinig auf die Sperre zu­rannte, bewies den Posten eindeutig, daß es sich um einen Kameraden handeln mußte.

Zaleer wartete, bis er den vordersten Po­sten beinahe erreicht hatte. Der Wächter hob seine Waffe, um anzudeuten, daß selbst Freunde diese Sperre nicht passieren durf­

39 Geisel des Grauens

ten. Zaleers Greifklaue zuckte zum Gürtel,

kam mit der Waffe wieder hoch. Der völlig überraschte Posten brachte nicht einmal mehr eine Abwehrbewegung zustande. Er brach an der Stelle zusammen, an der er ge­standen hatte.

Zaleer feuerte wie ein Rasender. Die Posten, die begriffen hatten, daß der

Feind mitten in ihren Reihen stand eröffne­ten das Feuer auf Zaleer, ohne ihn aber zu treffen. Die meisten Schüsse trafen nur die Luft. Zum einen wechselte Zaleer immer wieder den Standort, zum anderen griffen seine Begleiter in den Kampf ein. Nach we­nigen Augenblicken war die Postenkette ge­sprengt. Eine Granate flog gegen das Tor, ein Feuerball entstand, dann war auch dieses Hindernis beseitigt.

Zaleer stieß einen heiseren Schrei aus und stürzte vorwärts, auf die Öffnung zu. Eine Salve auf die Gestalten, die ihrerseits aus dem Haus hervorzubrechen versuchten, ein Satz über die Fetzen der Tür, ein kurzer Feu­erstoß nach rechts, nach links … der Ein­gang war genommen. Im Hintergrund blitzte es auf.

Zaleer warf sich zur Seite, der Schuß traf nur die Wand. Zaleers Waffe zuckte leise, auch dieser Gegner schied aus dem Gefecht aus – vorläufig, denn Zaleers Waffe war auf Betäubung eingestellt.

Weiter nach vorn, die Treppen hinauf. Über den Köpfen der Angreifer röhrten Ma­schinen, das Geräusch klang nach Überla­stung.

Und richtig, der Boden zitterte wie bei ei­nem Erdbeben. Das Schirmfeld war zusam­mengebrochen, kurzfristig nur, aber eine Salve hatte die Nähe der Stadt erreicht.

»TamanT hat das Tor genommen!« schrie eine gellende Stimme.

Zaleer warf sich nach vorn. Er spürte einen harten Schlag an der Brust, der ihn zur Seite warf. Wieder ging seine Waffe los, und noch im Fallen traf er – es war nicht schwierig, der Raum war voller Hunods. Sie sanken unter dem Feuer der Angreifer wie

Halme vor dem Schnitter. Zaleer raffte sich wieder auf. Jemand hat­

te nach ihm geworfen, eine Beule, mehr hat­te er nicht davongetragen.

Eine eigenartige Stille herrschte in dem Raum. In den Ecken standen die Herren der Stadt und machten Demutsgebärden. Vor ih­nen standen, die Waffen in den Greifklauen, die neuen Herren der Stadt. Vor kurzer Zeit noch Todgeweihte, jetzt Herren des Planeten Welkan.

»Was ist mit dem Schiff?« fragte Zaleer. »Es umkreist den Planeten«, berichtete

Gathar. Er hatte sich Zaleers Gruppe ange­schlossen. »Im Augenblick ist es im Schat­ten, es wird aber bald zurückkehren.«

»Öffnet das Schirmfeld«, befahl Zaleer. Auf einem Bildschirm konnte er sehen,

wie das Feld abgebaut wurde. Er konnte das Tor sehen, auf dessen Dach TamanT stand und zum Waldrand hinüberwinkte – das ver­einbarte Zeichen. Und aus den Büschen am Rand der Wildnis kamen sie hervorgequol­len, die Verbannten aus Welkan, die Rebel­len.

Zaleer pfiff triumphierend. »Jetzt haben wir gewonnen!«

9.

Das ganze Schiff zitterte. Ganzelpohn hielt sich nur mit größter Mü­

he aufrecht. Der Schmerz war kaum auszu­halten. Aber er mußte alles ertragen, was auf ihn zukam.

Die Hunods waren so gut wie geschlagen. Zwei Dutzend vielleicht waren noch in der Lage, sich zu verteidigen. Der Rest lag in den Räumen des Schiffes, einige, tot, etliche verletzt, der größte Teil erschöpft oder be­sinnungslos.

Ganzelpohns grausamer Trick hatte funk­tioniert.

Der Angriff auf die Stadt war nicht unge­rächt geblieben. Die Bewohner der Stadt hatten sich gewehrt. Ein halbes Dutzend Treffer hatte die GRIET hinnehmen müssen – und das ohne Schirmfeld. Die Hunods der

40

Besatzung waren herumgewirbelt worden wie Heliumatome in einer Sonnenprotube­ranz. Einer der Treffer hatte der GRIET einen Schlag versetzt, daß alle Verbindun­gen unter dieser Überbelastung aufge­kreischt hatten. Zahlreiche Streben waren geborsten, in der Außenhaut des Organ­schiffs klafften fürchterliche Wunden – ge­naugenommen war die GRIET ein halbes Wrack.

Ganzelpohn bereitete sich auf den näch­sten Anflug vor.

Diesmal würde es nicht mehr nötig sein, auf die Stadt zu feuern. Ganzelpohn hatte betrübt feststellen müssen, daß ein Teil sei­ner Salven den Schutz der Stadt durchschla­gen hatte – das hatte der Lotse nicht gewollt. Er hatte den Kampf gesucht, denn nur Ge­schützfeuer auf die GRIET konnte dem Kampf im Innern des Organschiffs noch ei­ne Wende geben. Das war gelungen, der Feuerschlag der Stadt hatte das Schiff stark getroffen und die völlig überraschten Hu­nods außer Gefecht gesetzt.

Auf einem Bildschirm konnte Ganzelpohn Eynar sehen, den Kommandanten. In diesem Augenblick erregte er nur noch das Mitleid des Biten.

Was Eynar, der verhaßte Kommandant des Organschiffs, an das der Bite gefesselt war – was dieser Hunod in den letzten Stun­den geleistet hatte, waren kleine Wunder der Tapferkeit. Ganzelpohn mußte das neidlos anerkennen. Immer wieder hatte sich Eynar mit todesverachtender Tapferkeit ins Feuer gestürzt, ohne aber etwas zu erreichen.

Das Schlimme war, daß diese Tapferkeit in falschen Diensten stand. Ganzelpohn wußte plötzlich, daß er Eynar nicht würde töten können, selbst wenn der Bite die Macht dazu gehabt hätte. Eynar war ein Op­fer des Regimes des Grauens, genau wie Ganzelpohn. Und ihm war es zu diesem Zeitpunkt ebensowenig klar, wie es dem Bi-ten noch vor kurzem klar gewesen war.

»Es sind immer nur die Sklaven, die sich gegenseitig abschlachten«, sagte der Bite bitter.

Peter Terrid

Der Sender der GRIET strahlte das Erken­nungszeichen aus. Die Bewohner der Stadt mußten jetzt wissen, daß sich ein Organ­schiff näherte. Möglich, daß der Kampf noch eine Runde lang andauern würde – aber spätestens beim nächsten Anflug muß­ten die Einwohner wissen, daß nichts mehr zu befürchten war.

»Verräter«, murmelte Eynar. Das Mikro­phon nahm die Worte auf und lieferte sie ge­treulich an den Biten weiter. »Elender Ver­räter.«

Der Bite fühlte sich schmerzlich berührt. Er konnte sehen, daß der Kommandant litt, und er wußte auch, woran Eynar zu leiden hatte. Der Hunod fand selbst in dieser extre­men Situation nicht aus den gewohnten Denkschemata heraus. Er würde ein getreuer Sklave der Herren der Schwarzen Galaxis sein, bis an sein Ende.

Die GRIET schüttelte sich. Das Schiff war schwer angeschlagen, und nur mit Mühe hielt Ganzelpohn das Organschiff auf Kurs.

Die Stadt kam wieder in Sicht, und beina­he sofort eröffneten die Bewohner der Stadt das Feuer auf die GRIET.

Ganzelpohn schrie, als die Schüsse das Schiff trafen. Er hatte das Schirmfeld abge­schaltet – als Zeichen, daß er nicht weiter­kämpfen wollte. Jetzt trafen die Schüsse der Stadtbewohner das Schiff ohne die geringste Gegenwehr. Ganzelpohn schrie, und er wünschte sich den Augenblick herbei, da ei­ner der Schüsse den Hauptreaktor traf und die GRIET in einer atomaren Explosion ver­gehen ließ.

Vergeblich, der Schmerz hielt an. Und plötzlich bekam der Bite wieder Luft. Das Feuer hörte auf. Die GRIET wurde langsa­mer, sie kam über der Stadt zum Stillstand. Brände knisterten auf den Gängen, Ganzel­pohn nahm es kaum mehr wahr. Er war halb besinnungslos, aber er schaffte es, den Lan­deanflug fortzusetzen. Langsam sank die GRIET auf die Stadt herab.

Nur wenige Systeme überlieferten dem Biten noch Bilder von dem, was sich außen­bords abspielte. Er konnte aber sehen, daß

41 Geisel des Grauens

eine Schar von Hunods eilig die Stadt ver­ließ – und daß diese Hunods Waffen trugen. Vermutlich handelte es sich um jene Rebel­len, die zu bekämpfen Ganzelpohn und die GRIET aufgebrochen waren.

Auf den Wällen der Stadt standen die Be­wohner und warteten auf die GRIET!

Ganzelpohn sah das Landefeld näher kommen. Er hatte sich auf diesen Anblick gefreut. Zum erstenmal würde er auf einem Planeten landen, auf dem er niedergehen wollte – aus freien Stücken.

Davon war so gut wie nichts übriggeblie­ben.

Ganzelpohn fühlte sich nur noch müde, erschöpft – buchstäblich ausgebrannt. Er hatte die Grenze seiner Leistungsfähigkeit erreicht.

Ganzelpohn spürte die sanfte Berührung, mit der er die GRIET auf dem Planeten Wel­kan aufsetzte. Dieses Gefühl bekam er noch mit, dann verlor er schlagartig das Bewußt­sein.

*

»So«, sagte Zaleer grimmig. »Und jetzt kommt der zweite Teil der Kämpfe.«

Auf dem Bildschirm war das Organschiff genau zu erkennen – beziehungsweise das, was von dem Organschiff übriggeblieben war.

Zaleer hatte noch nie ein richtiges Organ­schiff gesehen. Er wußte nur, daß es sie gab und daß sie nach Form, Größe, Farbe und technischer Ausstattung stark voneinander abwichen.

Dieses war von einer annähernden Bir­nenform, ungefähr dreihundert Meter lang und an der dicksten Stelle der Birne mochte es einhundert Meter durchmessen.

»Das dünne Ende ist vermutlich der Bug«, erklärte Zaleer seiner Brutpartnerin.

Die Farbe des Organschiffs spielte zwi­schen Braun und Grau in vielen Schattierun­gen. Das ganze Schiff sah düster aus, dro­hend, abweisend – gefährlich. Dazu trug auch die Hülle bei, ein zernarbtes Etwas aus

einer organischen Substanz. Zaleer wußte nicht, was es mit dieser or­

ganischen Masse auf sich hatte. Er wußte le­diglich, daß diese graubraune Organmasse das Schiff einhüllte und bildete. Es gab im Innern dieses Riesenklumpens große Räu­me, Maschinensäle, Kabinen, Kanonen – vieles. Wie das alles konstruiert war, war dem Hunod unbekannt. Er wußte aber, daß es einen Grund geben mußte, weshalb die Organschiffe im Machtbereich der Schwar­zen Galaxis einen so fürchterlichen Ruf ge­nossen.

»Es sieht entsetzlich aus!« murmelte Gand-Kor. »Häßlich, einfach widerlich. Und dieses Ding, dort vorne, am Bug, was ist das?«

Zaleer zuckte mit den Fühlern. »Ich weiß es nicht«, sagte er nachdenk­

lich. »Aber ich glaube, daß ist die sogenann­te Galionsfigur.«

»Was macht sie?« »Man hat mir erzählt, die Organschiffe

wären nur mit einer solchen Galionsfigur in der Schwarzen Galaxis manövrierfähig. Und die Galionsfiguren sind treue Diener ihrer Herren.«

»Das heißt, daß wir diese Galionsfigur entfernen müssen, wenn wir das Schiff in unseren Besitz bringen wollen?«

Zaleer zögerte einen Augenblick. »Ich fürchte«, sagte er dann, »daß daran kein Weg vorbeiführt.«

*

Das Landefeld für die Organschiffe lag im Osten der Stadt. Zaleer machte sich sofort auf den Weg, und unterwegs schlossen sich ihm immer neue Gruppen von Hunods an.

Die Bewohner von Welkan wußten, daß jetzt die Stunde der Entscheidung gekom­men war.

Irgendwo in den Wäldern steckten die Loyalen. Sie hatten panikartig die Flucht er­griffen, als die Abteilungen der Rebellen über die Stadt hereingebrochen waren wie ein Unwetter. Die Rebellen hatten die Stadt

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fest in der Hand, und da sie erheblich kopf­stärker waren als die Loyalen, bestand für die Gegner keine Chance, die Stadt viel­leicht zurückzuerobern. Der Kampf um Wel­kan war ausgetragen. Er hatte den Herren der Schwarzen Galaxis eine Niederlage ein­getragen.

Zaleer war sich allerdings des Umstands bewußt, daß die Herren der Schwarzen Ga­laxis diese Schlappe wahrscheinlich kaum registrieren würden. Dafür waren die Hu­nods viel zu unwichtig.

Die Hunods, mochten sie auch geschickt, tapfer und zahlreich vertreten sein, waren nur ein Sklavenvolk unter vielen, die den Herren der Schwarzen Galaxis untertan wa­ren, und sie waren eines von den geringwer­tigen Völkern – wenn man bereit war, Rang­unterschiede zwischen Völkern zu treffen.

An der Pforte, die auf den Raumhafen führte, blieben die Hunods stehen.

Gegen die Waffenträger der Stadt anzuge­hen, hatte viel Mut erfordert. Aber nun in die Kanonen eines Organschiffs zu schauen … Zaleer spürte, wie ihn Furcht beschlich.

Jetzt, da er das Organschiff aus der Nähe betrachten konnte, erschien es Zaleer noch abstoßender als zuvor – und doch wußte er, daß dieses Organschiff alle Hoffnung seines Volkes umschloß. Dieses häßliche Gebilde war der Schlüssel zur Freiheit.

»Wir müssen das Schiff in unsere Gewalt bringen«, sagte TamanT. Es war merkwür­dig – jetzt schien der Nestälteste eine gewis­se Art von Respekt vor Zaleer zu haben, und der konnte sich dieses Verhalten überhaupt nicht erklären.

»Aber wie?« fragte Gand-Kor. »Funkverbindung mit dem Schiff!« rief eine Stimme. »Der Lotse meldet sich. Er ist ein Bite und heißt Ganzelpohn.«

Automatisch griff Zaleer nach dem klei­nen Handfunkgerät, das ihm hingehalten wurde. TamanT rührte kein Glied.

Zaleer wußte, wie ein Bite aussah, wenn auch nur aus Informationsschriften.

»Hier Station Welkan«, sagte Zaleer in das kleine Mikrophon. »Ich frage: warum

Peter Terrid

meldet sich nicht der Kommandant des Schiffes? Und warum wurde auf uns gefeu­ert – wir haben Tote und Verletzte zu bekla­gen.«

Die Stimme des Biten klang aus den Laut­sprechern. Der Unterton verriet Schmerz. Was hatte sich an Bord abgespielt, fragte sich Zaleer. Die Lotsen von Organschiffen waren dem Kommandanten klar untergeord­net.

»Ich bedaure den Schußwechsel«, sagte der Bite langsam. »Er ließ sich aber nicht vermeiden. Ich habe eine Meuterei an Bord zu melden! Der Hunodkommandant und sei­ne Besatzung haben sich revolutionärer Um­triebe schuldig gemacht. Diesen Aufstand zu bekämpfen, mußte ich alles wagen, daher der Schußwechsel. Ich nehme an, daß man auf Welkan weiß, wie schwer es ist, Rebel­len niederzukämpfen.«

»Wir kennen das Problem«, sagte Zaleer hastig.

Tiefe Niedergeschlagenheit bemächtigte sich des Hunods.

Wenn der Lotse gewarnt war, wenn er schon eine Rebellion niedergeschlagen hatte – wie konnte man ihn dann übertölpeln? Der Bite war sicherlich auf alles gefaßt – und er war obendrein losgeschickt worden, um eine Revolte auf Welkan niederzuschlagen. Of­fenbar, dachte Zaleer betrübt, verstand der Bite dieses Handwerk meisterlich.

»Frage an das Organschiff«, sagte Zaleer plötzlich. »Brauchst du Hilfe, Lotse?«

»Nur wenig«, antwortete der Lotse. Wa­rum zögerte er, dachte Zaleer. »Ich habe die Lage im Schiff unter Kontrolle, aber ich werde einige Zeit brauchen, bis ich die GRIET wieder voll einsatzbereit gemacht haben werde. Hilfe wäre bei der Reparatur sehr willkommen.«

Zaleer formulierte vorsichtig. Es konnte auf jedes Wort ankommen.

»Ich schlage vor: wir übernehmen die überlebenden Rebellen als unsere Gefange­nen. Eine rasche Aburteilung und Hinrich­tung der Verbrecher wird den Widerstands­willen der Bevölkerung heben. Außerdem

43 Geisel des Grauens

kannst du dich mit unserer Hilfe der Instand­setzungsarbeit widmen.«

Wieder zögerte der Lotse. Zaleer machte eine Geste der Unruhe. Die

Antwort des Lotsen entschied über die Zu­kunft der Rebellen von Welkan. Lieferte er die Hunod-Besatzung aus, dann wurde die Kampfkraft der Rebellen gestärkt. Und au­ßerdem konnte Zaleer dann seine Leute, als Mechaniker getarnt, an Bord schicken – vielleicht gelang es den Hunods von Wel­kan, was den Besatzungsmitgliedern miß­lungen war, den Biten auszuschalten.

»Einverstanden!« sagte der Lotse schließ­lich. »Ich öffne die entsprechenden Luken.«

Ein Knacken verkündete, daß sich der Bi­te aus der Leitung zurückgezogen hatte.

Zaleer atmete erleichtert auf. Ohne sich der Tatsache bewußt zu wer­

den, erteilte er seine Befehle. »TamanT!« bestimmte er. »Du wirst die

Besatzung gefangennehmen. Rede mit den Leuten. Vielleicht können wir sie auf unsere Seite ziehen.«

»Das wäre mehr, als wir zu träumen ge­wagt haben«, murmelte Gand-Kor. »Wenn wir die Besatzung auf unserer Seite haben, können wir das Schiff wirklich fliegen – auch ohne Lotsen.«

»Ohne Lotse ist kein Organschiff in der Schwarzen Galaxis einsatzfähig«, erinnerte TamanT.

»Na und?« fragte Zaleer erheitert. »Wollen wir etwa dorthin zurück?«

*

Ganzelpohn fühlte sich unbehaglich. Die Unterhaltung mit den Welkanern war anders verlaufen, als es sich der Lotse gewünscht hatte.

Er überlegte. Ganzelpohn mußte eine Entscheidung

treffen. Lieferte er – wie verabredet mit Zaleer –

Eynar und die anderen aus, würden sie frü­her oder später zu reden anfangen. Dann war Ganzelpohns Verbrechen offenkundig, sein

Tod nur noch eine Frage von Stunden. Andererseits … Körperlich ging es dem Lotsen in diesem

Augenblick nicht einmal schlecht. Zwar war die GRIET schwer beschädigt, und das schmerzte den Lotsen. Im Augenblick aber litt er andere Qualen.

Er hatte nur dann eine Chance, wenn er …

Ganzelpohn betrachtete den Bildschirm. Der Kommandant war darauf zu sehen, in Trauerhaltung.

Eynar war niedergeschlagen und wütend zugleich.

Aber er lebte. Er konnte sprechen. Er konnte Ganzelpohn verraten.

Er würde Ganzelpohn verraten. Nur der Tod konnte ihn verstummen las­

sen. Ganzelpohn, der Lotse, hatte nur dann eine Chance, wenn er die Überlebenden der Hunod-Besatzung tötete.

Ganzelpohn mußte eine Entscheidung treffen, für sich und gegen die Hunods oder für die Hunods und gegen die eigenen Inter­essen.

Ganzelpohn schluchzte leise. Er wollte leben, aber nicht als Mörder.

Aber er wollte auch nicht als Narr sterben, der seine Interessen nicht zu wahren wußte.

Die Zwickmühle war bösartig, und Gan­zelpohn fand keine Lösung für das Problem.

Er sah auf den Schirmen, wie eine Gruppe Bewaffneter auf die GRIET zumaschierte. Auf einem anderen Bildschirm waren die Geschütze von Welkan zu sehen. Sie zielten auf den Rumpf des Organschiffs. Ein Feuer­stoß würde das Organschiff augenblicklich vernichten. An Widerstand war nicht zu denken.

Die Hunods kamen näher, und Ganzel­pohn hatte immer noch keine Entscheidung getroffen.

Er sah wieder auf Eynar. Der Hunods würde keinen Augenblick zö­

gern, den Biten dem Henker zu überantwor­ten, dessen konnte Ganzelpohn sich sicher sein. Ein loyaler Untergebener zögerte in ei­nem solchen Fall nicht. Vor wenigen Tagen

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noch – wie kurz die Zeit der Freiheit doch gewesen war, dachte Ganzelpohn traurig – hätte er selbst keinerlei Skrupel gekannt und die Exekution des Kommandanten befohlen, hätte sich Eynar gegen die Herren der Schwarzen Galaxis verschworen.

Die Hunods hatten die GRIET erreicht. Ganzelpohn öffnete das große Luk. Zu

mehr war er nicht in der Lage. Zum zweitenmal stand er vor dem Ende

alle seiner Bemühungen. Vorhin, beim An­flug auf Welkan, hatte er die Zeit in Sekun­den unterteilt und um jeden Bruchteil ge­bangt. Er hatte Glück gehabt, er hatte seine Freiheit behauptet.

Jetzt zählte er wieder die Sekunden, und diesmal arbeitete die Zeit gegen ihn.

Noch hatte der Bite die Wahl – Sklave oder Mörder.

Ganzelpohn war zu keiner Entscheidung fähig. Als er frei geworden war, hatte auf vieles gehofft und mit manchem gerechnet, damit nicht. Dieser Zwiespalt überstieg die Möglichkeiten des Biten. Er war unfähig sich zu entscheiden.

Er konnte sehen, wie die Hunods in das Schiff eindrangen. Sie stiegen über die Be­wußtlosen hinweg, die auf den Gängen la­gen. Sie bestaunten die Schäden an der Ein­richtung. Sie ließen sich Zeit, entsetzlich viel Zeit.

Stumpf betrachtete der Bite die Bilder auf den Schirmen.

Ein Hunod betrat, begleitet von zwei Waffenträgern, die Kommandantenräume. Es war der gleiche Hunod, mit dem Ganzel­pohn über Funk gesprochen hatte, Zaleer, der Stadtkommandant.

Ohne Gemütsbewegung, fast geistesabwe­send, sah der Bite zu, wie Eynar sich auf­richtete und Zaleer anstarrte.

Dann hörte er, dumpf wie Trommel­schlag, den Kommandanten das sagen, wo­mit Ganzelpohn gerechnet hatte:

»Vorsicht«, rief Eynar. »Nehmt euch in acht, der Bite ist ein Rebell. Wir sind treue Untertanen, er ist der Verbrecher.«

Nach einer Pause, die quälend lange

Peter Terrid

währte, hörte der Bite eine andere Stimme sagen, und sie klang für Ganzelpohn wie Musik:

»Es freut uns, das zu hören. Wir sind nämlich auch Rebellen. Nimm die Klauen hoch, Eynar. Du bist festgenommen.«

Ganzelpohn glaubte zu träumen. »Ich grüße dich, Rebell und Freund«, sag­

te Zaleer. Er wußte, daß der Bite das Ge­spräch verfolgen konnte.

»Ich grüße dich«, sagte Ganzelpohn leise. Er war frei, endgültig frei. Und er hatte Freunde gefunden in der

Freiheit.

10.

»Keine Informationen?« »Keine, Atlan.« Thalias Auskunft war niederschmetternd. Pthor raste auf einem Kurs, den wir nicht

kontrollieren konnten, auf ein Ziel zu, von dem wir so gut wie nichts wußten. Wir wa­ren im Besitz von Vermutungen, Gerüchten, Märchen, Sagen – aber was ich brauchte, waren Informationen, die Hand und Fuß be­saßen, die ich nachprüfen und zu Kalkulatio­nen heranziehen konnte.

Mit dem geringwertigen Datenmaterial, das mir zur Verfügung stand, konnte nicht einmal mehr mein sonst so zuverlässiger Ex­trasinn etwas anfangen.

Ich ging nervös in dem Raum auf und ab. Was konnten wir tun? Wie bereitete man

sich auf Gefahren vor, deren Art man nicht kannte?

»Du machst dir Sorgen, nicht wahr?« Ich zuckte mit den Schultern. Was hätte

ich Thalia antworten sollen? Wer machte sich keine Sorgen?

Immerhin, es gab beruhigende Dinge zu vermelden. Auf Pthor wurde mit Hochdruck daran gearbeitet, das Land für eine Verteidi­gung vorzubereiten. Die Atlanter waren nicht willens, sich willfährig in ihr Schicksal zu fügen. Wenn die Herren der Schwarzen Galaxis uns zu sehen wünschten, dann soll­ten sie eine Überraschung erleben.

45 Geisel des Grauens

Es wird sich herausstellen, wer verblüffter sein wird! kommentierte der Logiksektor trocken.

Ein Fiepen ertönte. Ich wußte sofort, was es zu bedeuten hatte.

Im Raum vor Pthor operierte die GOL'DHOR. Sie sollte nach eventuellen Angreifern Ausschau halten und frühzeitig warnen. Vielleicht gaben uns einige Stunden Vorsprung eine Chance, eine wirklich wir­kungsvolle Verteidigung zu organisieren.

Ich stellte die Verbindung her. »Was gibt es?«

»Wir haben ein Objekt geortet, das sich Pthor nähert.«

»Nur eines? Oder eine ganze Flotte?« »Nur ein Schiff. Es scheint aus einer jener

Sternenballung zu kommen, die der Schwar­zen Galaxis vorgelagert sind.«

»Wie groß?« »Ein ganz normales Schiff, so scheint es.

Nicht sonderlich groß. Der Kurs des Frem­den ist ein wenig ungewöhnlich. Sieht aus, als hätte er technische Schwierigkeiten.«

»Vollalarm!« bestimmte ich. Ich hatte zu oft mit diesem uralten Trick

gearbeitet, um darauf noch hereinzufallen. Wollte uns jemand übertölpeln, uns Schwä­che vortäuschen und dann einen vernichten­den Schlag führen?

Wir würden uns nicht überlisten lassen.

*

»Kontakt!« Zaleer hörte die Stimme des Biten. »Kontakt mit wem?« fragte er. »Mit einem fremden Schiff, das auf den

Namen GOL'DHOR hört«, erwiderte der Lotse. »Man will wissen, wer wir sind.«

»Kommt das Schiff von diesem … Gebil­de?«

»Ich nehme es an«, antwortete der Lotse. Das Gebilde war in Fahrtrichtung auf den

Schirmen aufgetaucht, ein sehr merkwürdi­ges Etwas. Es raste durch den Raum, auf die Schwarze Galaxis zu.

»Was heißt fremd, Ganzelpohn?«

»Ich habe noch niemals zuvor von einem Schiffstyp dieser Art gehört. Ich bin sicher, daß er nicht aus der Schwarzen Galaxis stammt.«

Zaleer fühlte sein Herz schneller schla­gen.

Es gab also auch andere Völker, die nicht unter der Herrschaft der Schwarzen Galaxis standen. Und diese Völker konnten Schiffe bauen, eigene, raumtüchtige Schiffe. Die Hunods hatten, soweit Zaleer das wußte, niemals Schiffe gebaut.

Zaleer wußte, was das bedeutete. Ein Volk, das nicht zum Machtbereich der

Schwarzen Galaxis gehörte, war mit den Herrschern der Schwarzen Galaxis verfein­det, selbst wenn das betreffende Volk gar nicht wußte, daß es so etwas wie die Schwarze Galaxis überhaupt gab. Ein Volk, das ihnen nicht untertan war, mußte den Herren der Schwarzen Galaxis stets als Feind erscheinen.

Und das hieß für die Hunods, daß sie Freunden entgegenflogen.

»Stelle eine Funkverbindung her«, be­stimmte Zaleer.

Er hatte das Kommando an Bord der GRIET übernommen, er und TamanT. Sämtliche Rebellen von Welkan hielten sich in dem notdürftig reparierten Organschiff auf. Die Loyalen – mit Kommandant Eynar an der Spitze – hatte man auf Welkan zu­rückgelassen. Mochten sie zusehen, wie sie mit dem nächsten Organschiff fertig wurden.

»Hier die GOL'DHOR. Wir fordern das herannahende Schiff auf, sich zu identifizie­ren.«

»Hier die GRIET, Kommandant Zaleer und Galionsfigur Ganzelpohn. Wir sind auf der Flucht.«

»Flucht vor wem? Und wohin?« Zaleer brauchte sich die Antwort nicht lange zu überlegen.

»Egal wohin, nur fort von der Schwarzen Galaxis.«

Eine längere Pause entstand. »Ihr seid uns willkommen. Folgt uns.«

46

*

Die Funkverbindung stand. Ich konnte mit der GOL'DHOR und der GRIET sprechen. Ich wußte, daß der Kommandant zum Volk der Hunods gehörte, daß es an Bord einen Lotsen gab – oder eine Galionsfigur – und daß dieser Lotse namens Ganzelpohn zum Volk der Biten gehörte. Die gesamte Besat­zung war auf der Flucht vor den Herren der Schwarzen Galaxis.

»Vielleicht bekommen wir jetzt die Infor­mationen, die wir brauchen«, hoffte Thalia.

Ich hatte meine Zweifel. Es wäre des glücklichen Zufalls zuviel gewesen, wäre uns ausgerechnet ein hoher Würdenträger der Schwarzen Galaxis über den Weg geflo­gen.

Ich hatte das sichere Gefühl, Zaleer und Ganzelpohn trauen zu können, obwohl ich beide nie gesehen hatte. Allerdings war ich gleichzeitig auch ziemlich sicher, daß es sich bei diesen relativ harmlosen Wesen nicht um Geheimnisträger handeln konnte.

»Wir bedanken uns für die Landeerlaub­nis«, sagte Zaleer. »Wir sind sehr glücklich, Freunde gefunden zu haben.«

Eine kurze Pause entstand, dann erklang eine zweite Stimme.

»Ganzelpohn spricht. Wie heißt das Ge­bilde, das wir anfliegen sollen? Wie wird es genannt?«

»Bursche, laß die Finger von den Ge­schützen!«

Das war die GOL'DHOR gewesen. Ich war alarmiert.

»Atlantis oder Pthor!« antwortete ich. Zwei Laute klangen gleichzeitig aus dem

Lautsprecher. Das eine war der schneidende Befehl von

der GOL'DHOR, der den Hunods befahl, die Kanonen wieder einzufahren.

Der zweite Laut war ein gellender Schrei, der Qual und Entsetzen ausdrückte.

Obwohl die Stimme über den kleinen Lautsprecher stark verzerrt wurde, war der Schmerz deutlich zu hören, den der Schreier

Peter Terrid

empfinden mußte. Ich sah wie Thalia bleich wurde, und auch mir drehte sich fast der Magen um.

»Was ist passiert?« rief ich in das Mikro­phon.

Ich bekam keine Antwort.

*

»Lieber sterben als dorthin!« wimmerte Ganzelpohn. »Laß uns starten, selbst wenn sie uns abschießen.«

»Warum?« schrie Zaleer. »Warum schreist du? Wer quält dich? Und was hat es mit Pthor auf sich oder Atlantis? Rede, Gan­zelpohn!«

Der Lotse wand sich vor Schmerz. Zaleer hatte das Gespräch auf die Funkleitung ge­legt. Die Besatzung der GOL'DHOR konnte mithören und auch der König von Pthor. Za­leer hatte noch niemals ein so schönes Raumschiff gesehen wie die GOL'DHOR, und obwohl er überhaupt nur sehr wenige Raumschiffe jemals gesehen hatte, war er si­cher, daß die GOL'DHOR auch das schönste Schiff bleiben würde.

»Ich kenne Pthor«, sagte Ganzelpohn zuckend. »Ich kenne es wie mich selbst. Ich komme von Pthor.«

*

Ich war fassungslos. »Woher?« rief ich. »Was hast du mit

Pthor zu tun, Ganzelpohn? Bevor du antwor­test, wisse: ich bin kein Freund der Schwar­zen Galaxis, ich gehöre nicht zu denen, die Pthor mißbrauchen wollen.«

Schweigen antwortete mir. Ich konnte nach einiger Zeit leises Schluchzen hören, mehr nicht. Irgend jemand litt, und das tat mir weh.

»Dort oben«, sagte Thalia und deutete in die Höhe. »Das Schiff landet.«

Es war still um mich herum, und in dieses Schweigen hinein landete das Organschiff.

Es war ein häßlicher, braungrauer Klum­pen aus organischem Material. Beim Lande­

47 Geisel des Grauens

anflug konnte ich die Form des Schiffes stu­dieren, und als es vor mir auf der Landeflä­che stand, wußte ich, daß wir ein neues Pro­blem zu lösen hatten.

Da war zum einen das Problem des Lot­sen. Er landete zwar das Schiff, aber von ihm war dabei nicht mehr zu hören als das erstickte Weinen.

Zum anderen fragte ich mich, mit was für einer Technologie wir es zu tun bekommen würden. Das Organschiff GRIET war eines der seltsamsten Gebilde, das ich je gesehen hatte.

Und ich ahnte, daß ein Geheimnis exi­stierte, das diesen Schiffstypus umgab. Ich ahnte auch, daß dieses Geheimnis eine grau­envolle Lösung haben würde.

Der bloße Anblick dieses Schiffes war de­primierend.

Die GRIET stand auf dem Landefeld. Ich sah, wie sich eine Luke öffnete. Personen er­schienen in der Öffnung, kamen heraus und bewegten sich auf uns zu.

»Riesenkäfer«, stellte ich fest. Zumindest stimmte die äußere Diagnose.

Vorsichtig kamen die Hunods näher. Ich sah, daß sie unbewaffnet waren.

Vor Thalia blieben sie stehen und voll­führten grazile Gesten.

»Wir möchten uns noch einmal bedanken, König von Pthor«, sagte der Anführer.

Ich lachte. »Sie setzen offenbar Schönheit mit

Machtfülle gleich«, sagte ich. »Ich bin At­lan, Zaleer.«

Wieder vollführte der Hunod komplizierte Gesten. Ich begann zu ahnen, daß die Hu­nods im Grunde ein sanftes, friedfertiges Völkchen waren, mit dem zusammen zu le­ben eine Freude sein mußte. Wortreich ent­schuldigte sich Zaleer für seinen an sich un­entschuldbaren Fehler.

»Ich heiße die tapferen Hunods von Wel­kan auf unserem Boden willkommen«, sagte ich feierlich. Über die Bezeichnung tapfer schienen sich die Hunods besonders zu freu­en.

Es schienen einige hundert zu sein, die

nach und nach aus dem Bauch des Organ­schiffs hervorstiegen und den Platz füllten. Ich konnte keine Mimik oder Gestik erken­nen, geschweige denn deuten, aber mir schi­en, daß die Hunods ein wenig verschüchtert waren. Und sehr froh, Freunde gefunden zu haben.

»Und wo ist der Lotse?« wollte ich wis­sen. Noch immer hörte ich ab und zu ein Schluchzen aus dem Lautsprecher.

»Ich werde ihn dir zeigen, Herr«, sagte der Hunod Zaleer. »Folge mir!«

Er nahm mich bei der Hand und führte mich auf die GRIET zu.

»Vorsicht, das kann eine Falle sein!« Ich ignorierte Thalias Warnruf. Die

trockene, kleine Greifklaue des Hunods lag in meiner Hand. Sehr beweglich war der Hu­nod nicht, der Marsch zu dem Schiff dauerte vergleichsweise lang.

Was wollte der Fremde mir zeigen? Er führte mich zur Bordwand, dann an der

Bordwand entlang. Wir erreichten den Bug. Und ich begriff.

*

Niemals zuvor hatte ich etwas Grauenvol­leres gesehen. Jetzt verstand ich, warum Ganzelpohn weinte und klagte. Sein Schick­sal war entsetzlich.

»Wir haben versucht, ihn da herauszuho­len«, sagte Zaleer leise. »Aber es geht nicht. Er wird für immer dort bleiben müssen.«

Ich starrte auf die Transparentkuppel, auf das Wesen, das darin zu erkennen war.

Ich hatte viele verschiedene Lebewesen gesehen im Lauf meines langen Lebens, und es waren exotischere Existenzen darunter gewesen als Ganzelpohn, der Bite. Aber nie zuvor hatte ich ein Lebewesen so bedauert wie diese unglückliche Kreatur.

Für immer eingekerkert sein in einer sol­chen Kuppel, der Gedanke allein war schlimm. Jeden Befehl befolgen zu müssen, ein entsetzliches Leben. Und jede Verände­rung des Schiffszustands spüren zu müssen,

48 Peter Terrid

als Schmerz spüren zu müssen, vor dem es kein Entrinnen gab – was für Hirne dachten sich derartige Dinge aus? Was für Wesen bauten solche Schiffe?

Die Herren der Schwarzen Galaxis muß­ten Sadisten sein, die in den Weiten des Uni­versums ihresgleichen suchten.

Denn – und das war vielleicht das Grau­envollste von allem – Ganzelpohn war kein Einzelfall.

Dies war keine entsetzliche Bestrafung für ein grauenvolles Verbrechen – das hätte ich verstehen, wenn auch nicht billigen kön­nen.

Es gab in jedem Schiff, das in der Schwarzen Galaxis flog, einen solchen Lot­sen, eine Galionsfigur, eine Geisel des Grau­ens. Schicksale wie das von Ganzelpohn wa­ren in der Schwarzen Galaxis alltäglich.

Mir drehte sich fast der Magen um. »Verstehst du mich jetzt, Atlan?« sagte der Lotse. Ich konnte die Bewegungen durch die Kuppel hindurch sehen. Die Galionsfigur winkte mit dünnen Gliedern einen Gruß.

»Ich verstehe dich, Lotse. Aber sage mir, was verbindet dein Schicksal mit mir, mit Pthor?«

Der Lotse zögerte einen Augenblick. Dann sagte er dumpf:

»Kennst du jeden Winkel von Pthor?« Ich nickte. Etwas Entsetzliches begann

mir zu dämmern, meine Nackenhaare richte­ten sich auf.

Düster fuhr der Lotse fort: »Dann kennst du auch einen Ort, den man

Senke der verlorenen Seelen nennt.« »Ich kenne ihn«, sagte ich schwankend.

Mir schwindelte. Nacktes Grauen stieg in

mir auf. »Willst du sagen …?« Er sagte es. Wahrlich verloren waren die Seelen die­

ser Senke. Auf sie wartete das Schicksal, das Ganzelpohn erduldete.

Bestimmt waren sie, Galionsfiguren zu werden, Organschiffe durch die Galaxis des Grauens zu geleiten.

Mir stockte der Atem. Ich mußte mich ge­gen die Bordwand lehnen, wenn ich nicht zusammenbrechen wollte. Die Senke der verlorenen Seelen war nichts als ein giganti­sches Reservoir an Sklaven, die darauf war­teten, an ein Organschiff gekoppelt zu wer­den.

Zweihunderttausend Fremde gab es auf Pthor. Zweihunderttausend Galionsfiguren. Zweihunderttausend Organschiffe. Zwei­hunderttausendfache Qual. Unausgesetzt, bei Tag und Nacht, ohne jede Pause, erbar­mungslos bis zum Tod.

Ich hatte mir etliche Male das grauenvolle Schicksal vorzustellen versucht, das angeb­lich auf die verlorenen Seelen wartete. An das, was sie tatsächlich zu erdulden haben würden, hatte ich nicht gedacht – dazu fehlte mir die Phantasie.

Ich sah nach oben, dorthin, wo das Ziel von Pthor zu suchen war.

Von diesem Augenblick an hatte für mich das Entsetzen, das Grauen an sich, einen Na­men:

DIE SCHWARZE GALAXIS

ENDE

E N D E