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GENERALDIREKTION INTERNE POLITIKBEREICHE … · generaldirektion interne politikbereiche fachabteilung c: bÜrgerrechte und konstitutionelle angelegenheiten rechtsangelegenheiten

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  • GENERALDIREKTION INTERNE POLITIKBEREICHE

    FACHABTEILUNG C: BÜRGERRECHTE UND KONSTITUTIONELLE

    ANGELEGENHEITEN

    RECHTSANGELEGENHEITEN

    Abweichende Stellungnahmen der

    Obersten Gerichtshöfe in den

    Mitgliedstaaten

    STUDIE

    Abriss

    In dieser Studie werden die Vor- und Nachteile von abweichenden Stellungnahmen untersucht. Nach einer Analyse der Arbeitsweise der Obersten Gerichtshöfe und Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten, wird auf die Praxis an den internationalen Gerichtshöfen eingegangen. Abschließend wird erörtert, ob die Praxis der Veröffentlichung abweichender Stellungnahmen für den EuGH geeignet sein könnte oder nicht.

    PE 462.470 DE

  • Die vorliegende Studie wurde vom Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments in Auftrag gegeben.

    VERFASSER

    Rosa RAFFAELLI Fachabteilung C: Bürgerrechte und konstitutionelle Angelegenheiten Europäisches Parlament B-1047 Brüssel E-Mail-Adresse: [email protected]

    SPRACHFASSUNGEN

    Original: EN Übersetzung: DE/FR

    ÜBER DEN HERAUSGEBER

    Kontakt zur Fachabteilung oder Bestellung des monatlichen Newsletters: [email protected]

    Europäisches Parlament, November 2012. © Europäische Union, 2012.

    Dieses Dokument ist im Internet unter folgender Adresse abrufbar: http://www.europarl.europa.eu/studies

    HAFTUNGSAUSSCHLUSS

    Die hier vertretenen Auffassungen geben die Meinung des Verfassers wieder und entsprechen nicht unbedingt dem Standpunkt des Europäischen Parlaments.

    Nachdruck und Übersetzung der Veröffentlichung – außer zu kommerziellen Zwecken – mit Quellenangabe gestattet, sofern der Herausgeber vorab unterrichtet und ihm ein Exemplar übermittelt wird.

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    http://www.europarl.europa.eu/studiesmailto:[email protected]:[email protected]

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    Abweichende Meinungen an den Obersten Gerichten der Mitgliedstaaten

    INHALT

    ZUSAMMENFASSUNG 6

    1. ABWEICHENDE MEINUNGEN: WESENTLICHE GRUNDSÄTZE 8

    1.1. Einleitung 8

    1.2. Argumente gegen das Sondervotum 9

    1.2.1. Historische Vorbemerkungen 9 1.2.2. Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit 9 1.2.3. Sicherstellung der Unabhängigkeit nationaler Richter an internationalen

    Gerichtshöfen 10 1.2.4. Wahrung der Autorität von Gerichten und ihren Urteilen 11 1.2.5. Sicherstellung von Klarheit 11 1.2.6. Wahrung der Kollegialität 12 1.2.7. Praktische Argumente: Zügigkeit von Gerichtsverfahren und finanzielle

    Wirtschaftlichkeit 12 1.3. Argumente für das Sondervotum 13

    1.3.1. Historische Vorbemerkungen und Argument der Rechtskultur 13 1.3.2. Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit und Redefreiheit 13 1.3.3. Sicherstellung von Autorität und Klarheit 14 1.3.4. Wahrung der Kollegialität 15 1.3.5. Demokratie und Transparenz 15 1.3.6. Dialog mit zukünftigen und nachgeordneten Gerichten 16 1.3.7. Zügigkeit von Gerichtsverfahren 17

    1.4. Vorläufige Schlussfolgerung 17

    2. DIe PRAXIS IN DEN MITGLIEDSTAATEN DER EUROPÄISCHEN UNION 18

    2.1. Länder, in denen Sondervoten nie zulässig sind 18

    2.1.1. Belgien 18 2.1.2. Frankreich 19 2.1.3. Italien 19 2.1.4. Luxemburg 20 2.1.5. Malta 20 2.1.6. Niederlande 21 2.1.7. Österreich 21

    2.2. Länder, in denen Sondervoten zulässig sind: unterschiedliche Praktiken22

    2.2.1. Bulgarien 22 2.2.2. Tschechische Republik 22 2.2.3. Dänemark 23 2.2.4. Deutschland 23 2.2.5. Estland 24 2.2.6. Irland 25

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    Fachabteilung C: Bürgerrechte und konstitutionelle Angelegenheiten

    2.2.7. Griechenland 25 2.2.8. Spanien 26 2.2.9. Zypern 27 2.2.10. Lettland 27 2.2.11. Litauen 27 2.2.12. Ungarn 28 2.2.13. Polen 29 2.2.14. Portugal 29 2.2.15. Rumänien 29 2.2.16. Slowenien 30 2.2.17. Slowakei 30 2.2.18. Finnland 31 2.2.19. Schweden 31 2.2.20. Vereinigtes Königreich 31

    2.3. Schlussfolgerung 32

    3. SUPRANATIONALE GERICHTE UND DER EUGH 34

    3.1. Einleitung 34

    3.2. Die Praxis an internationalen Gerichten 34

    3.2.1. Der IGH 34 3.2.2. Der EGMR 35 3.2.3. Internationale Strafgerichtshöfe 36 3.2.4. Beilegung von Streitigkeiten im internationalen Handelsrecht 36

    3.3. Der EuGH 37

    3.3.1. Urteilsstil und -begründungen am EuGH 37 3.3.2. Die Rolle der Ansichten des Generalanwalts 39 3.3.3. Kollegialität und Solidarität im Entscheidungsfindungsprozess 39 3.3.4. Autorität des Gerichtsurteils 40 3.3.5. Die Unabhängigkeit der Richter 41 3.3.6. Transparenz oder Geheimhaltung? 42

    SCHLUSSFOLGERUNGEN 43

    LITERATURVERZEICHNIS 45

    ANHANG 1 – PRAXIS AM BVERFG 51

    ANHANG 2 – PRAXIS AM SPANISCHEN TRIBUNAL CONSTITUCIONAL 52

    ANHANG 3 – PRAXIS AM ESTNISCHEN OBERSTEN GERICHTSHOF 53

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    Abweichende Meinungen an den Obersten Gerichten der Mitgliedstaaten

    ABKÜRZUNGEN

    ACA-Europe Vereinigung der Staatsräte und der Obersten Verwaltungsgerichte

    der EU

    BVerfG Bundesverfassungsgericht (Deutschland)

    CCJE Beirat Europäischer Richter

    EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

    EMRK Europäische Menschenrechtskonvention

    EuGH Gerichtshof der Europäischen Union

    GA Generalanwalt am Gerichtshof der Europäischen Union

    IGH Internationaler Gerichtshof

    IStGH Internationaler Strafgerichtshof

    IStGHJ Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien

    IStGHR Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda

    NAFTA North American Free Trade Association

    WTO Welthandelsorganisation

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    Fachabteilung C: Bürgerrechte und konstitutionelle Angelegenheiten

    ZUSAMMENFASSUNG

    Hintergrund Die vorliegende Studie wurde vom Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments am 4. Juni 2012 in Auftrag gegeben.

    Die meisten Mitgliedstaaten der EU gestatten den Richtern ihrer Verfassungsgerichte und Obersten Gerichtshöfe die Veröffentlichung abweichender Stellungnahmen, falls diese dem jeweiligen Urteil des Gerichts nicht zustimmen: Diese Stellungnahmen bringen die begründeten Ansichten der Minderheit der Richter (abweichende Stellungnahmen) oder derjenigen Richter zum Ausdruck, die – obwohl sie dem endgültigen Urteil des Gerichts zustimmen – der Urteilsbegründung des Gerichts nicht zustimmen (zustimmende Stellungnahme). Der EuGH wendet allerdings ein anderes Modell an – das der Geheimhaltung der einzelnen Meinungen. Die für den EuGH anwendbaren Vorschriften stellen in der Gerichtswelt, in der in zunehmendem Maße die Veröffentlichung abweichender Stellungnahmen gestattet wird, immer mehr eine Ausnahme dar. Diese Besonderheit kann vielleicht auf die einzigartige Struktur des europäischen Rechtssystems sowie die Rolle des EuGH darin zurückgeführt werden. Jedoch vertreten einige Experten den Standpunkt, dass die abweichenden Stellungnahmen dem Gericht tatsächlich dienlich sein könnten, insbesondere angesichts der Notwendigkeit, einen ständigen Dialog mit den nationalen Gerichten zu führen. Andere Parteien wiederum behaupten, dass der Dialog durch unterschiedliche bereits bestehende Mittel verbessert werden könne und dass die Einführung unterschiedlicher Auffassungen die Kollegialität des Gerichts sowie seine Autorität gegenüber den nationalen Gerichten bedrohen könnten.

    Ziel In dieser Studie wird die Praxis der abweichenden Stellungnahmen in den Mitgliedstaaten der EU untersucht. Zunächst werden die Hauptargumente für und gegen diese Praxis aufgeführt, in der von den Wissenschaftlern bezeichneten Form, die sich auf die theoretischen Fragen und die Rolle der Einzelmeinungen in den (zum größten Teil nationalen) Gerichten konzentriert haben. Im zweiten Kapitel werden die Vorschriften analysiert, die in den Obersten Gerichtshöfen und Verfassungsgerichten der Mitgliedstaaten der EU anwendbar sind. Nach einem kurzen Überblick über die Verwendung abweichender Stellungnahmen auf supranationaler Ebene wird in dieser Studie abschließend die aktuelle Situation beim EuGH vor dem Hintergrund der von Wissenschaftlern und Richtern zu diesem Thema zum Ausdruck gebrachten Ansichten erörtert.

    Durch diese Studie sollen die folgenden Ziele erreicht werden:

    Einführung der wichtigsten theoretischen Argumente für und gegen die Genehmigung der Veröffentlichung abweichender Stellungnahmen;

    Untersuchung der Praxis in den Verfassungsgerichten sowie Obersten Gerichtshöfen der 27 EU-Mitgliedstaaten;

    Zusammenfassung der Praxis auf supranationaler Ebene;

    Darstellung der Hauptargumente für und gegen eine Genehmigung für die Richter des EuGH, abweichende Stellungnahmen zu veröffentlichen.

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    Abweichende Meinungen an den Obersten Gerichten der Mitgliedstaaten

    WICHTIGSTE ERGEBNISSE

    Die Praxis, Richtern die Veröffentlichung abweichender Stellungnahmen zu

    gestatten, ist in der EU weit verbreitet. Nur sieben der 27 Mitgliedstaaten gestatten es ihren Richtern nicht, individuelle Stellungnahmen zu veröffentlichen. In den übrigen 20 Mitgliedstaaten ist die Veröffentlichung abweichender Stellungnahmen gestattet, entweder in allen rechtlichen Zuständigkeitsbereichen oder nur bei verfassungsrechtlichen Angelegenheiten. Nur in einem Mitgliedsstaat (Irland) dürfen abweichende Stellungnahmen nur bei gewöhnlichen Fällen, jedoch nicht bei verfassungsrechtlichen Fragen veröffentlicht werden.

    Es besteht keinen deutlichen Unterschied zwischen den Ländern des „Gewohnheitsrechts“ und Ländern des „Bürgerlichen Rechts“: In vielen Ländern, in denen das „Bürgerliche Recht“ angewendet wird, dürfen abweichende Stellungnahmen veröffentlicht werden, während in vielen Ländern, die das „Gewohnheitsrecht“ verwenden, diese entweder eingeschränkt werden oder verboten sind.

    In den letzten Jahren gab es zunehmend die Tendenz, zumindest bei Verfassungsrichtern die Veröffentlichung abweichender Stellungnahmen zu gestatten. Viele osteuropäische Länder, die vor kurzem der EU beigetreten sind, befolgen diese Praxis jetzt ebenfalls.

    Die Veröffentlichung individueller Stellungnahmen ist generell in internationalen und regionalen supranationalen Gerichten gestattet, jedoch mit einer nennenswerten Ausnahme: dem EuGH.

    Die Hauptargumente für abweichende Stellungnahmen hingegen lauten wie folgt: Aufrechterhaltung der Integrität und moralischen Unabhängigkeit der Richter und ihrer Meinungsfreiheit; Verbesserung der Qualität der Urteile und ihrer Überzeugungskraft; Förderung der Transparenz; sowie Verbesserung des Dialogs mit zukünftigen und untergeordneten Gerichten.

    Während unterschiedliche Ansichten darüber bestehen, ob individuelle Stellungnahmen erlaubt sein sollten, besteht allgemeine Einigkeit in Bezug darauf, dass diese Stellungnahmen ihren Zweck am besten erfüllen, wenn ihre Anzahl begrenzt ist, sie vorab verbreitet und auf respektvolle Weise verfasst werden.

    Namhafte Wissenschaftler haben darauf hingewiesen, dass die Einführung abweichender Stellungnahmen beim EuGH im Rahmen einer allgemeinen Reform den Rechtsdialog mit nationalen Gerichten bereichern und eindeutigere Urteile gewährleisten würde. Andere wiederum argumentieren, dass innerhalb der Struktur des EuGH die Rolle des Generalanwalts schon als angemessener Ersatz für individuelle Stellungnahmen angesehen werden kann, während die Unabhängigkeit und Kollegialität des Gerichts gewahrt bleibe.

    Die Erfahrung nationaler und internationaler Gerichte ist zwar relevant, jedoch lassen sich davon nicht notwendigerweise Schlussfolgerungen ableiten, die auch beim EuGH Anwendung finden könnten, angesichts der Besonderheiten des Rechtsprechungssystems der EU und der einzigartigen Rolle des EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens.

    Selbst wenn abweichende Stellungnahmen beim EuGH erlaubt wären, würde dies nicht automatisch eine weit verbreitete Nutzung dieser bedeuten: Die verschiedenen Gerichte haben bei der Anwendung ähnlicher Vorschriften sehr unterschiedliche Praktiken entwickelt, abhängig von ihrer Kultur und ihren Traditionen. Außerdem kann die Veröffentlichung individueller Stellungnahmen eventuell gefördert werden, diese kann jedoch nicht angeordnet werden. Daher würde es dem EuGH freistehen, seine eigene Praxis zu entwickeln und sogar seine jetzige Praxis - die der kollegialen Entscheidungsfindung - beizubehalten, selbst wenn abweichende Stellungnahmen ausdrücklich vorgesehen wären.

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    Fachabteilung C: Bürgerrechte und konstitutionelle Angelegenheiten

    1. ABWEICHENDE MEINUNGEN: WESENTLICHE GRUNDSÄTZE

    1.1. Einleitung In diesem Kapitel sollen die Argumente für und gegen das Sondervotum (separate opinion) erörtert werden, um eine Einführung in die Analyse seiner Bedeutung für die verschiedenen Rechtssysteme innerhalb der Europäischen Union sowie für supranationale Rechtssprechungsorgane zu geben.

    Vorab sei klargestellt, dass ein deutlicher Unterschied zwischen das Ergebnis nicht mittragenden (abweichenden) und im Ergebnis zustimmenden Mindermeinungen besteht, auch wenn beide Konzepte in der Regel gemeinsam untersucht und unter dem Begriff „Sondervotum‟ zusammengefasst werden. In einer abweichenden Meinung (dissenting opinion) werden die Gründe vorgebracht, aus denen ein Mitglied des Richterkollegiums gegen die endgültige Entscheidung der Mehrheit gestimmt hat. Mit ihrer Hilfe soll also erklärt werden, warum der Richter oder die Richterin den im Gerichtsurteil genannten Schlussfolgerungen nicht zustimmt. Demgegenüber wird eine zustimmende Meinung (concurring opinion) von einem der Mehrheit angehörenden Mitglied des Richterkollegiums und mit dem Ziel formuliert, die Schlussfolgerung mit einer anderen oder zusätzlichen rechtlichen Begründung zu stützen.

    Die nationalen und internationalen Ansätze zu Einzelmeinungen weichen stark voneinander ab. Das breite Spektrum der Möglichkeiten reicht von der „seriatim opinion‟1, die am Obersten Gerichtshof des Vereinigten Königreichs noch immer angewandt wird, bis zur strafrechtlichen Verfolgung von Verstößen gegen das Beratungsgeheimnis (ausgelegt als Verbot der Bekanntgabe von Einzelmeinungen und -stimmen der Richter), und unterschiedliche Systeme haben zur Umsetzung unterschiedlicher Lösungen geführt. Zur Rechtfertigung der verschiedenen Ansätze werden zahlreiche Gründe vorgebracht, und die daraus entstandene Debatte hat sich für einige von einer Sache der Vernunft zu einer Glaubensfrage entwickelt.2

    Die herkömmliche Auffassung geht davon aus, dass Einzelmeinungen in auf dem „Common Law“ basierenden Rechtssystemen und in der internationalen Rechtsprechung gestattet sind, Zivilrechtsordnungen hingegen dem altbewährten Grundsatz des Beratungsgeheimnisses folgen. Diese Vorstellung deckt sich jedoch nicht mehr mit der Wirklichkeit, da auch in zahlreichen Ländern mit Zivilrechtssystem die Richter der obersten Justizorgane und noch häufiger die der Verfassungsgerichte das Recht haben, Sondermeinungen bekannt zu machen.3 Zudem geht das Verbot separater Meinungen zwar üblicherweise mit dem Beratungsgeheimnis Hand in Hand, und das in einem Maße, dass die beiden Grundsätze häufig synonym verwendet werden, doch trifft das Gegenteil nicht zwangsläufig zu. Vielmehr folgen viele Rechtssysteme zwar dem Grundsatz des Beratungsgeheimnisses (das heißt, die Beratungen erfolgen unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit, und die unter den Richtern geführte Debatte ist vertraulich), erlauben aber

    1 Hierbei werden die Meinungen aller mitberatenden Richter einzeln und nacheinander bekannt gegeben. 2 Vgl. C. Walter, La pratique des opinions dissidentes en Allemagne, in Nouveaux Cahiers du Conseil

    Constitutionnel, Nr. 8/2000, auf http://www.conseil-constitutionnel.fr/conseil-constitutionnel/francais/nouveaux

    cahiers-du-conseil/cahier-n-8/la-pratique-des-opinions-dissidentes-en-allemagne.52541.html. 3 Vgl. J. Malenovsky, Les opinions separées et leurs répercussions sur l'indépendance du juge international, in Anuario Colombiano de Derecho Constitucional, 2010, 39; K. Kelemen: Dissenting opinions in constitutional

    courts, in Kürze erscheinend in: German Law Journal, Nr. 11/2012. Siehe auch die Analyse weiter unten,

    Kapitel 2.

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    http://www.conseil-constitutionnel.fr/conseil-constitutionnel/francais/nouveaux

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    Abweichende Meinungen an den Obersten Gerichten der Mitgliedstaaten

    dennoch die Veröffentlichung von Sondervoten.4 Dieser Fall macht deutlich, dass bestehende Vorschriften zur Einhaltung des Beratungsgeheimnisses die Möglichkeit der Veröffentlichung von Einzelmeinungen nicht zwangsläufig ausschließen.

    In den folgenden Abschnitten sollen die wesentlichen Argumente der bestehenden Lehrmeinungen zunächst gegen und anschließend für das Sondervotum vorgestellt werden.

    1.2. Argumente gegen das Sondervotum

    1.2.1. Historische Vorbemerkungen

    Der Grundsatz des Beratungsgeheimnisses und der Einzelmeinungen lässt sich auf verschiedene historische Gründe zurückführen. Die traditionelle Aufgabe der Richter bestand darin, den Willen des Königs zu erklären, und da dieser per se nur einen einzigen Willen haben konnte, mussten Urteile einstimmig gefällt werden oder zumindest so erscheinen.5 Das Beratungsgeheimnis war außerdem eng mit einer Kultur der Geheimhaltung verknüpft, die sich vermutlich auf die Verwicklung von Staat und Kirche zurückführen lässt: Selbst in einem streng weltlich ausgerichteten Staat wie Frankreich enthält der von Richtern zu leistende Eid im Zusammenhang mit der Wahrung des Beratungsgeheimnisses das mehrdeutige Wort „religieusement‟ (dtsch. u. a.: gewissenhaft, a. a.: religiös).6 Historische Begründungen dieser Art wurden im Laufe der Zeit rationaler betrachtet und durch zeitgemäßere Gründe ergänzt.

    1.2.2. Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit

    Die Geheimhaltung von Einzelmeinungen gilt als Voraussetzung für die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit, insbesondere ihre Wahrung nach außen (d.h. die Unabhängigkeit von Stellen außerhalb des Gerichts, durch die Druck ausgeübt werden könnte).7 Wird das Urteil von einem Richterkollegium gefasst, bleibt das Stimmverhalten der einzelnen Mitglieder der Öffentlichkeit unbekannt. Daher müssen sie keine eventuellen beruflichen Folgen aufgrund ihrer Entscheidung befürchten und können einzig ihrem persönlichen Gewissen folgen. Besonders schlagkräftig ist dieses Argument in Fällen, in denen Personen von der Exekutive ins Richteramt berufen oder wieder berufen werden. Allerdings trifft es auch bei nicht erneuerbaren richterlichen Mandaten zu, da die Richter auch in diesem Fall versucht sein könnten, ihre Entscheidung auf Gedanken an ihre künftige berufliche Karriere zu gründen.

    Des Weiteren wird durch die Geheimhaltung in Fällen, in denen Personen von Vertretern der Politik ins Richteramt berufen werden (wie bei einem Großteil der Verfassungsrichter und allen Richtern an internationalen Gerichten), auch die Glaubwürdigkeit des Gerichts sichergestellt, indem ein Anschein von Unabhängigkeit gewahrt bleibt. Auf diese Weise kann die ungerechtfertigte Politisierung gerichtlicher Entscheidungen ebenso vermieden werden

    Selbst am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, wo das Sondervotum bekanntermaßen breite Anwendung findet, berät das Richterkollegium im Geheimen. Vgl. K. L. Hall (Hrsg.), The Oxford Companion to the US Supreme Court, OUP 2005, 201-203. 5 Vgl. S. Cassese, Lezione sulla cosiddetta opinione dissenziente, in Quaderni costituzionali, Nr. 4/2009, 973-986; Malenovsky, op. cit., S. 37. Die Urteile einiger Gerichte wurden im Grunde lediglich als Ratschläge für den König angesehen und konnten von diesem angenommen oder abgelehnt werden (wie beispielsweise in den Fällen desfranzösischen Conseil d'État und des Privy Council im Vereinigten Königreich). 6 Vgl. Y. Lécuyer, Le secret du délibéré, les opinions séparées et la transparence, in Revue trimestrielle des droits de l'homme, Nr. 57/2004, 197-223; S. O'Tuama, Judicial review under the Irish constitution, in Electronic Journal of Comparative Law, Nr. 12/2008. Wortlaut zur Vereidigung vonRichtern in Frankreich gemäß Art. 6, Ordonnance Nr. 58-1270 (22. Dezember 1958) portant loi organique relative au statut de la magistrature.

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    Fachabteilung C: Bürgerrechte und konstitutionelle Angelegenheiten

    wie die Wahrnehmung der Öffentlichkeit, die Richter würden ihren Entscheidungen die eigenen politischen Präferenzen anstatt rechtlicher Argumente zugrunde legen.8

    1.2.3. Sicherstellung der Unabhängigkeit nationaler Richter an internationalen Gerichtshöfen

    Besondere Bedeutung kommt dem Schutz der richterlichen Unabhängigkeit und ihres Anscheins bei Richtern an internationalen Gerichten zu, deren Nationalität häufig als wesentlicher Faktor für ihr Stimmverhalten erachtet wird. Tatsächlich ist die Annahme, Personen in Richterämtern könnten den Staat begünstigen, von dem sie berufen wurden, einer der Gründe dafür, dass Staaten ohne nationalen Vertreter im Richterkollegium an vielen internationalen Gerichtshöfen (das bekannteste Beispiel ist der Internationale Gerichtshof) das Recht zur Benennung eines „Ad-hoc‟-Richters erhalten, wenn ein Gerichtsverfahren gegen sie eingeleitet wird. Der herkömmlichen Begründung für dieses Recht zufolge würden Staaten keinem Gericht trauen, das sich ausschließlich aus Angehörigen anderer Staaten zusammensetzt. Die Loyalität internationaler Richter dem Staat gegenüber, von dem sie berufen wurden, wird als besonders hoch erachtet, nicht nur weil sie andernfalls die Unterstützung ihres Staates für eine Wiederernennung (oder das Angebot einer anderen, aber ebenso angesehenen Stellung) gefährden würden, sondern auch weil die Staaten von vornherein Personen wählen, die für ihr besonderes Maß an Loyalität oder Zurückhaltung bekannt sind. Daher könnte angeführt werden, ein Verbot des Sondervotums an internationalen Gerichten diene zwar der Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit, die gängige Praxis könne aber zur Entwicklung einer Auftragnehmer-Auftraggeber-Beziehung zwischen den Staaten und den von ihnen benannten Richtern führen.

    Auch wenn diese theoretische Beweisführung sehr schlüssig erscheint, legt die wissenschaftliche Forschung eine differenziertere Betrachtungsweise zur Bedeutung der Nationalität für das richterliche Stimmverhalten nahe, insbesondere im Falle regionaler Gerichtsbarkeiten. Bei aller Uneinigkeit in der Forschung über die statistischen Daten und ihre Auslegung gibt es Hinweise darauf, dass die Nationalität gerade am IGH einen sehr großen Stellenwert einzunehmen scheint. Tatsächlich kamen verschiedene Studien zu dem Ergebnis, dass nationale Richter in 76 bis 86% aller Fälle (bei Ad-Hoc-Richtern liegt die Quote sogar noch höher) zugunsten ihrer eigenen Nationalstaaten stimmen.9 Ein differenzierteres Bild zeichnen demgegenüber die statistischen Daten zum EGMR. So konnte durch eine Analyse der zwischen 1960 bis 2006 verkündeten und vom Gericht als bedeutend eingestuften Urteile gezeigt werden, dass nationale Richter in lediglich 16% der Fälle (in denen im Urteil ein Rechtsverstoß festgestellt wurde) von der Mehrheit abwichen, um für ihr eigenes Land zu stimmen (gegenüber 8% der Fälle, in denen Richter entgegen der Mehrheit für einen Staat stimmten, dem sie selbst nicht angehören).10 Demnach könnte dem eigentlich schlüssigen

    7 Vgl. J. Laffranque, Dissenting opinion and judicial independence, in Juridica international, 2003, 162-172; M.

    Kirby, Judicial dissent - common law and civil law traditions, in Law quarterly review, 2007, 379-400.

    8 Vgl. F. Luchaire, G. Vedel, „Contre“: le point de vue de deux anciens membres du Conseil constitutionnel, in

    Nouveaux Cahiers du Conseil constitutionnel, 2000, auf http://www.conseil-constitutionnel.fr/conseil

    constitutionnel/francais/nouveaux-cahiers-du-conseil/cahier-n-8/la-transposition-des-opinions-dissidentes-enfrance-est-elle-souhaitable-contre-le-point-de-vue-de-deux-anciens-membres-du-conseilconstitutionnel.52547.html. Zum (hoch politisierten) Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten (USSC) vgl. A. Scalia, The dissenting opinion, in Journal of Supreme Court History, 1994, 33-44. Allerdings wird die Politisierung des USSC auch mit der kleinen Anzahl der zugehörigen Gerichte begründet, die deutlich ideologischer geprägte Entscheidungen zulasse: vgl. A. Peri, Judicial independence vs. judicial accountability, in Comparative law review, Ausg. 3/2012. 9 Vgl. A. M. Smith, „Judicial nationalism‟ in International Law, in Texas International Law Journal, Ausg. 40/2005, 197-232; E. A. Posner, M. F. P. de Figueiredo, Is the International Court of Justice Biased?, Journal of Legal Studies, Ausg. 34/2005, 599-630. 10 E. Voeten, The impartiality of international judges: evidence from the ECtHR, in American Political Science Review, Nr. 102/2008, 417-433. Vgl. auch M. Kuijer, Voting behaviour and national bias in the European Court of Human Rights and the International Court of Justice, in Leiden Journal of International Law, Ausg. 10/1997, 49-67

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    http://www.conseil-constitutionnel.fr/conseilhttp:angeh�ren).10

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    Abweichende Meinungen an den Obersten Gerichten der Mitgliedstaaten

    Argument bezüglich der Unabhängigkeit internationaler Richter möglicherweise geringere praktische Bedeutung zukommen als angenommen.

    1.2.4. Wahrung der Autorität von Gerichten und ihren Urteilen

    Immer wieder wird gegen die Bekanntgabe von Sondervoten argumentiert, indem auf die notwendige Wahrung der Autorität von Gerichtsurteilen hingewiesen wird.11 Sobald ein Urteil rechtskräftig ist, muss es unabhängig von seiner Begründung anerkannt werden. Wenn in dem für das Urteil verantwortlichen Richterkollegium Uneinigkeiten bestanden, und wenn diese oder die Gründe, die bestimmte Mitglieder zu abweichenden Schlussfolgerung geführt haben, bekannt werden, könnten das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Rechtsprechung sowie die Autorität des Urteils und des dafür zuständigen Gerichts untergraben werden. Das trifft in besonderem Maße dann zu, wenn das Gericht bestehende Rechtsvorschriften neu ausgelegt oder neue Rechtsvorschriften angewandt hat.12 Durch die Bekanntgabe von Sondervoten könnte die unterliegende Partei dazu ermutigt werden, die Rechtskraft des Urteils anzuzweifeln, seine Umsetzung zu verweigern oder, sofern möglich, Rechtsmittel dagegen einzulegen.

    Einigen Autoren zufolge könnte die Justiz durch die Bekanntgabe abweichender Meinungen außerdem zum reinen Schauspiel werden („justice-spectacle‟). Es bestehe die Gefahr, dass einzelne Richter hauptsächlich deshalb eine Sondermeinung vertreten, um ihren persönlichen Bekanntheitsgrad zu steigern, mit der Folge einer Individualisierung der Rechtsprechung und schließlich der Beschädigung der gerichtlichen Autorität.13

    Zwar lässt sich das Autoritäts-Argument auf alle Gerichte anwenden, insbesondere aber auf neuere und nachgeordnete Gerichtsbarkeiten. So wird darauf hingewiesen, dass die Unzulässigkeit von Sondervoten am EuGH ursprünglich mit der Notwendigkeit begründet wurde, die Autorität einer damals noch labilen und an einen völlig neuen Rechtsrahmen gebundenen Institution zu schützen. Umgekehrt wird außerdem angeführt, die Zulässigkeit abweichender Meinungen am EGMR habe in der Anfangszeit zu einer Schwächung der Institution und seiner Urteile geführt und damit den Fortbestand der Institution gefährdet.14

    1.2.5. Sicherstellung von Klarheit

    Ein wichtiges Argument gegen das Sondervotum betrifft den Anspruch der Eindeutigkeit der endgültigen Entscheidung des Gerichts. Gerichtsurteile dienen dazu, eine endgültige Antwort auf eine spezifische rechtliche Fragestellung zu geben, nicht dazu, eine Debatte über die bestmögliche Interpretation der Rechtslage zu führen.15 Vor diesem Hintergrund könnte die Möglichkeit, dass Personen im Richteramt ihre abweichenden oder zustimmenden Einzelmeinungen bekannt machen, zu unnötiger Verwirrung über die vom Gericht gewählte Lösung und deren Begründung führen. In der Tat wird die Einführung des

    (aufgrund der Verwendung unterschiedlicher Datengrundlagen gelangen die Autoren zwar zu anderen Ergebnissen, aber zu den gleichen Schlussfolgerungen).11 Vgl. u. a. Walter, op. cit.; F. Gallo, Intervento al seminario di studi „L'opinione dissenziente‟, Konferenz am italienischen Verfassungsgericht vom 22. Juni 2009, abrufbar unter http://www.cortecostituzionale.it/documenti/convegni_seminari/Relazione_Gallo_opinione.pdf. 12 Ein häufig angeführtes Beispiel zur Bedeutung eines einstimmigen Gerichtsurteils ist das Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten, das zur Aufhebung der Rassentrennung an Schulen geführt hat: Brown v Board of Education, 347 U.S. 483 (1954). 13 Vgl. Luchaire und Vedel, op. cit.; Malenovsky, op. cit., auf 38. 14 Zum EuGH vgl. F. Rivière, Les opinions séparées des juges á la Cour Européenne des Droits de l'Homme, Bruylant 2004, 17; zum EGMR vgl. D. Nicol, Lessons from Luxembourg: Federalisation and the Court of Human Rights, in European Law Review, 2001, 3-21. In anderen Arbeiten werden Gegenmeinungen wiederum als besonders zweckdienlich erachtet, wenn Gerichte neue Arten von Gesetzen anwenden, da sie deren Entwicklung möglich machen: J. Laffranque, Dissenting opinion in the European Court of Justice - Estonia's possible contribution to the democratisation of the European Union Judicial System, in Juridica International, 2004, 14-23. 15 Vgl. u. a. D. Hart, Why we allow dissents - by our judges, abrufbar unter http://ukhumanrightsblog.com/2012/10/14/why-we-allow-dissent-by-our-judges/.

    11

    http://ukhumanrightsblog.com/2012/10/14/why-we-allow-dissent-by-our-judgeshttp://www.cortecostituzionale.it/documenti/convegni_seminari/Relazione_Gallo_opinione.pdfhttp:f�hren.15http:gef�hrdet.14http:Autorit�t.13

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    Fachabteilung C: Bürgerrechte und konstitutionelle Angelegenheiten

    Sondervotums vorwiegend von Wissenschaftlern favorisiert, die zuvorderst den Umfang und die Qualität der theoretischen Debatte zu einer beliebigen Rechtsfrage verbessern wollen, während sich die klagenden Parteien von den Gerichten eine klare und endgültige Antwort auf ihre Rechtsfrage erhoffen. In einer von einem Richter des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten abgefassten abweichenden Meinung heißt es: „In most matters it is more important that the applicable rule of law be settled than that it be settled right“ [In den meisten Fällen ist die Beständigkeit der anwendbaren Rechtsvorschriften wichtiger als ihre Korrektheit].16 Während diese Behauptung nach Auffassung ihres Urhebers für Entscheidungen mit verfassungsrechtlichen Implikationen keine Gültigkeit besitzt, scheint sie gerade bei Entscheidungen mit Auswirkungen auf Wirtschaftsteilnehmer, wie sie regelmäßig von nationalen, nachgeordneten Gerichten und auf EU-Ebene vom EuGH getroffen werden, in besonderem Maße zuzutreffen.

    1.2.6. Wahrung der Kollegialität

    Ein weiteres, immer wieder genanntes Argument gegen das Recht der Richter, ihre abweichenden oder zustimmenden Meinungen bekannt zu geben, bezieht sich auf das Erfordernis, die Kollegialität zu wahren und sicherzustellen, dass das Richterkollegium von einem Geist der Kooperation und Zusammenarbeit geleitet wird.17 Einigen Autoren zufolge ziehen sich in Systemen mit Sondervotum die Richter der Minderheit aus den Beratungen zurück, sobald deutlich wird, dass ihre Ansichten von der Mehrheit nicht geteilt werden. Infolgedessen sind sie nicht an der Formulierung der endgültigen Entscheidung und damit an der Verbesserung ihrer Qualität beteiligt, sondern konzentrieren sich auf die Abfassung ihrer abweichenden Meinung, um der Öffentlichkeit ihren persönlichen Standpunkt mitzuteilen. Demgegenüber findet der Entscheidungsprozess in vielen Systemen, in denen Sondervoten unzulässig sind, und ganz besonders am EuGH, tatsächlich im Kollegium statt, dessen Mitglieder die abschließende Entscheidung gemeinsam ausarbeiten.

    1.2.7. Praktische Argumente: Zügigkeit von Gerichtsverfahren und finanzielle Wirtschaftlichkeit

    Neben theoretischen Erwägungen werden gegen abweichende Meinungen einige weitere Gründe praktischer Natur angeführt. Zum einen sind die mit der Bekanntgabe von Einzelmeinungen verbundenen Auswirkungen auf die Dauer von Gerichtsverfahren und die angemessene interne Organisation der Gerichte zu berücksichtigen. Wenn zugelassen wird, dass Richter umfangreiche und zeitaufwendige abweichende Meinungen verfassen, statt an der Ausarbeitung einer einzigen endgültigen Entscheidung des Gerichts mitzuwirken, könnte der Prozess der richterlichen Beratung stark in die Länge gezogen werden.18

    Darüber hinaus sind mit dem Recht auf die Veröffentlichung von Sondermeinungen auch wirtschaftliche Folgen verbunden. In der Tat wird der Umfang der Veröffentlichungen in einigen Mitgliedstaaten beschränkt, um die Kosten zu senken.19 Besonders relevant sind wirtschaftliche Überlegungen bei Gerichten, die ihre Urteile gegebenenfalls in mehreren Amtssprachen abfassen müssen, wie im Falle nationaler Gerichte in mehrsprachigen Staaten oder am EuGH. An diesen Gerichten würde die Zulässigkeit von Einzelmeinungen eine beträchtliche zeitliche und finanzielle Belastung bedeuten, da auch sie in alle Amtssprachen zu übersetzen wären.20

    16 Justice L. Brandeis, DissentBurnet v. Coronado Oil & Gas Co., 285 U.S. 393, 406 (1932). 17 Vgl. Luchaire und Vedel, op. cit. Zum EuGH vgl. J. Azizi, Unveiling the EU Courts' internal decision-making process: a case for dissenting opinions? in ERA Forum, 2011, 49-68; D. Edward, How the Court of Justice works, in European Law Review, Nr. 20/1995, 539-558. 18 Vgl. insbesondere Azizi, op. cit., 58 (weist das Argument jedoch zurück). 19 Diese Praxis wird z. B. in Slowenien angewandt: siehe unten, Kapitel 2.2.16. 20 Vgl. D. Edward, op. cit., 557.

    12

    http:w�ren.20http:senken.19http:werden.18http:Korrektheit].16

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    Abweichende Meinungen an den Obersten Gerichten der Mitgliedstaaten

    1.3. Argumente für das Sondervotum

    1.3.1. Historische Vorbemerkungen und Argument der Rechtskultur

    Die Praxis am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, die Sondervoten in das Gerichtsurteil einzubinden, geht auf die britische Tradition der „seriatim decision‟ zurück, bei der von jedem Mitglied des Richterkollegiums eine eigenständige Entscheidung getroffen und bekannt gegeben wird.21 Daher wird häufig angenommen, das Sondervotum sei ein typisches Element in auf dem Common Law basierenden Kulturen, in kontinentaleuropäischen Rechtssystemen dagegen unüblich. Dabei wurden geschichtlich gesehen auch in vielen Zivilrechtsordnungen das Beratungsgeheimnis und die Vorstellung eines einstimmigen Gerichtsurteils nicht uneingeschränkt aufrechterhalten. In Spanien sowie in einigen Teilstaaten Italiens vor der napoleonischen Ära und im vorvereinigten Deutschland wurden abweichende Meinungen vermerkt und konnten in Ausnahmefällen sogar veröffentlicht werden.22

    1.3.2. Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit und Redefreiheit

    Das Argument, die richterliche Unabhängigkeit müsse gewahrt werden, wird zwar häufig überzeugend gegen die Bekanntgabe von Sondervoten verwendet, an anderer Stelle aber auch zur Fürsprache angeführt. Einigen Autoren zufolge stellt die Möglichkeit der Veröffentlichung von Einzelmeinungen die interne Unabhängigkeit der Richter sicher, d.h. ihre Eigenständigkeit gegenüber den anderen Mitgliedern des Kollegiums. Durch die Einzelmeinungen können Personen im Richteramt ihre intellektuelle Integrität bewahren, indem sie nicht gezwungen werden, sich einem Urteil anzuschließen, mit dessen Begründung und Schlussfolgerungen sie nicht überstimmen. So gesehen kann das Recht auf die Bekanntgabe von Sondervoten die gerichtliche Unabhängigkeit und ihren Anschein und infolgedessen die Legitimität der Gerichte in den Augen der Öffentlichkeit stärken.23

    Das Argument der „intellektuellen Integrität‟ ist auch mit dem Gedanken an die Redefreiheit der Personen im Richteramt verknüpft. Während dieses Recht jedoch in einigen Rechtssystemen in der Debatte über abweichende Meinungen eine zentrale Rolle spielt, bleibt es in anderen fast gänzlich unberücksichtigt.24

    Arbeiten, in denen Einzelmeinungen als Mittel zur Stärkung der richterlichen Autonomie betrachtet werden, stellen auch das Argument der Unabhängigkeit zur Verteidigung der Geheimhaltung infrage. Die Gefahr der unzulässigen Beeinflussung von Richtern sei kein ausreichendes Argument für das Verbot separater Meinungen, da kein proportionales Verhältnis zwischen angewandten Mitteln und verfolgten Zielen bestehe. Obwohl die Wahrung der externen Unabhängigkeit von Personen im Richteramt von wesentlicher Bedeutung für ihre Legitimierung und die ordnungsgemäße Ausübung ihres Amtes ist, gilt der Zwang zu scheinbarer Einstimmigkeit als unangemessenes Mittel zur Durchsetzung dieses Ziels. Einfacher wäre die Unabhängigkeit durch die Schaffung institutioneller Schutzmechanismen zu erreichen, mit denen Richter von äußeren Einflüssen abgeschirmt werden, indem zum Beispiel ein längeres, nicht erneuerbares Mandat eingeführt, die

    21 Auch wenn diese Entwicklung anfänglich zur Verabschiedung scheinbar einstimmiger Entscheidungen geführt

    hat, bildete sich aus dieser Praxis schnell die heutige Vorgehensweise heraus, eine Mehrheitsentscheidung bekannt

    zu geben (als Präzedenzfall verbindlich), der gegebenenfalls Minderheitenmeinungen beigefügt sind. Vgl. R. Bader

    Ginsburg, The Role of Dissenting Opinions, in Minnesota Law Review, 2010, 1-8.

    22 Vgl. W. Mastor, Les opinions séparées des juges constitutionnels, Presse Universitaire d'Aix-Marseille, 2005, auf

    114-117; K. Kelemen (in Kürze erscheinend), op. cit.

    23 Vgl. u. a. C. L'Heureux-Dubé, The dissenting opinion: voice of the future?, in Oosgode Hall Law Journal, Nr.

    38/2000, 495-516. Vgl. auch W. J. Brennan, In defense of dissent, in Hastings Law Journal, Nr. 37/1986, 427

    438. 24 Vgl. Brennan, op. cit., 438. Zur britischen Tradition vgl. auch J. Alder, Dissents in courts of last resort: tragic

    choices? in Oxford Journal of Legal Studies, Nr. 20/2000, 221-246, 233.

    13

    http:unber�cksichtigt.24http:st�rken.23http:werden.22

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    Fachabteilung C: Bürgerrechte und konstitutionelle Angelegenheiten

    Beteiligung der Exekutive bei der Berufung unterbunden und die Möglichkeit von Vergeltungsmaßnahmen ausgeschlossen wird.25

    1.3.3. Sicherstellung von Autorität und Klarheit

    Auch das Autoritätsargument wird in wissenschaftlichen Arbeiten immer wieder sowohl für als auch gegen die Zulässigkeit von abweichenden Meinungen angeführt. Den Autoren zufolge, die sich für die Bekanntgabe von Sondervoten aussprechen, sollte sich Autorität auf Qualität, nicht auf Geheimhaltung gründen.

    Allgemein sind sich Vertreter der Wissenschaft und Rechtsprechung einig, dass durch abweichende Meinungen die Qualität endgültiger Gerichtsurteile verbessert werden kann und faktisch verbessert wird. Dazu merkte Ruth Bader Ginsburg, Richterin am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, an: „There is nothing better than an impressive dissent to lead the author of the majority opinion to refine and clarify her initial circulation“ [Nichts ist besser als eine eindrucksvolle Gegenmeinung dazu geeignet, die Verfasserin der Mehrheitsmeinung zur Verfeinerung und Verdeutlichung ihrer ersten Fassung anzuregen].26

    Auf diese Weise kann eine sorgfältig ausgearbeitete und vor der endgültigen Entscheidung an das Kollegium weitergereichte abweichende Meinung die Qualität des Urteils deutlich verbessern, indem sie die Mehrheit zur Auseinandersetzung mit ihren Gegenargumenten zwingt. In einigen Fällen werden abweichende Meinungen vielleicht sogar ausgearbeitet und im Kollegium verteilt, aber nie veröffentlicht, denn wenn die Verfasser die Auseinandersetzung mit einem bestimmten Argument erreicht haben, haben sie möglicherweise kein Bedürfnis nach Bekanntgabe ihrer Gegenmeinung mehr.27

    Autorität auf Geheimhaltung statt auf eine rationale und erschöpfende Begründung zu stützen, wird als Zeichen der Schwäche angesehen. Vielen Autoren zufolge besteht ein Konflikt zwischen der Macht der Vernunft und der Macht der Unwissenheit, sei Erstere jedoch wesentlich angemessener in demokratischen Gesellschaften. Wenn eine Entscheidung „nicht nur autoritär, sondern auch autoritativ‟28 sein soll, muss sie umfassend erläutert und vollständig begründet werden. Abweichende Meinungen haben somit möglicherweise „den paradoxen Effekt, die Mehrheitsmeinung zu legitimieren, weil deutlich wird, dass alternative Ansichten berücksichtigt, wenn auch letztlich abgelehnt wurden‟.29 In solchen Fällen könnte die Veröffentlichung der abweichenden und zustimmenden Meinungen auch ein gewisser Trost für die verlierenden Parteien sein, die sich zumindest sicher sein können, dass ihre Argumente sorgfältig berücksichtigt wurden.30

    Weiterhin wird von der Wissenschaft betont, durch die Geheimhaltung der Gegenmeinungen werde die Autorität des Urteils sicherstellt, indem es als scheinbar einstimmig getroffene und einzig mögliche Lösung zu der betreffenden rechtlichen Fragestellung dargestellt werde. Damit beruht Autorität auf der Vorstellung, die Bürger müssten von der Unfehlbarkeit der Judikative überzeugt werden. Keine menschliche Institution ist jedoch unfehlbar oder hat das Recht, sich diesen Anschein zu geben.31

    25 Vgl. u. a. Lécuyer, op. cit., 205; Kirby, op. cit., Abs. 8; Kelemen (in Kürze erscheinend), op. cit. 26 Ginsburg, op. cit., auf 3. 27 Vgl. u. a. Brennan, op. cit., 430, Bezug nehmend auf den früheren Richter am Obersten Gerichtshof der US,

    Louis Brandeis; mit Bezug auf das BVerfG vgl. auch § 26 Absatz 1 der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts von 1986, dem zufolge jeder Richter die Fortsetzung der Beratung beantragen kann,

    wenn ihm ein Sondervotum dazu Anlass gibt.

    28 J. H. H. Weiler, Nachwort: the judicial après Nice, in G. De Burca, J. H. H. Weiler (Hrsg.), The European Court of Justice, Oxford University Press 2001, 215-226. 29 Weiler, op. cit. Vgl. auch Lécuyer, op. cit., p. 209; V. Perju, Reason and Authority in the European Court of Justice, in Virginia Journal of International Law, Nr. 49/2009, 308-376, auf 323-325. 30 Vgl. u. a. J. Lee, A defence of concurring speeches, in Public Law, 2009, 305-331, auf 324; D. Grimm, Some Remarks on the Use of Dissenting Opinions in Continental Europe, in Global Constitutionalism, Yale Law School,

    2008, I – 3. 31 Vgl. Kirby, op. cit., Abs. 7.

    14

    http:geben.31http:wurden.30http:wurden�.29http:anzuregen].26

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    Abweichende Meinungen an den Obersten Gerichten der Mitgliedstaaten

    Vielmehr dient die Ausblendung existierender Gegenmeinungen, zumal wenn diese begründet sind, lediglich der Verhinderung berechtigter Kritik. Darüber hinaus scheint erzwungene Einstimmigkeit auf der Vorstellung zu beruhen, Recht sei ein monolithisches Gebilde, das nur eine gültige Auslegung zulässt, und die richterliche Begründung sei ein rechtlicher Syllogismus32 – dabei gelten diese Ansichten längst als überholt.

    Schließlich wird angeführt, abweichende Meinungen würden die Qualität des Gerichtsurteils auch noch auf anderem Wege verbessern, denn indem sie sicherstellen, dass Richter nicht um jeden Preis zur Aushandlung eines Kompromisses genötigt werden, bleibt die rationale Kohärenz und Klarheit des endgültigen Urteils gewahrt. Selbst von Autoren, die sich gegen abweichende Meinungen positionieren, wird eingeräumt, dass die Suche nach einem Konsens in einigen Fällen zu uneindeutigen Urteilen mit recht undurchsichtiger Begründung führen kann, weil bestimmte Erklärungen aufgenommen werden müssen, um alle Mitglieder des Richterkollegiums zufriedenzustellen. In solchen Fällen könnte es günstiger sein, einem klaren Urteil (mit einer nachvollziehbaren und leicht verständlichen Begründung) eine abweichende Meinung beizufügen, statt ein „doppeltes‟ Urteil („camel‟ judgement) zu fassen, in dem unterschiedliche Ansichten enthalten sind und unklar bleibt, welche davon die gültige ist.33

    1.3.4. Wahrung der Kollegialität

    Ein zwiespältiges Argument ist auch der Anspruch, die Kollegialität im Entscheidungsprozess zu wahren. Denn trotz der Befürchtungen, Richter würden, sobald ihnen die Formulierung von Einzelmeinungen gestattet wird, nicht mehr umfassend an den Beratungen teilnehmen, um sich für die Erarbeitung einer für alle akzeptablen Lösung einzusetzen, scheint es sogar gegenteilige Anzeichen zu geben. Tatsächlich hat in vielen Staaten die Einführung des Sondervotums bei den Richtern nicht zu einem nachlassenden Willen zur Zusammenarbeit geführt. In Deutschland beispielsweise hat sich aus einer Rechtskultur, in der einstimmige Entscheidungen bevorzugt werden, gepaart mit der Auffassung, das Sondervotum sollte nur dann Anwendung finden, wenn eine Übereinkunft im Richterkollegium unter keinen Umständen möglich ist, am BVerfG ein überaus kooperativer Entscheidungsprozesses herausgebildet.34 Wenn sich also die Mitglieder des Kollegiums ihrer Institution gegenüber stark verpflichtet fühlen, wird die Kollegialität in den Beratungen durch die Einführung abweichender Meinungen nicht zwangsläufig geschwächt. Im Gegenteil wurde aus einer theoretischen Perspektive argumentiert, das Recht auf Bekanntgabe der abweichenden Meinungen könne die Kollegialität sogar fördern, indem die Richter der Minderheit weniger Gefahr laufen, ein Gefühl der Frustration zu entwickeln, weil sie ihre Ansichten nicht öffentlich machen können.35

    1.3.5. Demokratie und Transparenz

    In vielen Gerichtsbarkeiten wird dem Urteil bei seiner Verkündung der Wortlaut „im Namen des Volkes‟ als Hinweis darauf beigefügt, dass den Personen im Richteramt ihre Macht vom Volk verliehen wird. Zur Sicherstellung der demokratischen Verantwortung bei dieser Form der Machtausübung wird es weder als erforderlich noch als ratsam angesehen, Personen durch direkte Wahlen ins Richteramt zu berufen, da sie so unter übermäßigen politischen

    32 W. Mastor, op. cit., auf 61-74. 33 Vgl. Edward, op. cit., auf 557: „Ein Nachteil des kollegialen Ansatzes besteht darin, dass das Urteil zuweilen schlicht die Unfähigkeit verschleiert, zu einer klaren Entscheidung zu gelangen. Es heißt, ein Kamel sei ein von einem Gremium entworfenes Pferd, und einige Urteile des Gerichtshofes sind Kamele.‟ (aus dem Engl.) 34 Vgl. M. T. Rörig, L'opinione dissenziente nella prassi del Bundesverfassungsgericht (1994-2009), unter

    http://www.cortecostituzionale.it/documenti/convegni_seminari/CC_SS_opinione_dissenziente_12012010.pdf;

    Grimm, op. cit. Für ein gegenteiliges Beispiel vgl. Peri, op. cit., auf 19: der Rückgriff auf das Sondervotum am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten zeigt, dass das Gericht entlang ideologischer Linien gespalten ist.

    35 Vgl. L'Heureux-Dubé, op. cit.

    15

    http://www.cortecostituzionale.it/documenti/convegni_seminari/CC_SS_opinione_dissenziente_12012010.pdfhttp:k�nnen.35http:herausgebildet.34

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    Fachabteilung C: Bürgerrechte und konstitutionelle Angelegenheiten

    Druck geraten und die angemessene Ausübung ihres Amtes unmöglich gemacht werden könne. Vielmehr sei es ausreichend, den Entscheidungsprozess transparenter zu gestalten und interne Kritik zuzulassen.36 In gewisser Weise ist diese Ansicht mit dem Argument zur Autorität von Gerichtsurteilen verknüpft. Eine demokratische Gesellschaft sollte sich auf die Macht der Vernunft, statt ausschließlich auf die formale Autorität seiner Institutionen gründen. Die Autorität gerichtlicher Entscheidungen hängt auch von ihrer Qualität ab.37

    Der Anspruch auf Sicherstellung einer transparenten, offenen Machtausübung ist vor allem in Bezug auf die Verfassungsgerichte ein stichhaltiges Argument. Den Bürgern müssen die Gründe nahe gebracht werden, die ein Gericht dazu veranlassen, ein zuvor von ihren Vertretern im Parlament beschlossenes Gesetz für ungültig zu erklären. In der laufenden Debatte über die Frage der Governance in der Europäischen Union wird das Argument der Transparenz gelegentlich auch auf den EuGH angewandt.38

    1.3.6. Dialog mit zukünftigen und nachgeordneten Gerichten

    Als überzeugendes Argument für das Recht auf Veröffentlichung von Einzelmeinungen wird angeführt, abweichende Meinungen würden einen Appell darstellen „to the intelligence of a future day, when a later decision may possibly correct the error into which the dissenting judge believes the court to have been betrayed“ [an den Verstand einer kommenden Zeit, wenn durch eine nachträgliche Entscheidung möglicherweise der Irrtum korrigiert wird, dem das Gericht der Auffassung des abweichenden Richters zufolge aufgesessen ist].39 So könnten Gegenmeinungen in der späteren Entwicklung der Rechtsprechung wesentliche Bedeutung erhalten, denn in manchen Fällen könnten sie zur Mehrheitsmeinung werden oder diese beeinflussen.

    Dies trifft jedoch nicht nur auf Systeme des Common Law zu, in denen nachgeordnete Gerichte durch den Grundsatz der stare decisis gezwungen sind, den verbindlichen Präzedenzfällen höherer Gerichte zu folgen, sondern ebenso auf Zivilrechtsordnungen. Schließlich wird auch in diesen Systemen von den Gerichten erwartet, der Auslegung der ihnen übergeordneten Gerichte zu folgen, und die Entscheidungen des Verfassungsgerichts sind üblicherweise für alle Rechtsteilnehmer bindend. Somit wirken sich Änderungen in der Rechtsauslegung durch das oberste Gericht in beiden Systemen auf die Anwendung dieses Rechts an untergeordneten Gerichten aus.

    Sicherlich ist davon auszugehen, dass die meisten abweichenden Meinungen niemals Eingang in eine nachfolgende endgültige Entscheidung finden. Aber selbst dann können sie noch positiven Einfluss nehmen, da sie dafür sorgen, dass der Entscheidungsprozess flexibel bleibt, indem sie abweichende Vorstellungen und Praktiken einfließen lassen und auf vorhandene Alternativen hinweisen.40 Diese Funktion ist vor allem deshalb von hohem Wert, weil sie einen Entscheidungsprozess garantiert, in dessen Verlauf die Richter zur Annahme der überzeugendsten Entscheidung geführt werden und nicht nur frühere Entscheidungen bestätigen, ohne ihre Begründung und Stichhaltigkeit angemessen zu berücksichtigen. Auf diese Weise sorgen abweichende (wie auch zustimmende)

    36 Lécuyer, op. cit., 219-221, und die darin zitierten Autoren. Vgl. auch H. Mayer, Die Einführung der „dissenting opinion‟ am Verfassungsgerichtshof, in Journal für Rechtspolitik, Nr. 7/1999, 30-32. 37 Das Demokratie-Argument wurde auch für einige sehr überzeugende Behauptungen angeführt, wie die, dass abweichende Meinungen (und der Schutz, den diese für die richterliche Redefreiheit bedeuten) demokratischen Gesellschaften inhärent seien, die erzwungene Einstimmigkeit dagegen naturgemäß in despotischen Regimes das Mittel der Wahl sei. W. O. Douglas, The Dissent: Safeguard of Democracy, in Journal of the American Judicature Society, Bd. 32/1948, 104-107, auf 105. 38 Vgl. u. a. H. Rasmussen, Present and future European judicial problems after enlargement and the post-2005 ideological revolt, in Common Market Law Review, 2007, 1661-1687; A. Alemanno, O. Stefan, Openness at the Court of Justice of the EU: Toppling a Taboo, auf der transatlantischen Konferenz zur Transparenzforschung vorgestellter Entwurf, Utrecht, 7.-9. Juni 2012; und weiter unten, Kapitel 3.3.6. 39 C. Hughes, The Supreme Court of the United States, zitiert in L'Heureux-Dubé, op. cit. 40 Brennan, op. cit., auf 437.

    16

    http:hinweisen.40http:angewandt.38http:zuzulassen.36

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    Abweichende Meinungen an den Obersten Gerichten der Mitgliedstaaten

    Sondermeinungen dafür, dass Entscheidungen immer wieder überprüft und neu überdacht werden, indem rechtsauslegenden Urteilen die Gründe beigefügt werden, aus denen unterschiedliche Interpretationen gerechtfertigt sein könnten.

    Weiterhin werden Gegenmeinungen auch als Mittel zur Stärkung des Dialogs zwischen Gerichten, Gesetzgebern und Rechtsberatern angesehen. Richter mit abweichender Meinung könnten zusätzliche, alternative Argumente aufzeigen, die von Rechtsberatern und nachgeordneten Gerichten zur erfolgreichen Verhandlung künftiger Fälle vorgebracht werden können. Sie könnten zudem auf die Notwendigkeit bestimmter Änderungen in den Rechtsvorschriften hinweisen, indem sie zeigen, dass sich diese im Widerspruch zur gesetzgeberischen Absicht auslegen lassen. Schließlich könnten sie auch die Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit auf sich ziehen und damit Druck auf den Gesetzgeber zur Änderung von Rechtsvorschriften ausüben, die von der Öffentlichkeit als ungerecht wahrgenommenen werden.41 Der Dialog mit nachgeordneten Gerichten, Gesetzgebern und eventuell mit ausländischen Gerichten, wenn sie auf denselben Rechtsbestand Bezug nehmen müssen, trägt zur Weiterentwicklung des Rechts bei und sorgt dafür, dass umfassend begründete und fundierte Entscheidungen getroffen werden. Sondervoten sind Bestandteil eines solchen Dialogs und leisten einen qualitativen wie quantitativen Beitrag.

    1.3.7. Zügigkeit von Gerichtsverfahren

    Der Anspruch eines zügigen Verfahrens und der Vermeidung unnötiger Verzögerungen ist zwar ein überzeugendes Argument gegen abweichende Meinungen, scheint aber zu weit gegriffen zu sein. Wie bereits erwähnt könnten praktische Gründe wie zeitliche und ressourcenbezogene Beschränkungen angeführt werden, um nicht nur das Fehlen separater Meinungen, sondern sogar kurz gehaltene, zusammenfassende Urteile mit einer nur oberflächlichen Begründung zu rechtfertigen. Da auf diese Weise jedoch ein Rechtsdialog unmöglich gemacht wird, würde ein solches Vorgehen die gerichtliche Effizienz beeinträchtigen.42 Auch wenn also praktische Gründe dafür sprechen, die unnötige Verschwendung gerichtlicher Ressourcen, darunter Zeit, zu vermeiden, dürfen ihnen Transparenz, Offenheit und eine umfassende Begründung nicht per se zum Opfer fallen

    1.4. Vorläufige Schlussfolgerung Die Erörterung der Argumente für und gegen die Praxis des Sondervotums hat gezeigt, dass weder die für noch gegen das Recht auf ihre Veröffentlichung sprechenden Gründe zwingend sind. Eine eingehende Untersuchung der Praxis in den Staaten und insbesondere in den Mitgliedstaaten der EU, die öffentlichen gegenüber geheimen Prozessen erst seit Kurzem den Vorzug geben, kann zur Klärung der Frage dienen, wie beiden Traditionen in vielen Staaten gefolgt wird, und ob die Einführung abweichender Meinungen in Systemen ohne Vorerfahrung mit diesem Konzept mit nachteiligen Auswirkungen verbunden war.

    41 Vgl. u. a. Kirby, op. cit.; L'Heureux-Dubé, op. cit.; Ginsburg, op. cit., auf 6; M. Cartabia, Europe and Rights: Taking Dialogue Seriously, in European Constitutional Law Review, 5/2009, 5–31. 42 Vgl. insbes. Cartabia, Zit., auf 29-31.

    17

    http:beeintr�chtigen.42http:werden.41

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    2. DIE PRAXIS IN DEN MITGLIEDSTAATEN DER EUROPÄISCHEN UNION

    Dieses Kapitel soll die Praxis der EU-Mitgliedstaaten in Bezug auf das Sondervotum beleuchten. Die Analyse wird in erster Linie die Praxis nationaler Verfassungsgerichte, aber auch jene ordentlicher höchstinstanzlicher Gerichte (Kassationsgerichte) berücksichtigen, sofern sich diese voneinander unterscheiden. Wie aus diesem Kapitel hervorgeht, wahren nur sieben der 27 Mitgliedstaaten ein vollständiges Verbot abweichender Meinungen. In der überwiegenden Mehrheit der Länder haben Richter, oder zumindest Verfassungsrichter, die Möglichkeit, ihr Sondervotum zu veröffentlichen.

    2.1. Länder, in denen Sondervoten nie zulässig sind Obwohl es eine zunehmende Tendenz gibt, Verfassungsrichtern zu erlauben, zustimmende oder abweichende Meinungen zu veröffentlichen, ist dies in einigen Mitgliedstaaten noch immer untersagt. Doch auch dort haben Wissenschaftler die Möglichkeit diskutiert, das Verbot aufzuheben, oft unter Beteiligung und mit der Unterstützung der Verfassungsgerichte selbst. So hat das italienische Verfassungsgericht, dessen Richtern es nicht erlaubt ist, Einzelmeinungen zu veröffentlichen, beispielsweise eine Reihe von Seminaren abgehalten, um Informationen über die Praxis anderer Gerichte einzuholen. Zwischenzeitlich sah es so aus, als müsste diese Diskussion zwangsläufig zur Einführung neuer Regelungen führen, die Sondervoten zulassen.43 Auch wenn es zu keinen konkreten Veränderungen gekommen ist, zeigt allein die Tatsache, dass Vorschläge zur Einführung von abweichenden Meinungen diskutiert wurden, dass das Thema selbst in Staaten, in denen diese nicht zulässig sind, kein Tabu mehr darstellt.

    2.1.1. Belgien

    Das belgische Rechtssystem ist vom Grundsatz des Beratungsgeheimnisses inspiriert, welches dahingehend ausgelegt wird, dass es auch die Veröffentlichung von Einzelmeinungen verbietet. Der Kassationshof hat das Beratungsgeheimnis als Grundsatz des belgischen Rechts anerkannt und vor kurzem bestätigt, dass Richter an seine Einhaltung gebunden sind. Der Gerichtshof entschied darüber hinaus, dass ein Verstoß gegen dieses Geheimnis, darunter auch die Veröffentlichung der persönlichen Ansichten der Richter über die zu treffende Entscheidung, gemäß Artikel 458 des Strafgesetzbuches strafbar ist.44 Auch wenn der von belgischen Richtern abgelegte Eid das Beratungsgeheimnis nicht ausdrücklich erwähnt,45 halten sich die Gerichte, einschließlich des Verfassungsgerichts, an den Grundsatz: Abweichende Meinungen werden niemals veröffentlicht.46

    43 Siehe die unter der folgenden Adresse abrufbaren Dokumente: http://www.cortecostituzionale.it/convegniSeminari.do. 44 Siehe Cour de Cassation, 29. Mai 1986; Pars. 1986, I, S. 1194, zitiert in F. Kuty, L'impartialité du juge en procédure pénale, De Boek-Larcier 2005, S. 98-100; Cour de Cassation, Arrêt Nr. P.11.1750.N, 13 März 2012, § 19, abrufbar unter http://jure.juridat.just.fgov.be/pdfapp/download_blob?idpdf=F-20120313-1 (wonach „les projets de décision rédigés et les points de vue adoptés par les juges concernant la décision à prendre relèvent du secret du délibéré“ – Entscheidungsentwürfe und die von den Richtern bezüglich der Entscheidung ausgedrückten Meinungen unter das Beratungsgeheimnis fallen). 45 Siehe B. Nelissen, Judicial loyalty through dissent or why the timing is perfect for Belgium to embrace separate opinions, in Electronic Journal of Comparative Law, 2011; Art. 2, Décret du 20 juillet 1831 concernant le serment. 46 Das Verfassungsgericht hieß ursprünglich „Cour d'Arbitrage“ und verfügte ausschließlich über die Kompetenz, Urteile zu Streitigkeiten zwischen verschiedenen Staatsmachten zu sprechen; nach Meinung einiger Autoren ist dies eine Erklärung für die Entscheidung, abweichende Meinungen zu verbieten, bedenkt man, dass die

    18

    http://jure.juridat.just.fgov.be/pdfapp/download_blob?idpdf=F-20120313-1http:http://www.cortecostituzionale.it/convegniSeminari.dohttp:ver�ffentlicht.46http:zulassen.43

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    Abweichende Meinungen an den Obersten Gerichten der Mitgliedstaaten

    2.1.2. Frankreich

    Das französische Rechtssystem folgt dem Grundsatz des Beratungsgeheimnisses, das ausdrücklich dahingehend ausgelegt wurde, dass es die Veröffentlichung abweichender Stellungnahmen verbietet.47 Der französische Conseil d'État (das oberste Verwaltungsgericht) hat den Grundsatz der Geheimhaltung als allgemeinen Grundsatz des französischen öffentlichen Rechts anerkannt, der es sogar verbietet, eine Entscheidung als „einstimmig“ zu präsentieren, da dadurch das individuelle Votum der an der Beratung beteiligten Richter offengelegt würde.48

    Das Beratungsgeheimnis ist weiterhin gesetzlich vorgeschrieben und ist ein Teil des Eides, den Richter bei der Aufnahme ihres Richteramtes ablegen müssen. Der Grundsatz ist nicht nur für ordentliche Richter verpflichtend, sondern auch für Verfassungsrichter.49 Letztere legen außerdem einen Eid ab, das Beratungsgeheimnis und das Abstimmungsgeheimnis einzuhalten und nicht öffentlich zu einer Angelegenheit Stellung zu nehmen, zu dem der Verfassungsrat (Conseil Constitutionnel) ein Urteil gefällt hat oder in Zukunft möglicherweise fällen wird.

    Der Grundsatz des Beratungsgeheimnisses und seine Anwendung auf Verfassungsrichter sind mitunter infrage gestellt worden und waren vor kurzem Gegenstand einer breiten Diskussion. Es gibt jedoch nach wie vor nur vereinzelte Befürworter des Sondervotums. Die überwiegende Mehrzahl der Autoren hält eine solche Änderung der Praxis des Rates offenbar in der Tat für unnötig, wenn nicht gar potenziell gefährlich für seine Autorität, Glaubwürdigkeit und Kollegialität.50 Selbiges gilt für ordentliche Richter: Zwar wurde das Thema ebenfalls diskutiert, insbesondere im Zusammenhang mit einer Kritik am Stil der Urteile des Kassationshofs (die oft für zu knapp gehalten werden) und mit der Absicht, mehr Transparenz und eine bessere juristische Begründung sicherzustellen, aber diese Diskussion blieb eine Randerscheinung.51 Eine Reform scheint in absehbarer Zeit deshalb nicht anzustehen.

    2.1.3. Italien

    Italien folgt dem Grundsatz des Beratungsgeheimnisses und der Geheimhaltung von Einzelmeinungen sowohl auf Ebene der ordentlichen Gerichte als auch auf Ebene des Verfassungsgerichts: Kein Richter darf abweichende Stellungnahmen veröffentlichen. Der Grundsatz der Geheimhaltung ist gesetzlich ausdrücklich anerkannt, sowohl in Zivil- als auch in Strafprozessen; er hat eine derart zentrale Bedeutung, dass ein Verstoß als Straftat

    Hauptfunktion des Gerichts darin bestand, zwischen verschiedenen Einrichtungen zu schlichten. Die Kompetenzen des Gerichts wurden jedoch mit der Zeit ausgeweitet (und der Name dementsprechend zu Cour Constitutionnelle geändert, ohne dass sich etwas an der Geheimhaltung der Beratungen änderte. Siehe M.-F. Rigaux, La Cour

    http://www.justice-enconstitutionnelle et les opinions séparées, 17. Februar 2012, abrufbar unter ligne.be/article404.html.

    47 Siehe W. Mastor, op. cit. S. 171 (dort wird eine Entscheidung aus dem Jahr 1827 zitiert, die ein Urteil aufhob,

    zu dem eine abweichende Meinung abgegeben wurde). Der Grundsatz wurde zum ersten Mal im 14. Jahrhundert anerkannt und wurde zwischen 1793 und 1795 kurzfristig abgeschafft. 48 Siehe Conseil d'Etat, 17. November 1922, Lebon 1922 849, zitiert in J.-P. Ancel, Les opinions dissidentes,

    abrufbar unter http://www.courdecassation.fr/IMG/File/opinions_dissidentes_jp_ancel.pdf; Conseil d'Etat, 15.

    Oktober 1965, in Mazel, Droit administratif, 1965, Nr. 377, zitiert in Lécuyer, op. cit., S. 199. 49 Art. 448, code de procédure civile, und Art. 6, ordonnance 58-1270, cit. (für ordentliche Richter); Art. 3, ordonnance 58-1067 portant loi organique sur le Conseil constitutionnel, 7. November 1958 (für Verfassungsrichter).

    http://www.conseil50 Siehe Nouveaux Cahiers du Conseil Constitutionnel, Nr. 8/2000, unter constitutionnel.fr/conseil-constitutionnel/francais/nouveaux-cahiers-du-conseil/cahier-n-8/cahier-du-conseil

    constitutionnel-n-8.52501.html (insbesondere die Beiträge von Rousseau und von Luchaire und Vedel); Mastor,

    op. cit., 177-283. 51 Mastor, op. cit., S. 180. Zum Stil der Urteile des Kassationshofs im Vergleich zum US-amerikanischen Supreme

    Court: M. Lasser, Judicial deliberations. A comparative analysis of judicial transparency and legitimacy, OUP 2004.

    19

    http://www.conseilhttp://www.courdecassation.fr/IMG/File/opinions_dissidentes_jp_ancel.pdfhttp://www.justice-enhttp:Randerscheinung.51http:Kollegialit�t.50http:Verfassungsrichter.49http:w�rde.48http:verbietet.47

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    Fachabteilung C: Bürgerrechte und konstitutionelle Angelegenheiten

    gilt.52 Seit 1988 (als das neue Gesetz zur zivilrechtlichen Haftung von Richtern verabschiedet wurde) können abweichende Meinungen und die Gründe dafür jedoch auf Verlangen des Abweichlers schriftlich festgehalten werden, sie werden allerdings in einem geschlossenen Umschlag aufbewahrt.53 Derselbe Grundsatz gilt für den Kassationshof und das Verfassungsgericht.

    Die Entscheidung, den Grundsatz der „scheinbaren Einstimmigkeit“ auf Urteile des Verfassungsgerichts auszuweiten, war nie ganz unumstritten. Der Grundsatz wurde in einer Parlamentsdebatte diskutiert, was zur Verabschiedung des Gesetzes zur Arbeitsweise des Verfassungsgerichts führte, und wurde danach mehrmals infrage gestellt. Schon in den 1960er Jahren schrieb ein einflussreicher Autor ein Buch, das sich für abweichende Stellungnahmen aussprach; anschließend wurden in den 1990er Jahren einige Male die Möglichkeit der Zulassung abweichender Stellungnahmen diskutiert und Gesetzesentwürfe ins Parlament eingebracht.54 Auch wenn der Reformprozess an Dynamik verloren zu haben scheint, unterstützen die meisten Wissenschaftler offenbar die Einführung des Sondervotums. Außerdem haben einige Änderungen der Verfahrensregeln des Gerichts die Möglichkeit eröffnet, interne Meinungsverschiedenheiten öffentlich zu machen, nicht allerdings die Gründe dafür.55

    2.1.4. Luxemburg

    Bis 1997 war die Prüfung der Rechtmäßigkeit in Luxemburg unbekannt, da ordentliche Gerichte die Idee von sich gewiesen hatten, sie könnten dazu berechtigt sein, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu prüfen. 1996 wurde die Verfassung jedoch geändert, was ein Jahr später zur Schaffung des Verfassungsgerichts führte.56

    Obwohl das Gericht eine neue Einrichtung ist, folgt es doch der traditionellen Praxis des Beratungs- und Abstimmungsgeheimnisses. Somit sind die Beratungen des Verfassungsgerichts gemäß dem Gesetz über die Organisation des Verfassungsgerichts von 1997 geheim (Art. 12).57 Der Grundsatz des Beratungsgeheimnisses, das dahingehend ausgelegt wird, dass es sich auch auf Einzelmeinungen ausdehnt, gilt auch an allen Gerichtshöfen in Luxemburg.58

    2.1.5. Malta

    Das Rechtssystem in Malta umfasst sowohl ordentliche Gerichte als auch ein eigenständiges Verfassungsgericht. Alle Gerichte schützen das Beratungs- und Abstimmungsgeheimnis: Entscheidungen werden per Mehrheitsbeschluss getroffen, und „the decision of the majority shall form the judgment which shall be delivered as the judgment of the whole court” [die

    52 Siehe Art. 276, Zivilprozessordnung; Art.125 Abs. 4 Zivilprozessordnung. Artikel 685 des Strafgesetzbuches

    erklärt die Veröffentlichung der Namen und Voten der Richter in Strafprozessen zu einer Straftat.

    53 Siehe Art. 125 Absatz 5 Strafprozessordnung und Art. 131 Absatz 2 Zivilproessordnung in der durch Gesetz

    117/1988 und anschließend durch das Verfassungsgericht, Urteil Nr. 18/1989 geänderten Fassung.

    54 Siehe C. Mortati, Le opinioni dissenzienti dei giudici costituzionali ed internazionali, Giuffré 1964; G.

    Zagrebelsky, La pratique des opinions dissidentes en Italie, in Nouveaux Cahiers du Conseil Constitutionnel Nr.

    8/2000, unter http://www.conseil-constitutionnel.fr/conseil-constitutionnel/francais/nouveaux-cahiers-du

    conseil/cahier-n-8/la-pratique-des-opinions-dissidentes-en-italie.52545.html; siehe auch die Berichte des 1993 am

    Verfassungsgericht abgehaltenen Seminars: A. Anzon (Hrsg.), L'opinione dissenziente, Giappichelli 1995.

    55 Wenn der das Endurteil ausarbeitende Richter nicht derjenige ist, der ursprünglich zum Urteilsverfasser ernannt

    worden war, wird dies als ein Zeichen der fehlenden Zustimmung zum Ergebnis gewertet. Siehe A. Rauti, Le nuove

    "norme integrative" della Corte fra collegialità e celerità del giudizio costituzionale, in Forum di quaderni

    costituzionali, abrufbar unter

    http://www.forumcostituzionale.it/site/images/stories/pdf/documenti_forum/paper/0168_rauti.pdf.

    56 Siehe z.B. J. Gerkrath, La Jurisprudence de la Cour Constitutionnelle du Luxembourg 1997-2007, Pasicrisie

    luxembourgeoise 2008; N. Kuhn, E. Rousseaux, La Cour constitutionnelle luxembourgeoise, in Revue

    Internationale de Droit Comparé, Nr. 53/2001, 453-482.

    57 Siehe Art. 12, Loi portant organisation de la Cour Constitutionnelle (verabschiedet am 27. Juli 1997).

    58 Kuhn, Rousseaux, op. cit., S. 467.

    20

    http://www.forumcostituzionale.it/site/images/stories/pdf/documenti_forum/paper/0168_rauti.pdfhttp://www.conseil-constitutionnel.fr/conseil-constitutionnel/francais/nouveaux-cahiers-duhttp:Luxemburg.58http:f�hrte.56http:daf�r.55http:eingebracht.54http:aufbewahrt.53

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    Abweichende Meinungen an den Obersten Gerichten der Mitgliedstaaten

    Entscheidung der Mehrheit soll das Urteil darstellen, das als Urteil des ganzen Gerichts verkündet wird].59

    2.1.6. Niederlande

    Da es kein niederländisches Verfassungsgericht gibt,60 ist die einzig relevante Praxis in Bezug auf Sondervoten die der ordentlichen Gerichte. Niederländische Gerichte folgen traditionell dem Grundsatz des Beratungsgeheimnisses, der von den Gesetzen bestätigt und als Verbot der Veröffentlichung von Einzelmeinungen ausgelegt wird.61 Der Grundsatz wurde jedoch einige Male infrage gestellt. Auch wenn eine Reform nicht unmittelbar bevorzustehen scheint, ist die Einhaltung der Geheimhaltung nicht unumstritten.62

    2.1.7. Österreich

    Österreich befolgt das Beratungsgeheimnis sowohl auf Ebene der ordentlichen Gerichte als auch auf Ebene des Verfassungsgerichts streng. Gemäß dem Verfassungsgerichtshofgesetz sind die Beratungen und Abstimmungen des Gerichts nicht öffentlich. Ein ähnliches Verbot wird ebenfalls im Verfassungsgerichtshofgesetz festgesetzt; die übrigen Gerichte befolgen denselben Grundsatz.63 Auch wenn Richter mit einer abweichenden Meinung diese Meinung und die Gründe dafür schriftlich festhalten lassen können, werden diese geheim gehalten. Nur höherinstanzliche Gerichte (bei ordentlichen Gerichtshöfen) und Kollegen haben Zugang zu dem vertraulichen Register.64

    Diese Tradition der Geheimhaltung ist jedoch nicht unumstritten. Seit den 1960er Jahren haben Wissenschaftler sie immer wieder infrage gestellt, und viele Autoren unterstützen offenbar eine Reform, während das Verfassungsgericht im Großen und Ganzen gegen eine solche Änderung ist.65

    59 Siehe Artikel 217 der maltesischen Gerichtsverfassungs- und Zivilprozessordnung (Code of Organisation and Civil Procedure of Malta). Zum maltesischen Rechtssystem siehe den Bericht des Verfassungsgerichts der Republik Malta: The relations between the Constitutional Courts and the other national courts, im Internet abrufbar unter http://www.confcoconsteu.org/reports/rep-xii/Malta-EN.pdf 60 Tatsächlich sieht das niederländische Rechtssystem keine Form von verfassungsrechtlicher Prüfung vor – im

    Gegenteil: Artikel 120 der Verfassung untersagt sogar ausdrücklich eine gerichtliche Prüfung der

    Verfassungsmäßigkeit der vom Parlament verabschiedeten Gesetze. Siehe P. van Dijk, Constitutional review in the

    Netherlands, in Liber Amicorum Antonio La Pergola, Istituto Poligrafico e Zecca dello Stato, 2009; G. van der

    Schyff, Constitutional Review by the Judiciary in the Netherlands: A Bridge Too Far?, in German Law Journal, Nr.

    11/2010, 275-290.

    61 Siehe Art. 7 Abs. 3, Wet op de rechterlijke organisatie (18. April 1827 und nachfolgende Änderungen); N. F. van

    Manen, The secret of the Court in the Netherlands, in Seattle University Law Review Nr. 24/2000, 568-576; M.

    Malsch, Democracy in the Courts: Lay Participation in European Criminal Justice Systems, Ashgate 2009, S. 88.

    62 1973 diskutierte die Dutch Lawyers Association die Erwünschtheit der Veröffentlichung abweichender

    Meinungen, wobei die Mehrheit der Teilnehmer sich dafür aussprach (siehe van Manen, op. cit. S. 570). Für eine

    aktuellere Diskussion, siehe M.A. Loth, Repairing the engine of Cassation: Form and function of the adjudication of

    the Hoge Raad and its Parket, abrufbar unter http://www.pembaruanperadilan.net/v2/content/2012/04/Marc

    Loth-Repairing-The-Engine-of-Cassation.doc.

    63 Verfassungsgerichtshofgesetz (VfGG), BGBl. 85/1953, § 30; Verwaltungsgerichtshofgesetz, § 15. Siehe H.

    Schäffer, Die Einführung der "Dissenting Opinion" am Verfassungsgerichtshof aus Sicht der österreichischen

    Verfassungslehre, in Journal für Rechtspolitik, Nr. 7/1999, 33-39. 64 Siehe R. Machacek, Die Einrichtung der "Dissenting Opinion" im internationalen Vergleich, in Journal für Rechtspolitik, Nr. 7/1999, 1-9. 65 Siehe Mayer, op. cit., S. 30; contra, B. Bierlein, Auf der World Conference on Constitutional Justice 2011 vorgetragener Beitrag, abrufbar unter http://www.venice.coe.int/WCCJ/Rio/Papers/AUT_Bierlein_E.pdf, S. 10. 1998 fand eine parlamentarische Untersuchung zu abweichenden Meinungen statt, die zur Veröffentlichung einer Reihe von Beiträgen zu diesem Thema im Journal für Rechtspolitik, Nr. 7/1999, führte.

    21

    http://www.venice.coe.int/WCCJ/Rio/Papers/AUT_Bierlein_E.pdfhttp://www.pembaruanperadilan.net/v2/content/2012/04/Marchttp://www.confcoconsteu.org/reports/rep-xii/Malta-EN.pdfhttp:Register.64http:Grundsatz.63http:unumstritten.62http:wird].59

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    Fachabteilung C: Bürgerrechte und konstitutionelle Angelegenheiten

    2.2. Länder, in denen Sondervoten zulässig sind: unterschiedliche Praktiken Dieses Unterkapitel beschreibt die Praxis in jenen EU-Mitgliedstaaten, in denen abweichende Stellungnahmen zulässig sind. Zwar könnte zwischen Staaten, in denen alle Richter das Recht haben, abweichende Meinungen zu veröffentlichen, und solchen, in denen dieses Recht Verfassungsrichtern vorbehalten ist, unterschieden werden, aber eine gesonderte Darstellung ihrer Praktiken erscheint angesichts der diffusen verfassungsrechtlichen Prüfung in einigen Ländern wenig hilfreich. In diesen Ländern üben Richter abhängig von der Art des Falls sowohl die Rolle ordentlicher Richter als auch die von Verfassungsrichtern aus. Ein eigenständiges Verfassungsgericht gibt es nicht. Dieses Unterkapitel wird die Praxis in allen 20 Mitgliedstaaten darstellen, in denen Einzelmeinungen zulässig sind, und wird soweit wie möglich den Geltungsbereich der Regelungen zum Sondervotum präzisieren.

    2.2.1. Bulgarien

    Bulgarien hat wie die meisten zentral- und osteuropäischen Länder ein zentrales gerichtliches Prüfungssystem eingeführt; sein Verfassungsgericht wurde 1991 eingerichtet. Abweichende und zustimmende Meinungen werden in den Bestimmungen zur Organisation der Aktivitäten des Verfassungsgerichts ausdrücklich erwähnt. Gemäß Artikel 32 trifft das Gericht die meisten seiner Entscheidungen durch offene Abstimmung: Richter, die einer Entscheidung oder einem Beschluss, mit dem die Prüfung eines Antrags abgelehnt wird, nicht zustimmen, können diese unterzeichnen, aber eine schriftliche abweichende Stellungnahme beifügen. Darüber hinaus können auch Richter, die der Mehrheit angehören, zustimmende Meinungen veröffentlichen. Sondervoten sind jedoch nicht zulässig, wenn die Entscheidung durch Geheimwahl getroffen wird, beispielsweise bei Entscheidungen über die Immunität oder Unfähigkeit von Richtern oder ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten. Entscheidungen des Verfassungsgerichts werden innerhalb von fünfzehn Tagen nach ihrer Verabschiedung zusammen mit der Begründung und eventuellen abweichenden oder zustimmenden Meinungen im Amtsblatt veröffentlicht.66

    Die Veröffentlichung abweichender Meinungen ist auch in ordentlichen Gerichten zulässig: Richter, die eine Mindermeinung vertreten, müssen die Mehrheitsentscheidung unterzeichnen, können jedoch eine begründete abweichende Stellungnahme beifügen.67

    2.2.2. Tschechische Republik

    Die Tschechische Republik verabschiedete das Verfassungsgerichtsgesetz am 16. Juni 1993 kurz nach der Spaltung der Tschechoslowakei. Gemäß den Artikeln 14 und 22 hat ein Richter, der einer Entscheidung oder deren Begründung nicht zustimmt, das Recht, seine Meinung in das Diskussionsprotokoll aufnehmen und der Entscheidung unter Angabe seines Namens beifügen zu lassen. Sondervoten werden in der Sammlung von Gerichtsentscheidungen des Gerichts veröffentlicht, nicht in der Gesetzessammlung, in der

    66 E. Tanchev, Constitutional control in comparative and Bulgarian perspective, auf der World Conference on Constitutional Justice vorgestellter Beitrag, abrufbar unter http://www.venice.coe.int/WCCJ/Papers/BUL_Tanchev_E.pdf. Die Bestimmungen sind in englischer Sprache im Internet abrufbar unter http://www.constcourt.bg/Pages/LegalBasis/default.aspx?VerID=224. 67 CCEJ, Fragebogen zur Meinung des CCJE zur Qualität richterlicher Entscheidungen 2008: Von der bulgarischen Delegation eingereichte Antwort, abrufbar unter https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id=1242255&Site=COE; ACA-Europe, Administrative Justice in Europe, Report for Bulgaria, abrufbar unter http://www.juradmin.eu/en/eurtour/i/countries/bulgaria/bulgaria_en.pdf.

    22

    http://www.juradmin.eu/en/eurtour/i/countries/bulgaria/bulgaria_en.pdfhttps://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id=1242255&Site=COEhttp://www.constcourt.bg/Pages/LegalBasis/default.aspx?VerID=224http://www.venice.coe.int/WCCJ/Papers/BUL_Tanchev_E.pdfhttp:beif�gen.67http:ver�ffentlicht.66

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    Abweichende Meinungen an den Obersten Gerichten der Mitgliedstaaten

    sich nur eine Fußnote zum Urteil finden lässt, die auf das Vorliegen abweichender Meinungen verweist.68

    Gegenmeinungen werden an ordentlichen Gerichten nicht veröffentlicht.69

    2.2.3. Dänemark

    Dänemark folgt der Tradition der diffusen Verfassungsgerichtsbarkeit: Alle Gerichte können die Verfassungsmäßigkeit bestehender Gesetze prüfen. Es gibt kein zentrales Verfassungsgericht, auch wenn der Oberste Gerichtshof bei Verfassungsfragen das letzte Wort hat.70

    Das dänische System hat sich in Bezug auf abweichende Meinungen langsam entwickelt. Früher waren die Voten und die Meinungen der Richter geheim; in den 1930er Jahren wurde jedoch ein neues System eingeführt, das es Gerichten erlaubte, anonyme abweichende Meinungen zu berücksichtigen, indem die Ansichten von Abweichlern im Mehrheitsurteil erwähnt werden.71 Diese Kompromisslösung wurde später abgeschafft, und seit 1958 sind Entscheidungen vollständig transparent und offen. Somit werden Einzelmeinungen an allen Kollegialgerichten im Rahmen des Urteils unter Angabe des Namens des Richters, von dem sie stammen, veröffentlicht. Während die Richter des Obersten Gerichtshofs oft von ihrem Recht Gebrauch machen, ein Sondervotum zu veröffentlichen, tun Richter an nachgeordneten Gerichten dies seltener. Folglich werden ihre abweichenden Meinungen oft als Aufforderung gesehen, am Obersten Gerichtshof Berufung einzulegen.72

    2.2.4. Deutschland

    Deutschland ist eines der bekanntesten Beispiele für ein Land, das in der zivilrechtlichen Tradition steht, Verfassungsrichtern jedoch die Veröffentlichung des Sondervotums erlaubt. Während Richter an ordentlichen Gerichten an das Beratungs- und Abstimmungsgeheimnis gebunden sind, sind Verfassungsrichter von dieser Regel ausgenommen.

    Im Laufe der Geschichte hat Deutschland nicht immer den Grundsatz der Geheimhaltung befolgt; seit dem 19. Jahrhundert ist dieser jedoch zu einer allgemeinen Regel geworden.73

    Als das Verfassungsgericht eingerichtet wurde, war das Sondervotum nicht vorgesehen: Ein Gesetzesvorschlag, der Richtern mit einer Mindermeinung das Recht auf Veröffentlichung ihrer abweichenden Meinung eingeräumt hätte, wurde abgelehnt. Abweichende Meinungen etablierten sich durch die Praxis. In einigen Fällen veröffentlichte das Gericht das Abstimmungsergebnis und durchbrach damit den Anschein der Einstimmigkeit, hielt gleichzeitig jedoch die Identität und die Gründe von Richtern mit einer Mindermeinung

    68 Siehe das Verfassungsgerichtsgesetz (Constitutional Court Act), 182/1993 Sb., abrufbar unter http://www.concourt.cz/view/const_court_act; K. Kelemen, The road from common law to East-Central Europe: the case of the dissenting opinion, in P. Cserne, M. Könczöl, Legal and Political Theory in the Post-National Age, Peter Lang 2011, 118-134, S. 130. 69 Siehe V. Novotny, Report for the Czech Republic, Administrative Justice in Europe, abrufbar unter http://www.juradmin.eu/en/eurtour/i/countries/czech/czech_en.pdf. 70 Auch wenn die Gerichte ihre Befugnis zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen bekräftigt und somit eine Verfassungsgerichtsbarkeit geschaffen haben, sind Urteile, in denen ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt wurde, die Ausnahme. Dänischer Oberster Gerichtshof, Report for the XIV Congress of the Conference of European

    http://www.confcoconsteu.org/reports/repConstitutional Courts, 2007, abrufbar unter xiv/report_Denmark_en.pdf (in dem das Bestehen eines einzigen im Jahr 1999 verkündeten Urteils des Obersten Gerichtshofs erwähnt wird, das ein Gesetz für verfassungswidrig erklärte); J. Steenbeek, The Kingdom of Denmark, in Constitutional Law of 15 EU Member States, op. cit., S. 172 f. 71 Siehe E. Hambro, Dissenting and Individual Opinions in the International Court of Justice, in Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Nr. 17/1956, 229-248, S. 232; Mastor, op. cit., S. 132. 72 O. Due, Danish preliminary references, in D. O'Keeffe, A. Bavasso (Hrsg.), Judicial review in European Union law, Kluwer 2000, 363-377, S. 366. 73 Siehe z.B. F. Fernández Segado, La recepción del Sondervotum en Alemania, in Revista Iberoamericana de Derecho Procesal Constitucional, Nr. 12/2009, S. 77-119.

    23

    http://www.confcoconsteu.org/reports/rephttp://www.juradmin.eu/en/eurtour/i/countries/czech/czech_en.pdfhttp://www.concourt.cz/view/const_court_acthttp:geworden.73http:einzulegen.72http:werden.71http:ver�ffentlicht.69http:verweist.68

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    Fachabteilung C: Bürgerrechte und konstitutionelle Angelegenheiten

    geheim. 1966 fiel zum ersten Mal eine Entscheidung mit vier zu vier Stimmen aus: Das Gericht entschied sich deshalb dafür, die Ansichten beider Gruppen von Richtern im Urteil zu berücksichtigen. Dieselbe Situation wiederholte sich im Jahr 1969, was schließlich zu einer Gesetzesänderung führte.74

    Im aktuellen, 1970 geänderten Text räumt das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht Richtern mit einer Mindermeinung ausdrücklich das Recht auf Veröffentlichung ihrer abweichenden Meinung ein (Sondervotum).75 Während anfänglich ausführlich von diesem Recht Gebrauch gemacht wurde (im ersten Jahr nach der Gesetzesänderung wurden in 17 von insgesamt 72 Urteilen Sondervoten veröffentlicht), ebbte die Begeisterung für die Nutzung dieses Instruments anschließend ab. Heute werden etwa 6% aller Entscheidungen Sondervoten beigefügt, in der Regel Entscheidungen zu den umstrittensten Fällen (darunter politisch heikle Themen wie Abtreibung oder Asyl oder komplexe Gesetzesfragen).76

    War das Instrument des Sondervotums anfangs recht umstritten, ist es nun anerkannt und seine Nützlichkeit wird nicht mehr infrage gestellt: Kritik richtet sich meistens gegen die Art und Weise, in der bestimmte abweichende Meinungen formuliert werden, nicht gegen das Instrument an sich. Deutsche Juristen sind sich darin einig, dass Richter durch ihre Pflichttreue gegenüber dem Gericht und der Kammer, denen sie angehören, gebunden sind und dass extrem polemische Meinungen zu vermeiden sind. Gleichzeitig scheint das BVerfG einen lobenswerten Kompromiss zwischen Geheimhaltung und der weitverbreiteten Anwendung abweichender Meinungen gefunden zu haben, indem es sich im Entscheidungsprozess an seine Tradition der Kollegialität hält. Richter unternehmen große Anstrengungen, um eine gemeinsame Lösung zu finden und einen einstimmigen Beschluss zu fassen; wenn diese Bemühungen jedoch erfolglos bleiben, müssen abweichende Meinungen nicht verheimlicht werden, sondern können veröffentlicht werden, was eine schlüssigere Begründung des Mehrheitsurteils ermöglicht und Transparenz sicherstellt.77

    Außerdem haben sich abweichende Meinungen in einigen Fällen als nützliche Grundlage für anschließende Änderungen der Auslegung der Verfassung erwiesen.78

    2.2.5. Estland

    Estland erlaubt die Veröffentlichung abweichender Meinungen in fast allen Gerichten. Auch wenn das Land über kein eigenes Verfassungsgericht verfügt, übt eine spezielle Abteilung des Obersten Gerichtshofs die Verfassungsgerichtsbarkeit aus.79

    Gemäß dem Gesetz zu Gerichtsverfahren für verfassungsrechtliche Prüfungen80 können Sondervoten Schlussurteilen und Stellungnahmen zur Auslegung der Verfassung beigefügt werden. Entscheidungen werden gemäß dem Beratungsgeheimnis durch Abstimmung mit einfacher Mehrheit angenommen. Dennoch heißt es in § 57 Absatz 5 und § 59 Absatz 5: „a judge who disagrees with the opinion or with the reasons therefore has the right to annex a dissenting position to the opinion. The dissenting position may be shared. The dissenting position must be submitted by the time of pronouncement of the opinion and it shall be signed by all judges who hold a dissenting position. [Ein Richter, der der Entscheidung oder deren Begründung nicht zustimmt, hat das Recht, dieser Entscheidung eine abweichende Meinung beizufügen. Die abweichende Meinung darf veröffentlicht werden. Die

    74 Siehe Mastor, op. cit., S. 122; Walters, op. cit.

    75 Siehe § 30 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht. 76 Walters, op. cit.; Rörig, op. cit., S. 2-4. Siehe auch Anhang 1. 77 Grimm, op. cit., unter. I-2. 78 Siehe D. Hennecke, § 30, in D. Umbach, T. Clemens, F.-W. Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar, Müller 2