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Gerechte 16.11. - Ev. Kirchenkreis Dortmund · 2017. 8. 13. · hat sich diesen Text bei seiner Sitzung am 20. Mai 2006 zu Eigen gemacht und beschlossen, ihn als Denkschrift des Rates

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Gerechte TeilhabeBefähigung zu Eigenverantwortung

und Solidarität

Mit einer Kundgebung der Synode der EKD

Eine Denkschrift des Ratesder Evangelischen Kirche in Deutschland

zur Armut in Deutschland

Gütersloher Verlagshaus

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Im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)Herausgegeben vom Kirchenamt der EKD

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. AuflageCopyright © 2006 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzesist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das giltinsbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen unddie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Satz: Katja Rediske, LandesbergenDruck und Einband: Clausen & Bosse, LeckPrinted in GermanyISBN 978-3-579-02386-1

www.gtvh.de

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Inhalt

Vorwort .................................................................................... 7

Zusammenfassung und Empfehlungen ..................................... 10

1. Armut in einem reichen Land als Herausforderung ........... 16

2. Einkommensverteilung und Armut in Deutschland .......... 22

2.1 Sicherung des Existenzminimums –Zu Berechnung und Höhe der staatlichen Regelsätze ......... 24

2.2 Extreme Armut ................................................................. 292.3 Zwischen Armut und Armutsrisiko –

Zu Berechnung und Höhe der Armutsrisikogrenze ............. 302.4 Struktur und Problemlagen der verschiedenen Gruppen

von Hilfebeziehern ............................................................ 352.5 Zum Arbeitsmarkt in Deutschland unter

den Bedingungen der Globalisierung ................................. 37

3. Theologisch-sozialethische Orientierung ........................... 43

4. Wege aus der Armut .......................................................... 50

4.1 Perspektiven des Sozialstaats .............................................. 514.2 Wirtschaft ......................................................................... 574.3 Bildung ............................................................................. 614.4 Familie .............................................................................. 694.5 Diakonie ........................................................................... 714.6 Kirchengemeinden ............................................................ 75

Kammer der EKD für soziale Ordnung..................................... 80

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Kundgebung der Synode der EKD

5. Tagung der 10. Synode der Evangelischen Kirchein Deutschland (EKD)Kundgebung zum SchwerpunktthemaGerechtigkeit erhöht ein VolkArmut muss bekämpft werden – Reichtum verpflichtet ............ 83

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Vorwort

Seit ihren Anfängen steht die christliche Kirche an der Seite der Ar-men. Immer wieder ist dieser Auftrag ins Bewusstsein gehoben undim praktischen Handeln bewährt worden. Er bestimmt das Engage-ment von Kirchen, Gemeinden, diakonischen Einrichtungen undvielen Einzelnen. Die lateinamerikanische Befreiungstheologie hatdiesen biblisch begründeten Auftrag als »vorrangige Option für dieArmen« überzeugend charakterisiert und unüberhörbar ins Gedächt-nis gerufen. In seiner allgemeinen Form sagt der damit formulierteKonsens: Armut muss, wo möglich, vermieden und dort, wo es siedennoch gibt, gelindert werden.

Diese Grundeinsicht muss in konkretes Handeln umgesetzt werden.Die Armutsorientierung des kirchlichen und diakonischen Handelnsmuss sich angesichts neuer Herausforderungen verstärken. Zugleichverpflichtet die öffentliche Verantwortung der Kirche zu klaren Emp-fehlungen an die gesellschaftlichen, politischen und staatlichen Ak-teure. Diese doppelte Aufgabe bestimmte das Gemeinsame Wort desRates der EKD und der katholischen Deutschen Bischofskonferenz»Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit« aus dem Jahr 1997.Auch die wichtigen vorangegangenen und nachfolgenden Denkschrif-ten und Texte des Rates der EKD und der Kammer der EKD fürsoziale Ordnung sowie zahlreiche Stellungnahmen aus aktuellen An-lässen sind von dieser Grundorientierung bestimmt. Das DiakonischeWerk der Evangelischen Kirche in Deutschland, das die EKD unteranderem in der Nationalen Armutskonferenz und in den Beratergre-mien zum Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ver-tritt, engagiert sich in diesen Fragen kontinuierlich und kompetent.

In den Debatten über die Zusammenlegung von Arbeitslosen- undSozialhilfe und über andere sozialpolitische Reformvorhaben hat dieEvangelische Kirche in Deutschland immer wieder hervorgehoben,dass strukturelle Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik, die dem Aus-schluss vieler Menschen aus den Möglichkeiten gesellschaftlicher Be-teiligung entgegenwirken, ebenso wichtig sind wie Reformen in denstaatlichen Unterstützungsleistungen, die sicherstellen, dass der Sozi-alstaat seiner Aufgabe nachhaltig und dauerhaft nachkommen kann.Damit, dass die vorliegende Denkschrift diese Fragen im Zusammen-

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hang bedenkt, vertieft und konkretisiert sie bisherige sozialethischeÜberlegungen in einem besonders wichtigen Bereich.

Die Kammer der EKD für soziale Ordnung ist bei ihrer Arbeit zu derÜberzeugung gelangt, dass die beiden gerade genannten Themenbe-reiche gemeinsam bedacht werden müssen; sie hat deshalb dem Ratder EKD den Entwurf einer Denkschrift zur Armut in Deutschlandvorgelegt, die auch Arbeitsmarktfragen zum Gegenstand hat. Der Rathat sich diesen Text bei seiner Sitzung am 20. Mai 2006 zu Eigengemacht und beschlossen, ihn als Denkschrift des Rates der EKD zuveröffentlichen.

Allen Beteiligten ist bewusst, dass für die hiermit der Öffentlichkeitvorgelegte Denkschrift schwierige Abgrenzungen vorzunehmen wa-ren. Ausdrücklich weist die Denkschrift selber darauf hin, dass »Ar-mut« nicht ohne »Reichtum« und »Armut in Deutschland« nichtohne »Armut weltweit« diskutiert werden kann. Aus guten Gründenkonzentriert sich die Denkschrift gleichwohl auf das Problem derArmut in Deutschland. Sie nimmt eine sorgfältige Differenzierungdes Problems vor und unterzieht die bisher verwendeten Kategorienund Grenzziehungen einer präzisen Kritik.

Auch in unserem reichen Land gibt es materielle Armut, viel häufi-ger aber gibt es mangelnde Teilhabe in einem Bereich, der besser als»Armutsrisiko« bezeichnet wird. Den davon betroffenen Menschenist am wirkungsvollsten mit einer Integration in den Arbeitsprozessgeholfen; wichtigste Bedingungen dafür sind gute Bildung und guteAusbildung. Für eine Verbesserung der Teilhabemöglichkeiten müs-sen aber auch die materiellen Voraussetzungen geschaffen werden,sodass die bisher vielfach behauptete Kontroverse zwischen Vertei-lungsgerechtigkeit und Chancengleichheit zu Gunsten einer diffe-renzierten Verschränkung beider Blickrichtungen überwunden wird.Ohne materielle Verteilungsgerechtigkeit läuft Chancengleichheit insLeere. Aber ohne die Schaffung von Teilhabegerechtigkeit –insbesondere im Bildungssystem und am Arbeitsmarkt – ist der tra-ditionelle Verteilungsstaat unvollkommen. Diese differenzierte Er-kenntnis wird der Rat der EKD zum Ausgangspunkt seines weiterenEngagements in diesen Fragen machen.

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Ich danke der Kammer der EKD für soziale Ordnung für ihre gründ-liche und weiterführende Arbeit und bin zuversichtlich, dass dieseDenkschrift sich für die weitere Diskussion als fruchtbar erweisenwird. Zugleich hoffe ich, dass diese Denkschrift mit ihren Vorschlä-gen zu neuen Einsichten in Staat und Gesellschaft führt und dass dasAusmaß zurückgeht, in dem es nötig ist, von »Armut« und »Armuts-risiko« in Deutschland zu sprechen.

Hannover, im Juni 2006

Bischof Dr. Wolfgang HuberVorsitzender des Rates der EKD

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Zusammenfassung und Empfehlungen

Die Herausforderung, Armut entschlossen zu bekämpfen, stellt sichheute in Deutschland in anderer Weise als früher. Zwar muss auchheute dafür gesorgt werden, dass Menschen in materieller Hinsichtso gestellt werden, dass ihnen ein Leben in Würde möglich ist. DieHöhe der entsprechenden materiellen Transferleistungen muss immerwieder geprüft und den allgemeinen Entwicklungen angepasst wer-den. Der Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit bleibt daher von großerBedeutung, denn wenn Menschen in die Situation geraten, kein eige-nes Einkommen erzielen zu können, ist der Anspruch auf materielleBasissicherung die Voraussetzung dafür, weiter gehende, nichtmate-rielle Unterstützung überhaupt nutzen zu können. Aber solidarischgewährte materielle Unterstützung und ein staatlich gestützter Ar-beitsmarkt reichen nicht aus, um nachhaltig vor Armut bewahrt zubleiben. Entscheidend ist mehr denn je, dass auch von staatlicherSeite aktivierende und unterstützende Hilfen und insbesondere wirk-same Bildungsmöglichkeiten bereitgehalten werden, um eine breiteTeilhabe der betreffenden Menschen an der Gesellschaft zu sichernbzw. wiederherzustellen. Nur durch die Verbesserung der Teilhabege-rechtigkeit ist eine dauerhafte Sicherung vor Armut im Sinne vonAusgrenzung möglich.

In der hoch entwickelten und reichen Gesellschaft Deutschlands istes auch aus ethischer Sicht notwendig, nicht nur extreme Armut –also materielle Armut unterhalb des sozio-kulturellen Existenzmini-mums –, sondern auch Armut im Sinne unzureichender Teilhabe ent-schlossen und wirkungsvoll zu bekämpfen. Weit mehr als in ärmerenGesellschaften kann es keine Entschuldigung geben für politische Zö-gerlichkeit oder eine mangelnde Bereitstellung von Ressourcen undBildung zur Vermeidung von Armut und zur Stärkung von Solidarität.Es entspricht dem christlichen Verständnis und liegt im Interesse aller,dass dies wirksamer als bisher gelingt. Diese Aufgabe kommt dabeibesonders den in politischer, sozialer und wirtschaftlicher Verantwor-tung Stehenden zu. Wohlstand und gesellschaftliche Stabilität lassensich dauerhaft nur für alle gemeinsam sichern. Wenn sich aber ein gro-ßer Teil der Bevölkerung als ausgeschlossen erlebt und die Differenzenzwischen Reichen und Armen immer weiter wachsen, kann es keineallseits als gerecht erlebte gesellschaftliche Entwicklung geben.

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Solidarität und Freiheit sind zwei Seiten einer nachhaltigen und ge-rechten wirtschaftlichen, sozialen und nicht zuletzt kulturellen Ent-wicklung. Nur Menschen, die sich ihrer Teilhabe an der Gesellschaftsicher sind, können sie auch in einer demokratischen, solidarischenund nachhaltigen Weise gestalten.

Das christliche Verständnis von Teilhabe gründet in der den Men-schen geschenkten Teilhabe an der Wirklichkeit Gottes. Die Bibelhebt die unverlierbare Würde des Menschen hervor und illustriertdie Überzeugung von der jedem Menschen gegebenen Fähigkeit zuraktiven Teilhabe unter anderem in der Symbolik des Leibes Christi(1 Korinther 12 u. a.). Gott gewährt den Menschen in der Kraft desHeiligen Geistes Anteil an seiner Fülle: Unterschiedliche Begabun-gen (die jedem Einzelnen durch den Geist verliehenen »Charismen«)befähigen Menschen, die ihnen in ihrer Lebenssituation gestelltenAufgaben zu erfüllen. Dieser Gedanke hat sich in unserer Rede von»Begabung« erhalten. Wird den Menschen Teilhabe an Gottes Kraftgeschenkt, ohne dass sie selbst etwas dafür tun müssten, so ist es ihreAufgabe, diese Begabungen in ihrem Leben fruchtbar werden zu las-sen – für sich selbst und für andere, also auch für das Gemeinwohl. Inder Realisierung dieser aktiven Teilhabe an den gesellschaftlichenAufgaben liegt ihre Verantwortung vor Gott und ihren Mitmenschen.Die von Gott gewährte Teilhabe an ihm selber bewährt sich so in deraktiven Weltgestaltung. Aus diesen theologischen Überlegungen fol-gen individualethische Konsequenzen für die von Einzelnen undGemeinden im konkreten Umfeld auszuübende persönliche Barm-herzigkeit ebenso wie sozialethische Konsequenzen für die Gestal-tung einer gerechten Gesellschaft im Ganzen.

Eine gerechte Gesellschaft muss so gestaltet sein, dass möglichst vieleMenschen tatsächlich in der Lage sind, ihre jeweiligen Begabungensowohl zu erkennen, als auch sie auszubilden und schließlich pro-duktiv für sich selbst und andere einsetzen zu können. Eine solcheGesellschaft investiert folglich, wo immer es geht, in die Entwicklungder Fähigkeiten der Menschen zur Gestaltung ihres eigenen Lebenssowie der gesamten Gesellschaft in ihren sozialen und wirtschaftli-chen Dimensionen. Eine solche Gesellschaft ist so verfasst, dass sichdiese aus den individuellen Begabungen erwachsenen Gaben undFähigkeiten, biblisch »Charismen« genannt, zur möglichst eigenver-antwortlichen Sicherung des Lebensunterhalts und im Interesse aller

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solidarisch einsetzen lassen. Das heißt mit Blick auf das gegenwärtigeWirtschaftssystem, dass ein größtmöglicher Teil der Bevölkerung überbezahlte Arbeit verfügen soll, so weit er dies anstrebt, und dass gleich-zeitig die wichtige, vielfältig geleistete familiale, soziale und gesell-schaftliche Arbeit in angemessener Weise anerkannt und integriertwird. Der Begriff der »gerechten Teilhabe« meint genau dies: umfas-sende Beteiligung aller an Bildung und Ausbildung sowie an den wirt-schaftlichen, sozialen und solidarischen Prozessen der Gesellschaft.Eine Verengung auf eine oder wenige Zieldimensionen der Teilhabeverbietet sich aus der Sache heraus. Insofern bedarf es immer wiedereiner sorgfältigen Diskussion dieses Begriffs und der Klärung der de-taillierten Konsequenzen für die aktuelle Praxis.

Im Mittelpunkt aktivierender und unterstützender Hilfen steht dieauf allen Ebenen, insbesondere aber durch das Bildungssystem zu leis-tende Vermittlung von Kompetenzen. Diese Kompetenzen zielen vorallem auf die Entwicklung von Eigenverantwortung und Solidarität.Hier liegt der Schlüssel für eine wirksame Armutsbekämpfung – undhier gibt es in Deutschland einen hohen Nachholbedarf. Das deut-sche System der Elementar- und Schulbildung schützt im Ergebnisnicht nur zu wenig vor Armut, sondern weist erhebliche selektive Struk-turen auf, die materielle, kulturelle und soziale Trennungen reprodu-zieren. Es trägt so dazu bei, dass der Schulerfolg eines Kindesvergleichsweise zu sehr von seiner sozialen Herkunft und zu wenig vonseinen Begabungen bestimmt wird. Notwendig ist Entschlossenheitauf allen Ebenen, endlich Chancengerechtigkeit praktisch zu realisie-ren und die vorhandenen Fähigkeiten zur Entwicklung von Eigenver-antwortung und Solidarität in Erziehung, Bildung und Ausbildung zufördern. Ein neuer Geist der Wertschätzung und der Beteiligung mussdie in der Bildung vorhandenen Tendenzen zur Ausgrenzung und Ent-solidarisierung überwinden. Dabei wird davon auszugehen sein, dasses immer Menschen geben wird, denen es nicht gelingt, das Bildungs-system erfolgreich zu durchlaufen. Gerade diesen Menschen muss ineinem funktionierenden Sozialstaat mit gesetzlich geregelten Leistun-gen gezielt und nachhaltig geholfen werden.

Die Vermittlung von Kompetenzen im Bildungssystem ist die ent-scheidende Voraussetzung zur Teilhabe an der Gesellschaft. In hoch

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entwickelten komplexen Gesellschaften und zumal unter den Bedin-gungen der Globalisierung bietet vor allem Bildung und Qualifizie-rung die Chance, einen Arbeitsplatz zu erhalten und so dauerhaft vorArmut gesichert zu sein. Allerdings ist es illusorisch anzunehmen,dass allein durch gesteigerte Qualifizierung Arbeitslosigkeit auf ab-sehbare Zeit gänzlich beseitigt werden könnte. Es wird eine nennens-werte Gruppe von weniger Qualifizierten bleiben, die nur in einemNiedriglohnbereich eine Chance auf Arbeit haben werden. Insoferngibt es im Interesse der Teilhabe aller an und durch bezahlte Arbeitkeine Alternative zur Beschäftigungsförderung von geringer bezahl-ten Arbeitsplätzen. Hierfür stehen bereits eine große Zahl von Förder-instrumenten bereit – sie sollten gestrafft und wo nötig durch weitergehende, auch psychosoziale Hilfen ergänzt werden. Dabei bestehtdie besondere Notwendigkeit, die Entwicklungen im Niedriglohn-sektor dauernd zu beobachten. Das Phänomen der »working poor«,also von Erwerbstätigen, deren Entlohnung nicht aus der Armut he-rauszuführen vermag, verdient angesichts zunehmenden Drucks aufdie Löhne auch in kirchlichen Institutionen verstärkte Aufmerksam-keit. Ein Niedriglohnsektor darf kein Bereich werden, in dem Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer durch eine sich stets nach untenbewegende Lohnspirale ausgebeutet werden. In einem reichen Landwie Deutschland sollte es Ziel sein, den Niedriglohnsektor so kleinwie möglich zu halten. Insofern er notwendig ist, ist es entscheidend,dass es in diesem Bereich überhaupt genügend Nachfrage nach Ar-beitskräften gibt. Wo dies am regulären Arbeitsmarkt nicht der Fallist, muss schon um der Menschen willen auf öffentlich geförderteund wo nötig auch auf direkt öffentlich bereitgestellte Arbeitsplätzezurückgegriffen werden. Staatlich geschaffene Tätigkeiten mögen öko-nomisch ineffizient sein, aber die heutige Situation ist nicht nurmenschlich, sondern auch ökonomisch unbefriedigend. Einen zusätz-lichen kleinen öffentlich geförderten Arbeitsmarkt wird es darüberhinaus auch auf Dauer für nicht ausreichend Bildungsfähige undMenschen mit Behinderungen geben müssen.

Ein weiteres wichtiges Feld zur Bekämpfung von Armut ist die Fami-lienpolitik. So begrüßenswert alle Maßnahmen zur Verbesserung derSituation von Familien im Interesse einer Steigerung der Kinderzah-len als solche auch sind: Der Schwerpunkt dieser Aktivitäten liegt inder Erleichterung der Situation relativ besser Verdienender. Die gro-ße Zahl von Kindern in Armut werden durch diese Maßnahmen nicht

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erreicht und nicht besser gefördert. Ihnen hilft nach aller Erfahrungauch nicht die Erhöhung von materiellen Leistungen als solches, son-dern vor allem die Bereitstellung institutioneller Förderleistungen. Indieser Hinsicht ist der kostenlose Zugang zu Kindertagesstätten vomzweiten Lebensjahr an der richtige Weg. Besonderer Aufmerksamkeitbedarf die Situation Alleinerziehender.

Dringend notwendig ist auf der Linie der hier vertretenen Grundsät-ze eine enge Verzahnung von Sozial-, Bildungs- und Arbeitsmarktpo-litik. Nur ein solcher integrativer Ansatz kann die Komplexität derGerechtigkeitsdefizite mit dem Ziel der vollen Beteiligung aller ander Gesellschaft überhaupt zielorientiert in den Blick nehmen. DieIdee des Forderns und Förderns entspricht den hier vertretenen Grund-sätzen. Allerdings muss im Einzelnen genau geprüft werden, ob dienun vorhandenen, besseren Möglichkeiten der Aktivierung und Qua-lifizierung auch von zum Teil bereits jahrelang arbeitslosen Menschenwirklich genutzt werden können und greifen.

Es führt kein Weg daran vorbei, stärker als bisher Sozial- und Wirt-schaftspolitik unter Gerechtigkeitsaspekten zusammen zu denken. Sodeutet der internationale Vergleich darauf hin, dass es vorteilhaft ist,Arbeitsverhältnisse stärker von der Belastung durch Sozialabgaben zubefreien und die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme ver-stärkt und nachhaltig über Steuern sicherzustellen. Den wirtschaftli-chen Aktivitäten verschafft dies eine größere Flexibilität, was unterden Bedingungen gesteigerten weltweiten Wettbewerbs vorteilhaft ist.Zusätzlich zu der steuerfinanzierten Basissicherung, einem steuerfi-nanzierten sozialen Ausgleich und den nach wie vor beitragsfinan-zierten Sozialversicherungssystemen wird sich der Einzelne für denErhalt seines jeweiligen Wohlstandsniveaus gegen zusätzliche Risikenstärker selbst sichern müssen. Es entspricht der deutschen Tradition,dass über die Basissicherung hinaus die SozialversicherungssystemeLebensrisiken verlässlich absichern. Unabhängig von der möglichenAbsenkung dieses Absicherungsniveaus und der dadurch bedingtenNotwendigkeit verstärkter privater Vorsorge wird es eine kollektivorganisierte und mit sozialen Elementen versehene Absicherung überdas Basisniveau hinaus geben müssen. Dies ist insbesondere deswe-gen notwendig, weil ansonsten im Alter eine nicht akzeptable Un-gleichheit der Einkommensverteilung entsteht. Dabei sollten Vorkeh-rungen getroffen werden, dass steuerfinanzierte Elemente nicht dem

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leichten Zugriff des Finanzministers und damit den Unwägbarkeitender allgemeinen Haushaltsentwicklung unterliegen. Gerade mit Blickauf steuerfinanzierte Elemente ist der Aspekt der Nachhaltigkeitbesonders zu beachten.

Christinnen und Christen sowie Kirche und Diakonie als Institutio-nen stehen bei der Armutsbekämpfung in besonderer Weise in derPflicht. Die Hinnahme von unfreiwilliger Armut in der Gesellschaftstellt ein gesellschaftliches wie individuelles Versagen vor Gottes An-spruch und seinen Geboten dar. Unsere Gesellschaft verfügt über einin der Geschichte der Menschheit noch nie da gewesenes Ausmaß anRessourcen: deswegen gibt es keine Entschuldigung, unzureichendeTeilhabe und Armut nicht entschieden überwinden zu wollen. EineKirche, die auf das Einfordern von Gerechtigkeit verzichtet, derenMitglieder keine Barmherzigkeit üben und die sich nicht mehr denArmen öffnet oder ihnen gar Teilhabemöglichkeiten verwehrt, ist –bei allem möglichen äußeren Erfolg und der Anerkennung in derGesellschaft – nicht die Kirche Jesu Christi.

Eine besondere Chance christlicher Zuwendung im Unterschied zumgesetzlich geregelten sozialstaatlichen Handeln wurzelt in dem vonGott gegebenen Auftrag, den Nächsten wie sich selbst zu lieben. Per-sönliche und gemeindliche Barmherzigkeit, die sich von der Nähe zuden betroffenen Menschen herausfordern lässt, will und kann einenregelhaften Sozialstaat (einschließlich der Angebote der professionel-len Diakonie) und ein zielgerichtetes Bildungswesen nicht ersetzen.Letztlich lebt gerade der Sozialstaat von einer breit verankerten »Kul-tur der Barmherzigkeit«.

Der dem christlichen Glauben innewohnende Realitätssinn bewahrtuns vor der Versuchung zu meinen, wir könnten mit menschlicherKraft alle Armut im Sinne eines Ausschlusses aus der gesellschaftli-chen Teilhabe endgültig aus der Welt schaffen. Aber gerade deshalbist es eine Christenpflicht, alles zu tun, damit jeder und jede mit ih-ren und seinen Gaben und Fähigkeiten in der Gesellschaft Anerken-nung findet und zur eigenen Versorgung sowie zum Wohl aller dasihm und ihr Mögliche beitragen kann.

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1. Armut in einem reichen Land als Herausforderung

(1) Deutschland ist im weltweiten Vergleich ein außerordentlich rei-ches Land. Die Möglichkeiten, die zur Verfügung stehen, um allen inDeutschland Lebenden ein Auskommen zu verschaffen, das sie nach-haltig vor Armut schützt, sind so groß, wie sie es in der deutschenGeschichte noch nie waren. Zudem ist es nicht zuletzt im Vergleich zuder unmittelbaren Nachkriegszeit gelungen, existenzielle Armut,insbesondere Altersarmut, in Deutschland erfolgreich zu bekämpfen.Die gesetzlich vorgesehenen materiellen Leistungen für Menschen, diesich nicht selbst über den Arbeitsmarkt ausreichende Ressourcen ver-schaffen können, sind so beschaffen, dass materielle Verelendung inDeutschland vermeidbar sein müsste. Jedoch ist auch dort, wo diesesZiel erreicht wird, das Armutsproblem nicht automatisch gelöst. DennArmut geht über die materielle Dimension hinaus. Nicht nur finanzi-elle Not – in einem sozialen Rechtsstaat also die Nicht-Inanspruch-nahme von Leistungsansprüchen – kann zu Lebenslagen führen, dieals Armut zu beschreiben sind. Auch bei an sich ausreichenden finan-ziellen Mitteln können Bildungs- und Motivationsprobleme sowie dieSituation auf dem deutschen Arbeitsmarkt Armut erzeugen. Gleich-wohl sorgen die erheblichen Umverteilungseffekte über die sozialenSicherungssysteme dafür, dass die Armutsrisikoquote in Deutschlandverglichen mit anderen Ländern innerhalb Europas vergleichsweiseniedrig ist. Insbesondere konnte den Herausforderungen, die im Zugeder Vereinigung Deutschlands in diesem Bereich entstanden sind, durchdie Ausdehnung der sozialen Sicherungssysteme auf die neuen Bun-desländer und mit Hilfe erheblicher Transferleistungen wirkungsvollbegegnet werden.

(2) Auch heute gibt es Armut in Deutschland. Sie stellt sich allerdingsin einer neuen, eine materiell reiche Gesellschaft besonders heraus-fordernden Form dar. Armut zeigt sich nicht nur als materielle Vere-lendung – wie sie etwa durch die stark gestiegene Notwendigkeit vonSuppenküchen sichtbar wird –, sondern auch als mangelnde Teilhabean der Gesellschaft, und in zugespitzter Form als Ausschluss aus ihr.Ein solches Phänomen ist in einer Demokratie mit besonderer Be-sorgnis zu betrachten, da mit Armut häufig auch eine faktische Ein-schränkung politischer Teilhabe verbunden ist. Dazu zählt eine deut-lich geringere Wahlbeteiligung der von Armut betroffenen Menschen,

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was für den demokratischen Willensbildungsprozess problematischist. Obwohl der gestiegene Wohlstand in Deutschland über die Jahreauch das Versorgungsniveau der Ärmsten und Schwächsten angeho-ben hat, haben sich dennoch die Situation sozialer und kulturellerUngleichheit und deren negative Auswirkungen auf die Gesellschafteher verschärft und durch Bildungsarmut weiter zugespitzt.

(3) Der entscheidende Grund, warum heute neu über die Bekämp-fung von Armut in Deutschland nachgedacht werden muss, liegtdarin, dass sich die sozial- und vor allem wirtschaftspolitischen Rah-menbedingungen im Blick auf die Teilhabe aller Menschen inDeutschland in den letzten Jahren beträchtlich verändert haben.Während vor 20 Jahren noch Arbeitsplätze im Bereich geringer qua-lifizierter Arbeit in Deutschland geschaffen werden konnten, wer-den solche nun in immer größerem Umfang in so genannte Niedrig-lohnländer verlagert. Damit verschlechtert sich die Situation der be-troffenen wenig qualifizierten Menschen kontinuierlich. Wer überArmut in Deutschland diskutiert, muss diese Problematik in ihrerKomplexität in den Blick nehmen. Können und sollen Arbeitsplätzein diesem Bereich neu geschaffen werden? Und vor allem: Was be-deutet diese neue Situation für die Gestaltung des Bildungssystemsund der sozialen Sicherungssysteme?

(4) Wenn die evangelische Kirche zu dieser Thematik Stellung nimmt,dann orientiert sie sich an den Leitbildern, die in der Bibel und inder christlichen Tradition entwickelt worden sind. Mit Blick auf dieProblematik von Armut vertritt sie das Leitmotiv einer gerechtenTeilhabe aller an der Gesellschaft, die mit der Erwartung an Ausge-grenzte und von Ausgrenzung Bedrohte verbunden ist, so weit esihnen möglich ist, Teilhabechancen auch zu ergreifen und Hilfsan-gebote zu nutzen. Die Beeinträchtigung einer solchen gerechten Teil-habe ist als Erfahrung von Ausgrenzung, als Ausschluss von Lebens-chancen, also als Erfahrung von Armut zu verstehen.

(5) Das sozialethische Leitkriterium hinter der Vorstellung gerechterTeilhabe besteht darin, dass es für jede Person möglich sein muss, dieErfahrung zu machen, für sich selbst und die eigene Familie sorgenzu können. In einer gerechten Gesellschaft ist dies für alle Glieder derGesellschaft möglich und alle Menschen erfahren dadurch so vielUnterstützung und Hilfe, dass sie vor Armut geschützt sind. Den-

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noch gibt es Umstände, die Menschen die Sorge für sich selbst undfür andere erschweren oder unmöglich machen, insbesondere dieMassenarbeitslosigkeit. In diesen Fällen hat die Gesellschaft die Pflichtzur institutionalisierten solidarischen Sicherung einer würdigen Le-benssituation aller Menschen, die sich in entsprechenden Rechtsan-sprüchen ausdrückt und auf die jeder und jede Zugriff haben muss.Problematisch wird diese Situation dann, wenn sie sich auf Dauerverfestigt und erwerbsfähige Menschen völlig von den sozialstaatli-chen Leistungen abhängig werden. Um dies zu verhindern, brauchtes heute neben einer ausreichenden Zahl von Arbeitsplätzen viele er-mutigende und aktivierende Wege mit dem Ziel, Menschen dabei zuhelfen, wieder für sich selbst sorgen zu können.

(6) Eine diesen Überlegungen entsprechende Armutsdefinition liegtauch dem zweiten Nationalen Armuts- und Reichtumsbericht derBundesregierung zu Grunde, in dem es heißt: »Armut i. S. sozialerAusgrenzung und nicht mehr gewährleisteter Teilhabe liegt dann vor,wenn die Handlungsspielräume von Personen in gravierender Weiseeingeschränkt und gleichberechtigte Teilhabechancen an den Aktivi-täten und Lebensbedingungen der Gesellschaft ausgeschlossen sind«.Mit Ausgrenzungen verbundene Ungleichheiten sind in der Gesell-schaft in Deutschland nicht mehr deckungsgleich mit alten Klassenoder Schichten, wie sie in traditionellen theoretischen Gesellschafts-modellen beschrieben werden. Sie wirken sich heute vielmehr in ei-nem vielfachen Ineinander von sozialen Milieus und Lebensstilen aus,bleiben aber in ihrer Chancen zuteilenden und nach unten ausgren-zenden Wirkung deutlich und drastisch erkennbar. Entscheidend ist,dass die vorhandenen Ungleichheiten nicht als reine Verschiedenhei-ten der Menschen, sondern als ungleiche Wertigkeiten erlebt werden.Menschen, die sich als ausgegrenzt erleben, werden so noch weiterentmutigt, sich an der Gesellschaft zu beteiligen und ihre Fähigkei-ten einzubringen.

(7) Aus sozialethischer Sicht besteht das zentrale Problem nicht inder Ungleichheit zwischen Menschen als solcher. Das biblische Zeugnisbetont, dass jeder Mensch als Individuum und damit anders als dieAnderen geschaffen ist und das Recht hat, entsprechend zu leben.Christliche Sozialethik setzt insofern voraus, dass es Unterschiedezwischen den Menschen gibt, auch Unterschiede zwischen ihrer Leis-tungsfähigkeit, die die einen dazu befähigen, mehr als andere zu leis-

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ten. Solange diese Unterschiede nur so gestaltet sind, dass die durchsie hervorgerufene gesteigerte Leistungsfähigkeit einer Gesellschaftauch den Schwächeren und Ärmsten zugute kommt, gibt es keinenGrund, sie grundsätzlich in Frage zu stellen. Problematisch ist es je-doch, wenn sich in den »unteren« Bereichen der Gesellschaft ein Mi-lieu herausbildet und stabilisiert, in dem Erfahrungen der gerechtenTeilhabe überhaupt nicht mehr gemacht werden, und wenn es Men-schen gibt, die trotz aller gesellschaftlicher Bemühungen auch vonmaterieller Armut betroffen sind. Aus der Sicht der christlichen Tra-dition verfügen auch diese Armen über ein Potenzial, das der gesam-ten Gesellschaft zugute kommen soll. Wo dies durch Beeinträchti-gungen nicht mehr möglich ist, hat die gesamte Gesellschaft die Pflicht,ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.

(8) Da die Förderung von Teilhabe auch Geld kostet, über das armeMenschen nicht verfügen, kann das Thema Armut nicht vom ThemaReichtum getrennt werden. Aus der Sicht christlicher Ethik ist dieSozialpflichtigkeit des Eigentums, wie sie im Grundgesetz festgeschrie-ben ist, nachdrücklich zu unterstreichen. Dass die teilhabefreundli-che Erneuerung des Sozialstaates in Deutschland gelingt, hängt auchdavon ab, ob der vorhandene und wachsende Reichtum in Deutsch-land angemessen an der Finanzierung der damit verbundenen Lastenbeteiligt wird.

(9) Der entscheidende Risikofaktor zur Herausbildung von Armutist die in Deutschland über die letzten 30 Jahre beständig angewach-sene Arbeitslosigkeit. Einen hinreichend bezahlten Arbeitsplatz zuhaben, ist in der deutschen wirtschafts- und sozialpolitischen Reali-tät, und in der westlichen Welt überhaupt, der entscheidende Weg,für sich selbst sorgen zu können. Auch in der christlichen Traditionist Arbeit Teilhabe am Ganzen und an der Gestaltung der Wirklich-keit. Ohne Arbeit in diesem Sinne erfahren Menschen in der Regeleine erhebliche Einschränkung ihrer menschenwürdigen Existenz. Diewachsende Arbeitslosigkeit ist von daher – selbst dann, wenn die Ar-beitslosen materiell versorgt sind – auf Dauer die entscheidende Be-einträchtigung gerechter Teilhabe und führt zur massiven Erfahrungvon Ausgrenzung. Bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit selbst stel-len sich vor allem zwei Probleme: Defizite in Bildung, Ausbildungund Weiterbildung sowie die mangelnden und nicht zuletzt durchgesetzliche und tarifvertragliche Regelungen zusätzlich eingeschränk-

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ten beruflichen Möglichkeiten für Menschen in spezifischen Lebens-situationen, insbesondere nach Überschreiten eines bestimmten Al-ters. Der Bildung kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu.Die Chance und die Verpflichtung, sich Bildung anzueignen und sichweiterzubilden, sind zentrale Kriterien einer gerechten Gesellschaft.Ein Blick in das deutsche Bildungssystem zeigt aber, dass hierinsbesondere hinsichtlich der Bildungschancen von Kindern aus är-meren Familien gravierende Defizite zu diagnostizieren sind, vor al-lem, wenn gleichzeitig eine systematische frühe Förderung unterbleibt.Diese Problematik wird durch weitere Faktoren verschärft, zum Bei-spiel bei Kindern mit Migrationshintergrund.

(10) Eine besondere Konstellation liegt bei Menschen vor, die an derAufnahme von Arbeit gehindert sind. Nicht nur statistisch von be-sonderer Bedeutung sind insbesondere in den alten BundesländernAlleinerziehende mit kleinen Kindern, die wegen der zumindest zeit-weisen Betreuung ihrer Kleinkinder oder aufgrund nicht ausreichen-der Betreuungsangebote keine Erwerbsarbeit aufnehmen können.

(11) Aus christlich-sozialethischer Sicht geht es nicht um eine Gesell-schaft der Gleichheit im Sinne von Uniformität. Es geht um eineGesellschaft, in der alle auf ihre Weise, und möglichst selbst gewählt,Anteil an den in der Gesellschaft üblichen Möglichkeiten haben kön-nen, z. B. auch Anteil daran, in der Gesellschaft bis in jede Positionvorzudringen. Entsprechende Leitbilder finden sich in der biblischenTradition immer wieder. Ein besonders leuchtendes Beispiel ist indieser Hinsicht der Text 1 Kor 12 über den Leib Christi und seineGlieder, in dem Paulus ausführt, dass jedem Glied der GemeinschaftChristi eine besondere Art der Verantwortung für das Ganze und damitauch eine besondere Art der Teilhabe am Ganzen zukommt. Und erführt im Interesse des Zusammenhaltes dieses Leibes aus, dass geradeden schwächsten Gliedern eine besondere Würde und Anerkennungzuteil werden muss. Teilhabe an der Gesellschaft hat fundamentalmit der Erfahrung von Anerkennung von anderen zu tun. Anerken-nungsentzug beeinträchtigt die Würde des Menschen.

(12) Zu einem klaren und nüchternen Bild gehört auch der Blicküber die Grenzen Deutschlands und Europas hinaus auf Menschen,die durch ungerechte nationale wie internationale Strukturen in Le-ben und Existenz bedroht sind. Die weltweite Armutsbekämpfung

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hat aus der Sicht der christlichen Kirche zentrale Bedeutung. Ausihren ökumenischen Kontakten erhalten die Kirchen eindringlichKenntnis von den Lebenslagen der unter Hunger und Durst leiden-den und an leicht heilbaren Krankheiten sterbenden Menschen. Dieevangelische Aktion »Brot für die Welt« formuliert in ihrer Erklärung»Den Armen Gerechtigkeit 2000« als zentrales Anliegen, »durch Hil-fe zur Selbsthilfe Menschen, die im Elend leben, darin zu unterstüt-zen, ihre eigene Situation zu verändern und einen Beitrag dazu zuleisten, gerechte, partizipative, friedliche und zukunftsfähige Gesell-schaften zu schaffen« (Abs. 67). So wichtig die mit Blick auf denSüden der Erde vor uns liegenden Aufgaben sind, so machen sie dochunser Bemühen um soziale Gerechtigkeit im eigenen Land nicht über-flüssig. Und so wichtig es ist, die Dramatik der lebensbedrohendenArmut im Süden unserer Erde vor Augen zu behalten und handlungs-leitend werden zu lassen, so ist es angesichts der mangelnden Teilha-be an der Gesellschaft, die Menschen bei uns trifft, auch angemessenund sinnvoll, von Armut in Deutschland zu sprechen, wissend, dassdiese Armut andere Formen hat als Armut in Teilen Afrikas, Asiensund Lateinamerikas.

(13) Im Folgenden wird daher zunächst die gegenwärtige Situationin Deutschland beschrieben. Anschließend werden die ethischen Kri-terien für ein theologisch verantwortetes Urteilen der Kirche darge-stellt. Diese aufnehmend mündet die Denkschrift schließlich in Über-legungen zu Wegen aus der Armut, die auf Herausforderungen imBereich der Bildung, der Familie und der Wirtschaft eingehen sowiedie Diakonie und die einzelne Kirchengemeinde als Handlungsfelderausdrücklich benennen. Für die Analyse der Situation in Deutsch-land ist es notwendig, im folgenden Kapitel eine Reihe von Details zuerörtern, die für die Fachdiskussion, vor allem aber für die Suchenach Lösungsansätzen von großer Relevanz sind, in der Darstellungaber eher technische Passagen erfordern. Die leichter lesbare Beschrei-bung der Handlungsempfehlungen in Kapitel 4 hat in den Kapiteln2 und 3 ihre Grundlage.

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2. Einkommensverteilung und Armutin Deutschland

(14) Teilhabemöglichkeiten sind nicht losgelöst von materiellen Mög-lichkeiten zu betrachten. Insofern kommt der Frage der Verteilungs-gerechtigkeit auch hinsichtlich der aus kirchlicher Sicht zentralenBeteiligungs- und Befähigungsgerechtigkeit eine herausgehobeneBedeutung zu. Obwohl Ausmaß, Ausprägung und Auswirkung vonArmut und Armutsrisiko mit statistischen Zahlen zur Einkommens-verteilung nur unzureichend erfasst werden können, hat es sich dochbewährt, Grenzwerte und Einkommensstatistiken heranzuziehen, umdie Entwicklung in diesem Bereich zu verfolgen. Dieses Vorgehenmuss insbesondere hinsichtlich der Suche nach geeigneten Maßnah-men ergänzt werden durch eine differenzierte Betrachtung der kon-kreten Beeinträchtigung der Teilhabemöglichkeiten. Diesen Zahlenkommt auch im Zusammenhang mit dem Nationalen Armuts- undReichtumsbericht eine so wichtige Indikatorenfunktion zu, dass andieser Stelle die wichtigsten Zahlen und Daten darzustellen und zubewerten sind. Zu differenzieren ist dabei zwischen der Sicherungdes Existenzminimums und der Bekämpfung von Armut in einemumfassenden Sinne.

(15) Aufgabe einer kirchlichen Äußerung ist es sicher nicht, exakteZahlen für Armutsgrenzen und andere Schwellenwerte vorgeben zuwollen. Angesichts der kontroversen Diskussion sowohl über dasAusmaß der Armut in Deutschland als auch über die Situation derinzwischen mehreren Millionen Menschen, die auf dem Niveau vonSozialhilfe und Arbeitslosengeld II leben, ist es allerdings unverzicht-bar, sich kritisch mit den gängigen Werten auseinander zu setzen.Dies geschieht in den folgenden Abschnitten. Die konkreten Zahlenund die verschiedenen Instrumente und Vorgehensweisen der Armuts-messung haben für das Leben der betroffenen Menschen und für diesozialpolitische und sozialethische Diskussion eine solche Bedeutung,dass sie hier näher vorgestellt werden sollen. Die Beschreibung derSituation mündet dann in Abschnitt 3 in grundsätzliche sozialethi-sche Überlegungen.

(16) Trotz der vielfältigen Beziehung zwischen Armut und Reichtumist es nicht Aufgabe dieser Denkschrift, sich umfassend mit dem Ge-

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genstück zur Armut – dem Reichtum – auseinander zu setzen. EinigeHinweise (vgl. auch Abschnitt 3 »Theologisch-sozialethische Orien-tierung«) seien aber gegeben: Rechtlich und statistisch ist Reichtumebenso wenig klar definiert wie Armut. Wenn Armut zu unzureichen-der Teilhabe führt, dann steht Reichtum in der Gefahr, Teilhabe ineinem problematischen Übermaß und so einseitige Herrschaftsaus-übung zu ermöglichen. Die biblische Überlieferung zeichnet ein ent-sprechend ambivalentes Bild von Reichtum. Einerseits verleitet Reich-tum Menschen dazu, ihre Lebensperspektive ganz auf den Reichtumzu gründen, sodass dieser zum Götzen wird. Zudem besteht die Ge-fahr, sich durch Reichtum auf Kosten anderer Vorteile zu verschaf-fen, die ethisch nicht zu rechtfertigen sind. Andererseits bietet Reich-tum aber auch die Chance, Gutes zu bewirken, nicht zuletzt, anderein Notlagen solidarisch daran teilhaben zu lassen. Während Armutjedoch grundsätzlich unerwünscht ist (sofern sie nicht freiwillig ge-wählt wird; vgl. dazu Ziffer 64 unten), ist Reichtum an sich gesell-schaftlich nicht unerwünscht, da er die Chance bietet, Gutes zu tun.Unerwünscht sind allerdings die oft nicht unbeträchtlichen Folgendes Reichtums, insbesondere die mit der Konzentration von Vermö-gen in der Regel einhergehende Konzentration von Macht. DieseMachtkonzentration steht insbesondere in der Gefahr, auch die posi-tiven Wirkungen des wirtschaftlichen Wettbewerbs zu schwächen odergar zu zerstören sowie Ressourcen zu binden, die sonst kurzfristigmehr Menschen zur Verfügung stünden. Eine klare, nur an einemGeldbetrag orientierte Reichtumsgrenze analog zur Armuts- undArmutsrisikogrenze ist daher kaum sinnvoll zu definieren. Weiter-führender, aber kaum einfacher festzusetzen, wäre eine Reichtumsde-finition, die sich auf die unerwünschten Folgen des Reichtums kon-zentrieren würde.

(17) Im Zusammenhang mit Armutsbekämpfung und gerechter Teil-habe dürfte die geringe Zahl der extrem Reichen weniger von Bedeu-tung sein als der Anteil der Wohlhabenden. Denn für die Lebensla-gen von Menschen mit niedrigem Einkommen und unzureichenderTeilhabe am gesellschaftlichen Leben ist die Lebenslage von Men-schen mit extrem hohem Einkommen kaum unmittelbar, sondernhöchstens mit Blick auf die dort gebundenen, anderweitig nicht zurVerfügung stehenden Ressourcen relevant. Unzureichende Teilhabebemisst sich an typischen Lebenslagen, nicht jedoch an ganz außer-ordentlich privilegierten Lebenslagen.

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(18) Im Gegensatz zur statistischen Messung von Armut gibt es Kon-ventionen für die Messung von Reichtum nicht. Recht willkürlich istes, das Doppelte des Durchschnittseinkommens als Grenze zum Reich-tum anzunehmen. Denn diese Grenze wurde mechanisch entwickeltanhand der Überlegung, dass die traditionelle statistische Armuts-grenze die Hälfte des Durchschnittseinkommens war, weshalb mananalog sagen könnte, dass das Doppelte des Durchschnitts die Reich-tumsgrenze markieren könnte. Wählt man diese Abgrenzung, erkenntman, dass in Deutschland – je nach Datengrundlage – etwa 4 bis 5Prozent der Gesamtbevölkerung als »einkommensreich« bezeichnetwerden können. Dieser Anteil ist seit Jahren recht stabil; eine Explo-sion der Zahl der Reichen ist nicht erkennbar. Wohl aber sind dieReichen reicher geworden, sodass sich die Gewichte, nicht in Perso-nen, sondern in Geld und damit in Gestaltungsmöglichkeiten ausge-drückt, verschoben haben.

(19) Solange es Menschen gibt, die in Armut leben, bleibt ein Über-fluss auf der anderen Seite eine permanente Anfrage an eine Gesell-schaft. Die zentrale, immer wieder neu zu thematisierende Fragelautet daher: Welche Spreizung zwischen Armut und Reichtum istin einer Gesellschaft noch angemessen, die sich am Maßstab dergerechten Teilhabe ausrichten möchte? Diese Frage kann mit dieserDenkschrift nicht beantwortet werden. Sie ist trotz ihrer Wichtig-keit auch nicht ihre Leitfrage. Es geht ihr zunächst um ein genaue-res Verständnis des Phänomens der Armut in Deutschland, eine ethi-sche Auseinandersetzung mit diesem Phänomen und die Beschrei-bung von Handlungsnotwendigkeiten. Angesichts der wichtigenTradition des kirchlichen Eintretens für die Armen ist es sinnvoll,den Diskussionsprozess um das Verhältnis von Armut und Reich-tum mit einer Denkschrift zum Thema Armut zu beginnen.

2.1 Sicherung des Existenzminimums –Zu Berechnung und Höhe der staatlichen Regelsätze

(20) Nach christlichem Verständnis folgt aus der Gottebenbildlich-keit und der daraus resultierenden Gleichwertigkeit aller mit einerunveräußerlichen Würde geschaffenen und aufeinander bezogenenMenschen eine Pflicht des Gemeinwesens, Solidarität auch mit ihrenärmsten Gliedern zu üben. Zu den Konsequenzen dieser Überzeu-

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gung zählt die Forderung an das Gemeinwesen, dafür Sorge zu tragen,dass jeder Mensch über die finanziellen Mittel verfügt, die er oder siezur Sicherung des Existenzminimums benötigt. Dieses biblische Ge-bot hat sich auch im Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes niederge-schlagen. Dabei wird vorausgesetzt, dass alle Menschen gehalten sind,gemäß ihren Möglichkeiten selbst für ihren Lebensunterhalt und denihrer Angehörigen zu sorgen. Der Staat ist verpflichtet, das Existenz-minimum nicht zu besteuern. Durch gesetzliche Sozialversicherungenwurde eine solidarische Pflichtvorsorge und -versorgung erreicht. Nurfür den Fall, dass Menschen – aus welchen Gründen auch immer –nicht in der Lage sind, ihr Existenzminimum selbst zu sichern, undkeine oder keine ausreichenden Sozialversicherungsansprüche vor-handen sind, ist der Staat in der Verpflichtung, das Existenzmini-mum sicherzustellen. Dafür gibt es verschiedene rechtliche Verfah-ren.

(21) Aufgabe der gesetzlich geregelten Sozialhilfe ist es, das soziokul-turelle Existenzminimum aller Menschen zu gewährleisten und denLeistungsberechtigten die Führung eines menschenwürdigen Lebenszu ermöglichen. Dazu gehört insbesondere, dass den Leistungsberech-tigten nicht nur das zum Lebensunterhalt Unerlässliche gewährt wird,sondern sie in die Lage versetzt werden, in einer Nachbarschaft vonNichthilfeempfängern anerkannt leben zu können. Dies bedeutet, dassHilfeempfänger nicht ausgegrenzt leben müssen und ihre Kinder auchdie gesellschaftlich erforderlichen Sozialkompetenzen erwerben undsoziokulturell integriert aufwachsen können.

(22) Um Fürsorgeleistungen beanspruchen zu können, muss Bedürf-tigkeit vorliegen, das heißt, der Hilfe Suchende darf weder durch Ein-kommen oder Unterhaltsansprüche noch mit seinem Vermögen inder Lage sein, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Arbeitsfähi-ge Hilfebedürftige erhalten seit 2005 nicht mehr Sozialhilfe, sondernArbeitslosengeld II (ALG II). Da Struktur und Höhe des ALG II weitgehend den (ebenfalls veränderten) Regelungen der Sozialhilfe ent-sprechen, kann im Folgenden darauf verzichtet werden, detailliertzwischen den verschiedenen Hilfsinstrumenten zu differenzieren.

(23) Für die regelmäßig anfallenden Ausgaben – neben den Kostenfür Unterkunft und Heizung, die bis zu einer Obergrenze in der tat-sächlichen Höhe übernommen werden – wird eine Pauschale, der so

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genannte Regelsatz, festgelegt. Grundlage sind die statistisch ermit-telten tatsächlichen Verbrauchsausgaben von Haushalten in unterenEinkommensgruppen. Mit Hilfe der Einkommens- und Verbrauchs-stichprobe (EVS) werden die Ausgaben der unteren 20 % der nachihrem Nettoeinkommen geschichteten Ein-Personen-Haushalte ohnedie Haushalte mit Sozialhilfebezug als Ausgangswert herangezogen.In einem zweiten Schritt werden nicht die vollen Ausgaben der Ver-gleichsgruppe, sondern nur ein Anteil oder auch gar nichts davon inden einzelnen Abteilungen in den Regelsatz aufgenommen.

(24) Diese Methode ist mit gewichtigen Argumenten nicht zuletztvon der Diakonie und anderen Wohlfahrtsverbänden kritisiert wor-den. So sind die Abschläge insbesondere dann nicht plausibel, wennsie Waren betreffen, die von den unteren Einkommensgruppen inder Regel überhaupt nicht gekauft werden. Beispielsweise beträgt derim Regelsatz zu berücksichtigende Anteil aus der Abteilung »Beklei-dung und Schuhe« 89 %. Der Abzug von 11 % wird dadurch be-gründet, dass bei den Ausgaben der Vergleichsgruppe auch Ausgabenfür »Maßkleidung und Pelze« eingingen, die nicht zu dem notwendi-gen Bedarf von Sozialhilfeberechtigten gehörten. Weiterhin sei die-sen auch in begrenztem Umfang Gebrauchtkleidung zumutbar. DieKritik bestärkt hat die Beobachtung, dass für das Jahr 2005 der mitdieser komplizierten Berechnung ermittelte Regelsatz genau dem Wertentspricht, der vor der Neufestlegung des Ermittlungsverfahrens fürdie Regelsätze als Fixwert im Gesetzentwurf für das SGB II enthaltenwar, sodass sich die Vermutung aufdrängt, ergebnisleitend für dasBerechnungsverfahren sei weniger die Ermittlung eines angemesse-nen Existenzminimums, sondern vielmehr die erwartete Belastungder öffentlichen Haushalte gewesen.

(25) Dieser Regelsatz (Eckregelsatz) gilt für Alleinstehende und Haus-haltsvorstände. Haushaltsangehörige unter 14 Jahren erhalten 60 %und Haushaltsangehörige über 14 Jahren 80 % des Eckregelsatzes.Für bestimmte Lebenslagen oder aktuell auftretende Bedarfe kannauch ein höherer Betrag gewährt werden. Einmalige Leistungen gibtes nur noch für die Erstausstattung der Wohnung, für die Erstaus-stattung mit Bekleidung einschließlich bei Schwangerschaft und Ge-burt sowie für mehrtägige Klassenfahrten. Pauschale Mehrbedarfszu-schläge in unterschiedlicher Höhe erhalten Personen, die älter als 65Jahre sind, behinderte Menschen und Schwangere nach der 12.

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Schwangerschaftswoche. Alleinerziehende erhalten einen Mehrbe-darfszuschlag je nach Alter und Zahl der zu betreuenden Kinder. Undschließlich erhalten noch Personen, die aus medizinischen Gründeneiner kostenaufwändigeren Ernährung bedürfen, einen Zuschlag inangemessener Höhe. Zusätzlich werden angemessene Kosten für eineKranken- und Pflegeversicherung übernommen.

(26) Der Regelsatz für die meisten Bezieher von Fürsorgeleistungen,insbesondere für alle Empfänger von ALG II, beträgt im Juli 2006monatlich 345 e für einen Alleinlebenden und 676 e für eine Al-leinerziehende mit einem vierjährigen Kind. Diese Beträge werdenergänzt durch die Übernahme der im Einzelfall entstehenden Miet-und Heizkosten (bis zu bestimmten Obergrenzen). Diese hängen nichtnur von den persönlichen Konstellationen, sondern auch stark vonden regionalen Gegebenheiten ab. Anhaltspunkte sind die Erfahrungs-und Durchschnittswerte von 248 e für einen Alleinlebenden in denNeuen Bundesländern und 414 e für die Alleinerziehende mit ei-nem Kind in den Alten Bundesländern. In der Summe ist mit einemregelmäßigen monatlichen Gesamtbedarf und damit einem faktischenNettoeinkommen von 593 e für einen Ein-Personen-Haushalt imOsten und 662 e im Westen sowie 1.090 e für eine Alleinerziehen-de mit Kind auszugehen.1

(27) Aus dem Gesagten wird erkennbar, dass in diese FestlegungenWertungen und Pauschalierungen einfließen, die wenig transparentabgeleitet sind. Über die Kritik an diesen Wertungen sowie an der

1. Beispiele für die regelmäßigen monatliche Bedarfsätze in Euro sind mit Stand 2005:

Regelsätze Miete + Heizung regelmäßiger(einzelfallabhängig) Gesamtbedarf

–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––West Ost West Ost West Ost

Alleinlebender 345 331 317 248 662 579–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––Paar 622 596 412 338 1.034 934–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––Alleinerziehende mitvierjährigem Kind 676 649 414 347 1.090 996–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––

Bei den Zahlen zu den Alleinerziehenden sind die spezifischen Mehrbedarfszuschläge bereitseingerechnet. Im Rechtskreis des SGB II (Arbeitslosengeld II und Sozialgeld) wurden dieRegelsätze inzwischen einheitlich auf das Westniveau festgelegt.

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Bildung und Berechnung hinaus ist zusätzlich Folgendes geltend zumachen:• Die Vergleichsgruppe der unter Einkommensgesichtspunkten un-

teren 20 % der nicht auf Fürsorgeleistungen angewiesenen Ein-Personen-Haushalte (de facto mehrheitlich alleinstehende Rent-nerinnen in den alten Bundesländern) spiegelt nicht den Bedarffür andere Haushaltsformen, insbesondere für Familien, wider.

• Der spezifische Bedarf von Kindern ist nicht nachvollziehbar ab-geleitet.

• Die Methode der Fortschreibung geht nicht auf aktuelle Ände-rungen im Verbrauchsverhalten und im Bedarf ein. Im extremenFall entsteht eine zeitliche Verzögerung der Bedarfsermittlung vonacht Jahren.

• Durch die Festlegung auf Pauschalen dieser Art und das Fehlenvon Ausnahmemöglichkeiten kann im Gegensatz zu früher nichtmehr auf individuelle, insbesondere auch nicht auf ganz singuläreBedarfssituationen eingegangen werden.

(28) Die Höhe des Regelsatzes der Sozialhilfe und damit auch desArbeitslosengeldes II ist im Jahr 2005 netto geringer als noch im Jahr2003, da der Regelsatz seitdem nicht gestiegen ist und nunmehr auchdie Zuzahlungen zu den Krankheitskosten aus dem Regelsatz bestrit-ten werden müssen. Außerdem müssen wegen der zurückgehendenFinanzmittel in den Ländern und Kommunen vor allem Eltern stär-kere finanzielle Verantwortung für Ausbildungs- und Betreuungskos-ten übernehmen (Lernmittelfreiheit, Schülerbeförderung, Ganztags-schul- und Hortgebühren). Diese Mehrausgaben standen aber bei derBerechnung des Sozialhilfesatzes überhaupt nicht zur Diskussion.

(29) Andererseits machen die genannten Transferzahlungen auch dasProblem deutlich, dass der Abstand zwischen dem Nettoeinkommeneiner Fürsorgeleistungen empfangenden Familie einerseits undandererseits einem in einer niedrigen Tarifstufe regulär Beschäftigtenoft gering ist. Die als Anreiz zur Aufnahme einer Arbeit sinnvollenZuverdienstmöglichkeiten des ALG II verringern diesen Abstandweiter. Fürsorgeleistungen werden pro bedürftiger Person, Erwerbs-einkommen aber nur pro Erwerbstätigem gezahlt. Dadurch kommtes insbesondere im Bereich der Familien zu nicht unproblematischenKonstellationen, in denen die Summe der Einzelzahlungen der rei-nen Fürsorgeleistungen unter Umständen höher liegt als das Netto-

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einkommen eines in Vollzeit Arbeitenden, von dem eine ganze Fami-lie ernährt wird. Aus diesem Grund ist es nachvollziehbar, dass dieFrage nach der Motivation für die Aufnahme oder Fortführung einerErwerbsarbeit in solchen Fällen öffentlich gestellt wird. Dies kannaber nicht eine Absenkung der Leistungen für Familien begründen,sondern muss zu einer Diskussion um die Ausgestaltung des Niedrig-lohnbereichs einschließlich einer differenzierten Diskussion der er-hobenen Forderung nach Mindestlöhnen (s. Absatz 98) führen.

(30) Ein weiteres Problem, das eine große Zahl von Menschen betrifft,ist, dass viele Empfänger von Fürsorgeleistungen in Wohnungen le-ben, deren Kosten oberhalb der Angemessenheitsgrenze für die zu über-nehmenden Unterkunftskosten liegen. Nach dem Gesetz sind diesehöheren Wohnkosten nur längstens für sechs Monate zu übernehmen.Hier stellen sich drei Fragen: zum einen, ob die Höhe der angemesse-nen Unterkunftskosten regional richtig bestimmt wurde; zum ande-ren, ob es auf dem Wohnungsmarkt zumutbare Wohnungen gibt, indie die Betroffenen umziehen können; und schließlich, ob bei der Be-trachtung des Einzelfalls ein Umzug überhaupt zumutbar und sinnvollwäre. Neben dem mit der Durchsetzung von Umzügen verbundenenbürokratischen Aufwand und den Kosten würde ein solcher Schritt dieGettobildung verstärken. Allerdings ist zu erwarten, dass bei dem Neu-abschluss von Mietverträgen mit Personen und Familien mit niedri-gem Einkommen die neuen Bedingungen Berücksichtigung finden unddadurch diese Problemlagen zurückgehen werden.

2.2 Extreme Armut

(31) Die gesetzlichen Regelungen zur Sicherung des Existenzmini-mums geben auch im deutschen Rechtsstaat noch keine abschließen-de Auskunft über die tatsächlichen Lebenslagen der Ärmsten. Wer esin Deutschland geschafft hat, einen Antrag auf Sozialhilfe oder Ar-beitslosengeld II zutreffend auszufüllen und die ihm zustehendenLeistungen pünktlich zu erhalten, befindet sich nicht in einer zuge-spitzten Armutssituation. Dort leben Menschen, die nicht in der Lagesind, ihre Rechte selbstständig und erfolgreich wahrzunehmen. Diepsychosoziale Hilfe, die diese Menschen wirklich erreicht, muss drin-gend erhalten und ausgebaut werden. Aber ihre nicht hinnehmbareLage muss auch allgemein bekannt werden.

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(32) Diese besondere Lebenslage, auf die die sozialen Dienste der Kir-che vermehrt aufmerksam machen, kann als »extreme Armut« bezeich-net werden. Dabei geht es um Menschen, die zumeist außerhalb desstaatlichen Hilfesystems stehen und bei denen durch besondere Le-bensumstände selbst minimale Grundbedürfnisse nicht gesichert sind.Diese Menschen sind zwar in Notunterkünften, Suppenküchen undähnlichen sozialen Einrichtungen anzutreffen, ihre Situation ist jedochkaum wissenschaftlich untersucht. Von daher wurde dieses Phänomenzwar in der Praxis beobachtet, hatte aber keinen besonderen Eingangin Armutsstatistiken oder Armutsberichte auf empirischer Basis.

(33) Extreme Armut in diesem Sinne ist oft charakterisiert durch viel-schichtige, gleichzeitige Problemlagen wie Langzeitarbeitslosigkeit,Einkommensarmut, Überschuldung, Wohnungslosigkeit, mangeln-de Bildung, Drogen- und Suchtmittelgebrauch und Straffälligkeitsowie Krankheit. In besonderer Weise besteht die Gefahr einer Ver-festigung von Armut im Lebenslauf. Charakteristisch für die Situati-on der von extremer Armut betroffenen Menschen ist, dass sie zurBewältigung ihrer Krisensituation durch die Hilfeangebote des Sozi-alstaates nur noch sehr eingeschränkt oder gar nicht mehr erreichtwerden. Sie sind oft nur noch über aufsuchende niedrigschwellige,leicht zugängliche Maßnahmen anzusprechen.

(34) Ein besonderes Problemfeld stellt das Phänomen der »verdecktenArmut« dar. Davon sind Personen betroffen, die nur über Einkom-men unterhalb der Bedürftigkeitsgrenzen verfügen, aus welchen Grün-den auch immer aber keinen Antrag auf Fürsorgeleistungen stellen.Deutlich schlechtere Fürsorgeansprüche haben schließlich Personen,deren Ansprüche sich nach dem Asylbewerberleistungsgesetz richten.

2.3 Zwischen Armut und Armutsrisiko –Zu Berechnung und Höhe der Armutsrisikogrenze

(35) Die Frage der angemessenen Teilhabemöglichkeiten am gesell-schaftlichen Leben wird mit der gesetzlich vorgesehenen Sicherungdes Existenzminimums durch die Zahlung von Sozialhilfe, ALG IIoder vergleichbaren Fürsorgeleistungen nicht beantwortet. Dennochsind Beobachtungen über die Entwicklung und Struktur der Emp-fängerzahlen wichtig, nicht zuletzt, um die Wirksamkeit von Hilfs-

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angeboten und -maßnahmen zu überprüfen. Um die Feststellung undBeurteilung vor allem dieser prekären Lebenslagen zu verbessern undeine Relation zu den höheren Einkommen herzustellen, ist nicht nurdie Zahl und die Struktur der Fürsorgeberechtigten, sondern auchdie Einkommensverteilung insgesamt wichtig. Die in diesem Zusam-menhang derzeit wichtigste monetäre Armutsdefinition ist die »Ar-mutsrisikoquote«, die auch im Nationalen Armuts- und Reichtums-bericht der Bundesregierung Anwendung findet. Im Rahmen derEuropäischen Union ist ein einheitliches Vergleichsverfahren beschlos-sen worden. Die Armutsrisikogrenze beträgt danach 60 % des Medi-ans des äquivalenzgewichteten Nettoeinkommens. Der Median istderjenige Wert, der die Bevölkerung in die mehr verdienende und dieweniger verdienende Hälfte teilt. Ob aus dieser Armutsrisikogrenzeauch tatsächlich Armut resultiert, hängt vom Ausmaß der Realtrans-fers (kostenfreie staatliche Leistungen, Gebührenbefreiungen) in deneinzelnen europäischen Ländern ab, aber auch von den Konventio-nen hinsichtlich des Lebensstils der Menschen und den Möglichkei-ten der Teilhabe am gemeinsamen Leben in der Gesellschaft.

(36) Grundlage und Gegenstand der Diskussion in Deutschland istdie Armutsrisikoquote, wie sie nach einer Methode der Organisationfür wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD), der so genanntenmodifizierten OECD-Äquivalenzskala, berechnet wird. Da dieseMethode inzwischen innerhalb der OECD-Länder weit gehend ak-zeptiert wird, ermöglicht sie eine gewisse Vergleichbarkeit der Werte.Für Deutschland ergibt sich eine Armutsrisikogrenze für einen Ein-Personen-Haushalt von 938 e, für ein Paar mit drei Kindern von2.251 e im Monat.

(37) Die von der OECD herangezogenen Äquivalenzskalen versuchendem Phänomen der Kostendegression in Haushalten gerecht zu wer-den, das darin besteht, dass beispielsweise zwei Personen nicht den dop-pelten Bedarf einer Person haben, da nicht die Wohnungsgröße undalle Gegenstände im Haushalt verdoppelt werden müssen. Mit zuneh-mender Haushaltsgröße ergeben sich Einspareffekte, die aber nicht pau-schal und objektiv ermittelbar sind. Verschiedene Äquivalenzskalenunterstellen ein unterschiedliches Ausmaß an Kostendegression. ZumBeispiel unterstellt die modifizierte OECD-Skala einen geringeren Be-darf von Kindern als die ursprüngliche Skala. Dabei ist allerdings zuberücksichtigen, dass bereits 14-Jährige als Erwachsene – mit einem

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höheren Bedarf – gezählt werden. Je nach Äquivalenz-Annahme erhältman zwangsläufig unterschiedliche Armutsgrenzen. So betrug die Ar-mutsrisikoquote für Ein-Personen-Haushalte in Deutschland 2003 nachder alten OECD-Skala 14,1 %, nach der modifizierten OECD-Skalaaber 22,8 %. Für Haushalte mit zwei Erwachsenen und drei Kindernbetrug die Armutsrisikoquote nach der alten OECD-Skala 19,8 %, nachder modifizierten Skala 13,9 %. Jeweils beiden Quoten liegen identi-sche Sachverhalte und Zahlen zu Grunde, die Unterschiede sind alleinauf die Gewichtungsunterschiede und die daraus resultierenden Diffe-renzen in den Berechnungsmethoden zurückzuführen.2

2. Im Einzelnen ergeben sich die folgenden unterschiedlichen Armutsrisikogrenzen:

Haushaltstyp durch- Sozial- Armuts- Armuts- Armuts- Armutsri-oder schnittl. hilfe- risiko- risikoquote risiko- sikoquoteAltersgruppe Sozialhilfe- empfän- grenze mod. 2003 mod. grenze, alte 2003, alte

anspruch gerquote OECD- OECD- OECD- OECD-2004 in 2004 Skala in Skala Skala in Skalae p.M. in % e p.M. in % e p.M. in %

––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––Ein-Personen-Haushalt 661 4,2 938 22,8 799 14,1––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––Paar-Haushalt ohne Kinder 1.033 0,8 1.408 9,1 1.358 8,1––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––Paar-Haushalt 1 Kind 1.333 2,3 1.689 14,1 1.757 15,1––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––Paar-Haushalt 2 Kinder 1.617 1.970 8,6 2.157 11,8––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––Paar-Haushalt 3 Kinder 1.917 2.251 13,9 2.557 19,8––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––Alleinerziehende 1 Kind 1.069 26,3 1.219 35,4 1.199 36,4––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––Alleinerziehende 2 Kinder 1.406 1.501 1.598––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––Kinder bis 15 Jahre -* 7,2 -* 15,0 -* 18,6––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––Personen 16-24 Jahre -* 3,1 -* 19,1 -* 19,0––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––Personen 25-49 Jahre -* -* 13,5 -* 13,5––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––Personen 50-64 Jahre -* -* 11,5 -* 9,8––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––Personen 65 Jahre u. älter -* 0,7 -* 11,4 -* 7,5––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––

Anmerkungen: Bei den Berechnungen für die Armutsrisikoquoten ist unterstellt, dass dieKinder jünger als 14 Jahre sind. Die Altersgrenzen für die Sozialhilfequoten sind: Kinderbis 18, Personen 18-65 und 65 und älter* Da Transferzahlungen immer auf der Basis von Haushalten berechnet werden und sich

die entsprechenden Grenzsätze auch auf diese beziehen (Alle Ein-Personen-Haushaltewerden unabhängig vom Alter des Haushaltsvorstandes gleich behandelt), ist die Be-rechnung absoluter Zahlen (in e) hier in Abhängigkeit zum Alter nicht sinnvoll.

Quelle: Berechnungen von R. Hauser, J.W. Goethe-Universität Frankfurt am Main

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(38) Da Teilhabe an der Gesellschaft nicht losgelöst von den jeweilszur Verfügung stehenden materiellen Ressourcen zu sehen ist und dadie genannten Grenzwerte in intensiven internationalen Diskussio-nen entwickelt worden sind, erscheint es sinnvoll, diese Grenzwerteauch für die deutsche Diskussion heranzuziehen und bei einer Unter-schreitung der entsprechenden Beträge von einem »Armutsrisiko« zusprechen. Es ist aber auch deutlich geworden, dass es sich dabei nichtum eindeutige, objektive Grenzen, Zahlen und Quoten handelt, son-dern dass die Situation der von diesem Armutsrisiko betroffenenMenschen differenziert zu betrachten ist, insbesondere auch deswe-gen, weil wegen der kostenlosen Bereitstellung von Bildungs- undGesundheitsdiensten die Lage von Menschen mit niedrigem Einkom-men in Deutschland anders zu beurteilen ist als etwa in den USA.

(39) In die Armutsrisikogruppe fallen etwa nahezu alle Studentinnenund Studenten in Deutschland, die für eine begrenzte Zeit mit weni-ger als 938 e im Monat auskommen müssen. Sie erleben dies abernicht nur in einem ganz auf diese Situation eingestellten sozialenUmfeld, sondern können auch mit einiger Wahrscheinlichkeit davonausgehen, dafür später durch ein im Durchschnitt höheres Arbeits-einkommen entschädigt zu werden. Eine steigende Zahl der Studie-renden führt daher quasi automatisch zu einer steigenden Armutsri-sikoquote, ohne dass sich daraus ein spezifischer armutspolitischerHandlungsbedarf ableiten ließe. Dieses Beispiel zeigt auch die Be-grenztheit der Aussagen, die mit einem statistischen Maß wie derArmutsrisikoquote scheinbar begründet werden können. Nicht zuletztfür die konkrete Arbeit von Kirche und ihrer Diakonie sind die spezi-fischen Verhältnisse vor Ort von größerer Relevanz.

(40) Ebenfalls gesondert zu betrachten sind diejenigen Menschen, beidenen realistischerweise davon ausgegangen werden muss, dass siemindestens für eine begrenzte Zeit vollständig von staatlichen Trans-ferleistungen leben müssen. Dazu zählen etwa diejenigen Alleinerzie-henden, die keine Unterhaltszahlungen erhalten und deren Kindernoch so klein sind, dass eine Erwerbstätigkeit nicht möglich oder nichtgewollt ist. In diesen Fällen steht in der Regel keine andere Einnah-mequelle außer den staatlichen Leistungen zur Verfügung. Es liegtdamit allein in der Hand des Staates, die Höhe dieser Leistungen unddamit die Höhe des Einkommens dieser Gruppe festzulegen. Solangediese Transfers für einen Erwachsenen und ein Kind unter 1.219 Euro

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im Monat liegen, zählen diese Menschen zur Armutsrisikogruppe.Dabei handelt es sich nicht um einen sozialpolitischen Skandal, son-dern um die zwingende Konsequenz einer staatlichen Entscheidung,die nur dann zu vermeiden wäre, wenn die entsprechenden Transfer-zahlungen auf einen Wert über der Armutsrisikogrenze gesteigert wür-den. In der Diskussion über eine solche Forderung ist allerdings auchdie steigende Zahl der minderjährigen Mütter zu berücksichtigen.Sorgfältig muss bedacht werden, ob angesichts schlechter Bildungs-und Berufsperspektiven die Gefahr besteht, dass höhere finanzielleTransfers über der Armutsrisikogrenze (also über 1.219 Euro proMonat) dazu beitragen könnten, dass es für junge Frauen aus ärmerenFamilien und mit schlechten Berufsperspektiven attraktiv erscheint,zur Hebung oder Sicherung des eigenen Lebensstandards ein Kind zubekommen, anstatt den langfristig nachhaltigen Weg einer möglichstguten Ausbildung zu gehen.

(41) Für eine große Zahl von Menschen, die in Deutschland unter-halb der Armutsrisikogrenze leben, stellen die im gesellschaftlichenVergleich geringen materiellen Ressourcen, die ihnen zur Verfügungstehen, eine spürbare Beeinträchtigung ihrer Teilhabemöglichkeitendar. Es ist daher eine zentrale Aufgabe der Gesellschaft, diese Grup-pen und Menschen zu identifizieren, ihre Problemlage zu analysie-ren, den spezifischen Hilfebedarf zu ermitteln und ihnen möglichstindividuell und effektiv dabei zu helfen, ihre Teilhabemöglichkeitenzu steigern. Die für 2005 beschlossene Zusammenlegung der Hilfs-angebote aus der früher getrennten Arbeitsförderung und Sozialbera-tung und vor allem die intensivierte, ganzheitliche Beratung ist inso-fern ein grundsätzlich richtiger Weg. Er muss aber konsequent undfür die Betroffenen spürbar umgesetzt werden. Wenn ein Berater sichtatsächlich auf die Beratung von 75 Jugendlichen konzentrieren kann,wird dieser Berater ein Bild davon haben, wie viele dieser Jungendli-chen wirklich eine berufliche Weiterbildung brauchen, wie viele eineFamilien-, eine Schuldner- oder eine Suchtberatung benötigen, wieviele Grundfertigkeiten erlernen müssen, um sich erfolgreich bewer-ben zu können, aber auch, wer bisher der Arbeitssuche ausgewichenist. Dieser im Gesetz an zentraler Stelle verankerte ganzheitliche Blickauf die einzelnen Menschen sollte so schnell wie möglich und so nach-drücklich wie möglich verwirklicht werden.

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2.4 Struktur und Problemlagen derverschiedenen Gruppen von Hilfebeziehern3

(42) Am Ende des Jahres 2005 lebten in Deutschland mehr als siebenMillionen Menschen – davon etwa zwei Millionen Kinder und Ju-gendliche unter 18 Jahren – von Leistungen auf dem Sozialhilfeni-veau. Für etwa 250.000 Asylbewerber gilt ein niedrigeres Leistungs-niveau. Der große Zuwachs der Empfängerzahlen im Vergleich zumBeginn des Jahres dürfte einerseits auf der Streichung der Arbeitslo-senhilfe, andererseits aber auch auf einem höheren Erfassungsgradder Hilfeberechtigten durch das neue System (Sinken der »Dunkel-ziffer«) beruhen. Schon diese beiden Beobachtungen mahnen zu ei-ner differenzierten Bewertung:• Größte Gruppe unter den Fürsorgebeziehern sind Kinder. Dabei

liegt die Fürsorgequote der Kinder umso höher, je jünger die Kindersind. Bei diesen Zahlen ist aber auch zu berücksichtigen, dass die(häufig alleinerziehenden) Eltern dieser Kinder – angesichts oft aus-bleibender Unterhaltszahlungen und durch fehlende Betreuungsmög-lichkeiten bedingte Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt – nichtüber ein eigenes Einkommen verfügen und daher auf staatliche Trans-ferleistungen angewiesen sind. Der einzige Weg, die Armutsquotezu senken, wäre an dieser Stelle – neben einer unentgeltlichen Be-reitstellung angemessener Bildungs- und Betreuungsmöglichkeitenfür jüngere Kinder und neben einer verbesserten Durchsetzbarkeitvon Unterhaltsansprüchen – daher eine Erhöhung der Transferleis-tungen. Die dabei zu bedenkenden Gegenargumente sind bereitsgenannt worden. Über dem Durchschnitt liegt auch die Quote derjungen Erwachsenen zwischen 18 und 24 Jahren. Da diese Perso-nengruppe grundsätzlich im arbeitsfähigen Alter ist, scheinen dieangespannte Arbeitsmarktsituation und Beschäftigungshemmnisseinsbesondere aufgrund unzureichender beruflicher Qualifikation indie Sozialhilfe zu führen.

• Die Sozialhilfequote älterer Menschen liegt hingegen unter demGesamtdurchschnitt und nimmt mit zunehmendem Alter ab.

3. Soweit nicht anders angegeben, sind alle Daten dieses Kapitels dem 2005 erschienenenZweiten Nationalen Armuts- und Reichtumsbericht entnommen, vgl. auch die dortangegebenen Quellen (Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts- und Reichtums-bericht der Bundesregierung. Bericht, S. 57-70).

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• Frauen beziehen relativ häufiger Hilfe zum Lebensunterhalt alsMänner. Dies trifft insbesondere auf Frauen im Alter von 20 bis40 Jahren zu; in dieser Altersgruppe macht sich die hohe Sozialhil-fequote der Alleinerziehenden bemerkbar.

• Alleinerziehende Frauen sind mit Abstand am stärksten auf Sozi-alhilfe angewiesen. In den alten Bundesländern ist der Anteil vonSozialhilfe lebender Alleinerziehender trotz besserer Arbeitsmarkt-lage wesentlich höher als in den neuen Bundesländern, was vorallem auf den Mangel an Betreuungsplätzen für Kleinkinder imWesten zurückzuführen ist.

• Ehepaare mit Kindern weisen einen unterdurchschnittlichen Leis-tungsbezug auf. Noch deutlich geringer ist die Bezugsquote vonEhepaaren ohne Kinder, die weit unter dem Gesamtdurchschnittder Haushalte liegt.

• Ausländer haben eine fast drei Mal so hohe Sozialhilfequote wieDeutsche. Dieses besonders auffällige Armutsrisiko unter Migran-tinnen und Migranten lässt sich durch eine erfolgreiche Integrati-on spürbar senken. Schon aus Gründen der Armutsvermeidungmuss Integrationsanstrengungen daher dringend hohe Priorität ein-geräumt werden.

• Das Berufsausbildungsniveau der Hilfeempfänger liegt unter demdurchschnittlichen Bildungsniveau der Bevölkerung: Über die Hälfteder Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt (55 %) hat keine abge-schlossene Berufsausbildung. Weibliche Hilfebezieher weisen nochniedrigere Bildungsabschlüsse auf als männliche. Defizite in der schu-lischen und beruflichen Ausbildung erschweren insbesondere jun-gen Erwachsenen zwischen 18 und 24 Jahren den Einstieg ins Er-werbsleben. Vor allem Alleinlebende in dieser Altersgruppe sind inder Fürsorge überrepräsentiert.

(43) Im Fall von Lebens-, Ehe- und Partnerschaftsproblemen tragenvor allem Frauen die Konsequenzen der privaten Risiken des bisheri-gen familialen Lebens und nehmen sie in ihre neue Lebensphase mit.Nach einer Trennung oder Scheidung erreichen Unterhalts- und Ver-sorgungsansprüche für den bisher nicht erwerbstätigen Ehepartneroft kein existenzsicherndes Niveau. Besonders prekär ist die Situationnach Trennungen von nicht-ehelichen Partnerschaften, wenn keinAnspruch auf Geschiedenenunterhalt geltend gemacht werden kannund nur Ansprüche wegen der Erziehung eines gemeinsamen Kindesin Frage kommen. Dies gilt zugespitzt für Alleinerziehende, sodass

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häufig mit dem Alleinerziehendenstatus eine deutliche Verschlechte-rung der wirtschaftlichen Situation der Haushalte eintritt. Vor die-sem Hintergrund gewinnt die evangelische Überzeugung von der aufDauer angelegten Gemeinschaft in einer Ehe als die für das Zusam-menleben von Frau und Mann »geeignetste Form« (»Was Familienbrauchen«. Eine familienpolitische Stellungnahme des Rates der EKD,EKD-Texte 73, 2002, Abs. 8) eine zusätzliche sozialpolitische Rele-vanz. Fürsorgeleistungen können helfen, kritische Lebensübergängezu bewältigen. Die Bezugsdauer von Alleinerziehenden ist umso län-ger, je mehr Kinder sie haben und je geringer ihre Schulbildung ist.Die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit – und damit ein Ausstieg ausder Fürsorge – gelingt insbesondere, wenn das jüngste Kind über vierJahre alt ist und wenn zumindest eine Teilzeiterwerbstätigkeit aufge-nommen werden kann. Auch hier könnte eine durchgreifende Ver-besserung der Betreuungssituation von jüngeren Kindern – nebeneiner verbesserten Durchsetzbarkeit von Unterhaltsansprüchen – zueiner Entlastung beitragen.

(44) Nur ein Teil der Bezieherhaushalte bleibt über einen längerenZeitraum auf Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen. Eine Analyseder Ausstiegsverläufe ergibt, dass nach einem Zeitraum von 2,5 Jah-ren nur noch 43,7 % der Sozialhilfehaushalte dauerhaft Hilfe bezo-gen. Weiteren 6,8 % ist ein Ausstieg vorübergehend gelungen, undetwa die Hälfte dieser Haushalte (49,5 %) steigt vollständig aus derSozialhilfe aus. Zum Ausstieg verholfen haben vor allem die Neuauf-nahme einer Erwerbstätigkeit bzw. die Überwindung von Arbeitslo-sigkeit, in geringerem Maße auch Veränderungen der Haushaltsstruk-tur (z. B. Zuzug eines neuen Partners oder Auszug eines erwachsenenKindes).

2.5 Zum Arbeitsmarkt in Deutschland unter denBedingungen der Globalisierung

(45) Steigende Arbeitslosigkeit, insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit,führt unvermeidlich zu einer deutlich höheren Armutsrisikoquote beisteigender Ungleichheit der Einkommen. Es wäre nicht nur unbe-zahlbar, Arbeitslosen auf Dauer ein Transfereinkommen in Höhe ih-res früheren Erwerbseinkommens als Lohnersatz zu zahlen. Auch derAnreiz zur Arbeitsaufnahme würde durch zu hohes Arbeitslosengeld

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geschwächt werden. Der Anstieg der Armut in den letzten Jahrzehn-ten ist daher nicht überraschend. Entscheidend ist, ob die Arbeitslo-sigkeit in den nächsten Jahren deutlich sinken wird. Bei der Beant-wortung dieser Frage sollte – trotz mehr als 15 Jahren, die seit derVereinigung vergangen sind – zwischen der Situation in Ost- und derin Westdeutschland unterschieden werden.

(46) Mit der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands sindin Ostdeutschland die Löhne so schnell gestiegen, dass – unabhängigvon der Frage nach der Verantwortung für diese Entwicklung undauch unabhängig von der Frage nach politisch denkbaren Alternati-ven – die ohnehin eingeschränkte Wettbewerbsfähigkeit der alten ost-deutschen Industrie überwiegend verloren ging. Selbst nach Osteu-ropa konnte nicht mehr exportiert werden, und die neu entstehendenDienstleistungstätigkeiten wurden wesentlich aus Transferzahlungenaus Westdeutschland finanziert. Ein selbsttragender Aufschwung fandnur punktuell statt, wodurch sich rasch Langzeitarbeitslosigkeit miteiner dramatischen Entwertung der alten Arbeitserfahrung heraus-bildete (entweder in Form offener Arbeitslosigkeit oder versteckt inArbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) und ähnlichem). Da Lang-zeitarbeitslose – weltweit – sehr schlechte Arbeitsmarktchancen ha-ben, geht die – langsame – wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutsch-land an ihnen vorbei. Diesen Menschen muss mit speziellen Instru-menten geholfen werden.

(47) Bei einer insgesamt etwa gleich hohen Beschäftigungsquote istdie Arbeitslosenquote in den neuen Bundesländern immer noch etwadoppelt so hoch wie in den alten. Betroffen sind auch gut qualifizier-te, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die auch in anderenRegionen (alte Bundesländer) keine Arbeit bekommen. Wegen man-gelnder Ausbildungs- und Arbeitsplätze wandern viele Jugendliche,darunter überproportional viele junge Frauen, ab.

(48) Zu den großen Veränderungen der ökonomischen Rahmenbe-dingungen zählt die europäische Integration, insbesondere die Ost-erweiterung der Europäischen Union. Gerade wir Deutschen sind zuRecht von Herzen dankbar für die Aussöhnung, die uns seit demEnde des Zweiten Weltkrieges und seit dem Ende des Kalten Kriegesgewährt worden ist. Wir, die wir in ganz besonderer Weise unter derTeilung Europas zu leiden hatten, sind dankbar für das Zusammen-

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wachsen unseres Kontinentes und die Mitgliedschaft der mittel- undosteuropäischen Staaten in der Europäischen Union und anderen in-ternationalen Zusammenschlüssen. Die evangelische Kirche hat die-sen Prozess sowohl in bilateralen Kontakten als auch auf europäischerEbene stets intensiv eingefordert und unterstützt. Insbesondere mitder Erweiterung der EU nach Mittel- und Osteuropa haben sich aberin Deutschland viele Sorgen um eine verschärfte Konkurrenzsituati-on auf dem Arbeitsmarkt entwickelt. Diese Sorgen können durchBeobachtungen der faktischen Entwicklungen aber kaum bestätigtwerden – weder in Staaten wie Deutschland, die mit verschiedenenAusnahmeregelungen eine eher restriktive Politik verfolgen, noch inStaaten wie Irland, die eine sehr einladende Politik betreiben.Allerdings müssen diese Sorgen ernst genommen werden, damit nichtaus Angst vor Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt der Ruf nach Ab-schottung lauter wird.

(49) In Westdeutschland gelingt es seit den 70er-Jahren nicht, dieArbeitslosigkeit deutlich zu senken, sie ist vielmehr in zyklischenWellenbewegungen immer weiter angestiegen. Dies bedeutet abernicht, dass wir uns mit einer nicht mehr reduzierbaren Massenar-beitslosigkeit abfinden müssen. Das zeigen nicht nur Beispiele ausdem Ausland, sondern auch jüngere westdeutsche Erfahrungen bele-gen, dass es unter bestimmten Bedingungen durchaus gelingen kannund auch gelang, neue Arbeitsplätze zu schaffen.

(50) Es ist heute nahezu in Vergessenheit geraten, dass Ende der 80er-Jahre in Westdeutschland ein enormer wirtschaftlicher Aufschwungstattfand, der zu zahlreichen neuen Arbeitsplätzen geführt hat. Damalswurden Millionen von Zuwanderern, insbesondere Aussiedler, erfolg-reich in den Arbeitsmarkt integriert. Der Aufschwung brach mit derdeutschen Vereinigung ab, weil ein beachtlicher Teil der angesichtsder Vereinigung aufzubringenden Kosten über die Sozialversicherun-gen und damit über die Lohnzusatzkosten falsch finanziert wurde.Hinzu kam eine europäische Integrations- und Währungspolitik, diedie notwendige Haushaltskonsolidierung über die Schaffung vonWachstumsanreize stellte. Die Beschreibung dieser historischen Ent-wicklungen ist nicht mit einer unmittelbaren umfassenden und ab-schließenden Bewertung zu verwechseln. Insbesondere mit Blick aufwirtschaftliches Wachstum ist gerade aus den Kirchen schon damalsbegonnen worden zu fragen, ob es nicht Grenzen und Krisen des

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Wachstums gebe und geben müsse, sodass eine Hoffnung auf eineFortsetzung des damaligen Aufschwungs und eine Lösung des Ar-mutsproblems auf diesem Wege ohnehin trügerisch gewesen wäre.Ganz unterschiedliche wirtschaftliche wie gesellschaftliche Modelle,wie die in den USA und Großbritannien einerseits und die in denNiederlanden und Skandinavien andererseits, zeigen aber nach demheutigen Erkenntnisstand, dass auch in einer globalisierten Weltwirt-schaft niedrigere Arbeitslosigkeit als in Deutschland möglich ist. Vondiesen Modellen gilt es zu lernen.

(51) Es sind ganz überwiegend schulisch-beruflich Gering- und Nicht-Qualifizierte, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Die Früchte derGlobalisierung, die Deutschland als »Exportweltmeister« seit Jahrenerntet, sind innerhalb Deutschlands ungleich verteilt. Dies wird sicham effektivsten ändern, wenn es gelingt, die Ungleichheit im Bil-dungs- und Ausbildungsniveau deutlich zu vermindern. Eine erfolg-reiche Bildungs- und Ausbildungspolitik ändert zwar nichts mehr anden Problemen und dem Leid Nicht- und Un-Qualifizierter mittle-ren und höheren Alters, für die daher spezielle Instrumente bereitge-halten werden müssen, aber eine bessere Aus- und Weiterbildung kanngrundsätzlichen Zukunftspessimismus verhindern.

(52) Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland ist dieForderung verständlich, Arbeitsplätze in Deutschland zu schützen undnicht durch Verlagerung ins Ausland und Billigkonkurrenz zu ge-fährden. Ob Direktinvestitionen im Ausland, sei es innerhalb, sei esaußerhalb der EU, und die Auslagerung von Produktionsstätten fürdie Wirtschaft, für die Sozial- und Umweltstandards und für die inDeutschland arbeitenden Menschen wirklich nachteilig sind, istkeineswegs ausgemacht, sondern bedarf der Klärung.

(53) Besteht also ein Zielkonflikt zwischen der globalen Armutsbe-kämpfung und der europäischen Integration einerseits und dem Er-halt von Arbeitsplätzen in Deutschland andererseits? Gefährdet derAufschwung der Entwicklungsländer, insbesondere der Erfolg vonSchwellenländern wie China oder Brasilien, Arbeitsplätze in Deutsch-land oder schafft er neue Absatzmärkte und Arbeitsplatzmöglichkei-ten? Anders gesagt und entwicklungspolitisch pointiert: Ist weltweiteArmutsbekämpfung ein Positivfaktor, ein Negativfaktor, oder einNullsummenspiel für Arbeitsplätze in Deutschland?

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(54) Auf komplexe Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Letztlichdarf es kein Gegeneinander-Ausspielen von Armutsbekämpfung welt-weit und in Deutschland geben. Ein so stark vom Export abhängigesLand wie Deutschland profitiert von der europäischen Integrationund vom wachsenden weltweiten Wohlstand insgesamt und kann sichverschärfter globaler Konkurrenz nicht entziehen. Die Sorgen derMenschen sind aber ebenso ernst zu nehmen wie die ökonomischenZusammenhänge und die umwelt-, sozial- und wirtschaftspolitischenHerausforderungen.

(55) Bei der Bewertung des internationalen Engagements von Fir-men ist zu berücksichtigen, dass kosten- und rohstofforientierte In-vestitionen nur von geringer Bedeutung sind. Einen Großteil derDirektinvestitionen tätigen Unternehmen im Ausland vielmehr ausGründen der Marktsicherung und -erweiterung. Neben einer Viel-zahl von Formen (Erwerb von Unternehmen, Zweigniederlassungen,Beteiligungen, Ausstattung von Unternehmen, Darlehen) sind regio-nale und sektorale Differenzierungen ebenso zu unterscheiden wiedie Größe der Unternehmen und die Verteilung der Investitionen inden Ländern und Ländergruppen.

(56) Die Sorgen, die sich mit der Thematik verbinden, sind alt. Überdie Grundsatzfrage des Nutzens eines internationalen Engagementsvon Unternehmen für den deutschen Arbeitsmarkt herrscht aber heuteweit gehende Übereinstimmung. Empirische Studien belegen undGewerkschaften wie auch Unternehmensverbände berichten, dass dieSchaffung von Arbeitsplätzen im Ausland in der Regel zur Sicherungoder Schaffung von Arbeitsplätzen in Deutschland beiträgt.

(57) Allerdings gibt es für Arbeitsplätze, für die nur geringe Qualifi-kationen benötigt werden, und für Sektoren, die einem Strukturwandelunterlagen oder unterliegen (z. B. Textil), für hoch subventionierteBereiche wie die Landwirtschaft und für bestimmte Regionen erheb-liche Schwierigkeiten. Arbeitsplätze in diesen Bereichen können imRahmen des Globalisierungsprozesses zunehmend verlagert werdenoder sind schon verlagert worden.

(58) Gegen die mit der internationalen Vernetzung der Wirtschaftverbundenen Bedrohungsgefühle kann in Deutschland mit gutemGrund mehr Mut gemacht werden. Populistischen Dramatisierun-

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gen muss entgegengewirkt werden. Dem Eindruck, europäische In-tegration, Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit gefährde-ten langfristig und im großen Umfang Arbeitsplätze in Deutschland,kann und sollte vernehmbar und unmissverständlich entgegengewirktwerden. Zu den von den UN beschlossenen Millenniumsentwicklungs-zielen haben sich rund 150 Länder – darunter Deutschland und dieanderen großen Geber von Entwicklungshilfe – bekannt. Mit ihnenwerden klare Zielvorgaben für die Verringerung von Armut, Hunger,Krankheitslasten, Analphabetismus, Umweltverbrauch und Geschlech-terdiskriminierung festgelegt. Aus ihnen ergeben sich für Industrie-und Entwicklungsländer konkrete Aufgaben und Verpflichtungen (vgl.»Schritte zu einer nachhaltigen Entwicklung. Die Millenniumsent-wicklungsziele der Vereinten Nationen«, Eine Stellungnahme derKammer für nachhaltige Entwicklung der EKD zur Sondervollver-sammlung der Vereinten Nationen im September 2005, EKD-Texte81, 2005). Ihre – nach gegenwärtigem Stand bedauerlicherweise nichtsonderlich hohen – Erfolgsaussichten hängen nicht zuletzt davon ab,ob die Menschen in den reichen Demokratien das Ziel der globalenArmutsbekämpfung aktiv unterstützen. Das geht schwerlich, wennsie damit die Bedrohung eigener Arbeitsplätze verbinden. In diesemZusammenhang ist es notwendig, das globale und ökumenische Ler-nen in den schulischen Bildungs- und Rahmenplänen stärker zu ver-ankern.

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3. Theologisch-sozialethische Orientierung

(59) Im Hintergrund der gesellschaftlichen Diskussionen um eine Re-form des Arbeitsmarktes sowie der sozialen Sicherungssysteme steht –explizit oder implizit – die normative Frage nach sozialer Gerechtig-keit. Dieser Begriff erfährt zu Recht große Wertschätzung, ist allerdingsalles andere als klar bestimmt. Je nachdem, welche Konkretion ihmgegeben wird, entscheidet sich, welche gesellschaftliche Option ver-folgt wird. Wer die Ergebnisse des Marktes als »Tauschgerechtigkeit«in Verbindung mit der Befähigungsgerechtigkeit ins Zentrum stellt,vertritt häufig ein Gesellschaftskonzept, das vorrangig an der Leistungdes Einzelnen und der Verteilung der gesellschaftlichen und wirtschaft-lichen Möglichkeiten je nach Leistung orientiert ist. Wer auf der ande-ren Seite vor allem von Bedarfs- und Verteilungsgerechtigkeit spricht,stellt die Frage, wie gesellschaftlicher Reichtum entstehen kann, ganzzurück und nimmt vor allem den gewünschten Endzustand der Vertei-lung in den Blick.

(60) Wer heute verantwortlich von sozialer Gerechtigkeit sprechenwill, muss beide Aspekte aufeinander beziehen. In der Sozialethik hatsich als Grundlage dafür das Konzept der Teilhabe- oder Beteiligungs-gerechtigkeit entwickelt. Es zielt wesentlich auf eine möglichst um-fassende Integration aller Gesellschaftsglieder. Niemand darf von dengrundlegenden Möglichkeiten zum Leben, weder materiell noch imBlick auf die Chancen einer eigenständigen Lebensführung, ausge-schlossen werden. Dies gilt insbesondere angesichts des gegenwärti-gen Skandals des massenhaften Ausschlusses von Menschen von derTeilhabe am Arbeitsmarkt, was oft auch zu einem Ausschluss vomsozialen und politischen Geschehen führt. Gegenüber diesen Aus-grenzungstendenzen, die häufig eine Negativspirale in Gang setzen,meint Teilhabegerechtigkeit die Eröffnung eines elementaren An-spruchs auf Teilhabe an den Lebensmöglichkeiten der Gesellschaft.

(61) Armut ist also fehlende Teilhabe. Sie kann nicht auf ihre materi-elle Dimension reduziert werden, bekommt aber in dieser materiellenDimension eine besondere Schärfe. An dem Gedanken der Beteili-gungsgerechtigkeit lässt sich zeigen, dass Befähigungs- und Verteilungs-gerechtigkeit nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, sonderneinander bedingen. Der in dem Gedanken der Verteilungsgerechtig-

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keit steckende Impuls zum sozialen Ausgleich ist eine wesentlicheVoraussetzung für eine Gestaltung der gesellschaftlichen Startbedin-gungen, die auch die Schwächeren zur Nutzung ihrer Chancen befä-higt. Wird Gerechtigkeit auf – eine eng verstandene – Verteilungsge-rechtigkeit reduziert, entsteht die Gefahr des Wohlfahrtspaternalismus,der durch bloße Finanztransfers lediglich die Abhängigkeiten ver-stärkt, aber nicht zu eigenverantwortlichem Handeln ermächtigt.Wird Gerechtigkeit auf – eine eng verstandene – Befähigungsgerech-tigkeit reduziert, bleibt die Frage ungelöst, wie formal vorhandenegesellschaftliche Startchancen genutzt werden sollen, wenn die Aus-gangspositionen durch starke materiell geprägte soziale Gegensätzehöchst unterschiedlich sind und die für die Verwirklichung einzel-ner Schritte notwendigen Ressourcen nicht zur Verfügung stehen.

(62) Beteiligungsgerechtigkeit, wie sie die christliche Sozialethik insAuge fasst, verbindet Verteilungs- und Befähigungsgerechtigkeitmiteinander. Diese Einsicht hat wichtige Konsequenzen für das Ver-ständnis von Subsidiarität. »Subsidiarität und Solidarität, Subsidiari-tät und Sozialstaat gehören (…) zusammen. Subsidiarität heißt: zurEigenverantwortung befähigen, Subsidiarität heißt nicht: den Ein-zelnen mit seiner sozialen Sicherung allein lassen.« (Für eine Zukunftin Solidarität und Gerechtigkeit, Absatz 27).

(63) Teilhabe-, Befähigungs- und Verteilungsgerechtigkeit markierendas Fundament eines theologisch-sozialethisch begründeten Verständ-nisses von Gerechtigkeit. Auf diesem Fundament fordert evangeli-sche Ethik für alle Menschen den Zugang zu den Grundgütern derGesellschaft, eine grundlegende soziale Sicherung und eine Qualifi-kation aller für die Sphäre des gesellschaftlichen Austauschs. DieseSphäre des gesellschaftlichen Austauschs ist in gerechtigkeitstheoreti-scher Perspektive wesentlich von der Tauschgerechtigkeit bestimmt.In dieser Sphäre werden auch bei strikter Gleichbehandlung aufgrundeines unterschiedlichen Leistungsvermögens sowie zufälliger Umständegesellschaftliche Ungleichheiten hervorgerufen. Diese Ungleichhei-ten sind dann zu tolerieren, wenn auch diejenigen, die am schlechtes-ten gestellt sind, davon Vorteile haben, indem ihre Teilhabe an denwirtschaftlichen und sozialen Prozessen wächst.

(64) Unfreiwilliger Ausschluss von der Teilhabe an den Grundgüternder Gesellschaft ist zu überwinden. Theologisch-sozialethisch ist

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allerdings die individuelle Nutzung von möglichst vielen gesellschaft-lichen Gütern kein erstrebenswertes Ziel in sich selbst. Verzicht, einfreiwilliger Selbst-Ausschluss also und in diesem Sinne freiwillige Ar-mut zählen daher nicht erst seit der Einsicht in die Begrenztheit derRessourcen dieser Erde und des übermäßig verschwenderischen Le-bensstils insbesondere in Westeuropa und den USA durchaus zu christ-lichen Tugenden. Die christliche Tradition der Übernahme freiwilli-ger Armut, sei es als spirituelles Zeichen der Askese im Mönchtum,sei es als auf die Gesellschaft gerichtetes Zeichen, sei es im besonde-ren Dienst in Kirche und Diakonie, verdient uneingeschränkte Wert-schätzung. Oft genug hat gerade der Dienst dieser Menschen Erheb-liches zur Armutsverringerung beigetragen. Er versteht sich aber alsfreiwilliger Dienst und kann deswegen nicht zum Teil eines staatlichoder gesellschaftlich einzufordernden Gerechtigkeitsprinzips gemachtwerden.

(65) In dem dargelegten Verständnis von Gerechtigkeit konkretisiertsich der Kerngedanke der vorrangigen Option für die Armen, Schwa-chen und Benachteiligten, die in der ökumenischen Sozialethik in denletzten Jahrzehnten eine zentrale Bedeutung gewonnen hat. Das Ge-meinsame Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage inDeutschland hat diese Option so beschrieben: »In der vorrangigenOption für die Armen als Leitmotiv gesellschaftlichen Handelns kon-kretisiert sich die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe. In der Pers-pektive einer christlichen Ethik muss darum alles Handeln und Ent-scheiden in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft an der Frage gemessenwerden, inwiefern es die Armen betrifft, ihnen nützt und sie zu eigen-verantwortlichem Handeln befähigt. Dabei zielt die biblische Optionfür die Armen darauf, Ausgrenzungen zu überwinden und alle am gesell-schaftlichen Leben zu beteiligen. Sie hält an, die Perspektive der Men-schen einzunehmen, die im Schatten des Wohlstands leben und wedersich selbst als gesellschaftliche Gruppe bemerkbar machen können nocheine Lobby haben. Sie lenkt den Blick auf die Empfindungen der Men-schen, auf Kränkungen und Demütigungen von Benachteiligten, aufdas Unzumutbare, das Menschenunwürdige, auf strukturelle Ungerech-tigkeit. Sie verpflichtet die Wohlhabenden zum Teilen und zu wirkungs-vollen Allianzen der Solidarität« (Abs. 107).

(66) Die Option für die Armen stützt sich auf zentrale biblische Über-lieferungen, die diese an zentraler Stelle mit dem Eintreten für »Recht

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und Gerechtigkeit« verbinden. Dabei wird die besondere Nähe Got-tes zu den Armen immer wieder begründet mit der Urerfahrung Isra-els, der Herausführung aus Ägypten. Nicht nur der Dekalog wirdexplizit mit dem Hinweis auf diese Erfahrung eingeleitet (2 Mose20,2). Zahlreiche soziale Schutzrechte werden so begründet: »Wenndein Bruder neben dir verarmt und nicht mehr bestehen kann, sosollst du dich seiner annehmen wie eines Fremdlings oder Beisassen,dass er neben dir leben könne. (...) Ich bin der Herr euer Gott, dereuch aus Ägyptenland geführt hat, um euch das Land Kanaan zugeben und euer Gott zu sein.« (3 Mose 25,35-38). In der Sozialkritikder Propheten zeigt sich die enge Verbindung von sozialer Frage undGottesfrage. Alle Versuche, den Kult von dem Eintreten für die Ar-men loszulösen, sind scharfer Kritik ausgesetzt: »Das aber ist ein Fas-ten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebun-den hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die dubedrückst, reiß jedes Joch weg! Brich dem Hungrigen dein Brot, unddie im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! (...) Dann wird deinLicht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wirdschnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir herge-hen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschlie-ßen.« (Jes 58,6-8). Im Neuen Testament wird das Auftreten Jesu alsErfüllung der alttestamentlichen Verheißung an die Armen gedeutet(Lk 4,18-21). Im Gleichnis vom Weltgericht werden die Hungrigen,die Durstigen, die Fremden, die Nackten, die Kranken und die Ge-fangenen unmittelbar mit Christus selbst identifiziert (Mt 25,31-46).Auf die Frage Johannes des Täufers, ob Jesus der Messias sei, lässtJesus ausrichten: »Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden reinund Taube hören, Tote stehen auf und den Armen wird das Evangeli-um gepredigt« (Mt 11,5). Paulus deutet Jesu Tod am Kreuz als Zei-chen dafür, dass Gott gerade das vor der Welt Geringe, das Schwache,das »Nicht-Seiende« erwählt hat (1 Kor 1,27f.). Die enge Verbin-dung von sozialer Frage und Gottesfrage hat in der Kirche durch dieJahrhunderte hindurch bis heute immer zu einem besonderen Ein-treten für die Armen geführt.

(67) Drei Präzisierungen der Option für die Armen, die sich in derökumenischen Diskussion herausgeschält haben, verdienen für denUmgang mit Armut und den Armen besondere Aufmerksamkeit:• Die Option für die Armen spielt nicht Arme gegen Reiche aus. Sie

nimmt die Wohlhabenden in die Verantwortung, sie hat aber dabei

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die Inklusion aller in die wirtschaftlichen und sozialen Prozessezum Ziel. So lange dieses Ziel für die schwächsten Glieder einerGesellschaft nicht verwirklicht ist, verdienen sie vorrangige Auf-merksamkeit.

• Die Option für die Armen ist keine paternalistische Option. Siehat vielmehr zum Ziel, die Armen so weit wie möglich zu befähi-gen, dass Marginalisierungstendenzen überwunden werden.

• Die Option für die Armen bezieht sich nicht nur auf materielleArmut. Sie bezieht sich auf alle Phänomene fehlender Teilhabe.Sie impliziert deswegen einen aktivierenden Sozialstaat, der überdie Sicherung materieller Teilhabe hinaus die Chancen der Armenverbessert, an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken.

(68) Im Lichte der Option für die Armen fordert der Gedanke derTeilhabegerechtigkeit deswegen sowohl eine ausreichende Berücksich-tigung der Bedarfsgerechtigkeit als auch eine damit eng verbundeneBerücksichtigung der Befähigungsgerechtigkeit. Von besonderer Be-deutung in diesem Zusammenhang ist auch aus christlicher Sicht dieTeilhabe an Arbeit zur materiellen Sicherung der Existenz.

(69) Im Hinblick auf das Verständnis von Arbeit enthält die Bibel zweizunächst als spannungsvoll erscheinende Tendenzen: Arbeit wird – dasist die eine Tendenz – als Teil des von Gott gegebenen Auftrags an denMenschen gesehen. Der Mensch ist geschaffen zum Bilde Gottes (Gen1,26ff ). Aus seiner Gottebenbildlichkeit ergibt sich seine Berufung, ander Gestaltung der Schöpfung mitzuarbeiten. Als Zielbestimmung dieserBerufung kann der Auftrag, die Schöpfung »zu bebauen und zu be-wahren« (Gen 2,15), verstanden werden. Indem der Mensch an derGestaltung der Welt mitwirkt, verwirklicht er seine von Gott gegebeneBestimmung und findet Sinn in seiner Arbeit. Arbeit wird aber auch –und das ist die andere Tendenz – als Mühe verstanden, die nicht alsSelbstzweck erscheint, sondern schlicht notwendig ist, um für den täg-lichen Lebensunterhalt zu sorgen. Als Folge seines Ungehorsams ge-genüber Gott muss der Mensch »im Schweiße seines Angesichts« ar-beiten (Gen 3,17-19), um das Lebensnotwendige zu erwirtschaften.Hier wird die menschliche Erfahrung aufgenommen, dass Arbeitmanchmal einfach nur harte Arbeit ist und keinen Sinn in sich trägt alsdie pure Notwendigkeit, die für das Überleben notwendigen Mittel zuerwirtschaften.

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(70) Gerade in der Spannung zwischen Mühe und Erfüllung in derArbeit weist die biblische Überlieferung ein hohes Maß an Problem-erschließungskraft auch für moderne Fragestellungen auf. Erfüllungin der Arbeit zeigt sich heute, wenn Menschen nicht nur arbeiten,um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sondern auch, weil die Ar-beit ihnen Freude macht, Erfolgserlebnisse verschafft und weil sieTeilhabe an den gesellschaftlichen Prozessen bedeutet. Genau deswe-gen wird Arbeitslosigkeit von den meisten Menschen als Not emp-funden. Auch das Ausscheiden aus dem Berufsleben fällt manchenMenschen schwer. Andererseits besteht auch heute kein Grund, Ar-beit zu romantisieren. Im Gegenteil tragen Arbeitsverdichtung undsteigende Anforderungen, insbesondere schon während der Ausbil-dung, in vielen Bereichen zu einer gestiegenen Belastung bei. Auchdie Mühe der Arbeit ist daher nichts Vergangenes. Im Computerzeit-alter, in dem viele unangenehme Arbeiten von Maschinen übernom-men werden können, gibt es nach wie vor Arbeiten, die so schwereBelastungen für die Menschen bedeuten, dass ihnen jede Selbstzweck-lichkeit abgeht. Nicht umsonst bemühen sich viele Arbeitnehmer umvorzeitige Pensionierung. Arbeit ist für sie vorrangig Mittel zur Si-cherstellung des Lebensunterhalts und wird überflüssig, wenn diematerielle Sicherheit auf anderem Wege zu erreichen ist.

(71) Die Diskussion der Arbeit darf nicht auf die Erwerbsarbeit redu-ziert werden. Die Arbeit in der Familie, Erziehungs- und Pflegearbeit,aber auch ehrenamtliche Arbeit, Selbst- und Nachbarschaftshilfe spie-len in unserer Gesellschaft und für viele Menschen eine wichtige Rol-le. Insbesondere viele Jugendliche und Ältere finden viel Sinn in ih-rem bürgerschaftlichen Engagement. Den Erwerbslosen wird jedochmit dem Hinweis auf die unterschiedlichen Konzepte des Ehrenamteskaum geholfen. Welche zentrale Stellung die Erwerbsarbeit für jedenEinzelnen einnimmt, merken insbesondere diejenigen, die von ihrgegen ihren Willen ausgeschlossen sind. Andererseits ist zu bedenken,dass eine Verengung des Arbeitsbegriffs auf die Erwerbsarbeit nichtzuletzt die Menschen benachteiligt, die wichtige Familienarbeit über-nehmen.

(72) Die Bibel enthält eine Tradition, die als Sperre gegenüber allerVerabsolutierung von Arbeit auch für das heutige Verständnis dersel-ben höchst relevant ist: die Sabbattradition. Das biblische Sabbatge-bot erinnert daran, dass die Arbeit nicht als oberstes Gut zu betrach-

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ten ist. Nicht der arbeitende Mensch, sondern der Sabbat ist die Kro-ne der Schöpfung. Im Sabbatgebot verbinden sich die VerehrungGottes und eine soziale Schutzfunktion, die auch die schwächstenGlieder im sozialen Gesamtgefüge umfasst. »Sechs Tage darfst du schaf-fen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn,deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, deinSohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Rind,dein Esel und dein ganzes Vieh und der Fremde, der in deinen Stadt-bereichen Wohnrecht hat. Dein Sklave und deine Sklavin sollen sichausruhen wie du« (Dtn 5,13-14).

(73) Dass schon die Bibel Einspruch erhebt gegen eine Verabsolutie-rung menschlicher Arbeit, die die menschlichen Freiheitsspielräumeaufzusaugen droht, ist bemerkenswert. In Zeiten, in denen durch Fle-xibilisierung der Arbeit nicht nur neue Gestaltungsmöglichkeiten er-wachsen, sondern manchen Arbeitnehmern die Zeitsouveränität undder Zivilgesellschaft die Planbarkeit und Verbindlichkeit verloren zugehen drohen, kommt diesem Einspruch eine ungeahnte neue Be-deutung zu. Die nicht zuletzt von der evangelischen Sozialethik ent-wickelten und von der evangelischen Kirche unterstützten Formender betrieblichen Mitbestimmung sind Ausdruck der Gegenbewegunggegen eine solche Verabsolutierung.

(74) Menschliche Arbeit ist auf Gott hin geordnet – das kann als Kernder biblischen Sicht von Arbeit festgehalten werden. Menschliche Ar-beit ist an dem von Gott gegebenen Auftrag auszurichten. Eine Ver-herrlichung von Arbeit an sich kann sich nicht auf die biblischen Texteberufen. Im Lichte der biblischen Schöpfungsgeschichten und der da-rin enthaltenen Sabbattradition ist das Ziel menschlicher Arbeit dieRuhe.

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4. Wege aus der Armut

(75) Aus diesen christlich-theologischen Impulsen für das Verhältnisvon Arbeitsmarkt und Sozialstaat folgt, dass für alle Menschen dassoziokulturelle Existenzminimum gesichert sein muss. Für denjeni-gen Teil der Bevölkerung, der aus unterschiedlichen Gründen kaumoder nur begrenzt Zugang zur Erwerbsarbeit hat, die nach wie vordas entscheidende Medium einer selbstbestimmten Lebensführungist, muss der Staat das soziokulturelle Existenzminimum gewährenund sich dabei an dem Kriterium der Bedarfsgerechtigkeit orientie-ren. Konkret: Angesichts der Menschen, die nicht mit dauerhaftenBeschäftigungsverhältnissen rechnen können, sondern deren Erwerbs-biografien sich fragmentarisch gestalten, ist in neuer Weise das Pro-blem einer grundlegenden Existenzsicherung gestellt. Dabei sindKonzepte kritisch zu prüfen, welche ein über das materielle Existenz-minimum hinausgehendes Grundeinkommen garantieren wollen.

(76) Die Studie der Sozialkammer »Soziale Dienste als Chance« (EKD-Texte 75, 2002) spricht in diesem Zusammenhang vom Vorrang derAktivierung vor der Versorgung. Es geht dabei »um eine Stärkung derSelbsthilfekompetenz und des Subjektseins, um eine behutsame An-leitung und Ermutigung zu Eigeninitiative und Eigenverantwortung«(Abs. 41). Für eine solche Förderung der Teilhabe aller an den wirt-schaftlichen und sozialen Prozessen im Geiste wechselseitiger Solida-rität bedarf es kreativer Konzepte, die Bürgerengagement und staatli-che Verantwortung sinnvoll aufeinander beziehen.

(77) Im Lichte der aufgezeigten theologisch-sozialethischen Orien-tierungen setzt sich die evangelische Kirche in ihrem diakonischenHandeln und in der Wahrnehmung ihrer öffentlichen Verantwor-tung für die Sicherstellung des soziokulturellen Existenzminimumsinsbesondere auch derjenigen Menschen ein, die von staatlichen Trans-ferzahlungen nicht effektiv erreicht werden. Sie tritt darüber hinausfür die Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe aller Menschen,insbesondere aber derjenigen, die von Armut betroffen oder von ihrbedroht sind, ein. Ein zentrales Mittel dafür ist die Integration in denArbeitsmarkt. Zu ihr müssen Menschen befähigt werden. Zudemmüssen natürlich auch genügend Arbeitsplätze – gerade für die vonArmut und Ausgrenzung Bedrohten – zur Verfügung stehen. Sozial-

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politische Überlegungen berühren deswegen an dieser Stelle wirt-schaftsethische und wirtschaftspolitische Fragen.

4.1 Perspektiven des Sozialstaats

(78) So wichtig Initiativen einzelner gesellschaftlicher Organisationen,der Wirtschaft, der Kirche und ihrer Diakonie sowie von Individuenzur Bekämpfung von Armut auch sind: Es bleibt vor allem die Aufgabedes Staates, in dieser Richtung tätig zu werden und Fehlentwicklungenmöglichst zu verhindern sowie entstandene Fehlentwicklungen zu kor-rigieren. Sowohl die Analyse der gegenwärtigen Problemlage als auchdie beabsichtigte und die tatsächliche Funktionsweise des deutschenSozialstaats sind an Komplexität kaum zu überbieten. Zu den Grün-den für die aktuellen Schwierigkeiten zählen unter anderem die bishernicht bewältigten ökonomischen Probleme der deutschen Vereinigungsowie die Massenarbeitslosigkeit und die mit ihr verbundenen Kosten.Zu den Gründen zählt aber auch die Tatsache, dass durch die wirt-schaftliche Globalisierung längst auch sozialstaatliche Faktoren einenEinfluss auf Investitions- und Standortentscheidungen der Unterneh-men haben. Dazu zählen insbesondere die Frage der Finanzierung desSozialstaats und das von ihm beeinflusste soziale Klima in einem Land.Angesichts dieser Situation muss alles getan werden, um den Sozial-staat auch in Zukunft funktions- und lebensfähig zu halten. Ausge-schlossen scheint eine simple Verlängerung seiner fiskalischen Entwick-lungstendenzen in die Zukunft. Es braucht einen entschiedenen Um-bau, eine Reform um der Menschen willen. Dieser muss auch weiterhindie Erreichung des Ziels sicherstellen, die Teilhabemöglichkeiten derÄrmeren zu stärken und so den inneren Zusammenhalt der Gesell-schaft zu sichern.

(79) Auf jeden Fall muss der Sozialstaat auf die wirtschaftlichen Grund-lagen seiner Tätigkeit achten. Dies gilt auf zwei Ebenen: Zum einenlässt sich ein entwickelter Sozialstaat nicht ohne eine leistungsfähigeund am Weltmarkt erfolgreiche Wirtschaft finanzieren. Die Logikwirtschaftlichen Handelns ist aber eine andere als die sozialstaatlicherAktivitäten – dennoch müssen beide aufeinander bezogen sein. Eskann deswegen nicht allein um »Umverteilung« gehen – sondern umintelligente Kombinationen von ökonomischer Effizienz und sozialerSicherung. Überlastungen müssen in beide Richtungen vermieden

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werden. Zum anderen besteht offensichtlich eine engere Koppelungzwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik vor allem im Bereich derBeschäftigungsentwicklung, denn umfassende Teilhabe der Ärmerenrealisiert sich unter den Bedingungen moderner Gesellschaften vorallem in der Teilhabe am Arbeitsmarkt. Insofern ist Arbeitsmarktpo-litik der Kern guter Sozialpolitik. Hieraus folgt, dass gleichberechtigtneben den im engeren Sinne politischen Zielen auch die Wirkungsozialstaatlichen Handelns auf die Wirtschafts- und Beschäftigungs-entwicklung genau bedacht werden muss. Es braucht folglich Impul-se, um die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und die Beschäfti-gungsspielräume zu erweitern. Ein hoher Beschäftigungsgrad ist selbstwiederum Instrument sozialer Sicherheit, da er es einer großen Zahlvon Menschen erlaubt, ihren Lebensunterhalt selbsttätig zu sichern.Nur in diesem Wechselspiel der Perspektiven lässt sich der Sozialstaatauf Dauer sichern.

(80) Der Sozialstaat muss sich der eigenen Grenzen bewusst sein. Siesind zum Ersten durch die an die ökonomische Entwicklung gekop-pelte finanzielle Situation des Staates und politische Entscheidungenbedingt. Oft werden in prosperierenden Zeiten Leistungsverbesse-rungen für die Schwächeren in Gang gesetzt, die dann in gesamtwirt-schaftlich schlechteren Zeiten wieder rückgängig gemacht werden,was zu verständlichen sozialen Auseinandersetzungen Anlass gibt:Gerade dann, wenn sie besonders nötig ist, wird die Hilfe einge-schränkt. Im Interesse einer wirklichen Verbesserung der Teilhabege-rechtigkeit braucht es jedoch gerade in diesen Bereichen Verlässlich-keit und Beständigkeit. Zum Zweiten geht es um die Frage, wie dierichtigen Impulse für wirtschaftliche Entwicklung und Beschäftigunggesetzt werden. Dieser zweite Aspekt verdient nicht nur wegen derbereits genannten Bedeutung von Erwerbsarbeit für die Sicherungder eigenen Existenz vieler Menschen besondere Aufmerksamkeit. Erist insbesondere auch Grundlage der finanziellen Leistungsfähigkeiteines jeden Sozialstaates.

(81) Um auch in Zukunft seiner Aufgabe gerecht werden zu kön-nen, sollte der Sozialstaat einen starken Akzent auf die Vermeidungvon Armutsrisiken legen. In dieser Hinsicht geht die Forderung nachTeilhabegerechtigkeit in die nach Befähigungsgerechtigkeit über. Esmüssen diejenigen Felder der Bildung individueller Kompetenz iden-tifiziert werden, in denen Menschen befähigt werden, für sich selbst

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vorausschauend Verantwortung übernehmen zu wollen und zu kön-nen. Von Bedeutung ist auch die dafür notwendige strukturelle Er-mutigung und die Ermöglichung dieser Kompetenzbildung. Dabeikommt der Prävention in Gesundheitssicherung und Pflege großeBedeutung zu. Aber auch die Minimierung des Risikos der Arbeitslo-sigkeit ist offenbar in hohem Maße vom Vorhandensein einer zeitge-mäßen Qualifikation abhängig. In den Vordergrund der Aufmerk-samkeit gerät so der Bereich der Erziehung, Ausbildung und Bildung:Bildungspolitik muss auch und zwar weit mehr als bisher als Sozial-politik verstanden werden – auch wenn man sich der Grenzen jederPrävention bewusst sein muss. Im Sinne einer langfristig vorausschau-enden Vermeidung von Teilhaberisiken für große Teile der Bevölke-rung kommt der Bildungspolitik entscheidende Bedeutung zu. Undsie hat ebenso – gerade angesichts der demographischen Entwick-lung – eine nicht zu unterschätzende wirtschaftliche Bedeutung. Inder Forderung nach einer weniger selektiven Bildungsstruktur kon-vergieren wirtschafts-, sozialpolitische und sozialethische Interessen(vgl. die Ergebnisse der PISA-Studien).

(82) Was kann nun in Deutschland konkret getan werden, um die an-gegebenen Ziele zu erreichen? Vergleichende Untersuchungen zeigen,dass offenbar ganz verschiedene Strategien eine ausgebaute Sozialstaat-stätigkeit, hohe Beschäftigung und eine ausgeglichene demographischeEntwicklung erfolgreich in Einklang bringen können. Dennoch zeigensich gewisse Gemeinsamkeiten im Strategiemuster der erfolgreicherenLänder. Es ist dabei bemerkenswert, dass zur Gruppe der relativ erfolg-reichen Sozialstaaten keineswegs nur solche gehören, die durch ein sehrniedriges Ausgabenniveau und niedrige Abgabenquoten die wirtschaft-liche Wettbewerbsfähigkeit fördern. Entscheidend ist offenbar ein be-stimmtes Gesamtmuster der Sozialstaatsstrategie.

(83) Zu den Schlüsselfragen einer erfolgreichen Sozialstaatsstrategiegehört ein energisches Setzen auf Bildung – einschließlich der früh-kindlichen Bildung in Kindertagesstätten – und Weiterbildung.Besonders die so genannten »Risikoschülerinnen und -schüler« brau-chen eine verbesserte Förderung. Sozialstaaten mit einer guten Be-schäftigungsentwicklung weisen fast durchweg eine hohe Investiti-onsquote bei Bildung und Weiterbildung auf. Der Bildungsaspekthat eine besondere Bedeutung angesichts der Tatsache, dass in einerglobal vernetzten Wirtschaft gering qualifizierte Tätigkeiten auf der

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Verliererstraße sind. Sie lassen sich oft leicht in Niedriglohnländerverlagern. Zugleich strömen Zuwanderer bevorzugt in solche Tätig-keiten. Der Weiterbildungsaspekt hat zugleich einerseits eine erhöhteBedeutung vor dem Hintergrund eines beschleunigten wirtschaftli-chen Wandels. Andererseits ist er eine wichtige Voraussetzung guterBeschäftigungschancen von Älteren, aber auch beim Wiedereinstiegnach Familienpausen.

(84) Die bessere Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familienar-beit ist eine weitere wichtige Komponente eines erfolgreichen Sozi-alstaats. Ohne die Rolle von reinen Geldleistungen unterzubewertenzeigt sich doch angesichts des berechtigten Anspruchs von Männernund Frauen auf gleichberechtigte Berufs- und Karrierechancen, dasskostengünstige Bildungs- und Betreuungsangebote für alle Alters-stufen eine wichtige Voraussetzung dafür sind, vorhandene Kinder-wünsche zu realisieren. Es ist bemerkenswert, dass Länder, die überein ausgebautes Betreuungsangebot höhere Erwerbsbeteiligung vonFrauen ermöglichen, sehr häufig eine bessere allgemeine Beschäfti-gungslage erreichen als Länder mit einer niedrigen Beteiligung derFrauen am Arbeitsmarkt. Gleichzeitig erreichen sie zumeist eine aus-geglichenere demographische Entwicklung.

(85) Ein wichtiges Gestaltungselement eines erfolgreichen Sozialstaatesist zweifellos eine beschäftigungsorientierte Finanzierung des Gesamt-systems. Im internationalen Vergleich zeigt sich ein deutlicher Zu-sammenhang zwischen einer guten Beschäftigungslage eines Landesund einer niedrigen Belastung der Arbeitsverhältnisse, insbesonderederjenigen mit niedriger Produktivität und niedrigen Einkommen,durch lohnbezogene Sozialabgaben. Eine niedrige Belastung des Ar-beitsverhältnisses trägt offenbar zur Ausweitung von Beschäftigungs-spielräumen bei und liefert einen Beitrag zur Stärkung des Konsums.Dies hat zur Folge, dass diese Sozialstaaten stärker auf die Finanzie-rung über steuerliche bzw. steuerähnliche Abgaben setzen und lohn-bezogene Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer niedrig halten.Auch im europäischen Gesamtbild zeigt sich seit Jahren eine gewisseVerschiebung hin zu Verstärkung der steuerlichen und steuerähnli-chen Elemente in der Sozialstaatsfinanzierung.

(86) Ein weiteres Element erfolgreicher Sozialstaatspolitik, das sichvorrangig auf die Alterssicherungssysteme als größten Block der sozi-

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alen Sicherung bezieht, besteht in einer stärkeren Mischung vonUmlage- und Kapitaldeckung. Ohne auf die zeitweilig fast funda-mentalistisch geführte Debatte um Umlage- und KapitaldeckungBezug zu nehmen, kann doch heute festgestellt werden, dass stärkergemischte Deckungsstrategien offenbar eine stabilere Abgabenentwick-lung für Erwerbstätige und Unternehmen ermöglichen. Kapitalde-ckung darf dabei keineswegs nur mit privater Vorsorge gleichgesetztwerden, sondern hat vielfach kollektiven Charakter im Rahmen vonBetrieben und Tarifverträgen. Deutschland hat hier einen Aufhol-prozess eingeleitet, der aber noch nicht eine ausreichende Breite er-reicht hat. Trotz einer energischen Förderung zeigen sich insbesonderebei Beziehern niedriger Einkommen und bei Familien mit mehrerenKindern wenig überraschende Lücken in der Beteiligung an der ge-förderten privaten Altersvorsorge. Alle bisherigen Förder- und An-reizinstrumente setzen eine Eigenbeteiligung aus dem verfügbarenEinkommen voraus. Wo ein solches frei verfügbares Einkommen abernicht vorhanden ist, weil das gesamte Einkommen für dringende,unvermeidbare Konsumausgaben verwandt werden muss, ist auch derAufbau eines Kapitalstocks nicht möglich.

(87) Ein wichtiges Gestaltungselement eines zukunftsorientiertenSozialstaates liegt in der Begünstigung von Erwerbstätigen mit Nied-rigeinkommen. Die Mehrzahl der europäischen Sozialstaaten setztauf eine niedrige Belastung gering Verdienender auf der Beitragsseiteund begünstigt sie gleichzeitig bei den Absicherungsniveaus. Offen-bar hat diese Strategie Anreize für die Übernahme von Teilzeittätig-keiten gesetzt und den Differenzierungsgrad im Erwerbssystem er-höht, was der Gesamtbeschäftigungslage zugute gekommen ist. DieBegünstigung der Teilzeitarbeit hilft auch bei der Beschäftigung Älte-rer wie auch von Frauen mit familiären Verpflichtungen. Alles dieserleichtert die Finanzierung des Gesamtsystems und kann armutsver-meidend wirken.

(88) Ein wichtiger Trend für die erfolgreiche Sozialstaatsstrategie stelltder Erwerbsformenwandel dar. In modernen Ökonomien gibt es of-fenbar einen Bedeutungsanstieg unterschiedlicher Formen selbststän-diger Tätigkeit. Gleichzeitig verschwimmt die Grenze zwischen Ab-hängigkeit und Selbstständigkeit zunehmend. Erfolgreiche Sozialstaa-ten erleichtern die Anpassungsprozesse an neue Gegebenheiten, indemsie unterschiedliche Erwerbsformen so gleich wie möglich behandeln.

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Zudem kann auf diese Weise ein eher gleitender Einstieg in die Er-werbstätigkeit ermöglicht werden, der die drastische Alternative zwi-schen Sozialleistungen und Berufstätigkeit aufweicht. Sie vermeidetso zudem eine schleichende finanzielle Erosion der Finanzierungsba-sis der Sozialversicherung.

(89) Von den Erfahrungen anderer Länder kann Deutschland profi-tieren – auf der anderen Seite müssen die besonderen Erwartungenan die Wirtschaft und den Sozialstaat in Deutschland berücksichtigtwerden. Dazu gehört die besondere deutsche Situation mit der Verei-nigung und den mit ihr verbundenen politisch gewollten und be-rechtigten, aber gleichwohl beträchtlichen finanziellen Lasten. Eineweitere Schwächung des Staates und ein weiterer Abbau von Sozial-leistungen wird nicht auf Akzeptanz stoßen. Was es braucht, ist dieVerständigung auf ein sozial- und wirtschaftspolitisches Leitbild, dasdeutlich am Ziel der Teilhabe aller durch eine sinnvolle Komplemen-tarität von Verteilungs- und Befähigungsgerechtigkeit ausgerichtet ist.In dieser Richtung muss über die Umstellung sozialer Sicherungssys-teme auf Steuerfinanzierung intensiv nachgedacht werden, da mehrSteuerfinanzierung ein gangbarer Weg zu sein scheint, den FaktorArbeit zu entlasten und so für größere Flexibilität in der Wirtschaftzu sorgen, die der Arbeitsplatzentwicklung zugute kommt. Bisher gibtes jedoch in Deutschland keine Tradition, die die Nachhaltigkeit ei-ner Steuerfinanzierung garantiert. Das Vertrauen in ein überwiegendsteuerfinanziertes Sozialsystem muss erst aufgebaut werden. Die Nach-haltigkeit einer Steuerfinanzierung muss dabei besonders sorgfältigbedacht werden. Dafür wird es eines längeren Umstellungsprozessesbedürfen.

(90) Die gegenwärtige Debatte über das richtige Gleichgewicht zwi-schen Staat und Markt, zwischen individuellem und kollektivemHandeln auf lokaler, nationaler und globaler Ebene berührt immerauch die Frage nach den Regeln, welche alle Mitglieder als bindendfür sich annehmen. Pauschale Urteile über »den Staat« oder die »staat-liche Ineffizienz« sind ebenso wenig geeignet, die Debatte zu versach-lichen, wie pauschale Urteile über Markt oder Unternehmertum imAllgemeinen. Aus Sicht der evangelischen Ethik ist entscheidend nichtdie Zuschreibung eines von seinen Aufgaben abgelösten, abstraktenund absoluten Wertes an den Staat oder gar den Markt. Entschei-dend ist vielmehr die Verständigung in der Gesellschaft über Aufga-

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ben des Staates und somit über den Wert, den er für Menschen hat,und über die Werte, die mit staatlicher Autorität geschützt werdensollen. Recht und Frieden stehen im Zentrum dieses funktionalentheologischen Staatsverständnisses. Seit der Industrialisierung ist auchdie soziale Wohlfahrt Teil der dem Staat zugewachsenen Verantwor-tung geworden. Aus evangelischer Sicht findet die Debatte über Auf-gaben und Grenzen des Staates ihre Orientierung in der die Genera-tionen übergreifenden Verantwortung vor Gott.

(91) Der Staat ist in Deutschland in den letzten Jahren in der öffent-lichen Diskussion zunehmend in die Defensive geraten. Die gesamt-wirtschaftliche Steuerquote liegt in Deutschland unter dem OECD-Durchschnitt, während die Sozialabgaben vergleichsweise hoch sind.Durch eine Umstrukturierung der Staatsaufgaben muss der deutscheStaat wieder in die Lage versetzt werden, seine Infrastruktur zu pfle-gen, was insbesondere im Hinblick auf das Bildungssystem von kaumzu überschätzender Bedeutung ist. Dadurch werden sich gerade fürjunge Menschen in qualifizierten Dienstleistungsberufen neue Chan-cen ergeben, die den Arbeitsmarkt entlasten und somit Armut redu-zieren.

(92) Politik sollte aber auch erkennen, dass die Gruppe der Langzeit-arbeitslosen, die über viele Jahre hinweg allein gelassen oder mit mo-netären Transfers vertröstet wurde, nicht länger mit immer wiederneuen Reformexperimenten hingehalten werden darf. Es ist an derZeit, dass sorgfältig zwischen Menschen mit erheblichen und Men-schen mit unüberwindbaren Schwierigkeiten differenziert wird undallen Langzeitarbeitslosen je nach ihren individuellen Möglichkeitenauf dem regulären oder auf dem so genannten »zweiten« Arbeitsmarktpassgenau und dauerhaft – nötigenfalls durch direkt öffentlich be-reitgestellte Arbeitsplätze – geholfen wird.

4.2 Wirtschaft

(93) Wenn Arbeitslosigkeit die Hauptursache für Armut und sozialeAusgrenzung ist, dann müssen Maßnahmen zur Vermeidung vonArmut sich vorrangig an der Schaffung von Arbeitsplätzen und derIntegration von Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt orientieren. An-gesetzt werden muss an der Schnittstelle zwischen Arbeit und Ar-

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beitslosigkeit, die Voraussetzungen für Wachstum und Beschäftigungmüssen verbessert und bestehende Hemmnisse für die Arbeitsauf-nahme sowie die Schaffung neuer Arbeitsplätze müssen abgebautwerden. Die dafür im Einzelnen notwendigen Schritte sind in ho-hem Maße umstritten. Es spricht viel dafür, dass eine weitere Verteu-erung des Faktors Arbeit kontraproduktiv wäre, sodass ernsthaft ge-prüft werden muss, welche Teile der für die Erfüllung der Kernauf-gaben des modernen Sozialstaats notwendigen Ressourcen eher durchSteuern oder auf anderen Wegen erhoben werden können. Unver-zichtbar ist eine wirkliche Verringerung der Staatsverschuldung, de-ren Ausmaß schon heute die kommenden Generationen in einer un-zumutbaren Weise belastet.

(94) Eine besondere Rolle in der öffentlichen Diskussion spielt dieSenkung der Abgabenlast auf dem Faktor Arbeit. Ohne eine spürbareSenkung der Abgaben auf Arbeit droht legale Beschäftigung auchkünftig in vielen Fällen zu teuer zu sein, droht die Schattenwirtschaftweiter zuzunehmen und droht der nötige Spielraum für die zusätzli-che private Vorsorge als Ergänzung zu den sozialen Pflichtversiche-rungssystemen zu eng zu werden.

(95) Unter der angespannten Arbeitsmarktlage leiden vor allem Men-schen mit fehlender oder unzureichender Qualifikation. Ausweislichder Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (BA) ist zwischenzeitlichin Westdeutschland jede fünfte und in den neuen Bundesländern jedezweite Erwerbsperson ohne Ausbildung arbeitslos gemeldet. Der tech-nologische Wandel und Fortschritt führt dazu, dass die Qualifikations-anforderungen permanent steigen. Die Integration gering qualifizier-ter Menschen wird aber auch dadurch erschwert, dass in den letztenJahren nicht zuletzt aus – prinzipiell begrüßenswerten – verteilungspo-litischen Gründen häufig gerade die Tariflöhne für vergleichsweise ein-fache Tätigkeiten überproportional angehoben wurden. Die höherenArbeitskosten mussten und müssen durch entsprechend höhere Pro-duktivität aufgefangen werden, was in den Unternehmen zu einemGroßteil durch arbeitsplatzsparende, die Kapitalintensität steigerndeRationalisierungen umgesetzt wurde und zu entsprechend erhöhten Pro-duktivitätserfordernissen für die verbleibenden Arbeitsplätze führte. Vonsolchen Rationalisierungsmaßnahmen waren insbesondere einfache Tä-tigkeiten mit vergleichsweise niedrigen Qualifikationsanforderungenbetroffen.

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(96) Vor diesem Hintergrund ist die Diskussion um die Weiterent-wicklung eines sozial abgesicherten Niedriglohnbereichs als ein Aus-weg zur Verringerung der Arbeitslosigkeit zu sehen. Wenn es schonnicht gelingen kann, alle Menschen so zu qualifizieren, dass sie denhohen Qualifikationserfordernissen in weiten Bereichen der Wirt-schaft entsprechen können, so muss als Alternative hierzu nach We-gen gesucht werden, auch diesen Menschen wieder ihren Möglich-keiten und Fähigkeiten entsprechende Arbeitsplätze anzubieten.Hierbei kann es sich angesichts vergleichsweise niedriger Qualifikati-ons- und Produktivitätsanforderungen nur um relativ gering entlohnteTätigkeiten handeln, für die die Entlohnung gegebenenfalls durchTransfers aufgestockt werden muss (»Kombi-Lohn«). Für diejenigen,die irreversibel unter Langzeitarbeitslosigkeit leiden, dürfen auch staat-lich geschaffene Arbeitsplätze in einem »zweiten« oder auch so ge-nannten »dritten Arbeitsmarkt« kein Tabu sein. Solche öffentlichgeförderten und gegebenenfalls direkt öffentlich bereitgestellten Ar-beitsplätze wird es im Übrigen auch auf Dauer für Menschen gebenmüssen, die nicht gemäß den Leistungsmaßstäben des Marktes aus-gebildet werden können oder mit Behinderungen leben, die einemarktorientierte Teilhabe am Erwerbsprozess unmöglich machen.

(97) Im Vergleich zu anderen Ländern weist Deutschland im Bereichder qualifizierten Dienstleistungen noch großen Nachholbedarf auf(vgl. dazu ausführlich die Stellungnahme des Rates der EKD »SozialeDienste als Chance« [EKD-Texte 75]). Im Zusammenhang mit denhier in Rede stehenden Personengruppen betrifft dies insbesonderehaushalts- und personengebundene Dienstleistungen. Solche Dienst-leistungen werden sowohl im Zusammenhang mit der zunehmendenAlterung unserer Gesellschaft (Hilfs- und Pflegedienstleistungen) alsauch im Zusammenhang mit einer stärkeren Erwerbsbeteiligung vonFamilien mit Kindern (Bildungs- und Betreuungsleistungen) einedeutlich größere Rolle spielen.

(98) Bei der Entwicklung eines sozial abgesicherten Niedriglohnsek-tors, der künftig gering qualifizierten Menschen gute Chancen fürihre Integration in den Arbeitsmarkt und daraus resultierend für dieVerbesserung ihrer Teilhabe an der Gesellschaft insgesamt bietet, wirdstets die Diskussion um den notwendigen Abstand zwischen demdurch Erwerbsarbeit mindestens erreichbaren Einkommen und demdurch staatliche Transferleistungen erreichbaren Einkommen eine

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wichtige Rolle spielen. Viel spricht dafür, dass ein solcher Abstandund aktivierende Übergänge in unserem marktwirtschaftlich ausge-richteten System notwendig sind, um Menschen in ausreichendemUmfang zu einer verlässlichen Übernahme solcher gering entlohnterund oft wenig attraktiver Arbeiten zu motivieren. Ein solcher Ab-stand darf aber bei fallenden Löhnen keinesfalls einseitig durch eineSenkung der Transferleistungen gesichert werden. In diesem Zusam-menhang spielt die Diskussion um tarifliche oder gesetzliche Min-destlöhne eine wichtige Rolle. Da diese stets als Stundenlöhne ange-geben werden, sind für ein monatliches Gehalt auch der Umfang unddie Gestaltung der wöchentlichen Arbeitszeit von großer Bedeutung.Allerdings mahnt die Erfahrung anderer Länder zur Sorgfalt, da dortin der Regel niedrige Arbeitskosten nicht mit niedriger Arbeitslosig-keit korrelieren.

(99) Es gibt positive Beispiele von Unternehmen, die den Nutzenvon Familienfreundlichkeit erkannt haben und sich dafür engagie-ren. Familie darf für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kein Hinder-nis sein, Karriere zu machen. Kinder dürfen kein Grund dafür sein,dass Mütter und Väter gar nicht arbeiten gehen können. Für vieleFrauen und Männer stellt ein familienfreundlicher Arbeitgeber wich-tige Anreize für den Wiedereinstieg in den Beruf dar, nachdem sie fürihr Kind zu Hause geblieben sind. Eine sensible Unternehmenskul-tur, die akzeptiert, dass Mitarbeitende mit Kindern selbstverständ-lich sind und sich mit flexiblen Arbeitszeiten, Betriebskindergärtenund Teil- und Elternzeitangeboten auf ihre Bedürfnisse einstellt, wirdbelohnt. Inzwischen herrscht Konsens über das Ziel, die Wirtschaftund insbesondere die Arbeitswelt kinderfreundlicher zu gestalten.

(100) Unter der schwierigen Arbeitsmarktlage leiden Ältere in beson-derer Weise, die auch bei guter Qualifikation kaum eine neue Ar-beitsstelle finden, wenn sie arbeitslos geworden sind. Die Einstellungs-quote über 50-Jähriger ist in Deutschland wesentlich geringer als z. B.in Frankreich und der Schweiz. Hier ist auch ein Umdenken derWirtschaft und der Tarifpartner erforderlich. Das Erfahrungswissender Älteren ist ein wichtiger Erfolgsfaktor. Es ist aber auch nötig,Qualifikationen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen über diegesamte Erwerbsphase zu erhalten und weiterzuentwickeln (lebens-langes Lernen).

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(101) In diesen Bereichen kommt der Wirtschaft und den unterneh-merisch Handelnden eine entscheidende Bedeutung zu. Der Mut unddie Leistung von Unternehmerinnen und Unternehmern ist ausdrück-lich zu würdigen. Ihr Handeln ist in besonderer Weise ethisch gefor-dert. Daher sind Personen in leitender und in unternehmerischerVerantwortung dazu zu ermutigen, bei ihrem Engagement die vonAusgrenzung betroffenen und bedrohten Menschen stets im Blick zubehalten und wo immer möglich Angebote zur Integration zu ma-chen. Insofern kann die Förderung von unternehmerischer Selbst-ständigkeit und geeigneten Rahmenbedingungen für ihre Umsetzungauch eine gute Politik gegen Armut sein. Dabei ist ernst zu nehmen,dass die vorrangige Aufgabe der Unternehmen die Sicherung der ei-genen Existenz durch die Erwirtschaftung von Gewinnen ist. Dennohne Gewinne und prosperierende Unternehmen werden keine Ar-beitsplätze geschaffen oder bürgerschaftliches Engagement gegen Ar-mut seitens der Wirtschaft initiiert. Vor zu hohen und vor allem fal-schen Erwartungen an die Wirtschaft, die Unternehmen und dieunternehmerisch Handelnden ist daher zu warnen.

(102) Die Beteiligung der Entwicklungsländer am Weltmarkt vonIndustrieerzeugnissen steht noch am Anfang. Fortgeschrittene Län-der tragen die Verantwortung, im Sinne einer fairen globalen Part-nerschaft die Entwicklungspolitik und die wirtschaftlichen Kräfte derEntwicklungsländer zu stärken. Die sozialen, ökologischen und öko-nomischen Gestaltungsaufgaben einer fairen globalen Strukturpoli-tik verdienen Unterstützung, auch dann, wenn damit besondere He-rausforderungen für den deutschen Arbeitsmarkt verbunden sind. EinePolitik der sozialen, ökologischen und wirtschaftlich gerechten Ge-staltung der Globalisierung liegt auf Dauer im Interesse aller.

4.3 Bildung

(103) Von allen zur Armut beitragenden Faktoren schlägt mangelndeBildung am deutlichsten durch. Ein Indikator dafür ist, dass ein sehrhoher Prozentsatz aller Sozialhilfeempfänger keinen Schulabschlusshat. Immer mehr Untersuchungen belegen, dass Schulerfolg und früh-kindliche Förderung eng zusammenhängen. So unterstreichengleichermaßen die Hirnforschung wie auch Schulforschung und Psy-chologie, wie wichtig die Phase von der Geburt bis zum dritten Le-

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bensjahr für das Lernen ist. Mangelnde Lernanregungen in diesemAlter sind später nur schwer zu kompensieren. Wem frühes Lernenverwehrt bleibt, der kann unter heutigen Leistungsanforderungen inder Wirtschaft, aber auch in der Gesellschaft nicht mithalten; der istvor allem nicht in der Lage, einen Arbeitsplatz zu erhalten und gerätentsprechend leicht in die Gefahr des sozialen und kulturellen Aus-schlusses aus der Gesellschaft.

(104) Armutsbekämpfung mittels finanzieller Unterstützung alleingreift in dieser Hinsicht nicht; sie kann sogar ein mentales »SichAbfinden« mit der eigenen Situation befördern und setzt dann kei-ne Motivation mehr frei, sich aus der Armut zu befreien. Nur ge-koppelt mit einem deutlichen »Fordern und Fördern« in RichtungBildung sind wirkliche Erfolge in der Armutsbekämpfung – untersonst gleichen Bedingungen – zu erwarten. Hierbei kommt es gleich-zeitig auf mehrere Schritte an: auf frühe Förderung, die Stärkungder Erziehungskompetenz der Eltern und ihre Entlastung, die Zu-sammenarbeit der Schule mit gesellschaftlichen Partnern, die Wert-schätzung jedes einzelnen Kindes und Jugendlichen, die Qualitäts-verbesserung des schulischen Unterrichts sowie die Flexibilisierungund Modularisierung der Ausbildungsgänge (vgl. die Stellungnah-me der Kammer der EKD für Bildung und Erziehung, Kinder undJugend »Perspektiven für Jugendliche mit schlechteren Startchan-cen«, 2003).

(105) Bildung hat in dieser Hinsicht eine weit größere Bedeutung,als lediglich Wissensvermittlung zu sein. »Die evangelische Kircheversteht Bildung als Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können,Wertbewusstsein, Haltungen (Einstellungen) und Handlungsfähig-keit im Horizont sinnstiftender Deutungen des Lebens.« (»Maßedes Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wis-sens- und Lerngesellschaft«, Denkschrift des Rates der EKD, 2003).Mit ihr geht nicht zuletzt eine Haltung des Vertrauens in die eige-nen Fähigkeiten und ihre Weiterentwicklung einher. Damit ver-bunden ist oft eine gewisse Zielperspektive, eine Entwicklung derAnsprüche an die eigene Person wie an andere, die sich im Erwach-senenleben als notwendig erweist. Dabei helfen vor allem Erfahrun-gen des Gelingens, eine beständige, sich selbst beherrschende, selbst-reflexive und zielorientierte Persönlichkeitsform zu entwickeln, dieeine positive Zukunftsorientierung aufweist. Umgekehrt erschwe-

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ren oder verhindern von der Schulzeit an erlebte ständige Misserfol-ge die Ausprägung eines solchen Selbstvertrauens.

(106) Das Milieu der Armut ist jedoch gerade dadurch gekennzeich-net, dass diese »inneren« Kompetenzen überdurchschnittlich häufigfehlen, weil sie zur Lebensbewältigung unter alltäglich schwierigenBedingungen nicht funktional erscheinen. So sind eine Reihe vonUnterschieden bei der Erziehung von armen und nicht-armen Kin-dern zu beobachten. Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dassarme Kinder weniger gelobt, dafür häufiger mit Geld oder Süßigkei-ten belohnt werden. Strafen bestehen entsprechend aus dem Entzugdieser materiellen Ressourcen. Körperliche Bestrafungen kommenhäufiger vor. Feste Rituale und Regeln fehlen oft; Elternkontrolle überHausaufgaben, Fernsehen, Schlafengehen ist seltener als bei nicht-armen Kindern. Die Vorbildfunktion der Eltern ist im Bereich dersprachlichen, aber auch der habituellen Kompetenzen wenig ausge-prägt. In den meisten armen Familien wird selten oder so gut wie nievorgelesen. Ein Kind aus der Mittelschicht kommt etwa bis zur Ein-schulung auf 1.700 Stunden Bilderbetrachtung oder Vorlesezeit zu-sammen mit den Eltern, Kinder aus sozial schwachen Milieus imDurchschnitt aber nur auf 24. Das Ergebnis ist, dass 22 % aller Schü-lerinnen und Schüler zur so genannten Risikogruppe zählen, derenBildungsergebnisse nicht für einen Berufseinstieg zu reichen drohen.

(107) Schon diese Beobachtungen verdeutlichen nicht nur die Be-deutung, sondern auch die Verantwortung der Eltern. Armutsindizi-en finden sich bei Kindern nicht nur wegen mangelnder materiellerRessourcen bei ihren Eltern, sondern auch wegen falscher Prioritä-tensetzung, wenn Geld etwa für Konsumwünsche der Eltern ausge-geben wird und deshalb nicht für die Kinder zur Verfügung steht.Auch die Feststellung von Bildungs- und Verhaltensschwächen beiKindern und Jugendlichen, die in Teilen der Bevölkerung statistischhäufiger anzutreffen sind, kann nicht ohne Wertung erfolgen, son-dern macht deutlich, dass hier Eltern ihrer Erziehungsverantwortungnicht gerecht geworden sind. Von zentraler Bedeutung für die staatli-che Gemeinschaft ist daher die Aktivierung und Zurüstung der El-tern, damit diese ihren Erziehungsauftrag erkennen und erfüllen.

(108) Das deutsche Bildungssystem, das in anderen Bereichen übergroße Stärken verfügt, scheitert faktisch in der Vermittlung von Bil-

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dung an von Armut betroffene oder gefährdete Gruppen der Bevöl-kerung. Dies ist an der Kopplung von Bildungserfolg und sozialerHerkunft zu erkennen, wie sie die neueste PISA-Studie (2003) zeigt.Kein anderes Industrieland der Welt schneidet bei der Integrationund Förderung von Arbeiter- und Migrantenkindern so schlecht abwie Deutschland. Die Chance, ein Studium aufzunehmen, ist fürKinder aus Elternhäusern mit hohem sozialem Status 7,4-mal höherals bei Kindern eines Facharbeiters. Auf dem Weg ins Gymnasiumliegt sie bundesweit beim Faktor 4,8. Dabei hat der Familientyp al-lein keinen Einfluss auf den Schulerfolg. Entscheidend ist der sozio-kulturelle Status. Insgesamt erhalten 8 bis 10 % aller Schulabgängerin Deutschland keinen Schulabschluss, ungefähr 15 % aller Jugendli-chen bleiben ohne Ausbildung.

(109) Diese Situation ist – noch über grundsätzliche Gerechtigkeits-erwägungen hinaus – durch die Entwicklung der Geburtenratenbesonders brisant. Sie zeigen nicht nur einen absoluten Rückgangder Zahl der Geburten in Deutschland an, sondern einen überpro-portional hohen Geburtenrückgang in der Gruppe der sozial bessergestellten Mittelschicht, wohingegen die von Armut bedrohten oderbereits von Armut betroffenen Milieus weit höhere Geburtenratenaufweisen. Nur Paare mit besonders hohen Einkommen bekommenrelativ ebenso viele Kinder. Wenn sich an der Situation der sozialenVererbung von Armut nichts ändert, werden sich in Zukunft die Ri-sikogruppen vergrößern – und müssen dann von kleiner werdenden»Leistungsgruppen« unterstützt werden. Allein schon aus dieser be-drängenden Situation heraus sind Reformen im Bildungswesen ab-solut dringlich.

(110) Das Bildungssystem versagt nicht nur gegenüber den sozial undkulturell schlechter Gestellten – es trägt vielmehr zu ihrer Schlechter-stellung bei, indem es Kinder aus den betreffenden Milieus nicht hin-reichend individuell fördert und fordert. Nicht selten fehlt diesen Kin-dern eine frühkindliche Sozialisation in Kindertagesstätten. Sie haltensich zudem oft nicht an schulische Regeln und sind eher bereit, Ärgerin Kauf zu nehmen. In der Folge sorgen negative Bildungserfahrun-gen für eine zusätzliche Entmutigung. So werden bildungsferne Kin-der häufiger ermahnt und sitzen häufiger nach. Sie kommen häufigerzu spät oder fehlen ohne Entschuldigung. Sie haben erkennbar häufi-ger schon in der Vor- oder Grundschule eine Klasse wiederholt. Der

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Schulverlauf ist irregulärer. Die Noten sind deutlich schlechter. Sielösen häufiger ihre Ausbildungsverträge auf. Alle Faktoren betreffenverschärft Migrantenkinder – etwa 40 % der Jugendlichen mit Migra-tionshintergrund bleiben gegenwärtig ohne Ausbildung, insbesonderedie Jungen.

(111) In diesen Aspekten schlägt sich die vor- und außerschulische –vor allem familiäre, aber auch sozialräumliche – Situation der Kindernieder. Sie wird auch nicht durch Nachhilfestunden ausgeglichen,denn solche Hilfe erhalten diese Kinder deutlich seltener als die bes-ser Gestellten. Zumindest diese Situation könnte durch eine gezielteFörderung geändert werden. Dafür braucht es jedoch Initiative »vonaußen«, da ein Interesse der Eltern und der Jugendlichen selbst nichtvorausgesetzt werden kann. Hier könnten aber auf Anregung oderunter Beteiligung von Kirche und Diakonie zu gründende regionaleBündnisse gegen Armut und für Bildung ansetzen.

(112) Die Benachteiligung bildungsferner Kinder greift auch dann,wenn vergleichbare Leistungen erbracht werden, und verhindert soselbst dann positive Empfehlungen zum Besuch der weiterführendenSchule. Aus der Schulforschung ist der Pygmalion-Effekt bekannt:Wenn Lehrer einen Schüler für sehr begabt halten, widmen sie ihmbesondere Aufmerksamkeit, um sein Potenzial zu fördern. Wenn derSchüler dann besondere Leistungen bringt, hat der Lehrer das Ge-fühl, dass seine ursprüngliche Einschätzung richtig war, und er un-terstützt den Schüler weiter. Wenn Lehrer hingegen vermuten, dassSchüler aus armen Familien generell weniger leistungsbereit und leis-tungsstark sind, könnte der Pygmalion-Effekt sich deutlich negativauf die Schüler auswirken. In der bildungspolitischen Diskussion wirdmit gewichtigen Argumenten die These vertreten, dass ein hoher Pro-zentsatz (einige sprechen von bis zu fast 50 %) aller Schülerinnen undSchüler nach der vierten Klasse falsche Schulempfehlungen erhalten.

(113) Entscheidend ist, dass die im Kindergarten oder in der Schuleunausgesprochenen Erwartungen an das, was die Kinder eigentlichmitbringen müssten – über das die bildungsfernen Kinder aber ebennicht verfügen –, explizit gemacht und entsprechend vermittelt wer-den. Dabei geht es um sprachliche (Deutschkenntnisse), mathema-tisch-logische, technische, kulturelle, ästhetische und habituelle, aberauch um religiöse Kompetenzen, die insgesamt eine gesellschaftliche

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Grundbildung ausmachen und als Kerncurricula definiert werdensollten.

(114) Dies gelingt jedoch nur, wenn es möglich ist, Lernprozesse bereitsim Kindergarten in kleinen Gruppen zu initiieren und zu begleiten –statt sofort und lediglich die Lernergebnisse zu bewerten. Kinder ausbildungsfernen Schichten haben nur im Bildungsbereich die Chan-ce, sich entsprechende Fähigkeiten anzueignen. Entsprechende För-dermöglichkeiten müssen vorgehalten werden. Die Abschaffung vonVorklassen (zum Beispiel in Berlin) beraubt die Schulen entsprechen-der Kapazitäten. Ein besonderes Augenmerk ist auf die rechtzeitigeSprachförderung als Frühförderung zu legen. Da gerade in bildungs-fernen Familien wenig miteinander geredet wird, ist eine zunehmen-de aktive und passive Spracharmut beim Eintritt in den Kindergartenzu beobachten. Das gilt natürlich in wesentlich höherem Ausmaß fürKinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist.

(115) Vor allem braucht es eine laufende Evaluation der Lernfort-schritte im Blick auf jedes einzelne Kind, die den Kindergarten unddie Schule für den Bildungslauf des Schülers rechenschaftspflichtigmacht. Bisher tragen die Schüler das Risiko allein.

(116) Darüber hinaus muss unter dem Aspekt der Schaffung einesarmutsverringernden Bildungssystems über die Kultur des drei- undmehrgliedrigen Schulsystems in Deutschland diskutiert werden. Inkeinem vergleichbaren Industrieland gliedert sich das Schulwesen imErgebnis so rigide wie in Deutschland. Nirgendwo sonst fallen diefaktischen Entscheidungen über künftige Lebenschancen in so jun-gen Jahren. Es scheint einiges dafür zu sprechen, dass es vor allem dieNotwendigkeit der schnellen Selektion der Schüler in den meistenBundesländern nach nur vier Jahren ist, die den auch entsprechen-den Druck bei den Lehrern verschärft und so zur problematischenGesamtsituation beiträgt. Dabei hat die Erfahrung in vielen Bundes-ländern gezeigt, dass die Gesamtschule dann die schlechteste Lösungist, wenn sie neben einem gegliederten System existiert. Sie wird zurRestschule für Bildungsverlierer, wenn sie neben Gymnasium, Real-schule und Hauptschule angeboten wird. Der Blick auf Länder, diebei internationalen Schulvergleichsuntersuchungen besonders gutabschneiden, belegt, dass gemeinsame Schulbildung der individuel-len Förderung besonders begabter Schüler nicht entgegenstehen muss

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und den schwächeren Schülern zugute kommen kann. Solange expli-zit oder insgeheim Auslese und Elitebildung gegen Breitenförderungausgespielt wird, wird sich die Situation nicht verändern. Hierzu ge-hört auch die Ausrichtung der so genannten Förderschulen sowie dasPhänomen des Wiederholens einer Klasse und des Verlassens der Schu-le (des »Abschulens«): Viel spricht dafür, dass beides – trotz aller po-sitiven Ansätze und damit verbundener Chancen – eher zur Stigmati-sierung der betreffenden Schüler als zu einer wirklichen Förderungbeiträgt. Zudem könnte eine gut ausgestattete und entsprechend or-ganisierte Ganztagsschule die Kinder in eine lernmotivierende Um-gebung einfügen, die sich in der eigenen Familie und den Freundes-kreisen (»Peergroups«) nicht finden lässt (vgl. die Stellungnahme desRates der EKD »Ganztagsschule in guter Form!«, 2004).

(117) Insgesamt sind Reformen von Schule zuerst an der Frage aus-zurichten, was Kinder und Jugendliche heute für ihr Aufwachsenbrauchen. Schulen müssen bereit und in der Lage sein, sich auf dieVielfalt von Lebenslagen im Prozess des Aufwachsens angesichts zu-nehmender sozialer und kultureller Pluralität, Multikulturalität undMultireligiosität, Migration, Internationalisierung und Globalisie-rung konstruktiv einzulassen. Dabei muss die Schule als Stätte desunterrichtlichen Lernens ebenso im Blick sein wie die Schule als Ortdes gemeinsamen Lebens.

(118) Der Prozess der Persönlichkeitsbildung beginnt bereits in denersten Lebensjahren. Kindertageseinrichtungen/Kindergärten unddie – in Westdeutschland vielfach fehlenden – Kinderkrippen müssendeshalb nachhaltig dazu beitragen, diesen anspruchsvollen Prozess um-fassend anzuregen, zu fördern und zu gestalten. Es wird künftig ver-stärkt darauf ankommen, dass sie ihre spezifische Bildungsaufgabewahrnehmen und durch Förderung und Ausgleich herkunftsbeding-ter Unterschiede für jedes Kind eine ihm entsprechende Bildungermöglichen (vgl. die Erklärung des Rates der EKD »Wo Glaubewächst und Leben sich entfaltet. Der Auftrag evangelischer Kinder-tageseinrichtungen«, 2004). Mit Blick auf die Armutsproblematikgilt es, aufgrund der demographischen Entwicklung frei werdendeRessourcen im Bereich der Kindertagesstätten in diesem zu belassenund vor allem für eine deutliche Stärkung der Einrichtungen in so-zialen Brennpunkten zu verwenden. Ein gravierendes Problemscheint in diesem Zusammenhang das Essensgeld zu sein, das seit

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einiger Zeit in vielen Kommunen neben der Kindergartengebührerhoben wird. Da dieser Betrag vom Sozialamt nicht mehr zusätz-lich gezahlt wird, sondern in der Gesamtpauschale des Arbeitslosen-geldes II enthalten ist, bildet sich so eine weitere Zugangsschwellezum Besuch einer Kindertageseinrichtung heraus.

(119) Zudem müssen Maßnahmen zur Unterstützung bildungsfer-ner Gruppen offensichtlich vor Ort ansetzen, d. h. in dem betreffen-den, jeweils unterschiedlich strukturierten sozialräumlichen Bereich;in der Regel im Stadtteil oder im Dorf. Hierfür erscheint eine regio-nale Kooperation von Schulen, Kommunen und Unternehmen so-wie gerade auch Ehrenamtlichen und Kirchengemeinden sinnvoll zusein. Sie kann Kinder und Jugendliche in praktischer Hinsicht imSinne regionaler Bündnisse gegen Armut unterstützen und deren El-tern eine Erziehungspartnerschaft anbieten. Hier ginge es nicht umdas Ausgleichen von Defiziten im Bildungsbereich, sondern um Schaf-fung von ergänzenden unterstützenden Maßnahmen im Sinne einerlebensweltbezogenen »Bildung vor der Bildung«, um das »Lernen zulernen«. Hierzu zählen Fördermöglichkeiten aller Art, von Sport- undKunstaktivitäten über die Bereitstellung von Nachhilfeunterricht biszu Paten, die die Kinder und Jugendlichen auf ihrem Weg – besonderswährend der Berufsausbildung und bei der Suche nach einem Ar-beitsplatz – begleiten.

(120) Angebote der evangelischen Kinder- und Jugendarbeit helfenKindern und Jugendlichen, ihre Stellung in Schüler- und Gleichaltri-gengruppen zu reflektieren und Selbstständigkeit zu gewinnen. Sieinitiieren Bildungsprozesse, die einzelne Lerninhalte übergreifen, undbieten Reibungsflächen bei der Suche nach Lebensorientierung. Durchdas Evangelium werden Kinder und Jugendliche ermutigt, eigenechristlich verantwortete Lebensperspektiven in Kirche und Gesell-schaft zu entwickeln. Erfahrungen mit Grundfragen des Lebens undmit religiösen Sinnhorizonten sind dabei ebenso wichtig wie die Be-gegnung mit Erwachsenen, die nicht zum schulischen Umfeld gehö-ren.

(121) Maßnahmen, die auf mehr Chancengleichheit und Leistungs-gerechtigkeit im Bildungswesen zielen, beeinträchtigen nicht das be-rechtigte Interesse von Eltern, ihren Kindern die individuell bestmög-liche Ausbildung, die sich finden lässt, zukommen zu lassen. Gerade

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die PISA-Ergebnisse zeigen, dass es durchaus einen positiven Zusam-menhang zwischen gesteigerter Leistungsbereitschaft, Schulerfolg undder Erfahrung von Gleichheit unter den Kindern gibt.

4.4 Familie

(122) Jede Person erfährt eine entscheidende Prägung in der Familie,in der sie aufwächst. In der Familie gleich welcher Sozialgestalt wer-den Werte vermittelt, die für die Teilhabe an der Gesellschaft ent-scheidend sind. Ziel ist es, zu einem von Freiheit, von Nächstenliebeund – für Christen – zu einem vom christlichen Glauben geprägten,selbst verantworteten und selbst bestimmten Leben zu erziehen. Inder Familie werden auch diejenigen Werte vermittelt, die das spätereVerhalten im Erwerbsleben prägen, die Einstellung zur Notwendig-keit einer Erwerbstätigkeit, zu den Anforderungen der modernenArbeitswelt, zur Notwendigkeit von Leistung und Motivation, zurNotwendigkeit, sich zu qualifizieren und sich auf das lebenslangeLernen einzustellen.

(123) Angesichts der beschriebenen Tatsache, dass Armut in Deutsch-land zu oft »weitervererbt« wird und so »Sozialhilfekarrieren« entste-hen und ganze Familien davon geprägt werden, dass sie seit Generati-onen nur das Leben von staatlichen Transfers kennen, kommt denFamilien bei der Entwicklung von Strategien gegen Armut eine be-sondere Bedeutung zu.

(124) Ein neuerer Ansatz der Armutsbekämpfung bei Familien, derÜberlegungen der Kirchen im Gemeinsamen Wort von 1997 auf-greift, ist der Kinderzuschlag. Gering verdienende Eltern, die mit ih-ren Einkünften ihren eigenen Unterhalt, aber nicht den Unterhaltihrer Kinder finanzieren können, erhalten – allerdings auf wenige Jahrebefristet – einen Zuschlag. Damit wird Beschäftigung gefördert unddie immer noch von manchen so empfundene Stigmatisierung alsEmpfänger von Fürsorgeleistungen vermieden. Wenn das Erwerbs-einkommen der Eltern den eigenen Bedarf übersteigt und ausreicht,den der Kinder zum Teil oder ganz zu decken, vermindert sich derKinderzuschlag anteilig. Allerdings zeigt die bisherige Umsetzung desKinderzuschlages, dass dieser entbürokratisiert und ausgebaut wer-den muss, sodass mehr Familien als bisher erreicht werden.

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(125) Ein Elterngeld, das als Lohnersatzleistung ausgestaltet ist, darfnicht dazu führen, dass Eltern, die vor der Geburt keinen Lohn bezo-gen haben, also arbeitslose, geringer verdienende oder in Ausbildungbefindliche Eltern, keine finanzielle Unterstützung erhalten.

(126) Das Problem der Kinder, die von Anfang an zu wenig Chan-cen auf Bildung, auf Erziehung, auf Entwicklung, auf ein gesundesAufwachsen haben, kann nicht allein durch finanzielle Transfers ge-löst werden. Heute wachsen manche Kinder schon in der drittenGeneration als Sozialhilfeempfänger heran, andere kennen in ihremStadtviertel kaum noch jemanden, der einer geregelten Erwerbstä-tigkeit nachgeht. Die Mütter sind viel jünger, weil in den betroffe-nen sozialen Milieus oft ein traditionelles Frauen- und Familienbildherrscht und nur geringe Aufstiegschancen für Frauen im Beruf be-stehen. In finanziell schwachen Familien stellen die sozialen Trans-ferleistungen, die aufgrund der Kinderzahl gezahlt werden, oftmalseinen erheblichen Anteil am Familieneinkommen dar. Der syste-matische Ausbau der Infrastruktur für Bildung, Betreuung und För-derung ist daher von großer Bedeutung. Bildung ist der zentraleAusweg aus der Armut. Kinder brauchen frühe und intensive För-derung, denn eine gute Bildung und Ausbildung ebnet ihnen denWeg in die Zukunft.

(127) Einen neuen Schritt, die Eltern mit einzubeziehen, geht Groß-britannien mit dem Modell des Early Excellence Centre, von demDeutschland auch lernen könnte. Dabei handelt es sich um frühpäd-agogische Einrichtungen, mit denen – nicht ohne Erfolg – jedemKind ein »Sure Start« ins Leben ermöglicht werden soll. Hier geht esum Bildung für die Kleinsten – nicht nur durch Sprachförderung,sondern auch durch musikalische, künstlerische, mathematische undnaturwissenschaftliche Lernangebote. Das Entscheidende an den EarlyExcellence Centres, die zumeist in sozialen Brennpunkten entstan-den sind, ist die Einbeziehung der Eltern. Die Erzieherinnen undErzieher besuchen die Eltern zu Hause und machen sich dort einBild über den Entwicklungsstand des Kindes. In den Zentren selbstwerden Familienberatungen und konkrete Hilfen angeboten. Erzie-hungsberatung und Sprachkurse für Eltern, Gesundheitsberatung,Kochkurse und Arbeitsvermittlung – was zuvor an unterschiedlichenOrten angeboten wurde und die wirklich Betroffenen nicht so rechterreichte, ist hier gebündelt untergebracht. Langfristig sollen diese

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Kinder- und Familienzentren so ausgebaut werden, dass die Kindervom Säuglingsalter bis zum zehnten Lebensjahr begleitet werden. Inder deutschen Diskussion finden sich Grundlinien dieser Idee in den»Eltern-Kind-Zentren«, den »Familienzentren« oder den »Mehr-Ge-nerationen-Häusern«. Diese sollen generationenübergreifende Ange-bote für Familien bereithalten, in denen Kinder gut gefördert undEltern in ihrer Erziehungsarbeit unterstützt, beraten und begleitetwerden.

4.5 Diakonie

(128) Es gibt wenige Institutionen und Organisationen, die über Ein-fluss in der Gesellschaft verfügen und gleichzeitig durch eine so um-fangreiche, vielfältige und intensive Arbeit im persönlichen Kontaktzu einer Vielzahl von Menschen aus allen sozialen Gruppen geprägtsind wie die Kirchen mit ihren diakonischen Einrichtungen. Wenndie Kirchen auf fragwürdige Konsequenzen politischer Entscheidun-gen hinweisen, dann sind diese Aussagen in der Regel von hoher,durch unmittelbare Begegnungen gewonnener Sachkompetenz ge-prägt und ganz vorrangig an einem ethischen Idealen verpflichtetenkonkreten Bewertungsmaßstab orientiert. Sie verdienen daher beson-dere Aufmerksamkeit. Wenn eine Gesellschaft an ihrer inneren undäußeren Erneuerung anhand des Leitbildes der gerechten Teilhabearbeitet, tut sie gut daran, den lokalen Erfahrungsschatz und die un-mittelbare Urteilskraft der kirchlichen Diakonie zu nutzen.

(129) Durch ihr diakonisches Engagement setzen sich evangelischeChristinnen und Christen auch über die unmittelbare Gemeindear-beit hinaus ehrenamtlich und durch die Organisation professionellerArbeit für eine Bekämpfung der Armut ein. »Diakonische Hilfe ge-schieht in der Nachfolge Jesu Christi, der sich mit den Geringstenunter seinen Geschöpfen identifiziert« (»Herz und Mund und Tatund Leben – Grundlagen, Aufgaben und Zukunftsperspektiven derDiakonie«, Denkschrift des Rates der EKD, 1988, Seite 15). Diako-nisches Engagement für gerechte Teilhabe der Armen darf niemalsverengt werden auf seine institutionellen Formen, so wichtig diesesind. Diakonie ist das Engagement, mit dem hauptamtlich Angestell-te in der Sozialarbeit, in den Schuldnerberatungsstellen, in der Ob-dachlosenarbeit und in vielen anderen Werken und Einrichtungen

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jeden Tag ihren Dienst tun. Diakonisches Engagement ist aber auchdie zwischenmenschliche Solidarität, die Menschen untereinander inFamilien und Nachbarschaften sowie im ehrenamtlichen Engagementin der organisierten Diakonie und in der wechselseitigen Unterstüt-zung zwischen Kontinenten üben.

(130) Die konsequente Orientierung diakonischer Arbeit an demdargestellten Leitbild der Teilhabegerechtigkeit erfordert eine verstärkteOrientierung aller Ebenen diakonischer Arbeit an drei Zielbestim-mungen:• Diakonische Arbeit für die gerechte Teilhabe der Armen muss im

Zusammenspiel zwischen dem diakonischen Engagement der Kir-chengemeinden und den institutionellen Mitteln der diakonischenTräger geschehen. Diakonie ist eine Dimension der Kirche. Diediakonischen Institutionen können den Kirchengemeinden bei derOrganisation von Hilfsangeboten für Arme mit Rat und Tat zurSeite stehen. Umgekehrt sollten die institutionellen Angebote derDiakonie von den Kirchengemeinden stärker wahrgenommen unddurch ehrenamtliche Arbeit unterstützt werden.

• Diakonische Arbeit für die gerechte Teilhabe der Armen muss sichmit anderen Akteuren der Zivilgesellschaft vernetzen. Die verschie-denen gesellschaftlichen Gruppen, die an der Überwindung derArmut arbeiten, müssen in der kirchlichen Diakonie eine Partne-rin haben, die ihre Erfahrung und ihre institutionellen Möglich-keiten für das gemeinsame Anliegen fruchtbar macht.

• Diakonisches Engagement für die gerechte Teilhabe der Armenmuss stets auch öffentliches Engagement sein. Es gehört zu denwesentlichen Aufgaben der Diakonie in den Kontroversen um denUmgang mit Armut, ihre Menschennähe, ihre Kompetenz undihr moralisches Gewicht in die zivilgesellschaftlichen Debatten ein-zubringen und für die Korrektur von sozialen Ungerechtigkeiteneinzutreten.

(131) Diakonie in der Zivilgesellschaft bedeutet als moderne Formder Hilfe in Not, eine neue Beziehung zwischen den sozialstaatlichenExpertenkulturen und den auf freiwilliger Initiative und gemeinsa-mer Verantwortung beruhenden Kulturen alltagsnaher Netzwerkeherzustellen. Das große Potenzial der Zivilgesellschaft sowie derWunsch und die Bereitschaft vieler Menschen, darunter nicht zuletztder »jungen Alten«, sich ehrenamtlich zu engagieren, sind eine wich-

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tige Grundlage für das christliche Engagement und können verstärktgenutzt werden. Darüber hinaus ist zu beachten, dass auch die Fähig-keit und die Bereitschaft zum Engagement von Bildung abhängt unddass daher Menschen auch zum Engagement befähigt werden müs-sen. Der Staat hat dabei nach wie vor die wichtige Rolle, durch Be-reitstellung entsprechender Ressourcen allen ein menschenwürdigesLeben zu ermöglichen. Den diakonischen Einrichtungen kommt nachwie vor die wichtige Rolle zu, durch ihre Professionalität die notwen-dige Qualität der Hilfe zu garantieren und Not dort zu verhindernoder zu mildern, wo der Staat nicht eingreifen kann oder soll, oderwo er eine Problemlage noch nicht erkannt hat. Die sozialen Netz-werke der Betroffenen vor Ort schließlich werden durch Staat undDiakonie ermutigt und unterstützt in ihrem Ziel, die Betroffenendazu zu befähigen, ihr Schicksal so weit wie möglich in die eigeneHand zu nehmen.

(132) Ein Schwerpunkt des diakonischen Engagements für die ge-rechte Teilhabe der Armen ist die Arbeit in sozialen Brennpunkten.Die Arbeit vor Ort ist dabei stets praxisbezogen, verfolgt aber nichtnur einen pragmatischen, sondern vor allem einen systematischenAnsatz. Ziel ist es also, nicht nur Suppenküchen aufzubauen oderSchuldnerberatungen anzubieten, sondern systematisch anhand vonZielvorstellungen Handlungskonzepte und konkrete Dienstleistun-gen mit dem Ziel der Schaffung und Sicherung von Teilhabegerech-tigkeit zu entwickeln.

(133) In den sozialen Brennpunkten verfolgt die Diakonie einen ge-meinwesenorientierten Ansatz. Aus diesem ergeben sich ganz unter-schiedliche Aufgaben: So geht es um die Verknüpfung der BereicheWohnen, Bildung, Ausbildung, Arbeit, Betreuung von Kindern undJugendlichen und die Vernetzung der Dienstleistungsangebote, aberauch um die individuelle biografische Begleitung von Menschen. MitBlick auf den Bildungsaspekt geht es darum, den Bildungsauftragbereits in den Kindertagesstätten zu erfüllen, in späteren Lebensjah-ren Menschen in sozialen Brennpunkten Hilfen bei der Hausaufga-benbetreuung zu geben und eventuell – natürlich nur in begrenztemMaße – Ausbildungsstellen bereitzustellen und in diesen Berufen auchArbeitsplätze.

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(134) Neben den – oft von Kirchengemeinden getragenen – Kinder-tagesstätten mit ihrem wichtigen Beitrag zur frühkindlichen Bildungund Erziehung haben sich eine Reihe von Gemeinwesenprojektenentwickelt, die das Ziel verfolgen, Dienstleistungs- und Hilfsangebo-te zur Verhinderung oder zur Zurückdrängung von Ausgrenzung zurVerfügung zu stellen. Die Ablösung der Komm-Struktur durch eineGeh-Struktur (z. B. auch durch die Mobile Jugendarbeit) und dieArbeit der Streetworker reagieren auf die oft anzutreffenden Problem-stellungen, indem die Handlungsressourcen von Beratungs- und Ver-mittlungsstellen in die Hilfe mit einbezogen werden.

(135) Mit den von der Diakonie formulierten Zielen und Merkma-len von gesellschaftlicher Integration wird Teilhabe bewertbar. So hatdas Diakonische Werk der EKD auf europäischer Ebene im Rahmendes Nationalen Aktionsplans »Soziale Integration« auch mit anderenPartnern vereinbarte Indikatoren erarbeitet und verwendet diese alsMaßstab für eine gelingende gesellschaftliche Integration.

(136) Auch das diakonische Engagement evangelischer Christinnenund Christen und der evangelischen Kirche als Institution ist nichtfrei von der Gefahr der Verkrustung. Dass es möglich geworden ist,wichtige traditionelle diakonische Arbeitsbereiche – allerdings weni-ger im Bereich der Armutsbekämpfung – heute aus staatlichen Mit-teln oder aus Mitteln der Sozialversicherungssysteme zu refinanzie-ren, ist auch im Interesse der Hilfebedürftigen ein großer Erfolg. Diesführt aber kaum vermeidbar in neue Abhängigkeiten der Diakonie.So ist die soziale Schuldnerberatung nun im neuen SozialgesetzbuchII eine Kann-Leistung, verengt aber die refinanzierte Inanspruchnah-me auf diejenigen Menschen, die noch in den Arbeitsmarkt integriertwerden können. Die Verantwortung für die erfreulicherweise sehrvielen hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nötigt dieLeitungen und Gremien diakonischer Einrichtungen, auch dann fürden Fortbestand ihrer Strukturen und den Erhalt der Arbeitsplätze zukämpfen, wenn möglicherweise eine ursprüngliche Notlagenkonstel-lation heute kaum noch so besteht oder andere Hilfeangebote ge-wachsen sind, wenn also die Neueinrichtung eines Hilfeangeboteskaum zur Diskussion stünde. Die meisten diakonischen Einrichtun-gen haben diese Herausforderung erkannt und arbeiten bewusst ander Erhaltung und Schärfung ihres christlichen, von einer ethischenMission und nicht von institutionellen Interessen geprägten Profils.

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Gerade das diakonische Engagement für die gerechte Teilhabe derArmen wird auch in Zukunft unverzichtbar sein. Und gerade für die-ses Engagement wird es notwendig bleiben, aus dem Reichtum deruns von Gott geschenkten Gaben und Güter als Einzelne und alsInstitution abzugeben und den von Armut bedrohten und betroffe-nen Menschen auch dort ganzheitlich zu helfen, wo eine Refinanzie-rung zurzeit nicht zu erwarten ist.

4.6 Kirchengemeinden

(137) Ärmere Menschen sind in vielen christlichen Gemeinden inDeutschland wenig oder gar nicht sichtbar. Zwar finden sich eineganze Reihe von Kirchengemeinden, in denen dies anders ist und dievor allem in sozialen Brennpunkten vieles tun, um zur Verbesserungder Lage der Ärmeren etwas beizutragen und diese auch in ihre Ge-meinde zu integrieren. Insgesamt gesehen speisen sich gegenwärtigdie christlichen Gemeinden jedoch eher aus einem – regional sehrunterschiedlich ausgeprägten – Mittelschichtsmilieu, das nicht nurwenig Ärmere aufweist, sondern sich auch im Bildungsniveau, Le-bensstil und im ganzen Verhalten deutlich gegen andere Milieus ab-grenzt. Diese Situation ist nicht ungewöhnlich; andere Organisatio-nen und Institutionen der Gesellschaft verhalten sich ebenso. Aus derSicht der von unzureichenden Teilhabemöglichkeiten betroffenenMenschen zählt die Kirche, gemeinsam mit anderen Einrichtungen,deswegen in der Regel zu denen, die eher »oben« angesiedelt sind undmit denen man zwar unter bestimmten Bedingungen etwas zu tunhat, zu denen man aber nicht gehört und in denen man sich deswe-gen auch nicht betätigt.

(138) Die Gründe für diese mangelnde Beteiligung liegen in erhebli-chen emotionalen, kulturellen und sozialen Distanzen. Es ist die Er-fahrung habitueller Ablehnung durch die in den Kirchengemeindenherrschenden Milieus, die diese Menschen deutlich spüren. »Ihr ge-hört nicht zu uns, bleibt deswegen fort!«, das ist das, was Menschenviel zu oft bereits an Blicken und Gesten anderer in Kirchengemein-den, aber auch in anderen gesellschaftlichen Einrichtungen, erfahren.Während sich Menschen aus der Mittelschicht in den Kirchengemein-den wohl fühlen können, ist diese Erfahrung bei den Ärmeren seltenzu finden.

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(139) Ein Anknüpfungspunkt für Kontakte sind neben der alltägli-chen Gemeindearbeit, vor allem im Zusammenhang mit Kasualien(Taufen, Konfirmationen, Trauungen, Beerdigungen), konkrete Hil-femaßnahmen. Sie werden, wenn sie klar und eindeutig ausgerichtetwerden, auch gerne angenommen. In der Konkretion liegt hier dieChance, sich auf die Lebenswelt dieser Menschen einzustellen undihnen an bestimmten Punkten – sei es materiell, sei es in andererForm – unmittelbar Erleichterung zu verschaffen. Diese Hilfe mussauf Augenhöhe erfolgen und darf den Hilfebedürftigen nicht abwer-ten. Sie muss deutlich erkennbar Hilfe zur Selbsthilfe sein, d. h. dieimmer vorhandenen Eigenkräfte der Armen stärken und sie nichtdurch Hilfe von außen ersetzen wollen. Teilhabe kann nur gelingen,wenn die finanziellen Mittel, die Armen zur Verfügung stehen, fürein normales Miteinander ausreichend sind und wenn nicht durchdie Wohnstruktur Begegnungen verhindert werden.

(140) Eine besondere Chance gemeindlicher Zuwendung im Unter-schied zum gesetzlich geregelten sozialstaatlichen Handeln liegt in dervon Christinnen und Christen gepflegten Kultur der Barmherzigkeit,die in dem von Gott gegebenen Auftrag wurzelt, den Nächsten wiesich selbst zu lieben. Persönliche und gemeindliche Barmherzigkeit,die oft auch aufgrund der Nähe zu den betroffenen Menschen ge-schieht, wollen und können einen regelhaften Sozialstaat (einschließ-lich der Angebote der professionellen Diakonie) und ein zielgerichte-tes Bildungswesen nicht ersetzen. Barmherzigkeit ist aber für spezielleNotfälle und eine ganzheitliche Hilfestellung auch deshalb unverzicht-bar, weil sie sich auch auf die emotionalen und seelischen Aspekte dermenschlichen Existenz richtet.

(141) Auch in der kirchlichen Kommunikation zeigen sich typischeVerhaltensweisen, diskursive und mentale Muster, die in der Regelunbeabsichtigt deutliche Distanzen zur Lebenswelt der Armen schaf-fen. Dazu gehören typische Formen der Konsumkritik, auch der Kri-tik an typischer Mediennutzung, bestimmten betont männlichen Ver-haltensweisen u. ä. Die in der kirchlichen Kommunikation tradiertenMuster entstammen einer Mittelschichtskultur, die ihre eigenen Wertevon denen der Unterschicht abgrenzt und entsprechend stilisiert. Umwirklich eine Heimat zu bieten, müsste zuerst der kirchliche Diskurs,dann aber auch der kirchliche Alltag sich auch für andere Lebensstil-elemente öffnen und gemeinsam mit den von Armut betroffenen

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Menschen versuchen, eine Kultur im Hinblick auf die Erfahrung vonSelbstverantwortung weiterzuentwickeln.

(142) Ein weiteres wesentliches Hindernis in der Kommunikationzwischen vielen Gemeinden in ihrer heutigen Zusammensetzung undnicht nur den Armen, sondern vielen der Kirche noch fern stehen-den Menschen, sind die der kirchlichen Kommunikation und denkirchlichen Verhaltensweisen zu Grunde liegenden Bilder von bür-gerlich-intakten Gemeinschaften. Die Situation der Armen ist davonoft verschieden. Die Auseinandersetzungsformen sind sehr viel hef-tiger, direkter und spontaner. Auch finden sich andere Muster weib-licher und männlicher Teilhabe, als dies sonst in der Gesellschaft derFall ist. Werden nun diese Strukturen mit normativ aufgeladenenBildern bürgerlichen Familienlebens unterlegt, so können sich dieArmen auch hier nur als defizitär erfahren und erleben auf diese Weiseihre Ausgrenzung als weiter verschärft. Wer sich für Arme in denKirchengemeinden engagiert, braucht in dieser Hinsicht die Kraft,viel Ungewohntes auszuhalten und nicht von vornherein abzuwer-ten.

(143) Erfahrungen der Armut und der Ausgrenzung werden in typi-schen kirchlichen Diskursen und im kirchlichen Alltag nur seltenangesprochen. Deswegen müssen mehr Wege gefunden werden, Er-fahrungen der Ausgrenzung in den Kirchengemeinden zum Themawerden zu lassen. Solche Erfahrungen dürfen nicht sofort mit gutenRatschlägen an den Rand gedrängt werden. Wo es gelingt, die unglei-che Teilhabe an der Gesellschaft offen anzusprechen, kann es überMilieugrenzen hinweg zu sehr produktiven Kooperationen kommen.

(144) Entscheidend ist es, dass Kirchengemeinden Möglichkeitender Aktivierung Armer entwickeln und in der Lage sind, nicht dieSchwächen von Armen zu kompensieren, sondern an deren Stärkenanzuknüpfen. Diese Stärken bestehen z. B. in der Spontaneität, derFähigkeit zu überleben, im Humor und in durchaus lustbetontenGemeinschaftsformen. Erfahrungen gemeinsamen Feierns sind ganzwesentliche Punkte des Kontakts zu Armen und ihrer Anerkennungund Aktivierung.

(145) Kirchengemeinden können in dieser Hinsicht ein hervorra-gendes Einübungsfeld von Teilhabe und Anerkennung von Armen

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sein – sie müssen dies allerdings bewusst anstreben. Von selbst stel-len sich Arme, die selbstverständlich aus theologischer Sicht immergleichwertige Glieder am Leibe Christi und damit gleichberechtig-te Mitglieder der Gemeinde sind, in den aktiven Teil der Kirchen-gemeinde nicht ein. Sie finden erfahrungsgemäß auch nur danneinen Weg, wenn sie über bestimmte Personen Kontakt in Kirchen-gemeinden hinein finden und wenn diese Einladung nicht nur Ein-zelne, sondern auch Gruppen von Menschen einschließt. Wo vonArmut bedrohte oder in Armut lebende Menschen auf diese Weisefür Kirchengemeinden gewonnen werden können, können dannaber auch durchaus nachhaltige Bindungen an Kirchengemeindenentstehen.

(146) Wichtig ist es, Situationen zu schaffen, in denen sich möglichstelementare aktionsorientierte Fähigkeiten der Menschen entfaltenkönnen. Menschen aus dem Bereich der von Armut Bedrohten er-kennen vor allem an den Formen von Körperlichkeit, ob sie in einerbestimmten Situation anerkannt oder abgewertet werden. Entspre-chend müssen sinnvolle Angebote wie Sport, Schularbeitenhilfen oderdie Vermittlung von Minijobs über Minijobbörsen gestaltet sein. Gutsind offene Formen, in denen viel Erfahrungsbezug und wenig the-matische Orientierung nötig sind.

(147) Kirche ist als eine von wenigen Institutionen in der Gesell-schaft in der Lage, Teilhabe ohne formale Voraussetzungen wie Geldoder Arbeit zu gewähren. Das Recht zur Teilhabe an der Kircheerlangt man durch die Taufe, die ohne eigene Würdigkeit vollzogenwird. In der Taufe wie in der Gemeinschaft des Abendmahls sindalle Menschen gleich vor Gott und allen wird eine gleiche Würdezugesprochen. Das Recht auf Teilhabe ist von daher durch die Taufeuniversell gegeben und ist prinzipiell frei von Geld oder der Beteili-gung an anderen gesellschaftlichen Gütern und Anerkennungsbe-reichen. Diese großartige Bedeutung der Taufe sollte sich in derLebenswirklichkeit von Kirchengemeinden durch eine große Of-fenheit für alle, auch für die von Armut Betroffenen und Bedroh-ten, real zeigen.

(148) Der dem christlichen Glauben innewohnende Realitätssinnbewahrt uns vor der Versuchung zu meinen, wir könnten mitmenschlicher Kraft alle Armut im Sinne eines Ausschlusses von der

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gesellschaftlichen Teilhabe endgültig aus der Welt schaffen. Abergerade deshalb ist es eine Christenpflicht, alles zu tun, damit jederund jede mit ihren und seinen Gaben und Fähigkeiten in der Ge-sellschaft Anerkennung findet und zur eigenen Versorgung sowiezum Wohl aller das ihm und ihr Mögliche beitragen kann.

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Diese Denkschrift wurde von der Kammerder EKD für soziale Ordnung vorbereitet.

Ihr gehören an:

Prof. Dr. Gert G. Wagner (Vorsitzender), BerlinProf. Dr. Reinhard Turre (stellv. Vorsitzender), LeipzigProf. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, BambergCornelia Behm MdB, KleinmachnowBundesministerin a. D. Dr. Christine Bergmann, BerlinUlf Claußen, BerlinRichterin am Sozialgericht Dr. Antje David, PfinztalDr. Clemens Dirscherl, Waldenburg-HohebuchProf. Dr. Diether Döring, Frankfurt/MainHauptgeschäftsführer Horst Eggers, BayreuthDr. Ursula Engelen-Kefer, BerlinOberkirchenrat David Gill, BerlinDr. Reinhard Göhner MdB, BerlinKerstin Griese MdB, RatingenProf. Dr. Helga Hackenberg, BerlinProf. Dr. Traugott Jähnichen, BochumProf. Dr. Jörg W. Knoblauch, GiengenMinisterialdirigent Dr. Ernst Kreuzaler, BerlinDr. Rudolf Lachenmann, WertheimProf. Dr. Doris Neuberger, RostockUwe Schwarzer, BerlinDr. Wolfram Stierle, BerlinThomas Voigt, HamburgProf. Dr. Gerhard Wegner, HannoverStadtdirektorin Beate Zielke, KrefeldOberkirchenrat Dr. Jens Kreuter (Geschäftsführung)

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Kundgebung der Synode der EKD

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5. Tagung der 10. Synode derEvangelischen Kirche in Deutschland (EKD)

Kundgebung zum Schwerpunktthema

Gerechtigkeit erhöht ein VolkArmut muss bekämpft werden –Reichtum verpflichtet

Als Gottes Ebenbilder sind alle Menschen gleich. Die Würdeund der Wert des Lebens sind Gottes Geschenk. Armut kann die-se Würde nicht beeinträchtigen, und Reichtum fügt ihr nichtshinzu. Allerdings gibt es Lebenssituationen in Armut, die derWürde des Menschen Hohn sprechen und auch ein falsches Ver-trauen auf Reichtum. Wir sind von Gott aneinander gewiesenund tragen füreinander Verantwortung. Menschen vom gemein-samen Leben auszuschließen und Teilhabe zu verweigern, ist Sündevor Gott. Gott traut uns zu, unser Land gerecht zu gestalten undseinen Reichtum zum Wohle aller einzusetzen. In diesem Geistäußern wir uns zur Situation der Menschen in unserem Landeund erwarten, dass Armut bekämpft und Reichtum in die Pflichtgenommen wird. In den Armen begegnet uns Christus. »Reicheund Arme begegnen einander – der Herr hat sie alle gemacht«(Spr 22,2).

Deutschland ist ein reiches Land. Noch nie in der Geschichteverfügten Menschen in unserem Land über so umfangreiche Ein-kommen und Vermögen. Der gesamtwirtschaftliche Reichtum istin den letzten Jahren trotz aller wirtschaftlichen Probleme nochweiter gewachsen. Viele Unternehmen erzielten in den letztenJahren enorme Gewinnsteigerungen. Weltweit gehört Deutsch-land insgesamt zu den Gewinnern der Globalisierung. Diese Si-

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tuation macht es möglich und verpflichtet uns besonders, weitmehr als bisher zu gesellschaftlichem Wohlstand für alle beizutra-gen und Armut zu bekämpfen.

Deutschland ist ein armes Land. Noch nie seit dem Ende desZweiten Weltkrieges ist der Anteil der Menschen, die von Armutbedroht sind, so schnell gestiegen, wie in den letzten siebenJahren: Er liegt nun bei 17 Prozent der Bevölkerung. Die Kluftzwischen Reichen und Armen wird größer. Die Chancen zur ge-rechten Teilhabe sinken drastisch. Dadurch wird der soziale Frie-den gefährdet.

Ungleichheit wächst. In Deutschland ist besonders Vermögenzunehmend ungleich verteilt. Inzwischen verfügt das reichsteZehntel der Bevölkerung nahezu über die Hälfte des gesamtenPrivatvermögens. Dagegen besitzt das unterste Zehntel nicht vielmehr als ein Zwanzigstel. Mittlerweile gibt es vermehrt Löhneunterhalb des Existenzminimums, während Gehälter von Spit-zenverdienern explodieren. Diese Entwicklung entwertet die Le-bensleistung von Millionen von Menschen. Die gesellschaftli-che Akzeptanz von Einkommenszuwächsen der Reichen ist nurgewährleistet, wenn alle Bevölkerungsteile Zuwächse verzeich-nen.

»Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringstenBrüdern, das habt ihr mir getan.« (Mt 25,40)

1. Den Ausgleich gestalten! Die zunehmende Ungleichheit be-droht das Ziel der Sozialen Marktwirtschaft, Wohlstand füralle zu schaffen. Wir plädieren nicht für eine »Robin-Hood-Haltung«. Die Verteilung von Gütern von den Reichen zu denArmen allein setzt keine nachhaltige Wohlstandsentwicklungin Gang. Aber Besitzer hoher Einkommen und Vermögen

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müssen stärker als in den letzten Jahren Verantwortung für dasGemeinwesen übernehmen. Dazu müssen sie vom Staat in diePflicht genommen werden. Dankbar nehmen wir zur Kennt-nis, wenn Reiche zum Beispiel über Stiftungen oder Spendeneinen zusätzlichen Beitrag zum sozialen Ausgleich leisten.

Konkret:– Unsere Gesellschaft braucht ein Steuersystem, das alle Ein-

kunftsarten erfasst, nach Leistungsfähigkeit besteuert undtransparent ist. Wer im Rahmen seiner Möglichkeiten zurFinanzierung des Gemeinwesens beiträgt, hat Anlass, stolzzu sein. Schwarzarbeit schadet.

– Wir rufen alle evangelischen Gemeinden auf, sich durchein Projekt zur Armutsüberwindung und Armutsvermei-dung zu profilieren.

2. Weltweit faire Chancen eröffnen! Der Reichtum Deutsch-lands stellt auch international eine Verpflichtung dar. UnserLand muss deutlicher als bisher Beiträge zur Gestaltung derweltweiten Entwicklungspartnerschaft zwischen reichen undarmen Ländern leisten. Dazu gehört eine Steigerung der Aus-gaben für Entwicklungszusammenarbeit. Der Welthandel unddas internationale Finanzsystem müssen so gestaltet sein, dassdie Menschenrechte sowie ökologische Standards verwirklichtwerden können. Ein faires Regelsystem für die Weltwirtschaftist nötig.

Konkret:– Bundesregierung und Bundestag sollen dafür sorgen, dass

internationale Akteure aus Deutschland die Einhaltung derMenschenrechte sowie soziale und ökologische Standardsaktiv fördern.

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– Die Kirchen, ihre Gemeinden, Werke und Dienste sollenihre Ressourcen in fairer Weise einsetzen, zum Beispiel durchKonsum fair gehandelter Produkte, ethisch verantwortli-che Geldanlage und Bereitstellung von zwei Prozent desKirchensteueraufkommens für kirchlichen Entwicklungs-dienst (dazu ist die Einführung einer EKD-Umlage zu prü-fen).

3. Alle Menschen werden gebraucht! Die Zahl der Menschen,die sich nicht mehr an gemeinschaftlichen und bürgerschaftli-chen Aktivitäten beteiligen, nimmt zu. Gerade wer lange ar-beitslos ist, zieht sich zurück, weil er glaubt, nicht mehr mit-halten zu können; andererseits sind andere so belastet, dass siesich nicht mehr ehrenamtlich engagieren können. Kompetenzund Kreativität bleiben ungenutzt. Jede und jeder ist wichtig,alle verfügen unabhängig vom materiellen Vermögen überGaben, die für die Gemeinschaft wertvoll sind. Dies muss füralle Menschen erfahrbar sein. Die Chance, durch eigenes Be-mühen seinen Lebensunterhalt zu sichern, gehört zur Würdeund zur Freiheit jedes Menschen. Unter den gegenwärtigenBedingungen ist darum ein öffentlich geförderter Arbeitsmarktnotwendig.

Konkret:– Für den öffentlich geförderten Beschäftigungssektor müs-

sen neue Modelle gefunden werden. Wir unterstützen das»Passiv-Aktiv-Transfer«-Modell des Diakonischen Werkesder EKD.

– Wir müssen überall zu einer Kirche werden, in der ArmeHeimat haben und an den Entscheidungen in ihren Ge-meinden beteiligt sind.

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4. Öffentliche Güter für alle bereitstellen! Materieller Reich-tum dient der Verwirklichung menschlicher Ziele und ist nichtein Ziel an sich. Der Reichtum in unserer Gesellschaft musszur Sicherung des allgemeinen Wohlstandes herangezogen wer-den. Der Staat muss über ausreichende Ressourcen verfügen,um handlungsfähig zu sein und den Zugang zu öffentlichenGütern zu gewährleisten. Der faire Zugang zu diesen öffentli-chen Gütern sichert die Entfaltungsmöglichkeiten aller undverhindert den Ausschluss von Menschen.

Konkret:– Wir fordern für ärmere Kinder eine bundesweite Freizeit-

karte, die öffentlich finanziert ist.– Wir rufen zu Gemeindepartnerschaften auf, in denen wohl-

habende Gemeinden Projekte in ärmeren Gemeinden un-terstützen.

5. Gleiche Bildungs- und Ausbildungschancen sicherstellen!Die Chancengleichheit bei Bildung und Ausbildung hat abge-nommen. Besonders benachteiligt sind Kinder aus armen Fa-milien und Familien mit Zuwanderungsgeschichte. Mehr in-dividuelles Fördern und Fordern, Begleitung sowie Integrationsind zwingend erforderlich. Das Bildungssystem trägt immernoch zur Verstärkung der Ungleichheit von Lebenschancen bei.Wir erwarten seine Veränderung. Besondere Beachtung mussdabei der Ausbau und die Qualifizierung der frühkindlichenBildung finden. Die Bereitstellung der erforderlichen Finanz-mittel muss selbstverständlich sein. Bildung stellt einen Wertan sich dar. Wenn Bildungsabschlüsse zu keiner beruflichenPerspektive führen, werden sie entwertet. Die Bereitstellungvon Ausbildungsplätzen muss als Verpflichtung begriffen wer-den.

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Konkret:– Frei werdende Mittel aufgrund sinkender Kinderzahlen

müssen für Bildungsaufgaben und zur Qualitätsverbesse-rung im Bildungswesen in den öffentlichen Haushalten ver-bleiben.

– Kirche darf sich nicht aus ihrer Mitverantwortung für dasstaatliche Bildungswesen zurückziehen, sie nimmt ihre Ver-antwortung als Trägerin von Kindertagesstätten und Schu-len in besonderer Weise wahr.

»Wem viel gegeben ist, bei dem wird man auch viel suchen.«(Lk 12,48)

Reichtum verpflichtet. Das Streben nach Wohlstand gehört zumLeben des Menschen. Reichtum kann eine gute Gabe in der Schöp-fung Gottes sein. Reichtumsvermehrung darf jedoch nicht dieLebensgrundlagen und Teilhabechancen anderer gefährden. Reich-tum muss dem Gemeinwohl heute und in Zukunft dienen. Dergerechten Verwendung von Reichtum, die den Menschen Frei-heit und Teilhabe ermöglicht, ist Gottes Segen verheißen.