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Unverkäufliche Leseprobe aus: Gerhard, Roth Grundriss eines Rätsels Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektroni- schen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Gerhard, Roth Grundriss eines Rätsels - fischerverlage.de · allem Fotografien der Entzifferer, der ersten Krypto- logen wie Jean-François Champollion, der die ägypti- schen Hieroglyphen

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Unverkäufliche Leseprobe aus:

Gerhard, RothGrundriss eines Rätsels

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern,

auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags

urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die

Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektroni-

schen Systemen.

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

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»Mama, Mama, Mama!« Vor einer Woche hatte PhilippArtner die »Mama-Mama«-Rufe durch die Wand sei-nes Arbeitszimmers zum ersten Mal gehört, und seitzehn Tagen störte ihn das abendliche Gebell eines un-bekannten Hundes, das er dumpf aus der Wohnungneben seinem Schlafzimmer vernahm.

Artners Frau Doris war am Vormittag zu ihrerSchwester nach Graz gefahren, und er hielt sich imArbeitszimmer auf, um in seinem japanischen Tage-buch, das er vor acht Jahren aufgezeichnet hatte, undim Album mit den dazugehörigen Fotografien zu blät-tern. Doris hatte es am Abend zuvor gelesen und aufihrem Nachtkästchen liegen lassen. Schon immer hattesie eine Reise in das Kaiserreich unternehmen wollen,und er hatte ihr versprochen, in nächster Zeit mit ihrgemeinsam nach Tokio zu fliegen. Vor allem beab-sichtigte sie, die Darstellungen auf japanischen Holz-schnitten mit den Eindrücken zu vergleichen, die siedort selbst gewinnen würde. Zu seiner Überraschungfand er in dem Tagebuch ein Bild, das ihn selbst mitdem Orang-Utan-Weibchen Nonja zeigte, mit dem erbei Besuchen im Tiergarten Schönbrunn regelmäßig zusprechen versuchte. Eine bekannte Fotografin hatte es

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erstes buch

Artners Verschwinden

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seinerzeit aufgenommen. Vermutlich hatte Doris dasSchwarz-Weiß-Bild als Lesezeichen benutzt. Das Tage-buch lag vor ihm wie die stumme Gegenwelt zur auf-dringlichen Wirklichkeit, die ihn mit den Hilferufender fremden Stimme quälte. Von Anfang an schloss eraus, dass sie von einem Kind stammten – dafür wardie Stimme zu selbstsicher und zu erwachsen. Als ersie zum ersten Mal gehört hatte, hatte er an die Wandgeklopft und laut gefragt, ob jemand Hilfe benötige.Daraufhin waren die Rufe verstummt, aber nach einerkurzen Pause hatten sie von neuem begonnen. Nach-dem er abermals an die Wand geklopft und seine Hilfeangeboten hatte, hatten sie sofort wieder aufgehört.Das hatte sich mehrmals wiederholt, bevor es dannendgültig still geworden war.

Am nächsten Vormittag zur gleichen Zeit began-nen die »Mama«-Rufe wieder, und er handelte wie amVortag, und kurz darauf verstummten die Rufe auch.

Das Bellen des Hundes hatte er zum ersten Malim Schlafzimmer gehört, als er auf seinem Bett lagund las. Es schien aus Einsamkeit und Verlassenheitzu kommen und wollte nicht aufhören. Weil es län-ger dauerte, hatte er den Verdacht, es sei die Antwortdes Tieres auf eine Strafe. Später begab er sich in seinArbeitszimmer, wo sogleich – wie befürchtet – die»Mama-Mama«-Rufe einsetzten.

Seine Frau Doris rief, als auch sie auf die Geräuscheaufmerksam geworden war, laut »Hallo! Hallo!«, wor-auf die Rufe und das Bellen aufhörten, bald daraufaber wieder von neuem anfingen.

Bislang hatte Artner in seinem Arbeitszimmernur eine bestimmte Art von Lauten vernommen: das

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Krächzen der Krähen im Hof. Er liebte die Krähen undihre Geräusche. Wenn er allein war und schrieb, reg-te ihn das gedämpfte Schnarren und Knacken an. Erfühlte sich eins mit den schwarzen Vögeln, die sich imGeäst der Bäume niedergelassen hatten wie Noten aufLinien – oder wie durcheinandergeschüttelte Buch-staben, die fortlaufend einen Text von Lewis Carrollin das Gezweig schrieben, »virtuosen Unsinn«, wie erdachte.

Aber da war noch etwas: Nach einer Lesung im Jo-sefstädter Theater hatte er vor einem Jahr auf der Büh-ne einen Hörsturz erlitten, seither glaubte er mitunter,verrückt zu sein, da er verschiedene Laute nicht mehrwahrnahm, auf die ihn später seine Frau aufmerksammachte. Zumindest wurde er sich seines Alters – erwar 56 geworden – bewusst. Artner hasste es, übersein sich allmählich auflösendes Sexualleben nachzu-denken, fand er doch jetzt, mit den Jahren, das Lebenschöner als in der Zeit vorher, in der er oft nicht ge-wusst hatte, wovon er leben sollte.

Die Krähen jedenfalls hörte er, wenn es still war,wie etwas Vertrautes. Die gedämpften Geräusche derStraße hingegen vernahm er nur, wenn er das Fens-ter öffnete, um die Vögel zu fotografieren, was er ausGewohnheit immer wieder tat. Er konnte sich an denVeränderungen des Schwarms auf der Wiese nichtsattsehen, an den schwarzen Tieren im weißen Schnee,die ununterbrochen neue Muster bildeten und Spurenhinterließen, welche schließlich die gesamte Flächebedeckten. Er liebte diese Zeichen und deutete sie – jenach Laune – auch als Schrift, die ein Vogelepos fest-hielt.

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Seit einiger Zeit las er ein Buch über die Entziffe-rung alter Sprachen und Schriften, und angeregt durchseine Lektüre entdeckte er jetzt überall Schriftzeichen.Die Natur dachte, sprach und schrieb unablässig undunabhängig vom Tun der Menschen, und natürlichkonnte er die chaotische Menge an Schriften, Zeichen,Lauten und Geräuschen nicht verstehen. Er fühlte sichwohl bei dem Gedanken, in ein permanentes sprach-liches Wirken eingewebt zu sein wie in einen Kokon.Vor allem war es aussichtslos zu versuchen, sich dar-über Klarheit zu verschaffen.

Er las in dem Buch die Geschichte der altpersischenund mesopotamischen Keilschriften, der hethitischenHieroglyphen sowie der kretisch-mykenischen Line-arschriften. Der Band enthielt auch Abbildungen, vorallem Fotografien der Entzifferer, der ersten Krypto-logen wie Jean-François Champollion, der die ägypti-schen Hieroglyphen lesbar gemacht hatte, oder GeorgFriedrich Grotefend und Henry Creswicke Rawlinson,die die Rätsel um die altpersische Keilschrift gelösthatten. Außerdem fand er weitere Schriftbeispiele undAlphabete in dem Buch, die seine Phantasie anregten.Er empfand eine Leidenschaft für fremde Schriftzei-chen und Wörter. Auf einer Ägyptenreise mit seinerFrau hatte er sich in Luxor ein altes Vogelbuch mitarabischen Buchstaben und den Abbildungen unbe-kannter Tiere gekauft und in Japan ein ausgeschie-denes, gestempeltes Bibliotheksexemplar eines orni-thologischen Atlas, der vor ihm auf dem Schreibtischlag. Beim Lesen seines Tagebuchs und beim Betrach-ten seiner Fotografien und des japanischen Vogel-buchs hatte er sich in das ferne Land und die fremde

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Sprache hineingeträumt. Jetzt aber hatte dieses ferneLand sich mit einem Schlag in nichts aufgelöst, undnur die »Mama-Mama«-Rufe hallten in seinen Ohren.Die Hartnäckigkeit der Schreie erinnerte ihn an einehängen gebliebene Schallplatte und verwirrte die Ge-danken in seinem Kopf, er empfand es als Niederla-ge, seinen Arbeitsplatz räumen und das Wohnzimmeraufsuchen zu müssen. Dort beruhigte er sich langsamund betrachtete die schematische Abbildung der neu-elamischen Keilschrift des Dareios-Denkmals. Die ein-zelnen Zeichen glichen Nägeln aus Stiften mit Köpfen.Sie bildeten verschiedene Mengen, aus denen sich dieBedeutung ergab. Mit dem gleichen faszinierten Stau-nen war er durch Japan gereist und hatte die fremdenSchriftzeichen bewundert, deren Bedeutung ihm ver-schlossen geblieben war. Trotzdem ging noch immereine Anziehungskraft von ihnen aus, sobald er dasjapanische ornithologische Buch aufschlug. Sie erin-nerten ihn an Seerosen auf einem dunklen Teich … Erbetrachtete die Wirklichkeit, die ihn umgab, wie einenmehrfach belichteten Film … wie durch einen Fleisch-wolf gedrehtes Fleisch, dachte er, wie das Flirren derFlügel eines auffliegenden Käfers …

Er nahm ein Blatt Papier, um seine Gedanken, dieSprachbilder in seinem Kopf, festzuhalten. Er betrach-te die Wirklichkeit, schrieb er, als blutigen Brief, alszerstörte Geometrie, als ein Gebäude voller Geräu-sche, als von Fliegen übertragene Ekzeme, als Fischeim Eis, als Schmetterlingskonfekt, als sprechendePostkästen, als glühende Schneckenhäuser, als einenhutförmigen Bienenkorb, als Geographie des Staubes,als Medizinfläschchen voller Lügen, als Irrtum seines

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Kopfes, als quälende Störmusik, als ein vergessenesSchaukelpferd, als Nashörner in den letzten Atemzü-gen, als die Aura eines Sonnenschirms, als stotterndeLandzunge … Er las das Geschriebene, zerriss es undwarf die Schnipsel in den Papierkorb. Hierauf ging erin das Arbeitszimmer, aber es war noch immer verhextvon den »Mama-Mama«-Rufen, die durch die Wandzu hören waren.

Schon eine Woche zuvor hatte Philipp Artner einenTermin mit dem Leiter des Globenmuseums der Na-tionalbibliothek, Hofrat Wawerka, verabredet, da erdarüber einen Essay für eine Zeitung schreiben woll-te. Er kleidete sich daher an und ging das schma-le und steile Stiegenhaus hinunter, das ihn an eineTurmtreppe erinnerte und die Vorstellung in ihmwachrief, für immer in dem gemauerten Schlund ge-fangen zu sein … Er brach den Gedanken ab und tratins Freie.

Das Haus Am Heumarkt 7, das er in Wien bewohn-te, war ein kasernenförmiges Bauwerk, das im ErstenWeltkrieg Conrad von Hötzendorf als k. u.k. Ober-armeekommando gedient hatte. Es bestand aus zweigroßen Höfen, in denen alte Platanen und Kastani-enbäume wuchsen, und aus einer unüberschaubarenAnzahl von Wohnungen, weshalb ihm die meistenMieter nicht bekannt waren. Zu ebener Erde warenfrüher die Pferdeställe untergebracht gewesen, und imGang hinter dem Tor hing eine große alte Tafel, aus derdie Gliederung der Wohnungen ersichtlich sein sollte.Trotzdem verirrten sich Fahrradboten, Briefzustellerund die Klienten eines Rechtsanwaltsbüros ebensohäufig in der Anlage wie die Patienten des Zahnarz-

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tes Dr. Tuppy, den er hin und wieder selbst aufsuchte.Im zweiten Hof, der auf die Beatrixgasse hinausführte,hatte sich ein Steuerberatungsbüro niedergelassen.

Als er sich dem Tor auf der Stadtparkseite zuwand-te, kam ihm die Hausmeisterin Frau Blachy entgegen,die er wegen ihrer Sucht, bösartige Gerüchte zu ver-breiten, »das Monster« nannte. Er wollte ihr auswei-chen, doch sie blickte ihn direkt an und ging auf ihnzu.

»In zwei Tagen beginnt der Umbau«, fuhr sie ihngrußlos an.

Er hatte schon davon gehört, dass die Anlage reno-viert werden würde, blieb kurz stehen und nickte.

»Das Gebäude ist, wie Sie wissen, vor 150 Jahren er-richtet worden und die Gas- und Wasserleitungen sindschon alt«, fuhr sie fort. »Das wird nicht ohne Lärmund Dreck abgehen«, schloss sie befriedigt.

Er pflichtete ihr mit einem Kehlkopflaut bei.»Dann ist es aus mit der Ruhe«, lächelte sie scha-

denfroh.Ihm fielen die »Mama«-Rufe ein, und er fragte sie,

um zu einem Abschluss zu kommen, welche Hauspar-teien mit ihren Wohnungen an die seine grenzten. Da-bei geriet er wie immer, wenn ihm etwas unangenehmwar, ins Stottern.

»Warum?«, entgegnete die Hausmeisterin. Sie warneugierig geworden, und ihr Blick aus den kleinenAugen in ihrem verquollenen Gesicht bohrte sich inihn, um aus seinem Mienenspiel zu erraten, worauf erhinauswollte.

Er hasste sich dafür, dass er ihr gegenüber eineBemerkung gemacht hatte, stieß aber dann wie unter

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Zwang hervor: »Ach, ni-nichts. Aus dem Ne-Neben-zimmer ruft j-jemand nach s-seiner Mutter, und ineinem a-anderen bellt ein Hund.«

Über jedes gestotterte Wort war er wütend, undnoch mehr ärgerte es ihn, dass er selbst schuld an derSituation war, weshalb nur hatte er den Mund aufge-macht?

»Darüber haben sich auch schon andere Hauspar-teien beschwert«, sagte die Frau voll bösartiger Ge-nugtuung. »Die Mutter von Frau Lärchner schreit ohneUnterlass ›Mama‹, wenn die Tochter nicht zu Hauseist. Aber über den Hund habe ich noch nichts gehört.Ich werde der Sache nachgehen, darauf können SieGift nehmen.« Ihr Gesicht verzerrte sich und drückteEifer und Kampfeslust aus.

»N-nein«, widersprach er heftig. »Ich m-möchten-nicht, dass Sie m-meinetwegen –«

»In der Hausordnung steht, dass Hunde keine Be-lästigung für die Mitbewohner sein dürfen«, belehrtesie ihn.

Er wollte einen Einwand formulieren, zog es aberdann vor, die Flucht zu ergreifen, und verabschiedetesich rasch, bevor er durch das Tor auf den Heumarkthinauseilte.

Die breite Straße war wie immer stark befahren.Er schlug den Weg zum Ring ein, kam am Hotel

Hilton vorbei, wo ihm regelmäßig einfiel, dass sich voreinigen Jahren eine Mutter mit ihrem kleinen Kind ausdem obersten Stock gestürzt hatte. Er war eine Stundespäter an der Stelle vorbeigekommen. Auf dem As-phalt waren noch die Blutflecken zu sehen gewesenund die mit Kreide gezeichneten Umrisse der beiden

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Körper. Polizisten waren herumgestanden, und er hat-te einen von ihnen gefragt, was geschehen sei.

Er solle weitergehen, hatte dieser geantwortet, undals er trotzdem stehen geblieben war: »Eine Frau istmit ihrem Kind in den Tod gesprungen.«

Jedes Mal, wenn ihm das einfiel, hörte er ein Ge-räusch in seinem Kopf, das sein Gehirn erfunden hatte:den Aufschlag der Körper auf dem Asphalt – und dasKnacken von brechenden Knochen.

Wie gewohnt blieb er in der Wollzeile vor den Aus-lagen der Buchhandlungen stehen und las die Titel derausgestellten Werke. Auch wenn er nur wenig Geldbesessen hatte, hatte er es vorzugsweise für Bücherausgegeben. Er konnte Büchern, von denen er sich An-regung versprach, nicht widerstehen – egal ob es sichum die Monographie eines Malers, ein Lehrbuch derPsychiatrie, einen religiösen Philosophen, einen entle-genen Schriftsteller oder die Biographie eines Kompo-nisten handelte. Er hatte einen Drang, alles zu verste-hen, der ihm aber nicht bewusst war.

Seine Leidenschaft für Bücher hatte schon in derMittelschule begonnen und seither nie mehr nachge-lassen. Inzwischen hatte seine Bibliothek ein Ausmaßangenommen, das sein Leben in der Wohnung ein-schränkte. Überall standen Bücherregale, die bis zurDecke reichten, und in seinen geheimen Ängsten spiel-te die Vorstellung eine gewichtige Rolle, dass eines Ta-ges der Boden nachgeben und das gesamte Mobiliarseines Zimmers in das darunterliegende Stockwerkstürzen könnte. Trotzdem schränkte er sich nicht ein.Wenn er dem Wunsch, ein Buch zu kaufen, wider-standen hatte, so belästigten ihn die Gedanken daran

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so sehr, dass er es sich am nächsten Tag erst recht be-sorgte. Doch machte er sich deswegen nie Vorwürfe.Er hing an jedem einzelnen der Exemplare zu sehr, alsdass er seine Abhängigkeit als Qual empfunden hät-te. Natürlich kannte er die »Blendung« von Canetti,er sah in der Hauptfigur Kien aber einen Narren, dadieser nicht schöpferisch war, sondern ein konformerSpießer, wie übrigens viele Figuren des ebenso scharf-sinnigen wie bösartigen Schriftstellers. Er fand, dassHeimito von Doderer in dieser Hinsicht Canetti nochübertraf. Er hatte »Die Posaunen von Jericho«, die Ta-gebücher, »Die Strudlhofstiege« und »Die Dämonen«mit steigender Bewunderung gelesen und von demSchriftsteller, dem der Sadismus nicht fremd war, ge-lernt, sich selbst besser zu verstehen: »Der Schriftstel-ler ist vor allem einer, der – nichts ist«, hatte Dodererin den »Tangenten«, den Aufzeichnungen aus den Jah-ren 1940–1950 notiert. Philipp Artner hatte sich immerfür ein Nichts gehalten und wäre am liebsten unsicht-bar gewesen, um alles zu sehen, was im Verborgenenstattfand: in seiner Pubertät und Jugend die heimlicheSexualität der Erwachsenen und später, um alles zuerfahren.

Im Globenmuseum fühlte er sich wie zu Hause.Hofrat Wawerka holte ihn am Eingang ab – ein klei-ner, gebückter Mann mit nach hinten gekämmtendunklen, schütteren Haaren und einer spitzen Nase,die eine Hornbrille zierte. Er sprach ebenso schnell,wie er ihm vorauseilte, und obwohl Artner ihm raschfolgte, verstand er nicht, was der Hofrat ihm sagte. DerHofrat stellte ihm auch Fragen, ohne davon irritiert zusein, dass sein Besucher schwieg. Die großen Räume,

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in denen die Globen aufbewahrt wurden, waren zumRenovieren vorbereitet und ließen Artner an seltsameOperationssäle denken. Ein Teil der Schränke war inden Raum geschoben worden und wie die Vitrinen,die an den Wänden standen, mit großen grünen Plas-tikplanen abgedeckt. Hofrat Wawerka verlor darüberkein Wort, sondern ließ von seinem Assistenten eineAnzahl großer, reich illustrierter Globen aus dem16. und 17. Jahrhundert auf einem breiten Tisch in derMitte des Saales aufstellen. Der Assistent trug weißeHandschuhe und sprach die ganze Zeit über kein ein-ziges Wort, während der Hofrat zu jedem Prachtstückeinen ausführlichen Kommentar abgab.

Artner war begeistert von der Schönheit der seltenenGloben gewesen und hatte sie sich bis in alle Einzelhei-ten erklären lassen. Er hatte auch das riesige Exemplareiner Weltkarte gesehen, die der Jesuit Matteo Ricci1602 im Auftrag des chinesischen Kaisers hergestellthatte. Mit roter Tinte waren darauf kurze Erklärungenund Transkriptionen chinesischer und mandschuri-scher Ortsnamen in italienischer Sprache hinzugefügtworden, die die ohnehin seltene Karte zu einem Unikatmachten. Zuletzt betrachteten sie – nach anderen chi-nesischen Landkarten – die berühmte Himmelskartedes Johann Adam Schall von Bell, eines Jesuiten, deres bis zum Leiter des Pekinger Mathematischen Tribu-nals gebracht hatte.

Während der Hofrat mehr als eine Stunde mit ihmsprach, verlor sich Artner in den Einzelheiten der dar-gestellten Kontinente und verglich die Globen undLandkarten in Gedanken mit dem menschlichen Ge-hirn und den Bereichen, in denen Erinnerungen und

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Sprache gespeichert waren. Er dachte an die frem-den Sprachen, Träume und Kopfbilder, die in allenmenschlichen Gehirnen jemals gespeichert wordenwaren und dort ein Eigenleben geführt hatten – undhörte zuletzt nicht mehr zu, was der Hofrat ihm er-zählte. Seine Gedanken schweiften zu seinem letztenBesuch in der Nationalbibliothek ab, als ihm der leb-hafte Hofrat Sprenger von der Musikaliensammlungdie Partitur der dritten Symphonie von Gustav Mahlergezeigt hatte. Artner hatte weder die Notenschrift nochdie archivierten Briefe des Komponisten lesen können,und in seinem Kopf war alles zu einer Botschaft ausder vergangenen Zeit geworden, die, wenn man denCode entzifferte, plötzlich wieder sichtbar und hörbarwerden konnte.

Inzwischen zeigte ihm der Hofrat ein selten starkbeschädigtes Exemplar eines Globus. Er war zerbeult,und der Kontinent Afrika war fast zur Gänze abge-wetzt, Australien überhaupt noch nicht vorhanden.Der darüber hinaus bizarr zerdrückte Globus ließihn wie häufig daran denken, dass die Schöpfung im-mer auch mit einem Zerstörungsprozess verbundenwar, der alles, was existierte, wieder vernichtete – seies durch Naturvorgänge, durch Zufälle, die mit demSchicksal gleichgestellt wurden, oder mit Absicht. Zer-störung und Zerstörungsvorgänge waren es auch, dieihn am meisten beschäftigten und bestimmten, was erschrieb. Wie selbstverständlich hielt er Ausschau nachdiesen Ereignissen in der Natur, im Privatleben vonMenschen, in der Geschichte, in der Religion, in derzeitgenössischen Kunst und Literatur und nicht zu-letzt in der Musik. Alle Kunstwerke, die auf ihn einen

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Eindruck gemacht hatten, stellten Zerstörungsvorgän-ge dar oder hatten mit Zerstörungsvorgängen zu tun –egal ob es sich um die Zerstörung einer Form, einerAnsicht, einer gesellschaftlichen Haltung oder einesungeschriebenen Gesetzes handelte: die sogenanntenmarkanten Ereignisse in der Geschichte der Mensch-heit und der Künste. In Geburt und Liebe erkannte erschon seit längerem den unschuldigen Anfang einesmehr oder weniger komplexen Zerstörungsvorganges.Konnte er die gleichen Vorgänge nicht auch in seinemalternden Körper beobachten, und versuchte er sienicht mit Hilfe der Medizin zu bekämpfen?

Er bewunderte Künstler, die den Zerstörungsvor-gängen Momente der Schönheit entgegensetzten undbestrebt waren, ein Universum des Schönen zu errich-ten. Lag nicht darin der wahre Kampf gegen den Todund die eigentliche Größe der Menschen?, fragte ersich. Er war sich allerdings längst im Klaren, dass essich dabei um eine Illusion handelte, wenn auch umeine grandiose.

Zu Hause dachte er weiter über den beschädigtenGlobus nach. Es war auffallend still. Eine Zeit langblickte er aus dem Fenster hinunter in den Hof, in demein Krähenschwarm nach Nahrung suchte. Er wusstenicht, wie oft er die Krähen schon beobachtet hatte. Erhatte sogar ein Krähennotizbuch angelegt, in dem erseine Beobachtungen und die verschiedensten Analo-gien und Metaphern festgehalten hatte, die ihm zu denschwarzen Vögeln einfielen. Diesmal begnügte er sichdamit, beim Zuschauen seinen Kopf zu leeren, an dieKrähen zu denken und dabei alles Übrige zu vergessen.Vor einiger Zeit hatte er eine Eule im Baum entdeckt,

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die den ganzen Tag über still dort saß. Er konnte es an-fangs nicht glauben, aber sein Taschenfernrohr zeigte– kein Zweifel – den bewegungslos dasitzenden Vogel.Später rief er seine Frau in Graz an, erfuhr, dass alleswie gewohnt ablief, und begann dann in einem Buchzu blättern, das er auf dem Heimweg in einem kleinenAntiquariat in der Auslage gesehen und gekauft hatte.Es war von einem Professor der Medizin, Anton Neu-mayr, verfasst und trug den Titel »Musik & Medizin.Band 1 – Am Beispiel der Wiener Klassik«. Das Buch,das er bereits 1980 als Patient im Rudolfiner-Spital inManuskriptform gelesen hatte, beschrieb Leben undSterben von Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven,Franz Schubert und Wolfgang Amadeus Mozart.

Er war damals, als er in Hamburg beim Genussvon Cashew-Nüssen einen anaphylaktischen Schockerlitten hatte, auf der Intensivstation der Universitäts-klinik gelandet und noch am selben Abend, nachdemsein Magen ausgepumpt worden war, entlassen wor-den. Auf seiner anschließenden Heimreise war er inWien einer Einladung zum Heurigen gefolgt und hat-te dort, entgegen den ärztlichen Anweisungen, Weingetrunken und eine Schachtel Zigaretten geraucht.Noch in der Nacht hatte er einen Asthmaanfall erlittenund war am Morgen darauf in das Rudolfiner-Spitalin die Abteilung von Professor Neumayr eingeliefertworden. Neumayr, ein freundlicher Herr mit breitemLächeln, hatte ihm einen Betablocker verschrieben, derseinen Blutdruck besorgniserregend abfallen ließ, undihm nach Stabilisierung seines Zustandes durch eineKrankenschwester ein Konvolut maschinenbeschrie-benen Papiers übergeben lassen – die Urfassung des

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Buches, das er jetzt in Händen hielt. Damals, nochunter dem Eindruck seiner tiefen Ohnmacht in Ham-burg, hatte er das Manuskript Zeile für Zeile gelesen,die minuziösen Schilderungen der Todeskrankheitender Komponisten und die Versuche, nachträglich eineendgültige Diagnose dafür zu finden. Gegen fünf Uhrfrüh, als er seine Lektüre beendet und dem Professorschriftlich die Zusammenarbeit mit einem Lektor emp-fohlen hatte, war er aus dem Krankenhaus geflohen.Sein Nachbar hatte noch tief geschlafen, und als er aufden Gang hinausgetreten war, hatte ihn eine erschro-ckene Ärztin, die den Nachtdienst versehen und gera-de einen frisch Eingelieferten betreut hatte, vergeblichzum Bleiben zu überreden versucht und anschließendgenötigt, einen Revers zu unterschreiben.

Im gedruckten Buch zu blättern war jetzt etwasganz anderes. Er begann gerade über die Todeskrank-heit von Wolfgang Amadeus Mozart zu lesen, da setz-ten die »Mama-Mama«-Rufe in der Nachbarwohnungwieder ein. Zuerst ignorierte er sie, aber kurz darauflas er nicht mehr weiter, sondern lauschte gebannt,ohne an etwas anderes denken zu können. Da es sinn-los war, mit der Lektüre fortzufahren, schlug er dieSteckalben mit seinen Japan-Fotografien auf.

Das Land und die Menschen hatten ihn auf seineracht Jahre zurückliegenden Japanreise so sehr bewegt,dass er vierzig Filme mit seiner damals noch analo-gen Nikon-Spiegelreflexkamera verbraucht hatte. JedeNacht hatte er außerdem bis in die frühen Morgen-stunden Aufzeichnungen gemacht und dabei mehre-re schwarze Moleskine-Notizbücher vollgeschrieben.Was er auf Reisen festhielt, verwendete er zumeist

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als Material für daraus entstehende Romane, die aufseinen zufälligen Wahrnehmungen, Begegnungenund Ereignissen aufbauten. Später dachte er sich denGrundriss einer Geschichte aus, die das Gewebe derfestgehaltenen Eindrücke und Erinnerungen durch-dringen und sich in ihnen auflösen sollte, wie es denErfahrungen seines Lebens, das keine Geschichten er-zählte, entsprach. Er sah anstelle von Geschichten im-mer nur eine Summe von Momenten, aus denen dasGehirn später Geschichten konstruierte. Daher spürteer vor allem Augenblicken nach, die er selbst erlebthatte und die ihm daher glaubwürdiger erschienen.Trotzdem verwandelte sich beim Schreiben alles inErfindung, da er sich dann nur von der Sprache, denWörtern, Sätzen und seiner Phantasie, die das Mate-rial umdeuteten, leiten ließ. Natürlich schied er vielesvon den Notizen und Fotografien aus und fügte neueEinfälle und Gedanken hinzu, bis sich schließlich et-was Literarisches daraus entwickelte und ein Eigen-leben gewann. Nachdem er die Bilder überflogen unddabei die Gedanken an die Abgründe einer Schreib-sperre, einer lähmenden Sprachlosigkeit, verdrängtund sich auch die Frage gestellt hatte, wie weit seinbeeinträchtigtes Gehör die Krähenlaute und die »Ma-ma-Mama!«-Rufe verfälscht oder nur fragmentarischwiedergegeben hatte, legte er die Alben zur Seite undschloss die Augen. Dadurch hörte er aber die »Mama-Mama«-Rufe umso deutlicher, sie erschienen ihm jetztso geheimnisvoll wie die Laute der Krähen hinter demFenster im Hof.

Als er die Lider wieder öffnete, kam ihm der Einfall,mit seinem CD-Player Musik zu machen, die die Rufe

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übertönen würde. Er suchte eine Auswahl von Anto-nio Vivaldi heraus, legte die kleine Silberscheibe aufden Teller, und schon nach den ersten Takten hatte erden Eindruck, dass die Rufe verstummt waren. Wäh-rend der gesamten Spielzeit war es dann wirklich still,und auch nach Ende des Konzerts regte sich nichtsauf der anderen Seite der Wand. Die Stille beschäm-te ihn jetzt, da er die Hilfe-Rufe nur als Belästigungverstanden hatte. Er legte die »Vier Jahreszeiten« auf,und nachdem auch dabei nichts aus der Nebenwoh-nung zu hören gewesen war, hatte er in dem Buch vonNeumayr weitergelesen. Gerade als er aufstehen woll-te, um die nächste CD abzuspielen, läutete es an derTür. Draußen stand die Frau, die die Wohnung unterihm bewohnte und sich häufig über tatsächlichen odereingebildeten Lärm beklagte. Zumeist fühlte sie sichdurch seinen Fernsehapparat gestört, wogegen sie re-gelrecht rebelliert hatte, dann waren es das Radio oderder CD-Player gewesen und schließlich seine Schritte,die sie durch die Decke ihres Wohn- und Schlafzim-mers hörte. Sie hatte ihn aufgeregt angerufen oderZettel mit Beschwerden durch den Postschlitz einge-worfen, auch ein kleines Päckchen mit Filzpantoffelnvor die Tür gelegt und am Ende persönlich um Ruheersucht. Das geschah an Wochenenden sogar währenddes Tages und an den Wochentagen in der Regel erstam späteren Abend. Einmal konnte sie, wie sie sagte,nicht einschlafen, dann nicht arbeiten, da sie zu Hau-se wissenschaftliche Artikel über chemische Problemeschrieb. Anfangs hatte er, der solche Beschwerdennicht gewohnt war, ihre Reklamationen ernst genom-men und Abhilfe versprochen, hatte sich Kopfhörer

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für den Fernsehapparat gekauft und Turnschuhe an-gezogen, doch stellte sich allmählich heraus, dass siejede Lärmbelästigung – von welcher Seite auch immersie kam – auf ihn bezog. Vergeblich versuchte er ihrzu erklären, dass er gerade nicht ferngesehen oder garmit der Blockflöte geübt habe, da er weder eine sol-che besitze noch darauf spielen könne – sie beschwertesich trotzdem weiter. Dann wieder war es wochenlangso, als ob niemand unter ihm wohne und die Frau ver-reist, verzogen oder in einem Krankenhaus war, bis siesich eines Tages wieder am Telefon meldete und ihmweinerlich-zornig ihr Leid klagte.

Diesmal war ihr die Musik zu laut, wie sie sogleichhervorstieß und dabei durch den Spalt der Türe zuspähen trachtete. Sie trug einen hellblauen Morgen-mantel aus Frotté, Tennisschuhe und war außer sich.

»Ich liege Amok«, fuhr sie ihn an. Sie versuche heu-te früher zu schlafen, da sie morgen um fünf Uhr auf-stehen müsse, aber die Musik dringe in all ihre Poren.Letzten Sommer, als er in der Südsteiermark gewesensei, habe sie eine Zwischendecke einziehen lassen, dajeder seiner Schritte in ihrem Kopf dröhne. Aber selbstdas helfe nicht. Wenn sich seine Frau allein in der Woh-nung aufhalte, sei es hingegen still, nur …

Das tue ihm leid, unterbrach er sie wütend, aber erkönne ihr nicht helfen, sie tyrannisiere ihn nun schonseit – er fing wieder zu stottern an.

»Sie? Ihn?«, unterbrach sie ihn aufgebracht. DerLärm, den er verursache, mache sie verrückt – sie kön-ne nicht mehr denken, nicht mehr atmen, sie ersticke –

»Tut mir leid«, stieß er noch einmal hervor undmachte langsam die Türe zu. Er blieb im Vorzimmer

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stehen und hörte noch, wie sie klappernd die Stiegenhinunterging und aus Zorn ihre Wohnungstür insSchloss warf.

Aufgewühlt kehrte er in sein Arbeitszimmer zu-rück, in dem keine »Mama«-Rufe zu hören waren,obwohl die Musik verstummt war. Er blätterte daherabwesend weiter in dem japanischen Vogelbuch aufseinem Schreibtisch und betrachtete flüchtig die Bil-der und Schriftzeichen. »Stille Musik«, dachte er. Dochimmer wieder schweiften seine Gedanken ab zu derFrau, die hinter der Wand verstummt war. Wer warsie? Wie ging es ihr? War sie eingeschlafen oder amEnde gestorben? Und gleichzeitig dachte er auch andie Bewohnerin unter ihm, die sein Schuldbewusstseingeweckt hatte. Auch im Schlafzimmer, das er späteraufsuchte, blieb es still. Nur einmal in der Nacht ver-meinte er den Hund gedämpft bellen zu hören, aber erkonnte sich auch getäuscht haben.

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